27
Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen 26 2. Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen. In der ‚ westlichen ‘ Diskussion werden jegliche Beiträge zur politischen Theorie internationaler Organisationen in eine vermeintlich existente Dichotomie einsortiert, entweder der liberalen ‘ oder der ‚ realistischen ‘ Schule zu entspringen 5 . „The terms „realism“ and „liberalism“ (...) are not simply a question of international relations (IR) the- ory. These are also very important policy-frameworks in the Asia-Pacific region when we analyze prospects for regional order and regional stabiliy.“ (Acharya 1999:1) Während die Liberalen u.a. die Prozesshaftigkeit, Wider- sprüchlichkeit, die Verflechtungs- sowie die Kooperations- und Integrationsproblematik der internationalen Beziehungen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rücken, führen die (Neo-)Realisten die herrschenden Einflussfaktoren der inter- nationale Ebene auf den Staat sowie auf ökonomische und zwischenstaatliche Akteure als Machtkerne zurück. Dieser Dualismus muss jedoch insofern kritisiert wer- den, als dass ihm eine Art ‚ Siegermentalität ‘ innewohnt, die es ihm zu erlauben scheint, die konflikttheoretische Schule der marxismusnahen Ansätze zu ignorieren. Innerhalb der US- amerikanischen Diskussion ist dies kaum verwunderlich, seit- dem von McCarthy bis Reagan nahezu alle politischen Leitbil- der die Masse der Gesellschaft vor dem ‚kommunistischen Übel‘ und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Ideen bewahren konnten. Umso bedauerli- cher ist, dass mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatsmodelle bzw. Gesellschaften auch in Europa der Blick 5 Eine Schwierigkeit besteht hinsichtlich der uneinheitlichen Terminolo- gie. Neben der in dieser Arbeit präferierten Bezeichnung der „libe- ralen Schule“ (auch Rittberger 1995, Long 1995, Czempiel 1999) nennt ein Teil der Literatur diesen Ansatz „Institutionalismus“ (z.B. Schlotter 1999, Acharya 1999) oder „Neoliberal Institutionalism“ (Keohane 1989).

2. Rahmenbedingungen und Theorien internationaler ...webdoc.sub.gwdg.de/ebook/diss/2003/fu-berlin/2001/132/kap2.pdf · politischen Theorie internationaler Organisationen in eine vermeintlich

  • Upload
    others

  • View
    9

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

26

2. Rahmenbedingungen und Theorien internationalerOrganisationen.

In der ‚westlichen‘ Diskussion werden jegliche Beiträge zurpolitischen Theorie internationaler Organisationen in einevermeintlich existente Dichotomie einsortiert, entweder der‚liberalen‘ oder der ‚realistischen‘ Schule zu entspringen5.

„The terms „realism“ and „liberalism“ (...) are notsimply a question of international relations (IR) the-ory. These are also very important policy-frameworksin the Asia-Pacific region when we analyze prospectsfor regional order and regional stabiliy.“ (Acharya1999:1)

Während die Liberalen u.a. die Prozesshaftigkeit, Wider-sprüchlichkeit, die Verflechtungs- sowie die Kooperations-und Integrationsproblematik der internationalen Beziehungenin den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rücken, führen die(Neo-)Realisten die herrschenden Einflussfaktoren der inter-nationale Ebene auf den Staat sowie auf ökonomische undzwischenstaatliche Akteure als Machtkerne zurück.

Dieser Dualismus muss jedoch insofern kritisiert wer-den, als dass ihm eine Art ‚Siegermentalität‘ innewohnt, die esihm zu erlauben scheint, die konflikttheoretische Schule dermarxismusnahen Ansätze zu ignorieren. Innerhalb der US-amerikanischen Diskussion ist dies kaum verwunderlich, seit-dem von McCarthy bis Reagan nahezu alle politischen Leitbil-der die Masse der Gesellschaft vor dem ‚kommunistischenÜbel‘ und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit denzugrundeliegenden Ideen bewahren konnten. Umso bedauerli-cher ist, dass mit dem Zusammenbruch der sozialistischenStaatsmodelle bzw. Gesellschaften auch in Europa der Blick 5 Eine Schwierigkeit besteht hinsichtlich der uneinheitlichen Terminolo-

gie. Neben der in dieser Arbeit präferierten Bezeichnung der „libe-ralen Schule“ (auch Rittberger 1995, Long 1995, Czempiel 1999)nennt ein Teil der Literatur diesen Ansatz „Institutionalismus“ (z.B.Schlotter 1999, Acharya 1999) oder „Neoliberal Institutionalism“(Keohane 1989).

