of 26 /26
Integration religiöser Pluralität

Lessing und Säkularisierung

Embed Size (px)

Text of Lessing und Säkularisierung

Integration religiöser Pluralität

Hans-Peter Großhans Malte Dominik Krüger (Hg.)

Integration Religiöser

Pluralität Philosophische und theologische Beiträge zum

Religionsverständnis in der Moderne

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, Frankfurt am Main 2010

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist ohne schriftliche Einwilligung des Verlags unzulässig.

Umschlaggestaltung und Entwurf Grundlayout Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH

Satz Institut für Ökumenische Theologie der Ev.-Theol. Fakultät der WWU Münster

Druck und Bindung Hubert & Co GmbH und Co KG

Printed in Germany

ISBN 978-3-374-02810-8

Vorwort 5

Vorwort

I Unsere Welt ist verschiedenartig. Nicht zuletzt in den verschiedenen Re-ligionen wird dies deutlich. Und doch ist unsere Welt eine Welt. Gemein-sam leben wir in ihr. In der zunehmenden Vernetzung dieser Welt wird sie sich ihrer Einheit bewusst. Angesichts dieser Spannung stellt sich die Frage: Wie sollen wir in unserer Unterschiedlichkeit in einer Welt zusam-menleben? Und: Welche Möglichkeiten und Probleme bringen die Religio-nen an diesem Punkt mit sich?

An diesem Punkt unterbreitet die deutsche Aufklärung einen bis heute bezaubernden Vorschlag. In der berühmten Ringparabel des Dramas „Na-than der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) ist von einem wundersamen Ring die Rede. Von unschätzbarem Wert ist dieser Ring. Vor Gott und den Menschen macht dieser Ring angenehm. Und von Generation zu Generation wird dieser Ring vererbt – an einen Sohn. Nun aber gibt es drei Söhne. Und der Vater kann sich nicht entscheiden. Daher lässt er zwei genaue Kopien des Rings erstellen, die der Vater selbst nicht von dem echten Ring unterscheiden kann. Als es dann soweit ist, glaubt sich jeder Sohn im Besitz des richtigen Rings – und stellt Ansprüche. Man trifft sich vor einem Richter wieder. Der ist erst einmal ratlos. Doch dann weiß er Rat. Wenn der Ring vor Gott und den Menschen angenehm macht, dann wird genau dies entscheidend sein. Dann wird sich die Echtheit des Rings im Leben selbst zeigen. Und so urteilt der Richter, dessen Weisheit selbst einem Salomon Ehre gemacht hätte1:

1 Vgl. GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, Nathan der Weise, in: Gesammelte Werke in drei Bänden, neu herausgegeben, kommentiert und erläutert von Heinz Puknus, Bd.1: Dramen, Gütersloh 1966, 540ff.; Vgl. zu Lessing neben dem Beitrag von Vahidin Preljevic in diesem Band: MARTIN BOLLACHER, Lessing: Vernunft und Geschichte, Tübingen 1978; WALTER JENS, In Sachen Lessing. Vorträge und Essays, Stuttgart

Vorwort 6

„Wohlan, es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von Euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins an ‚Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf’!“2

Wenn man diese Lösung mit Lessing auf die drei monotheistischen Buch-religionen des Judentums, Christentums und Islams bezieht, dann heißt dies offenkundig: Religiöse Toleranz tritt anstelle von dogmatischer Recht-haberei, praktische Mitmenschlichkeit tritt anstelle von theoretischen Gottesreden und ziviler Pluralismus tritt anstelle von klerikalen Einheits-vorstellungen. Lessings Erzählung ist bezaubernd. Wie bei allen Zaubern geht das nicht ohne Suggestionen ab, die problematisiert werden können: Denkt sich Lessing nicht eine phantastische Urreligion aus, um das Zu-sammensein dreier Monotheismen denken und leben zu können? Wahrt Lessing die Fremdheit („Alterität“) und Widerständigkeit des Religiösen? Und läuft seine Lösung am Ende nicht darauf hinaus, eine ethisch einklag-bare Außenperspektive auf die Religion an die Stelle der religiösen Bin-nensicht zu setzen? Wenn die Wahrheit der Religion in der Menschlichkeit besteht, wofür braucht der Mensch dann noch die Religion? Steigert die durchgängige Funktionalisierung der Religion nicht bloß den Verdacht, Religion sei – ob aus Angst oder Eitelkeit – eine menschliche Selbstbe-spiegelung, die entbehrlich ist?

Diese Fragen können zu drei Dimensionen führen, die an Lessings Er-zählung ausgemacht werden können und unseres Erachtens die Frage der Integration religiöser Pluralität bis heute bestimmen. Da ist erstens eine gesellschaftstheoretische Dimension: Wie ist mit Absolutheitsansprüchen von Religionen umzugehen, die in einer Gesellschaft aufeinandertreffen?

1983; JOHANNES VON LÜPKE, Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologie Kritik, Göttingen 1983; LEONHARD PAUL WESSELL, G.E. Lessing´s theology. A reinterpretation. A Study in the Problematic Nature of Enlightenment, Mouton 1977; VOLKER NÖLLE, Subjektivität und Wirklichkeit in Lessings dramatischen und theologischem Werk, Berlin 1977. 2 GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, Nathan der Weise, 545.

