15 09 14_Hintergrund Mittlerer Osten

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    Hintergrund: Mittlerer Osten und Flüchtlingskrise Nr. 55 / September 2015 | 1 

    „Viele Menschen werden bleiben!“ Herausforderungen der

    Zuwanderung syrischer Flüchtlinge nach Jordanien, in denLibanon – und nach Deutschland Ulrich Wacker & Dr. René Klaff

    Hintergrund:Mittlerer Osten undFlüchtlingskrise 

    Nr. 55 / 14. September 2015 

    Zusammenfassung

    Aktuellen Schätzungen zufolge werden im laufenden Jahr 2015 bis zu 800.000Menschen Asyl in Deutschland beantragen. Ein Großteil davon sind Flüchtlinge

    aus den Bürgerkriegsgebieten des arabischen Ostens, dem Maschrek, vor allem aus

    Syrien, aber nach wie vor auch aus dem Irak. Weite Teile dieser Länder sind zer-

    stört, und ihre traditionellen demographischen und sozialen Strukturen sind es

    ebenso. Die meisten der aus ihrer Heimat geflohenen Menschen werden nicht ein-

    fach irgendwann dorthin zurückkehren können; viele werden –  lange Jahre oder

    für immer –  in ihren Aufnahmeländern bleiben müssen oder bleiben wollen. Dies

    stellt nicht nur Deutschland und seine europäischen Nachbarn, sondern auch und

    vor allem die Aufnahmeländer im Nahen Osten vor große Herausforderungen. ImLibanon und in Jordanien – wie auch in der Türkei – erreichen die Flüchtlingszah-

    len ganz andere Dimensionen als in Europa. Politik und Gesellschaft in den Auf-

    nahmeländern müssen sich diesen Herausforderungen stellen – sowohl den kurz-

    fristigen, vornehmlich humanitären Aufgaben der ersten Grundversorgung als

    auch den langfristigen der Integration.

    Vor welchen konkreten Herausforderungen stehen der Libanon und Jordanien, wie

    gehen Politik und Gesellschaft beider Länder mit ihnen um –  und welche Rück-

    schlüsse lassen sich daraus für die politische Debatte in Deutschland ziehen?

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    1. Die Auswirkungen syrischer Flüchtlingsströme auf Jordanien und den Libanon

    Staat und soziales Gefüge

    Nach Schätzungen sind bislang im Zuge des Bürgerkrieges in Syrien 12 bis 13 Mio. Menschen heimat-los geworden. Mehr als die Hälfte davon leben als Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons,IDP) weiterhin innerhalb der syrischen Grenzen, aber mindestens 4,5 Mio. Syrer haben das Land be-reits verlassen – und diese Zahl steigt stetig an. Während gerade im Sommer dieses Jahres der Zu-strom syrischer Flüchtlinge nach Europa ungeahnte Dimensionen annimmt, darf nicht übersehen wer-den, dass die primären Zufluchtsorte der Bürgerkriegsflüchtlinge die Nachbarstaaten Libanon und Jor-danien (und die Türkei) sind. Gegenwärtig leben über 1,4 Millionen Syrer (davon 650.000 registrierteFlüchtlinge) unter knapp sieben Millionen Jordaniern und bis zu zwei Millionen Syrer unter knapp fünfMillionen Libanesen. Die gesellschaftlichen Verwerfungen in beiden Ländern sind erheblich.

    Auf mittlere Sicht ist in und für Syri-en keine Lösung der Konfliktursa-chen, kein Ende der Kämpfe undschon gar „keine haltbare Wiederher-stellung von Staatlichkeit und inne-rem Frieden zu erwarten“ (V. Perthes,SWP). Die aktuellen Fluchtursachenbleiben deshalb bestehen, die Men-schen müssen in ihren Aufnahmelän-dern verharren. Dort verändern die Flüchtlinge Demographie, Gesell-

    schaft, staatliche Dienstleistungen,Wohnungsmarkt, Gesundheitswesen,Erziehungssystem und den Arbeits-