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

27

für diesen Teil der politischen Ideengeschichte zunehmendverloren zu gehen scheint. 6

Die Tatsache, dass es in Asien eine ganze Reihe vonGesellschaften gibt, deren Geschichte, Identität, Institutionen,Funktionsweisen und Interpretationen des (internationalen)politischen Systems zum Teil auf eben jenen Theorien wurzelt,bringt es indes mit sich, die konflikttheoretische Schule in dieBetrachtung mit einzubeziehen, selbst wenn mit dieser Arbeitder beschriebene Mangel an Reflexion der konflikttheoreti-schen Ansätze nicht adäquat behoben kann. Daher wird sichdieses Kapitel auf einige Bemerkungen zum Konzepts der‚friedlichen Koexistenz‘ von Fénelon im Zusammenhang mitder chinesischen Vorstellung eines internationalen Regimesfür Nordostasien und der nordkoreanischen Position hinsicht-lich der Lösung der Koreafrage beschränken müssen.

Noch ein weiterer Punkt soll hier angesprochen werden:allzu oft tritt bei den Überlegungen der verschiedenen Schuleneine wichtige Grundprämisse in den Hintergrund – nämlichdass es nicht darum gehen kann, den einen oder anderen An-satz als ‚Königsweg für einen immerwährenden Frieden‘ o.ä.zu präsentieren. Solche Überhöhungen zieren das Ende manchschönen Märchens, sind jedoch nicht geeignet, die bspw. vonunerwarteten Entwicklungen, informellen Regeln, machthung-rigen Despoten, ideologisierenden Volkshelden o.ä. beein-flusste Realpolitik zu beschreiben, zu systematisieren, zu ent-wickeln oder zu projizieren. Die asiatisch-pazifische Regionzeigt besonders anschaulich, dass hier verschiedene Elementeund Ansätze aus den unterschiedlichen Schulen berechtigteArgumente entwickeln, wie oder warum einzelne Bedingungendes internationalen Systems als relevant für eine umfassende

6 Zweifellos finden sich auch Ausnahmen in der Darstellung, so z.B. die

Veröffentlichung Rittbergers „Internationale Organisationen – Po-litik und Geschichte“ (1995), in der die konflikttheoretische Schulegleichberechtigt neben die beiden anderen Strömungen gestelltwird. Allerdings kommt auch Rittberger nicht umhin, die Abwei-chung dieses Ansatzes von der „traditionellen Dichotomie“ (Ritt-berger 1995:80) herauszustellen.

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

28

und genaue Analyse der Situation bezeichnet werden müssen.Politikwissenschaftlich findet ein solch heterogener Analy-serahmen seine Entsprechung in einer Abwandlung des ‚Mo-dells der Gleichzeitigkeit von prämodernen, modernen undpostmodernen Welten‘ das auch bei Maull (1999:2) zum Aus-druck kommt:

„Zugleich argumentiere ich – in Anlehnung an RobertCooper (...) -, dass sich in Ostasien drei analytischunterscheidbare und ihrem Wesen nach auch deutlich un-terschiedliche Arten von Konflikten miteinander ver-mengen und übereinander schieben (...). So diagnosti-zieren unterschiedliche ‚Schulen‘ der Disziplin ‚In-ternationale Politik‘ ganz unterschiedliche Probleme,die erst in der Zusammenschau ein realistisches Ge-samtbild vermitteln.“