Vorwort 7

Wie können Monotheismen auch rechtlich so zueinander in Beziehung gesetzt werden, dass sie in ihrer exklusiven Tendenz ihr Recht finden und zugleich nicht das Recht anderer beschneiden?3 Da ist zweitens eine auf-klärungsphilosophische Dimension: Ist Religion wirklich notwendig? Ist sie vielleicht lediglich eine menschliche Einbildung, die auch die geschick-teste Theorie von der Funktion der Religion nicht sachhaltiger machen kann? Oder sind die Religionen im Recht, weil sie notwendige Funktionen menschlicher Selbstdeutung sind? Ist wahr, was hilft, oder hilft, was wahr ist?4 Und da ist drittens eine religionstheologische Dimension: Wie verhal-ten sich die einzelnen Religionen konkret zueinander? Schließen sie ein-ander wirklich vollständig aus? Und: Gibt es vielleicht doch einen Kern aller Religionen, der sich formulieren und leben lässt?5

3 Vgl. zur Orientierung auch: PETER STEINACKER, Absolutheitsanspruch und Toleranz. Systematisch-Theologische Beiträge zur Begegnung der Religionen, Frankfurt a. M. 2006; INGO BROER/RICHARD SCHLÜTER (Hrsg.), Christentum und Toleranz, Darmstadt 1996; CARL HEINZ RATSCHOW, Die Religionen, Gütersloh 1979; INGOLF U. DALFERTH, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003. 4 Vgl. zur Orientierung auch: INGOLF U. DALFERTH/HANS-PETER GROßHANS (Hrsg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006; FRANK MEIER-HAMIDI/KLAUS MÜLLER (Hrsg.), Persönlich und alles zugleich. Theorien der All-Einheit und christliche Gottesrede, Regensburg 2010; JÖRG DIERKEN, Zwischen Innen und Außen, Relativem und Absolutem. Dimensionen des Religionsbegriffs, in: Kerygma und Dogma 49, 2003, 180-209; HANS-PETER

GROßHANS, Theologischer Realismus. Ein sprachphilosophischer Beitrag zu einer theologischen Sprachlehre, Tübingen 1996. 5 Vgl. zur Orientierung auch: REINHOLD BERNHARDT, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Güters-loh 21993; PERRY SCHMIDT-LEUKEL, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralisti-sche Theologie der Religionen, Gütersloh 2005; CHRISTIAN DANZ, Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005; CHRISTIAN DANZ/ULRICH H.J. KÖRTNER (Hrsg.), Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005; CHRISTIAN DANZ/FRIEDRICH HERMANNI (Hrsg.), Wahrheitsan-sprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, Neukirchen-Vluyn 2006.

Vorwort 8

II Die folgenden Beiträge zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei aller Unter-schiedlichkeit diese drei Dimensionen aufeinander beziehen und mitein-ander verschränken. Dies geschieht in unterschiedlicher Weise. Die gesellschaftstheoretische Dimension rückt in den Beiträgen von Hans-Peter Großhans (Münster) über die Toleranz, von Samir Arnautović (Sara-jevo) über die religiöse Politik, von Tomislav Zelić (Zadar) über psychoana-lytische Diagnosen zu Religion, Politik und Gewalt, von Christian Polke (Hamburg/Uppsala) über einen Rechtspluralismus, von Jutta Sperber (Münster) über Religion, Recht und Gesellschaft und von Simone Sinn (Münster) über die kirchliche Einbindung in Indonesien in den Vorder-grund. Die aufklärungsphilosophische und religionstheologische Dimensi-on sind besonders eng verbunden. Dies wird in den Beiträgen von Andreas Arndt (Berlin) über Hegels und Schleiermachers Religionsverständnis, von Malte Dominik Krüger (Münster) über Wolfhart Pannenbergs und Falk Wagners Religionstheologie, von Dafne Vidanec (Zagreb) über Charles Taylors Religionsauslegung, von Ivana Nevesinjac (Sarajevo) über Goethe und den Pantheismus und von Petr Gallus (Prag) über Paul Tillichs inte-grativer Gotteslehre offensichtlich. Die aufklärungsphilosophische Ten-denz zeigt sich vor allem in den Beiträgen von Jure Zovko (Zagreb/Zadar) über die Universalität der Vernunft, von Vahidin Preljević (Sarajevo) über Lessings Toleranzkonzept und von Nasar Šečerović (Sarajevo) über die Gnosis und die Moderne, während in dem Beitrag von Philipp David (Kiel/Hamburg) über Ramon Lull die religionstheologische Dimension eindrücklich hervortritt. III Die hier versammelten Beiträge gehen auf die Tagung „Integration religiöser Pluralität“ zurück, die im Januar 2010 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster im Rahmen des Ex-zellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ insbesondere in Kooperation mit Wissenschaftlern der Universi-täten Sarajevo (Bosnien-Herzegowina), Zagreb und Zadar (Kroatien) statt-fand. Unser Dank gilt allen, die bei der Erstellung dieses Buchs halfen: den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Seminar für Systematische Theolo-gie und des Instituts für Ökumenische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster – Katja Lehmann, Elisa-beth Nespor, Christian Althoff, Frederic Clausen und Eike Herzig. Ganz herzlich danken wir auch der „Evangelischen Verlagsanstalt“ (Leipzig) und insbesondere Frau Dr. Annette Weidhas für die gute Zusammenarbeit.

Vorwort 9

Eine Besonderheit war der internationale und interdisziplinäre Cha-rakter der Tagung, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Kroatien, Bosnien, Tschechien, Schweden und Deutschland zusammen-brachte: Die unterschiedlichen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Model-len und religiösen Möglichkeiten führten zu interessanten und lebhaften Diskussionen. Es ist eben etwas anderes, mit Menschen eines anderen Glaubens oder eines anderen Faches über die Integration religiöser Plurali-tät zu diskutieren, als dies unter glaubensmäßig und akademisch Gleich-gesinnten zu verhandeln. Gerade so wurde der prozesshafte Charakter der Wahrheitssuche praktisch und anschaulich. Nach den beglückenden Er-fahrungen eines solchen Symposions mag man dann sogar fast geneigt sein, solche gemeinsame Suche nach Wahrheit der ebenfalls beglückenden Erfahrung von Einverständnis im Erkennen und Verstehen gleichzustellen – eine Einsicht, die wiederum auch schon Lessing sprachlich ins Bild ge-setzt hat:

„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein ver-meinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahr-heit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ,Wähle!’, ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ,Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein“6.