    markt. Steigende Preise und Mieten,Inflation, Arbeitslosigkeit durch par-

    tielle Verdrängung der einheimischen Bevölkerung vom Arbeitsmarkt, das ungeregelte Wachstum vonKommunen, enorme zusätzliche Belastungen im Bildungs- und im Gesundheitssystem und, darausfolgend, lokale Spannungen sind zu bewältigen –  von staatlichen  Verwaltungen, die nur begrenzteöffentliche Mittel zur Verfügung haben und schon unter normalen Umständen eine vergleichsweisegeringe Planungs- und Implementierungseffizienz aufweisen. Geraten angesichts der Flüchtlingsprob-

    lematik dieser Tage schon die starken deutschen Institutionen vielfach an die Grenzen ihrer Leistungs-fähigkeit, so sind die schwachen Institutionen Jordaniens und vor allem des Libanon bei der Deckungdes zusätzlichen Leistungsbedarfs massiv überfordert.

    Die konfessionelle Demokratie des Libanon ist schon durch widerstreitende Interessen der unterschied-lichen ethnisch-religiösen Gemeinschaften und deren internationale Loyalitäten unter Druck; nun be-lastet der Zufluss syrischer Flüchtlinge, die in ihrer großen Mehrheit Muslime sind,   das komplizierte,nach einem christlich-muslimischen Proporz gewobene Geflecht der sozialen und politischen Struktu-ren des Landes. Die öffentlichen Einrichtungen sind überfordert. Dies umso mehr, da der Libanon keinePolitik der Aufnahme der Syrer in Lagern verfolgt; vielmehr werden die Menschen in zumeist sunniti-schen Dörfern aufgenommen und campieren hier in jeder freien Lücke. Ohne starke staatliche Institu-

    tionen fallen die Aufgaben der Betreuung und Versorgung der Flüchtlinge geradezu selbstverständlich

    Syrische Flüchtlingskinder in Mar Elias - Bekaa-Tal, Libanon 

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    internationalen Hilfsorganisationen zu, deren Effizienz aber darunter leidet, dass die koordinierendeHand des Staates fehlt.

    In Jordanien steuern demgegenüber die

    staatlichen Institutionen die Aufnahme undBetreuung. Hier leben 85% der syrischenFlüchtlinge außerhalb der großen Lager inKommunen, überwiegend städtischen Gebie-ten. Die Spannungen zwischen der einheimi-schen Bevölkerung und den Flüchtlingen sindüberall zu spüren, zugleich ist die Aufnahmeund Versorgung so vieler Menschen in deman Ressourcen armen Land bislang erstaun-lich ruhig verlaufen. Aber es gärt, weil dieeinheimische arme Bevölkerung klagt, dassöffentliche Mittel weniger ihr als vielmehrden Flüchtlingen zu Gute kommen. In Jorda-nien wie im Libanon lebt der Großteil der Flüchtlinge gerade in den Regionen mit den höchsten Ar-mutsraten, dem jordanischen Norden und der libanesischen Bekaa-Ebene sowie dem Norden des Liba-non. Besonders dort ist der soziale Frieden in den Gemeinden gefährdet.

    WirtschaftDie Volkswirtschaften beider Länder waren bereits vor Ausbruch der Flüchtlingskrise belastet. Mit denInstabilitäten des Arabischen Frühlings hatten Auslandsinvestitionen und die Zahl der Touristen abge-nommen, mit der Zuspitzung der Situation in Syrien und Irak gingen schließlich Handelsräume und

    Märkte verloren. Nun kommen, auch angesichts einer unzulänglichen Infrastruktur und von Versor-gungsengpässen, weitere hohe Belastungen auf die Staatshaushalte zu.  Wohlstand und Lebensstan-dard sinken (das GDP des Libanon ist 2014 um 2,9 Prozent zurückgegangen, das Jordaniens um 1 Pro-zent), und die Arbeitslosigkeit unter der einheimischen Bevölkerung steigt: im Libanon um 10 Prozent,in den am stärksten von Flüchtlingen betroffenen Gouvernoraten Jordaniens um 8 Prozent. Dabei trifftdie Überlastung der Systeme alle Menschen gleichermaßen.

    SicherheitNeben allen sozioökonomischen Belastungen stellen der Zusammenbruch staatlicher Ordnung in Syri-en (und auch im Irak) sowie die Aufnahme der Flüchtlinge beide Länder auch vor ein Sicherheitsprob-lem. Die US-Regierung stuft die Gefahr politischer Gewalt bis hin zu terroristischen Anschlägen fürJordanien als hoch ein und beschränkt die Freizügigkeit ihrer Mitarbeiter. Libanon gilt als „critical“, esbesteht eine Reisewarnung für das ganze Land. Immer wieder werden geplante schwere Anschlägevereitelt.