Kritiker einer solchermaßen übergreifenden – bzw. ‚integrati-ven‘ – Herangehensweise mögen anführen, ein solches Verfah-ren füge lediglich versatzstückartig einzelne Ideen zu einemtheoretischen ‚Patchwork‘ zusammen. Demgegenüber stelltdiese Arbeit den Absolutheitsanspruch jeder Schule in Frage.Es sei an dieser Stelle auf die Einschätzung in der modernenSozialwissenschaft verwiesen, in der ‚Teiltheorien‘ als Aus-gangspunkt für Situationsanalysen gegenüber ‚Universaltheo-rien‘ bevorzugt werden:

„Nicht umsonst hat sich die moderne Sozialwissenschaftlängst auf Teiltheorien, auf Quasitheorien konzen-triert, die sehr viel wirklichkeitsnäher, empiriege-sättigter und daher in der Lage sind, nicht nur dengesellschaftlich-politischen Bedingungen einer EpocheRechnung zu tragen, sondern auch deren Wandel.“ (Czem-piel 1999:21)

Auch wenn die neoinstitutionalistischen Diskussionsbeiträgeals wichtigste Strömung hinsichtlich der Entwicklungschanceneines stabilen, internationalen Sicherheitsregimes in der Regi-on angesehen werden müssen, wird der anschließende Ab-schnitt versuchen, die tatsächlich relevanten Fundamente derinternationalen Beziehungen im asiatisch-pazifischen Raumansatzübergreifend zu evaluieren.

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

29

2.1 Grundgedanken der liberalen Schule

Den verschiedenen Ansätze der liberalen Schule gemein ist derEntwurf eines internationalen Systems, welches grundsätzlichdurch gemeinsame bzw. gegensätzliche Interessen der Gesell-schaften geprägt ist. Internationale Kooperation bzw. Ausein-andersetzungen entwickeln sich in erster Linie anhand der ein-zelnen Interessenlagen der Gesellschaften in den spezifischenPolitikfeldern. Das internationale System besteht daher auseinem Geflecht von gemeinsamen und widersprüchlichen In-teressen, die unterschiedlich stark gewichtet, komplexe Steue-rungsmechanismen für die vielschichtigen Beziehungen zwi-schen den staatlich organisierten Gesellschaften notwendigmachen.

„Außerdem geht die liberale Schule von einem aus In-terdependenz- und Verflechtungsproblemen herrührendeninternationalen Problemlösungsbedarf in zentralen Po-litikfeldern aus, dem nur durch eine wachsende Insti-tutionalisierung der kollektiven Problembearbeitungunterschiedlicher Reichweite und Intensität gerecht zuwerden ist.“ (Rittberger 1995:76)

Diese Überlegungen werden durch zahlreiche Beispiele ausder Praxis belegt. Etwa konnte die sog. ‚Asienkrise‘ deutlichmachen, in welch hohem Maße die ökonomischen Strukturenim asiatisch-pazifischen Raumes zusammenhängen. Stoppenkonnte die verhängnisvolle Entwicklung, in der sich die Wirt-schafts- und Finanzstrukturen, gleich einem Dominoeffekt,von Japan bis Indonesien im Zusammenbruch befanden, derIWF – eine multinationale nichtstaatliche Organisation. Dar-über hinaus wurden die an die Kreditvergabe geknüpften Be-dingungen der Organisation von den betroffenen Staaten ohneAusnahme akzeptiert.

Das wiederum führt mich zu einem weiteren zentralenElement der liberalen Ansätze, nämlich der Forderung nachMiteinbeziehung nichtstaatlicher Akteure, als Ausdruck ge-sellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse, in die Diskussionum Konfliktlösungsstrategien. Damit trägt die liberale Schuleeiner spätestens seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein-setzenden Entwicklung Rechnung, in der sowohl internationale

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

30

Organisationen, als auch supranationale Gesellschaftsinitiati-ven und multinationale Konzerne die Rahmenbedingungen derinternationalen Beziehungen in zunehmenden Maße mitge-stalten. Dadurch ergeben sich – insbesondere durch institutio-nalisierte Organisationen – auch Einwirkungen auf einzel-staatliche bzw. innerstaatliche Strukturen:

„Institutions change as the result of human action,and the changes and expectations and processes thatresult can exert profound effects on state behaviour.“(Keohane 1989: 10)

Im Verlauf der Untersuchungen werden sich die Möglichkei-ten und Bedeutung von internationalen Organisationen alsnormierende und regulierende Kraft im asiatisch-pazifischenRaum präzisieren. Denn mit den verschiedenen (vor allemökonomischen) Organisationen – wie ASEAN, APEC o.ä. –verfügt die Region bereits über machtvolle Instrumentarien,die nationale Gesetzgebungen beeinflussen und normativenCharakter besitzen.

2.2 Die verschiedenen Ansätze innerhalb der LiberalenSchule

Innerhalb der liberalen Theoriekonzepte finden sich – wie er-wähnt – verschiedene Ansätze, die jeweils ein speziellenBlickwinkel auf die internationalen Beziehungen einnehmen.So unterteilt Rittberger (1995: 76-79) die Liberale Schule insechs Untergruppen, zudem sich eine siebente, der Konstrukti-vismus (g) nach Alexander Wendt u.a., gesellt:

- Föderalismus,- Funktionalismus,- Neofunktionalismus,- Transaktionismus,- Interdependenz-Analyse,- (Neo-)Institutionalismus und- Konstruktivismus.

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

31

Obwohl sich das theoretische Augenmerk dieser Arbeit haupt-sächlich auf den Neoinstitutionalismus richtet, sind – wie ein-gangs erwähnt – verschiedene Gedanken der anderen Ansätzeebenfalls bedeutsam7, sodass einige von Ihnen hier Erwähnungfinden müssen:

Innerhalb des Funktionalismus – im wesentlichen ge-prägt durch David Mitrany (1966) – ergeben sich aus der Dy-namik der gesellschaftlichen Entwicklungen mehr oder weni-ger zwangsläufig ihre entsprechenden organisatorischen For-men („form follows function“). Bedürfnisse und Interessen ei-ner Gesellschaft sind aber längst nicht mehr national begrenzt– beispielsweise im Umweltschutzbereich – sodass Problemlö-sungsmechanismen auf supranationaler Ebene die Bildung in-ternationaler Organisationen nach sich zieht.

Neofunktionalisten – wie z.B. Ernst Haas (1968, 1975)und Andrew Moravcsik (1991) bringen das Element der Ver-selbständigung des integrativen Prozesses in die Diskussionein („spill-over-Prozess“), sodass durch internationale Koope-ration in Politikfeldern mit gleichgerichteten Interessenschließlich auch die Felder mit gegensätzlich Interessen einerLösung entgegengeführt werden.

Integrative Prozesse innerhalb von Sicherheitsgemein-schaften hängen – so führen z.B. die Transaktionisten KarlDeutsch e.a. (1957) und Lisa Martin (1992) aus – im wesentli-chen von ihrer Kommunikation und dem Maß der Verständi-gungsbereitschaft ihrer teilnehmenden Gesellschaften ab. Ver-trauensbildungsprozesse sind daher unabdingbare Instrumenteund Grundlagen eines jeden sicherheitspolitischen Integrati-onsprozesses, dessen Institutionalisierung gleichermaßen denGrad der Stabilität einer solchen Sicherheitssystems für dieZukunft („shadow of the future“) erhöht.

Durch ihre Interdependenz-Analyse erklären Robert Keo-hane/ Joseph Nye (1977, 1987) und Beate Kohler-Koch

7 Eine vollständige Wiedergabe der Hauptgedanken der jeweiligen Theo-

rieansätze würde an dieser Stelle den durch das Thema gestecktenRahmen sprengen.

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

32

(1990), dass militärische Macht keineswegs als Garantie zurDurchsetzung eigener sicherheitspolitischer Interessen genügt.