Münster, im Juli 2010 Hans-Peter Großhans / Malte Dominik Krüger

6 GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, Eine Duplik, in: Gesammelte Werke in drei Bänden, neu herausgegeben, kommentiert und erläutert von Heinz Puknus, Bd.3: Schriften zu Kunst, Theologie und Philosophie. Briefe, Gütersloh 1966, 240; vgl. zu einer Theorie des Absoluten, die Patrozentrik mit diagnostischer Rationalität vereint: MALTE

DOMINIK KRÜGER, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008.

Inhalt 10

Inhalt 11

Inhalt

Vorwort 5

Inhalt 11

Hans-Peter Großhans

Toleranz 15 Ein umstrittenes Konzept im Umgang mit religiöser Pluralität

Samir Arnautović

Religiöse Politik 33 Der anti-integrative Diskurs als Diskurs einer zu spät kommenden Vormoderne - Südeuropäische Bemerkungen zur europäischen Kulturpolitik

Tomislav Zelić

Intoleranz gegen Differenz 43

Christian Polke

Rechtspluralismus 63 Ein Weg zur Integration religiöser Pluralität?

Jutta Sperber

Religion, Law and Society 85 Anregungen aus der Dialogarbeit des Ökumenischen Rats der Kirchen

Simone Sinn

Religiöser Pluralismus in Indonesien 103 Andreas A. Yewangoes christlich-theologische Standortbestimmung

Inhalt 12

Andreas Arndt

Identität der Religionen 123 Anmerkungen zu Schleiermacher und Hegel

Malte Dominik Krüger

Aufgeklärte Religionstheologie 137 Thesen im Anschluss an Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner

Dafne Vidanec

Living, Thinking and Acting in a Secular Age 153 Reflections on Taylor’s Interpretation of the Religion Issue

Ivana Nevesinjac

Goethe und der Pantheismus 173

Petr Gallus

“Gott über Gott“ 187 Paul Tillichs Vorschlag zur integrativen Rede von Gott

Jure Zovko

Universalität der Vernunft 199 Grundlage interreligiöser Verständigung

Vahidin Preljević

„Wahrheit … so bar, so blank“ 209 Einige Bemerkungen zu Lessing und Säkularisierung

Naser Šečerović

Moderne – Eine Zeit der Gnostiker? 223 Elemente der Gnosis im Faust-Mythos und im "Tod des Vergil" von Hermann Broch

Inhalt 13

Philipp David

Die Trinität vernünftig einsehen 241 Ramon Lulls Beitrag zur Integration religiöser Pluralität

Autorenverzeichnis 263

Vahidin Preljević 209

Vahidin Preljević

„Wahrheit … so bar, so blank“

Einige Bemerkungen zu Lessing und Säkularisierung

Zusammenfassung Gotthold Ephraim Lessing kann als Schlüsselfigur der frühmodernen Säkularisierung gelten. Seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage führt zum einen zu einer Akzentuierung der medialiserten und zum anderen der historisierten und individualisierten Bestimmung von Wahrheit. Das einem jeden Menschen in der Ver-nunft innewohnende Streben verwirklicht sich in der Kulturgeschichte, sodass die Festsetzung einer endgültigen Wahrheit fallen gelassen werden muss. Damit ist die Bedingung formuliert, derzufolge sich die Kultur vom Heiligen als Verkörperung der Wahrheit lösen und sich zu ihr in Beziehung setzen kann.

I. Das Drama der Wahrheit „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein“1.

Was Lessing hier in der berühmten Stelle aus der Duplik anspricht, kann als das eigentliche Drama der Moderne angesehen werden: das Dra-ma der Wahrheit. Ein Individuum (d.h. auch der Mensch als solcher) kann sie und soll sie nach Lessing nicht besitzen, es soll aber immer nach ihr streben, denn nur auf diese Weise erweitern sich seine Kräfte, worin allein „seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet“, wohingegen der Be-sitz „ruhig, träge, stolz“ machen würde. Die Pole dieses von Lessing als

1 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, KARL LACHMANN/FRANZ MUNCKER (Hrsg.), Leipzig 1886-1924, Bd. XIII, 24.

„Wahrheit … so bar, so blank“ 210

geschichtsphilosophisch dargestellten Dramas sind relativ eindeutig zu bestimmen: Die Wahrheitssuche erscheint als Motor der menschlichen Vervollkommnung, der Wahrheitsbesitz wiederum bezeichnet den Still-stand jeder Entwicklung. Kultursemiotisch gesprochen handelt es sich bei der Lessingschen Antithese um die Alternative zwischen unwandelbarer „Kontinuität“ als „eine über den Sinn hergestellte Vorhersagbarkeit“ und der offenen „Unvorhersagbarkeit“, die Jurij Lotman mit der Metapher der „Explosion“2 beschreibt. Die „Wahrheit“ wäre ein stark kodifizierter und durchgehend bestimmter Inhalt, der sich im Zentrum einer „Semiosphäre“ befindet. Er trägt zwar zur Stabilisierung des Systems bei, bewirkt aber gleichzeitig, dass „Unbestimmtheit“ und „Flexibilität“ reduziert werden, welche erst eine „Erhöhung der Informationskapazität und [...] dynami-schen Entwicklungsreserven“3 möglich machen.