    Die syrischen Flüchtlinge sind zwar zunächst Opfer der unterschiedlichen Konfliktparteien, die ihrLand derzeit verwüsten und die Zivilbevölkerung dabei nicht schonen; aber unter ihnen finden sichauch Akteure des syrischen Konflikts. Die Flüchtlinge haben nicht nur ihre Heimat und ihre Existenz-grundlagen, sondern zumeist auch Familienangehörige und Freunde verloren. Der Hass auf die jeweilsverantwortlichen Akteure für Vertreibung, Tod und Elend hört nicht an den Landesgrenzen auf, und sobesteht für die Aufnahmeländer durchaus die Gefahr, dass der syrische Bürgerkrieg auf ihrem Boden

    fortgesetzt wird. In der libanesischen Hafenstadt Tripoli ist es bereits zu bewaffneten Auseinanderset-

    Flüchtlingslager Zaatari im Norden Jordaniens 

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    zungen rivalisierender Gruppen verschiedener Stadtteile gekommen. Auch in den FlüchtlingslagernJordaniens sind die politischen Akteure Syriens präsent und versuchen, die Lagerbevölkerung politischzu organisieren. Jordanien ist logisches Anschlagsziel des Islamischen Staates (IS), weil das Land einwichtiges Mitglied in der internationalen Anti-IS-Koalition ist. In der Vergangenheit gab es offene

     Versuche der Rekrutierung von Kämpfern im jordanischen Lager Zaatari,  der IS soll bereits über Zellenim Land verfügen. Geheimdienst und Sicherheitsbehörden schützen zwar die Unversehrtheit von Bür-gern und Ausländern professionell und bislang zuverlässig, aber es gilt in beiden Ländern, Infiltratio-nen durch Agitatoren des Assad-Regimes oder des IS, der Nusra-Front und ihrer Ableger zu verhin-dern. Dies ist eine zentrale Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und der Stabi-lität der Aufnahmeländer.

    2. Staatliche und kommunale Herausforderungen bei der Eingliederung syrischer Flüchtlinge inJordanien und im Libanon

    Seit Beginn der Krise sind in Jordanien 100.000 und im Libanon 120.000 syrische Kinder geboren wor-den; außerhalb des Landes wächst eine neue Generation von Syrern heran – auch in Deutschland. Einlängerer Verbleib der syrischen Flüchtlinge in ihren Aufnahmeländern führt unweigerlich dazu, dasshier Menschen aufwachsen, die vielleicht ihr Leben lang dem Flüchtlingsstatus nicht mehr entkommen– ähnlich, wenn auch aus anderen Gründen, den palästinensischen Flüchtlingsgemeinschaften.

    Jordanien und der Libanon verfolgenderzeit keine Strategien zur Eingliede-rung der syrischen Flüchtlinge, um keineAnreize für deren dauerhaften Verbleib

    in den beiden Ländern zu schaffen. An-gesichts der politischen Realitäten müs-sen jedoch Konzepte dafür entwickeltwerden, denn Syrien –  auch ein Nach-kriegs-Syrien – wird ein politisch insta-bilerer und unsicherer Staat bleiben alsJordanien und selbst der Libanon; vielesyrische Flüchtlinge werden deshalb aufabsehbare Zeit nicht zurückkehren wol-len. Dies erfordert langfristige Konzeptezur gesamtwirtschaftlichen Entwicklungder Länder, besonders mit Blick auf die

    Integrationsfähigkeit in den aufnehmenden Gemeinden. Da die große Mehrheit der Flüchtlinge nichtin Lagern lebt, müssen Entwicklungsinvestitionen für die Gesamtgesellschaften getätigt werden – eineDifferenzierung in Investitionen für Libanesen bzw. Jordanier auf der einen Seite und Syrer auf deranderen ist schon praktisch gar nicht mehr möglich. Dies schließt die Notwendigkeit zu verstärktenAnstrengungen der internationalen Gemeinschaft ein, sich am dauerhaften Ausbau von Infrastruktur-und Entwicklungsprojekten zu beteiligen. Besonders in Jordanien arbeiten internationale Hilfsorgani-sationen bereits heute hoch professionell, die Erfassung der Flüchtlinge mittels biometrischer Datenerlaubt die schnelle, elektronische, kostengünstige Zuteilung von Hilfsleistungen und sorgt für verläss-liche, glaubwürdige Daten.