„Die ‚komplexe Interdependenz‘ zeigt also eine Tendenzzur Entwertung militärischer Macht als Handlungsres-source. In dieser Analyse der Entwicklung der interna-tionalen Beziehungen kommt internationalen Organisa-tionen eine wichtige Rolle zu, allerdings weniger alsTräger eines Integrationsprozesses im engeren Sinnedenn als Akteur, Forum und Mittel zum Zweck (...)“(Rittberger 1995:78)

Internationale Organisationen stellen Möglichkeiten zur Ent-scheidungsfindung, Kontrolle, Moderation im Streitfall sowie– gegebenenfalls – zur Sanktionierung zu Verfügung undübernehmen so auch eine aktive Rolle hinsichtlich des Auf-baus, der Konsolidierung und der Entwicklung der internatio-nalen Beziehungen.

Der Konstruktivist Alexander Wendt (1994; 1995) u.a.weisen darauf hin, dass das Wissen um verschiedene bzw. un-terschiedliche Werte und Ideen die Wahrnehmung und Reak-tionen internationaler, z.B. nationalstaatlicher Akteure beein-flussen. Somit erlangen Werte und Normen als Teil von so-zialen Konstruktionen unmittelbaren Einfluss auf die Refle-xions- und Handlungsweisen in der zwischenstaatlichen bzw.internationalen Politik.

„Damit ergänzen diese Ansätze den bisherigen Utilita-rismus im Institutionalismus8 durch eine Handlung-stheorie, mit der erklärt werden könnte, wie und aufwelche Weise politische Akteure die strukturellen Be-dingungen, unter denen sie handeln, wahrnehmen, wiesie die Situation definieren und wie sie dies in Poli-tik umsetzen.“ (Schlotter 1999:41f)

2.3 Der (Neo-) Institutionalismus: Theoretischer Rahmen füreine zukünftige Friedensordnung in Ostasien

Wie zuvor erwähnt weist der Institutionalismus den internatio-nalen Institutionen eine hohe Bedeutung hinsichtlich der Ab- 8 Schlotter verwendet eine andere als die hier verwandte Terminologie.

Er subsummiert verschiedene liberale Theorien unter dem Stich-wort ‘Intstitutionalismus‘.

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

33

milderung der „Eskalationsspirale des Selbsthilfesystems“(Schlotter 1999:37) von Nationalstaaten zu. Mit den Institutio-nalisten erkennt auch die neorealistische Schule die Wirkunginternationaler Organisationen im – und auf den Bereich der(internationalen) Wirtschaftspolitik an. Sogenannte ‚jointgains‘ – gemeinsame Gewinnaussichten – führen demnach zueiner Interessenskonvergenz zwischen verschiedenen Staatenbzw. ökonomischen Akteuren, diese wiederum zur Institutio-nalisierung der Interessenswahrung. Ob es einen ähnlichenMechanismus auch in sicherheitspolitischen Feld gibt, bleibthingegen umstritten.

Besonders im Falle von Wertkonflikten halten die Reali-sten schon die Etablierung von internationalen Institutionen fürunwahrscheinlich. Zunächst deuten verschiedene Argumentedarauf hin, dass die hier von den Realisten aufgegriffene For-derung Kants nach einer ‚weltweiten Wertekongruenz‘ zwin-gende Voraussetzung für die Friedenssicherung durch interna-tionale Institutionen ist. Beispielsweise beginnt sich in der Eu-ropäischen Union erst jetzt, nachdem aus der einstigen ‚Mon-tan-Union‘ über die EWG und EG eine ‚Wertegemeinschaft‘geworden ist, mit der Bildung eines europäischen Außenmini-steriums und der Diskussion um den Aufbau eines Euro-Corpsdie institutionelle Entwicklung im Bereich der gemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik zu manifestieren. Und auch derasiatisch-pazifische Raum besitzt mit z.B. der APEC im öko-nomischen Bereich machtvolle Institutionen, während das z.B.das ASEAN Regional Forum (ARF) als sicherheitspolitischeInstitution als ein „highliy imperfect diplomatic instrument“(Leifer 1996) oder „talk shop“ (Acharya 1999) bezeichnetwird. Gerade aber das europäische Beispiel zeigt, dass ‚joinedgains‘ im ökonomischen Bereich sich zu einem so engen In-teressensgeflecht verdichten können, dass die ökonomischenInstitutionen gleichsam auch als Entwicklungskerne in anderePolitikfelder ausstrahlen. So ist aus der Allianz für die ökono-mische Entwicklung von Kohle und Stahl eine europäische