Neben der Einsicht in die Notwendigkeit eines ununterbrochenen „Ir-rens“, d.h. eines offenen Prozesses der „ständige[n] Erneuerung der Co-des“4 in einer Kultur, ist auch Lessings bildliche Charakterisierung der Wahrheit sehr erhellend: sie ist „rein“ und liegt „verschlossen“ in der Hand des Herren. Ihre Zurückweisung will suggerieren, dass die „Rein-heit“ und die exklusive Heiligkeit nicht vereinbar sind mit dem „regen Trieb“, der für den Aufklärer Lessing den Menschen bestimmen soll und der die Fehlbarkeit aber auch auch die Dynamik der Entwicklung garan-tiert. Der sakrosankte Charakter der Wahrheit steht im Widerspruch zu dem von Lessing befürworteten offenen Prozess der Entwicklung des Men-schen. Es kommt also hier, wie Blumenberg zu dieser Stelle bei Lessing anmerkt, nicht auf den „immanenten Selbstwert dieser Wahrheit“ an; son-dern auf ihren „inzitativen, provokatorischen Bezug zur Selbstverwirkli-chung, Selbstbestätigung des Menschen“5. Im Gegensatz zum Konzept der Wahrheit als einer außerhalb des Menschen liegenden Größe, die dem Eingeweihten aus dem Verborgenen gegenüber tritt, diesen als Gnade

2 JURIJ M. LOTMAN, Kultur und Explosion, Frankfurt 2010, 15. 3 JURIJ M. LOTMAN, Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Frankfurt 2010, 170. 4 JURIJ M. LOTMAN, Die Innenwelt, 165. 5 HANS BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt 1998, 74.

Vahidin Preljević 211

überwältigt, wird in dieser und vielen Belegstellen deutlich6, dass bei Les-sing die Wahrheit einen „Arbeitscharakter“7 annimmt, wobei diese nicht als solche im Vordergrund steht, sondern ihr Erreichen nur insoweit inte-ressiert, als es den „Wert des Menschen“, die humane Selbstbehauptung, anzeigt. Die Wahrheit verwandelt sich aus einer transmundanen Kategorie zum Dreh- und Angelpunkt des innermenschlichen Dramas im Horizont der geschichtlichen Möglichkeiten.

Die Redefinition des Wahrheitsbegriffs, wie sie hier bei Lessing auf-scheint, bildet den diskursiven Kern der Säkularisierung.8 Den Verzicht auf die absolute Wahrheit in der Duplik kann man als eine Schlüsselformel der geistesgeschichtlichen Verweltlichung auffassen.9 Diese lässt sich auch in Lessings literarischem Werk, explizit im Nathan, weiterverfolgen und sie steht auch in einem engen Zusammenhang mit seinem Konzept der religiösen Toleranz.

II. Zum Säkularisierungsbegriff Der Säkularisierung haftet an, ein kontroverses Wort zu sein. Das liegt unter anderem daran, dass die Säkularisierungsmetapher im 19. Jahrhun-

6 Von wenigen Versuchen abgesehen liegt trotz der Einsicht in die Wichtigkeit der Transformation des Wahrheitskonzepts für das religionskritische und literarische Werk Lessings keine synthetische Darstellung dieser Problematik vor. Siehe die Zusammenfassung und Übersicht zur Forschungsliteratur in WILFRIED BARNER (Hrsg.), Lessing: Epoche-Werk-Wirkung, München 51987. 7 HANS BLUMENBERG, Paradigmen, 282-343. 8 Dass die von Blumenberg belegte Auflösung des a-humanen Wahrheitsbegriffs eine entscheidende säkularisierende Wirkung hat, kann aus der staatsrechtlichen Per-spektive bestätigt werden. In seiner Rede Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung, die er 1964 in Ebrach hielt, bezeichnete Ernst-Wolfgang Böckenför-de die Aufgabe des Wahrheitsprinzips als der zentralen Kategorie des Politischen als den Anfang der Säkularisierung. Vgl. ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Der säkularisier-te Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21.Jahrhundert, München 2006, 57. 9 Damit würde Lessing wie auch Kant den für die Hochaufklärung typischen gnoseo-logischen Wahrheitsbegriff vetreten, der dann später von Hegel wieder ontologisiert wird. Siehe dazu die Antrittsvorlesung von HERBERT SCHNÄDELBACH, Hegels Lehre von der Wahrheit, Berlin 1993, 7.

„Wahrheit … so bar, so blank“ 212

dert als ein „ideenpolitischer Begriff“ verwendet und, wie Hermann Lübbe dargestellt hat, in weltanschaulichen Kämpfen eingesetzt wurde.10 Die philosophische Säkularisierung, d.h. der Prozess der allmählichen Heraus-lösung der Natur zuerst und dann des Subjekts selbst aus der göttlichen Herrschaftssphäre, wurde von Panajotis Kondylis in ihren vielen Veräste-lungen rekonstruiert.11 Die wissenschaftliche Säkularisierung mit ihrem Beginn in der Renaissance wurde von Hans Blumenberg in ihren geistes-geschichtlichen Konsequenzen herausgearbeitet12; im Anschluss daran hat unter anderen auch Lutz Daneberg eine Studie zum Verhältnis der Anato-mie und Säkularisierung vorgelegt.13 Schon in den späten sechziger Jahren haben Albrecht Schöne und Gerhard Kaiser die sprachliche und literari-sche Säkularisierung untersucht.14 Vor kurzem hat in einer Reihe von germanistischen Abhandlungen auch Wolfgang Frühwald von den Ergeb-nissen seiner Vorgänger ausgehend das prekäre Verhältnis von Dichtung und Religion vom Aspekt der Verweltlichung in verschiedenen Epochen dargestellt.15 Auch Böckenförde hat den Säkularisierungsprozess in rechts-geschichtlicher Hinsicht als die Trennung von geistlicher und weltlicher Herrschaftssphäre, beginnend mit dem Investiturstreit, gedeutet.16