    FNF-Bildungsbus - Syrisch-libanesisch gemischte Jugendgruppe bei einer der

    Schulungen zur Konfliktbewältigung 

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    Die zentralen Problemdimensionen lassen sich schlaglichtartig folgendermaßen zusammenfassen:

     Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wohnraum und kommunalen DienstleistungenBesorgniserregend ist, dass die zentralen Hilfswerke UNHCR und World Food Programme (WFP) keine

    ausreichenden Mittel mehr zur Verfügung haben. Da zwei Drittel der syrischen Flüchtlinge in Armutleben, ist die Aussage des WFP dramatisch, dass ebenfalls zwei Drittel der registrierten syrischenFlüchtlinge in Jordanien (440.000 von 650.000) nicht mehr ausreichend mit Lebensmitteln bzw. Le-bensmittelgutscheinen versorgt werden können. Allein die tägliche Versorgung der 100.000 Lager-flüchtlinge erfordert die tägliche Menge von 20 Tonnen Brot.

    In Jordanien leben etwa 15% der Syrer in Lagern,85% (im Libanon 57%) in angemietetem oder er-worbenem, festem, oft nicht fertiggestelltemWohnraum oder in gewerblichen Gebäuden. Aus denCamps abgewanderte Syrer kehren wieder dorthinzurück, wenn sie die Lebenshaltungskosten in urba-nen Regionen nicht mehr tragen können. Grund-stückspreise haben sich teilweise verdoppelt,das Mietpreisniveau hat sich regional vervierfacht.Syrer konkurrieren mit Jordaniern und Libanesen umWohnraum, und junge einheimische Paare habenkaum mehr Chancen auf den Erwerb von Eigentum.So sind etwa im libanesisch-syrischen Grenzort Mar

    Elies zu 50.000 Libanesen 70.000 Syrer hinzugekommen. Sogar vormalige Legehennen-Batterien wer-den umgebaut, um Flüchtlinge aufzunehmen. Syrische Familien teilen sich Wohnungen, um Ausgaben

    zu sparen; sie schicken ihre Kinder vielfach nicht in die Schule, sondern zum Arbeiten, um sich dasLeben außerhalb der Camps leisten zu können.

    Die Wasserversorgung funktioniert –  vor allem imSommer  –  nicht mehr ausreichend, pro Kopf istweniger Wasser vorhanden. Der ungleiche Zugangzu Wasser schürt Spannungen, Syrer wie Einheimi-sche müssen Wasser privat erwerben, die Wasser-qualität sinkt. Die Abwassersysteme sind überlastetund drohen, das Trinkwasser zu verunreinigen.Septische Abwassertanks werden unbehandeltirgendwo ausgeleert. Das Müllaufkommen hat sichteilweise verdoppelt, die Kommunen haben wederFahrzeuge oder Müllcontainer noch das Personal,um den Müll angemessen zu entsorgen. Straßensind überlastet, die Kommunen haben kein Geld,um den erhöhten und verteuerten Strombedarf zu finanzieren. Dies betrifft Jordanien wie den Libanongleichermaßen.

    Flüchtlingsfrau in Mar Elias 

    Syrische Flüchtlingsfrauen bei gegenseitiger Schulung zu Fragender Gesundheit, Familien-Planung und Gewaltprävention

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    Zugang zum GesundheitswesenDer für syrische Flüchtlinge in Jordanien anfangs kostenlose Zugang zum Gesundheitswesen ist schonseit längerem nicht mehr finanzierbar. 26 Mio. Euro sind hierfür seit Ausbruch der Krise aufgewandtworden. Die Qualität der Dienstleistungen sinkt, Wartezeiten steigen, die Spannungen mit und in der