10 Vgl. HERMANN LÜBBE, Säkularisierung: Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg 32003. 11 Vgl. PANAJOTIS KONDYLIS, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalis-mus, Hamburg 2002. 12 Vgl. HANS BLUMENBERG, Die Legitimität der Neuzeit, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt 1994. 13 Vgl. LUTZ DANEBERG, Säkularisierung in den Wissenschaften seit der frühen Neuzeit, Bd. 3: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers. Das Lesen im liber natura-lis und supernaturalis, Berlin 2003. 14 Vgl. GERHARD KAISER, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden 1961; ALBRECHT SCHÖNE, Säkula-risation als sprachbildende Kraft. Studien zu Dichtung deutscher Pfarrerssöhne, Göttingen 1968. 15 Vgl. WOLFGANG FRÜHWALD, Das Gedächtnis der Frömmigkeit, Religion und Literatur in Deutschland. Religion, Kirche und Literatur in Deutschland vom Barock bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M./Leipzig 2008. 16 Siehe Anm. 4.

Vahidin Preljević 213

Es sei hier die dominante kulturphilosophische Position zusammenge-fasst: Die Säkularisierung wird in traditioneller Hinsicht als Entfernung von einem imaginierten heiligen Zentrum verstanden, wobei in histori-scher Perspektive die christliche Mitte der Kultur aufgelöst wird. Damit ist impliziert, dass sich die Kultur immer weiter von ihrem Ursprung entfer-nen würde, womit dann die Kulturgeschichte als eine Verfallsgeschichte zu beschreiben wäre. Neben vielen anderen hat vor allem Gerhard Kaiser diese These vetreten, wobei er diesen Prozess positiv wendet, indem er annimmt, dass die Säkularisierung eine Streuung der ursprünglichen christlichen Inhalte bringt, die sich nun gleichmäßig verteilen und auch in die entferntesten Zonen der Gemeinschaft eindringen.17 Die Entlastung der organisierten Religion – um hier den Marquardschen Begriff zu verwenden – führte dazu, dass diese zwar ihre Herrschaftsposition und bindende Kraft einbüßte, dafür aber in Kultur verwandelt wurde.

Hans Blumenberg hat gegen dieses Ableitungs-Theorem eingewandt, dass es die Neuzeit, in die er den Beginn der humanen Selbstbehauptung verlegt, mit dem schweren Vorwurf belastet, nicht eine Epoche eigenen Rechts zu sein, dass weiterhin ihre kulturellen Leistungen immer als schlechte Kopien des heiligen Originals erscheinen, womit die Abhängig-keit vom verratenen theologischen Ursprung auch in der Neuzeit fortge-setzt wird.18 Damit geht einher, dass man dem säkularen Zeitalter einen Schuldkomplex auferlegt, der potentiell nur durch die Rückkehr zu den jeweils eigenen Wurzeln beseitigt werden kann. Die Strategie, die hierbei angewandt wird, ist die genetische Herstellung des Wahrheitsbesitzes durch die Zurückführung der eigenen Wahrheit auf einen letztlich trans-zendenten Ursprung. Damit wird eine gleichbleibende Identität der Sub-stanz durch die Geschichte behauptet, bei der die Oberfläche bloß als etwas Akzidentelles erscheint, während die Dimension der Tiefe nach wie vor von dem religiösen Ursprung besetzt gehalten wird.19 Deswegen schlägt Blumenberg in der Legitimität der Neuzeit vor, nicht von einer Umsetzung,

17 Vgl. GERHARD KAISER, Christentum und säkulare Literatur, in: Stimmen der Zeit 216 (1998), 3-16. DERS., Sand im Getriebe. Mehrdimensionale Bedeutungen in Bibel und Literatur, in: Das Plateau. Die Zeitschrift im Radius-Verlag, 78 (2003), 4-24. 18 Vgl. HANS BLUMENBERG, Legitimität der Neuzeit, 11-19. 19 Vgl. HANS BLUMENBERG, Legitimität der Neuzeit, 20-34.

„Wahrheit … so bar, so blank“ 214

sondern von der Umbesetzung der durch die Säkularisierung vakant ge-machten Räume zu sprechen.20 D.h. mit anderen Worten, dass die Sphären der Kultur schon immer bestimmte Funktionsstellen aufweisen, die dau-ernd umbesetzt – immer wieder von anderen Inhalten besetzt werden, bei denen die christliche Religion nur einer von vielen im Gang der Weltge-schichte gewesen ist. Damit wird die Geschichte nicht mehr als ein vom Ursprung ausgehender und sich von ihm immer weiter entfernender Vor-gang verstanden; vielmehr scheidet damit die ohnehin paradoxe Figur des Ursprungs aus der Geschichte aus. Die Kultur hat kein Original und die Leistung der Moderne bestand demnach darin, den Menschen von diesem Phantasma befreit zu haben.

Die Säkularisierung bedeutet die Auflösung einer bis dahin als sakro-sankt angesehenen Sphäre. Das Entscheidende bei dieser Auflösung be-steht darin, dass das geheiligte Objekt zuvor einen Status der Ganzheit, Unberührbarkeit und auch potentiell der Unveränderlichkeit genossen hatte. Zugleich musste das Heilige auch eine unmittelbare Präsenz haben, in dem Sinne, dass es nicht mittels eines anderen die Wirkung ausübt, dass es also kein bloßes Medium ist, sondern von sich aus sozusagen die Einheit von Körper und Geist darstellt.21 Als solches ist im Heiligen die Wahrheit unmittelbar verkörpert. Die Säkularisierung geht nun darauf hinaus, den Konstruktionscharakter dieser Dimensionen des Heiligen zu entdecken. Einerseits wird die Zeitlichkeit des geheiligten Objekts betont, andererseits wird auf die nicht hintergehbare Medialität der Wahrheit hingewiesen. Als das bevorzugte Mittel der Säkularisierung erscheint die seit der Renaissance immer weiter entwickelte Methode der philologisch-