    einheimischen Bevölkerung damit auch. Eine mit hohen Kosten verbundene Krankheit wie Tuberkuloseist zurückgekehrt. In den Camps steht ein breites Versorgungsangebot der internationalen Organisati-onen bereit – außerhalb der Lager jedoch wird es teuer. Die Flüchtlinge, die kaum Einkommen haben,sehen sich dem Verlangen der Krankenhäuser nach einer Vorauszahlung für eine Behandlung gegen-über. Und die Kapazitäten reichen nicht aus: Denn vor allem staatlichen Krankenhäusern fehlt es anPersonal, Ausrüstung, Arzneimitteln und Ambulanzfahrzeugen, um die massiv gestiegene Zahl vonPatienten zu versorgen. Im Libanon werden syrische Krankenschwestern illegal beschäftigt, und liba-nesische Medizinstudenten werden für Impfkampagnen angeheuert. „Medical Trucks“ internationalerOrganisationen fahren über die Dörfer und leisten eine ambulante medizinische Grundversorgung.Zweifellos haben die staatlichen Gesundheitssysteme beider Länder ihre Kapazitätsgrenzen längsterreicht.

    Zugang zu den BildungssystemenMehr als die Hälfte der syrischen Flüchtlinge in Jordanien ist unter 18 Jahre alt, 220.000 von ihnensind im Schulalter. Ihnen muss der Zugang zu Bildungsangeboten geschaffen werden, doch für mehrals ein Drittel, derzeit 90.000 Kinder, sind keine Unterrichtsplätze vorhanden, sie bleiben außerhalbdes Bildungssystems. Neben der Verbesserung der gegebenen Unterrichtskapazitäten, die Klassen mitbis zu 70 Schülern kennen, sind Angebote für die Kinder wichtig, die in keinen Regelunterricht aufge-nommen werden konnten. Denn hier droht eine verlorene Generation bildungsferner junger Menschenmit geringen Aussichten auf ein adäquates Erwerbsleben heranzuwachsen, die anfällig für Verspre-chungen Radikaler werden und leichter als andere in Delinquenz und Terrorismus abrutschen kann.

    Im Libanon geht weit weniger als die Hälfte der400.000 syrischen Kinder im Schulalter zur Schu-le – in der Bekaa-Ebene, wo mehr als ein Drittelaller Syrer im Libanon konzentriert ist, ist es nurca. ein Sechstel. Viele syrische Kinder sind Anal-phabeten oder erreichen das Schulniveau ihrerKlassenstufe bei weitem nicht, denn sie haben inden Kriegsjahren keinen Unterricht besuchenkönnen. Dreizehnjährige in der 7. Klasse, diehöchstens über das Niveau der 2. oder 3. Klasseverfügen, sind keine Seltenheit. Die Abbrecher-quote ist hoch: Entweder weil die Eltern ihreKinder zum Betteln schicken oder weil die Kinderpsycho-soziale Probleme haben. Diese liegen

    auch verbreiteter Gewalttätigkeit in den Schulen zugrunde.

    Syrische Studenten finden im Libanon und in Jordanien kaum Studienplätze. Hohe Studiengebühren,fehlende Dokumente (Pass, Aufenthaltsgenehmigung, Leistungsnachweise), fehlende Kompatibilitätvon studienqualifizierenden Abschlüssen, Studiengängen und -inhalten sind oft unüberwindliche Bar-rieren, jedenfalls erschweren sie den Hochschulzugang. Die Menschen sind ohne solche Dokumente

    Mohammad und Ahmad in einer libanesischen Schule im Bekaa-Tal 

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    geflohen, sie können sich als Regimegegner nicht an die syrischen Botschaften in Jordanien und imLibanon wenden, und sie können auch nicht nach Syrien zurück, um ihre Papiere zu vervollständigen.

    Zugang zum Arbeitsmarkt

    Die Arbeitslosenziffern der Bevölkerungen in Jordanien und im Libanon sind zwar nicht wesentlichgestiegen, stehen Verlusten im Verdrängungswettbewerb mit syrischen Zuwanderern doch auch neueArbeitsplätze durch die Neuansiedlung syrischer Unternehmen gegenüber. Aber Syrer konkurrieren mitJordaniern und Libanesen um Arbeit, die Syrer akzeptieren in der Regel niedrigere Löhne, selbst unter-halb des Mindestlohnes. Syrer gelten bei ihren Nachbarn als talentierte, gute Arbeiter und als ge-schmeidige und geschickte, freundliche Unternehmer. Die Jahrhunderte alte syrische Handelstraditionhat eine Arbeitskultur praktischer Fertigkeiten geschaffen, die etwa in Jordanien so nicht vorhandenist.

    Ohne Arbeitserlaubnis dürfen Syrer in Jorda-nien und dem Libanon allerdings keiner Ar-beit nachgehen. Deren Beantragung scheitertoft an Dokumenten, die auf die Flucht nichtmitgenommen wurden, oder am Beweis, dasskein Einheimischer für die Arbeit besser ge-eignet ist. Auch die Gebühren sind prohibitiv.Jordanien vergibt an 10 Prozent der Flücht-linge eine Arbeitserlaubnis; ein Großteil ar-beitet in der Landwirtschaft, weitere auf demBau, als Angestellte in Restaurants und klei-nen Supermärkten, fast alle im informellen

    Sektor. Viele Syrer, gerade auch Fachkräfte,arbeiten ohne Arbeitserlaubnis, in der Illegali-tät oder in einfachen Berufen, und in der ständigen Angst, von den jordanischen und libanesischenBehörden aufgegriffen zu werden und im schlimmsten Fall zurück nach Syrien geschickt zu werden. Sonehmen syrischen Arbeitnehmer oft widrige Arbeitsbedingungen in Kauf und bleiben am Ende desTages oft unbezahlt, denn Rechte können sie nicht einklagen.

    Sinnvoller wäre, sie langfristig mit ihrer vollen Qualifikation in den einheimischen Arbeitsmarkt zuintegrieren, der sich ja ausweitet. Aber das wäre ein Schritt der Integration, den weder die libanesi-sche noch die jordanische Regierung wagen. Auch in Deutschland wird ein solcher Eingliederungspro-

    zess Konkurrenzängsten begegnen und Zeit brauchen, um Qualifikationen zu erwerben und Erfahrun-gen mit Förderung und Eingliederung zu sammeln.

    3. Schlussfolgerungen für Politik und Gesellschaft in Deutschland

    Allein diese zusammenfassende Darstellung der Problemdimensionen, vor denen der Libanon und Jor-danien gestellt sind, macht deutlich: Die beiden Länder dürfen bei der Bewältigung der Flüchtlings-problematik nicht allein gelassen werden! Ohne internationale Hilfe werden sie nicht in der Lage sein,die anstehenden Aufgaben langfristig und nachhaltig zu erfüllen, sondern selbst Gefahr laufen, inUnruhe und Instabilität abzurutschen. Damit würden die letzten Stabilitätsanker im arabischen Ostenverschwinden, der Maschrek würde vollends ins politische Chaos geraten – mit allen Folgewirkungen

    Syrische Flüchtlingsfrauen im Libanon 

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    für Deutschland und Europa. Die gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen wären nur mehr ein Vorge-schmack dessen, was bei einem solchen Szenario auf Europa zukäme. Internationale Hilfe bedeutetzunächst die Bereitstellung finanzieller und anderer Ressourcen, aber auch Abstimmung bzw. Erfah-rungsaustausch über geeignete und gescheiterte Strategien bei der Aufnahme und Integration.

    Darüber hinaus ist deutlich, dass Deutschland und die übrigen Staaten der EU angesichts der Flücht-lingsbewegungen des Sommers 2015 im Prinzip vor den gleichen strukturellen Herausforderungen wieJordanien und der Libanon stehen. Unabhängig von der Lösung der gesamteuropäischen Grundsatzfra-gen, die vorrangig mit der Realisierung des Rechts auf Asyl zusammenhängen, müssen sich Politik undGesellschaft in Deutschland daher auf die absehbaren Konsequenzen der Fluchtbewegungen einstel-len. Halten die gegenwärtigen Zahlen an, so ist nicht auszuschließen, dass die Zuwanderung derkommenden Monate die Millionengrenze überschreitet. Der Familiennachzug wird kaum steuerbarsein, bereits heute stehen erste Antragsteller vor der Deutschen Botschaft in Beirut und beantragendie Nachreise. Auf Facebook-Seiten werden im Internet detailliert Reiserouten nach Deutschland er-läutert und verbreitet, samt Kostenkalkulation und praktischen Reisetipps. Der dort von Exilsyrern ge-nannte Reisepreis auf der Route über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn be-trägt € 2.400. Der Sog ist enorm und wird anhalten, Syrer zieht es zu Syrern, Eltern und Großeltern zuihren geflohenen Kindern und Enkeln.