20 „Was in dem als Säkularisierung gedeuteten Vorgang überwiegend, jedenfalls bisher mit nur wenigen erkennbaren und spezifischen Ausnahmen, geschehen ist, läßt sich nicht als Umsetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstenfremdung, sondern als Umbesetzung vakant gewordenerer Positionen von Antworten beschreiben, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden können“, vgl. HANS BLUMENBERG, Legitimität der Neuzeit, 75. 21 “To be holy is to be whole, to be one; holiness is unity, integrity, perfection of the individual and of the kind”, MARY DOUGLAS, Purity and Danger. An Analysis of Con-cepts of Pollution and Taboo, London and New York 1984 (1966), 54.

Vahidin Preljević 215

historischen Kritik.22 Diese Methode wird vor allem in der Aufklärung ih-ren Höhepunkt erleben, in einer Epoche, in der die Fundamente des säku-laren Zeitalters23 gelegt wurden. Da es bei den geheiligten Objekten oder Sphären immer auch darauf ankommt, sich als die Wahrheit zu positionie-ren, ist diese Stellung zwangsläufig mit einer bestimmten Herrschaftsaus-übung und Besitzstandswahrung verbunden. Die „Wahrheit“ gilt es zu hüten und zu verteidigen und darin spielen Autoritäten, die als Besitzer der Wahrheit fungieren, eine zentrale Rolle. Deswegen vollzieht sich die Säkularisierung sehr oft als ein Akt der – bildlichen oder wörtlichen – Entthronung der Wahrheitsträger.

III.Buchstabe und Geist: Medialisierung Auch deswegen ist G.E. Lessing eine Schlüsselfigur der kritischen Säkula-risierung. Die Unermüdlichkeit, mit der er schon seit dem Schulalter gegen Autoritäten vorging24, und die fast obsessive Beschäftigung mit der Legiti-mität des Wahrheitsbesitzes, die seine zahlreichen Auseinandersetzungen und literarischen Werke durchzieht, macht sein Werk zu einem paradig-matischen Fall der Säkularisierung in der frühen Moderne.

Ein entscheidender Bestandteil der kritischen Säkularisierungsstrate-gie Lessings besteht darin, auf dem Unterschied zwischen Buchstaben und Geist zu bestehen. Damit lehnt sich zwar Lessing an eine ältere hermeneu-tische Tradition an25, wie auch an bestimmte Tendenzen der zeitgenössi-

22 Siehe dazu: HANS ULRICH GUMBRECHT, Die Macht der Philologie. Über einen verbor-genen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt 2003. Siehe auch die Analysen von CHRISTIAN BENNE, Philologie und Skepsis; THOMAS STEINFELD, Skepsis, in: JÜRGERN PAUL SCHWINDT (Hrsg.), Was ist eine philologische Frage. Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung, Frankfurt 2009, 192-210; 211-226. 23 Ein umfassendes Porträt des säkularen Zeitalters versuchte neurdings Charles Taylor (A Secular Age, Cambridge, Massachusetts/London 2007) zu geben. 24 Vgl. zu diesem Charakterzug Lessings die neue Biographie: HUGH BARR NISBET, Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Karl Guthke, München 2008. 25 Siehe zur paulinischen Unterscheidung und deren Fortwirkung in der Theologie und Geistesgeschichte: GERHARD EBELING, Art. Geist VIII. Heiliger Geist in der Kunst. Geist und Buchstabe, in: RGG2 Bd.2, 1958, 1290-1296.

„Wahrheit … so bar, so blank“ 216

schen Sprachphilosophie26, bei ihm wird aber diese Unterscheidung zur Basis der kulturkritischen Reflexion.

In dem III. Axiom seiner im Zusammenhang mit der Reimarus-Kontroverse erschienenen Axiomata heißt es: „Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion“27. Daraus entwickelt Lessing seine immer wieder variierte These: „Die Bibel enthält offenbar mehr, als zur Religion gehört“28. Damit ist einerseits gemeint, dass die Bibel, obwohl als Heilige Schrift bezeichnet, „ein bloßes Buch“ ist, während die Religion dem Geist zugeschlagen wird. Die Bibel kann demnach nicht als Verkörpe-rung des Geistes der christlichen Religion fungieren.

Zum Umfeld dieser Unterscheidung gehört auch die Differenz zwi-schen „sein“ und „enthalten“, dem „prophetischen“ und dem „historischen Wort“, oder die Stelle im vierten Gespräch des Ernst und Falk, wo jener belehrt wird, dass „man etwas sein kann, ohne es zu heißen“29.

Es handelt sich hierbei um eine mediologische Argumentation, die Lessing auch in dem Laokoon-Aufsatz angewandt hat. Die Schrift fasst er dort als ein Mittel auf, das von dem, worauf es verweisen soll, zu unter-scheiden ist. Sie ist ein Medium der Absenz und nicht der Präsenz.30 Die Schrift ist zudem in Lessings Augen auch ein widerspenstiges Medium, das seiner eigenen Logik folgt, die den gewollten Sinn dauernd unterläuft. Oft werden Versuche, die Wahrheit im Buchstaben festzuhalten, zum Ge-genstand der Lessingschen Ironisierung. In den Briefen, die neueste Litera-tur betreffend bemerkt Lessing im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Cramer:

26 Vgl. INGE BAXMANN U.A. (Hrsg), Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000. 27 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. XIII, 114. 28 Ebd. 29 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. XIII, 365. 30 Ausführlicher in meinem Aufsatz: Raum – Beschreibung – Blick. Das Laokoon-Paradigma und die literarische Räumlichkeit, in: VAHIDIN PRELJEVIC/VEDAD SMAILAGIC

(Hrsg.), Transformationsräume. Aspekte des Wandels in deutscher Sprache, Literatur und Kultur, Sarajevo 2008, 211-222.