    Grundprobleme der Eingliederung

    „Warum wollt Ihr Deutsche so viele Syrer auf-nehmen?“ fragt ungläubig ein Berater des liba-nesischen Bildungsministers – und versteht wohlnicht wirklich das Argument der gewollten Zu-

    wanderung in praktische Berufe. In der Tatkommen talentierte, bis zur Selbstaufgabe aus-bildungs- und arbeitsbereite junge Menschen zuuns, viele mit besten Schulleistungen. Der Ein-gliederungsprozess dieser Menschen, die ihrenTraum von einer gesicherten Existenz sowie ei-nem Leben in Würde und Wohlstand realisieren

    wollen, wird Konkurrenzängsten begegnen undZeit brauchen, um die von Industrie und Hand-

    werk benötigten Qualifikationen zu erwerben. Gleichzeitig werden aber auch kaum integrierbare Anal-

    phabeten einwandern, alte Menschen, Kranke: Die Sozialsysteme werden mittellose Syrer aufnehmenmüssen – während die Familien reicher Syrer so viel Geld nach Deutschland transferieren werden, dasses zu bislang unbekannten Wettbewerbskonflikten wie auch zu Preissteigerungen auf dem Mieter-und Käufermarkt von Immobilien kommen wird.

    Die anfängliche Euphorie der Syrer wird vielfach der Enttäuschung über nicht erfüllte HoffnungenPlatz machen, es wird den Deutschen gehen wie den Jordaniern: Diese reagieren fassungslos auf eineverbreitete Unzufriedenheit vieler Syrer wegen der Unzulänglichkeiten der Hilfe, es gibt Kritik an denHelfern und Undank gegenüber denjenigen, die als Einheimische massive Einschränkungen ihrer Le-bensverhältnisse erfahren. Auch in Deutschland wird es diese Spannungen und Konflikte geben. Of-fenheit und Aufnahmebereitschaft werden in der deutschen Bevölkerung über Jahre hinaus gefordert

    Syrisches Kind in Mar Elias – Bekaa-Tal, Libanon 

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    sein, die aktuelle Willkommenskultur wird sich über viele Jahre und Enttäuschungen im Zusammenle-ben hinweg immer wieder neu bewähren müssen.

    Auch Sicherheitsrisiken, die aus der Zuwanderung aus Syrien und anderen Krisenstaaten der weiteren

    Region erwachsen, sind nicht zu verleugnen. Ein großer Teil der Flüchtlinge ist in anti-westlichen,anti-zionistischen, anti-liberalen und/oder anti-modernen Denkweisen verhaftet. Es wäre naiv, dieGefahr eines Anwachsens von religiös motiviertem Extremismus in Deutschland auszublenden. Radika-le Drahtzieher werden Enttäuschungen der syrischen Flüchtlinge ausnutzen wollen. Hier wartet einegroße Aufgabe auf deutsche Institutionen der politischen Bildung, aber auch auf die islamischen Ge-meinden und ihre Verbände in Deutschland.

    Schule und Bildung Vor allem die jungen Syrer müssten ab ihrem ersten Monat Deutsch lernen, um sich schulisch undberuflich qualifizieren zu können. Bildungsangebotegehören zur Ersthilfe. Flüchtlinge mit einer Qualifi-kation als Lehrer, medizinisches Hilfspersonal,Übersetzer, Psychologen sind für die Mithilfe beider Betreuung auszuwählen und zu schulen. VieleDienstleistungen werden auf Jahre hinaus in arabi-scher Sprache anzubieten sein.

    Die Behörden werden sich mit syrischen Curriculavertraut machen müssen, um den Bildungshinter-grund der jungen Generation einschätzen zu kön-nen. Kinder werden ohne formale Schulnachweise

    einzustufen und einzuschulen sein; die wenig re-flektive Unterrichtskultur der arabischen Staatenmuss verstanden werden, um die Kinder an kritisches, eigenständiges und frühes wissenschaftlichesDenken heranzuführen, das in der arabischen Welt wenig gelehrt wird. Hiermit mögen viele syrischeSchüler erst einmal überfordert sein. Sie kommen ohne Fremdsprachenkompetenz, die Eltern ohne das

     Verständnis einer aktiven, fördernden Elternrolle. Welten trennen sie von der deutschen Schul- undBildungstradition. Gerade die Sprachvermittlung als Schlüssel für alle Orientierung und Eingliederungbietet unendlich viel Raum für Nachbarschaftshilfe. Deutsch kann auch ohne Staatsexamen vermitteltwerden.

    Dabei werden im Prozess der Eingliederung in die deutschen Schulen vielfältige Defizite und Betreu-ungsbedarf der syrischen Kinder offenbar werden. Sie haben Kriegsalltag erlebt, waren Gewalt ausge-setzt, müssen den Verlust von Familienangehörigen bewältigen, sie haben lange keinen Schulunter-richt besuchen können und weisen Bildungs- und Entwicklungsdefizite auf. Diese Kinder fühlen sichleer, sie müssen psychisch wie erzieherisch „umarmt“ werden, wie es Psychologen im Libanon formu-lieren, sie müssen ihre Erlebnisse verarbeiten können. Die Kinder erleben die erzieherische Vernachläs-sigung in den Kriegsjahren, Zerstörungen, die Flucht, den Verlust von Heimat und Sicherheit und nunden Neubeginn als einen kulturellen Schock und müssen sich willkommen und aufgenommen fühlen.Hier ist die Zivilgesellschaft, sind deutsche Nachbarn gefordert. Viele Defizite, Persönlichkeits- undEntwicklungsstörungen bedürfen aber auch professioneller therapeutischer Behandlung.

    FNF-Schulungsbus unterwegs zu Flüchtlingen im Bekaa Tal,Libanon 

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    Post-Konflikt-Strategien und die Bekämpfung der FluchtursachenSchließlich steht die internationale Gemeinschaft, und damit auch Deutschland, vor der Herausforde-rung, Post-Konfliktszenarien für Syrien zu entwickeln und durchzusetzen. Die Beendigung des blutigenBürgerkriegs als Grundvoraussetzung für die Überwindung der Fluchtursachen und die Wiederherstel-

    lung eines Mindestmaßes an regionaler Stabilität ist für sich genommen bereits ein politisches Gebot.Zugleich ist es Bedingung für eine Rückkehr derjenigen Flüchtlinge, die schließlich doch in ihr Landzurückkehren wollen – weil ihre Integration in den Aufnahmeländern fehlgeschlagen ist, weil sie amAufbau eines neuen und tragfähigen syrischen Staates mitarbeiten wollen oder weil es sie ganz ein-fach in ihre alte Heimat zurückzieht. Bereits heute gibt es Flüchtlinge, die trotz aller Unsicherheitenaus arabischen Aufnahmeländern nach Syrien zurückkehren. Sie benötigen Lebenschancen. Hilfsorga-nisationen werden also in die Lage versetzt werden müssen, langfristig und umfassend in einemNachkriegs-Syrien arbeiten zu können.

    Dazu gehört auch die zivilgesellschaftliche, poli-tisch-demokratische (Aus-) Bildung von Syrern inden Aufnahmeländern. Durch die politische Un-terdrückung waren politische Vielfalt, Freiheitund Pluralismus, freie Meinungsäußerung nichtgegeben. Dementsprechend fehlen Kenntnisse inpolitischen Themen wie Demokratie, Menschen-rechte, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft undMenschenrechtsschutz. Die gilt es, den Syrern inden Aufnahmeländern zu vermitteln, damit siemit diesem Wissen und neuen Fertigkeiten einesTages in ein erschöpftes Syrien zurückkehren

    können, um den notwendigen zivilgesellschaftli-chen Beitrag für eine Befriedung leisten können.

    Auch politische Stiftungen haben hier die Aufgabe, kommende politische Akteure auf die Gestaltungder Zukunft Syriens vorzubereiten. 

    Ulrich Wacker ist FNF-Projektleiter für Jordanien, Syrien und den Libanon mit Sitz in Amman.Dr. René Klaff  leitet das FNF-Regionalbüro Mittlerer Osten und Nordafrika mit Sitz in Kairo.

    Bildmaterial: FNF-Projektbüro Amman

    ImpressumFriedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF)Fachbereich InternationalesReferat für QuerschnittsaufgabenKarl-Marx-Straße 2D-14482 Potsdam

    Syrisch-libanesisch gemischte Jugendgruppe bei einem Seminar zurKonfliktbewältigung