Vahidin Preljević 217

„Herr Cramern muß es also hier gegangen sein, wie es allen gehet, die ihre Gedanken unter der Feder reif werden lassen. Man glaubt eine große Wahrheit erhascht zu haben; man will sie der Welt ins Licht setzen; indem man damit beschäftiget ist, fängt man selbst an, sie deutlicher und besser einzusehen; man sieht, daß sie das nicht ist, was sie in der Entfernung zu sein schien; un-terdessen hat man sein Wort gegeben; das will man halten; man dreht sich itzt so, itzt anders; man geht unmerklich von seinem Ziele ab; und schließt endlich damit, daß man etwas ganz anders beweiset, als man zu beweisen versprach; doch immer mit der Versicherung, daß man das Versprochene bewiesen habe. Amphora coepit institui, currente rota urceus exit“31.

Zur Mittelbarkeit der Schrift gehört, dass die Schrift komprimierend arbei-tet und den „Geist“, auch den Geist der Religion, niemals vollständig erfas-sen kann. Während das Heilige das Unmittelbare und Ganze darstellt, ist die Schrift eine symbolische Technik, die verdichten und den direkten Weg zum Bezeichneten versperren muss. Die Schlussfolgerung daraus wäre, dass die Rede von der heiligen Schrift – in bezug auf die Bibel und noch mehr auf den Koran, der als direktes Wort Gottes aufgefasst wird – einfach an dieser Eigentümlichkeit des Mediums vorbeigeht und in Lessings Au-gen ein contradictio in adjecto ist. Die säkularisierende Wirkung, die durch Lessings Argument gezeitigt wird, besteht nicht nur in der neugewonne-nen Freiheit im Umgang mit der nun entheiligten Schrift, sie ist darüber hinaus in der allgemeinen hermeneutischen Befreiung zu suchen, die dem Subjekt ermöglicht, Heiliges als ein Symbol, d.h. als eine kulturelle Objek-tivation zu betrachten, zu der es sich in ein aktives Verhältnis setzen kann.

IV. Säkularisierung als Verzeitlichung und Individualisierung der Wahrheit Damit steht auch die von Lessing sehr oft ins Spiel gebrachte Figur der inneren Wahrheit32 in einem engen Zusammenhang. Die innere Wahrheit

31 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. VIII, 248. 32 Zur Figur der inneren Wahrheit bei Lessing vgl.: MARTIN BOLLACHER, Lessing: Ver-nunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften, Tübingen 1978, 130ff.

„Wahrheit … so bar, so blank“ 218

der Religion ist der Schrift vorgängig und von ihr völlig unabhängig: „Wenn aber die schriftliche Überlieferung der christlichen Religion innere Wahrheit weder geben kann noch geben soll: so hat auch die christliche Religion ihre innere Wahrheit nicht von ihr. Hat sie sie nicht von ihr“, so Lessing weiter, „so hängt sie auch von ihr nicht ab. Hängt sie von ihr nicht ab, so kann sie auch ohne sie bestehen“33. Dieser Gedanke führt Lessing dazu, die Religionsbücher eben nicht als ewig-gültige Manifestationen der jeweiligen Religionen, sondern als Momentaufnahmen der Entwicklung der menschlichen Vernunft zu sehen. Die Religion ist nach Lessing von der „Geschichte der Religion“34 zu trennen. Im Rahmen des Fortschrittspara-digmas35 formuliert Lessing auch die zentrale These der Erziehungsschrift: Die Offenbarung, so seine bekannte Formulierung, gibt dem „Menschenge-schlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher“36. So ist es konsequent, wenn er dort scheinbar paradoxerweise von der Zeit „eines neuen ewigen Evangeliums“ spricht, die im „dritten Zeitalter“ erwartet wird.37 Jede Zeit bzw. jede Entwicklungs-stufe der menschlichen Vernunft, das ist Lessings eigentliche These, muss ihre eigene „heilige Schrift“ – hier metaphorisch zu verstehen – hervor-bringen. Damit ist neben der Medialisierung nun auch die Verzeitlichung und die Historisierung der Wahrheit als die zweite entscheidende Säkula-risierungsleistung von Lessings kritischem Denken genannt.

Wir bemühen noch einmal die Figur der inneren Wahrheit. Sie ist keine in eine endgültige Objektivation oder in einen festen Begriff zu

33 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. XIII, 131. 34 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. XIII, 133. 35 Im Rahmen dieses aufklärerischen Paradigmas wurde „die Wahrheit [...] nur inso-weit erkannt und anerkannt, wie sie sich im zeitlichen Vollzug menschlicher Er-kenntnis einstellte - also auch überholbar wurde“ (REINHARD KOSELLECK, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozia-len Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt, Frankfurt 2006, 169). 36 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. XIII, 416. 37 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. XIII, 433.

Vahidin Preljević 219

bringende Größe. Von ihr sagt Lessing in Über die Entstehung der geoffen-barten Religion: „Die Unentbehrlichkeit einer positiven Religion, vermöge welcher die natürliche Religion in jedem Staate nach dessen natürlicher und zufälliger Beschaffenheit modificiert wird, nenne ich die innere Wahr-heit derselben, und diese innere Wahrheit derselben ist bei einer so groß als bei der andern“38. Die Formulierung ist nicht so zu verstehen, als wäre die innere Wahrheit eine substanzielle Wahrheit, die sich unter der Ober-fläche des historisch Zufälligen verbirgt. Sie ist die Tatsache einer „Unent-behrlichkeit“, eines Bedürfnisses, die sich in verschiedenen, kulturell bedingten Manifestationen zeigt. Sie ist anthropologisch der Ausdruck jenes regen Wahrheitsstrebens, in kultureller Hinsicht wird sie in ver-schiedenen Stufen der Entwicklung des Menschengeschlechts auch unter-schiedliche Formen annehmen.

Auf jeden Fall konstituiert sie sich immer wieder neu, und zwar im au-tonomen und vernünftigen Individuum selbst. Das meint Lessing, wenn er in der Axiomata lapidar sagt: „Jeder hat seine eigene Hermeneutik. Welche ist die wahre?“39 In dem elften Brief, die neueste Literatur betreffend, in welchem sich Lessing mit Wielands pädagogischem Eifer kritisch ausei-nandersetzt, wird deutlich, dass diese Individualisierung und Perspektivie-rung für Lessing einerseits der Wahrheit der Natur des Menschen bzw. seiner Vernuft entspringt, andererseits ein regulatives Prinzip und eine ethische Forderung darstellt:

„Das große Geheimnis die menschliche Seele durch Übung vollkommen zu machen – (Herr Wieland hat es nur dem Namen nach gekannt) – bestehet ein-zig darin, daß man sie in steter Bemühung erhalte, durch eigenes Nachden-ken auf die Wahrheit zu kommen. Die Triebfedern dazu sind Ehrgeiz und Neubegierde; und die Belohnung ist das Vergnügen an der Erkenntnis der Wahrheit. Bringt man aber der Jugend die historische Kenntnis gleich Anfangs bei, so schläfert man ihre Gemüter ein; die Neubegierde wird zu frühzeitig gestillt, und der Weg, durch eignes Nachdenken Wahrheiten zu finden, wird auf einmal verschlossen. Wir sind von Natur weit begieriger, das Wie, als das Warum zu wissen. [...] Die Wahrheiten selbst verlieren in unsern Augen alle

38 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. XIV, 313. 39 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. III, 130-131.

„Wahrheit … so bar, so blank“ 220

ihre Reizungen, wo wir nicht etwa bei reifern Jahren von selbst angetrieben werden, die Ursachen der erkannten Wahrheiten zu erforschen“40.

Die Festschreibung einer endgültigen Wahrheit würde den „Prozess der theoretischen Neugierde“41 ersticken und den Menschen seines wichtigsten Merkmals, Neues zu erkennen und hevorzubringen, berauben. Das würde den Tod der Kultur herbeiführen.42

Es sei in diesem Zusammenhang wieder an die vielinterpretierte Ring-parabel erinnert. Ihr doppelter Sinn ergibt sich aus der Aufgabe Nathans, dem Sultan einerseits die Antwort auf die Frage nach der wahren Religion zu geben, andererseits seine religiöse Identität nicht zu verletzen:

„Hm! hm! – wunderlich! – Wie ist Mir denn? – Was will der Sultan? was? – Ich bin Auf Geld gefaßt; und er will – Wahrheit. Wahrheit! Und will sie so, – so bar, so blank, – als ob Die Wahrheit Münze wäre! – Ja, wenn noch Uralte Münze, die gewogen ward! – Das ginge noch! Allein so neue Münze, Die nur der Stempel macht, die man aufs Brett Nur zählen darf, das ist sie doch nun nicht! Wie Geld in Sack, so striche man in Kopf Auch Wahrheit ein? Wer ist denn hier der Jude? Ich oder er? – Doch wie? Sollt' er auch wohl Die Wahrheit nicht in Wahrheit fodern? – Zwar, Zwar der Verdacht, daß er die Wahrheit nur Als Falle brauche, wär' auch gar zu klein! – Zu klein? – Was ist für einen Großen denn Zu klein? – Gewiß, gewiß: er stürzte mit Der Türe so ins Haus! Man pocht doch, hört Doch erst, wenn man als Freund sich naht. – Ich muß Behutsam gehn! – Und wie? wie das? – So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht. – Und ganz und gar nicht Jude, geht noch minder.

40 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. VIII, 24-25. 41 HANS BLUMENBERG, Die Legitimität der Neuzeit, 263ff. 42 Vgl. JURIJ M. LOTMAN, Kultur und Explosion, 15.

Vahidin Preljević 221

Denn, wenn kein Jude, dürft er mich nur fragen, Warum kein Muselmann? – Das wars! Das kann Mich retten! – Nicht die Kinder bloß, speist man Mit Märchen ab. – Er kömmt. Er komme nur!“43

Statt der „blanken Wahrheit“, bietet Nathan eine märchenhafte Verklei-dung an, die die jeweilige religiöse Zugehörigkeit in Sultans Ohren nur deswegen legitimieren kann, weil sie den Ursprung der Wahrheit in der Figur des Vaters als gemeinsam herausstellt, so dass letztendlich jede Glaubenslehre sich im Recht weiterhin wähnen könnte, auch wenn sie vom Phantasma des Ursprungs befreit werden. Was das Märchen freilich auch sagt, auch wenn das in seiner narrativen Entfaltung in den Hintergrund gedrängt wird, ist, dass der Vater tot ist, und dass mit ihm auch jene Wahrheit gestorben sein muss. Dem Sultan die „innere Wahrheit“, mit das Einzige, was bleibt, ist die individuelle Anstrengung, dass aus dem Beste-henden, und sei dieses nur eine blasse Kopie des Wahren, etwas gemacht wird. Oder wie Lessing es in der Schrift Beweis des Geistes und der Kraft gesagt hat: „Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist“: es kommt darauf an, dass „die Früchte trefflich“ sind.44

43 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. III, 88-89. 44 GOTTHOLD E. LESSING, Sämtliche Schriften, Bd. VIII, 8.