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

34

Wertegemeinschaft entstanden, die in ihrem Inneren einHöchstmaß an gegenseitiger Sicherheit gewährleistet.

Dies wiederum nährt zwei dem Institutionalismus im-manente Gedanken: Erstens darf eine Institutionalisierungnicht als einseitiger Prozess verstanden werden, indem etwadie Institution am Ende einer Entscheidungs- und Diskussi-onskette steht. Vielmehr entwickeln diese Institutionen Me-chanismen, die ihrerseits in die Gesellschaften hineinwirken.Auf diese Weise können sich langfristig Nationen, die Jahr-hunderte lang immer wieder miteinander Krieg führen, wiez.B. Deutschland und Frankreich, nun zu engen Partnern hin-sichtlich eines regionalen – in diesem Falle gesamteuropäi-schen Integrationsprozesses entwickeln.

Abb. 1 Akteure im Modell des liberalen Institutionalismus

Quelle: Druwe/ Hahlborn/ Singer 1995: 70Zweitens: Basierend auf den Verflechtungsgedanken der In-terdependenzanalyse und bezugnehmend auf eine solche durchgegenseitiger Beeinflussung entstehende Wechselwirkung

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

35

zwischen Institutionen und Gesellschaften im unscharfenSpannungsfeld zwischen Akteur(en) und Struktur(en) wird vonder „Agent-Structure-Problematik“ (Keohane 1989) gespro-chen. Sie wiederum macht deutlich, dass unterschiedlicheWertvorstellungen zwar beim Aufbau institutionalisierterKooperation als ideologische Barrieren wirken können, dieseWerte jedoch mittel- oder langfristig – u.a. durch die beste-henden Institutionen – einer Veränderung unterliegen. Andern-falls wären viele mittel- und osteuropäische Staaten heutenicht Beitrittskandidaten zur EU, bzw. im Zuge der NATO-Osterweiterung in die transatlantische Sicherheitsgemeinschaftintegriert oder an diese assoziiert. Auch Russland und Chinaraufen sich aus Notwendigkeit zu einer ‚strategischen Partner-schaft‘ zusammen.

Heute ist die Möglichkeit, unilateral Sicherheit herbei-zuführen, extrem eingeschränkt. Sie erfordert entweder fastvollkommene wirtschaftliche Subsistenz bei gleichzeitigenormen Rüstungsanstrengungen oder große Teile der Welt insicherheitspolitische Abhängigkeit zu bringen. Interessanter-weise prallen im Spannungsfeld Nordostasiens mit Nordkoreaund den USA beide Varianten aufeinander. Mit den begonnenVierparteiengesprächen zeigt sich jedoch, dass auch diese Na-tionen mit extrem unterschiedlichen Wertmaßstäben durch ihrgemeinsames Interesse an Sicherheit zur Kooperation ge-zwungen sind. Zweifelsohne kann hier noch längst nicht voneiner Phase der Institutionalisierung gesprochen werden, aberwer weiß, was für Überraschungen die Gesprächsrunden nochbereit halten? Jedenfalls scheint eines überdeutlich: derWunsch nach Frieden ist ein grundsätzlicher gemeinsamer undüberaus starker Wert, der viele der sonstigen ideologischenDifferenzen ins zweite Glied verweist.

Schlotter (1999:40) führt über die Wirkungen von In-stitutionen in die Gesellschaften aus, dass Regimeanalysenzwar innenpolitische Folgewirkungen mit einbeziehen,

„(...) systematisch entfaltet wurde dieser Zugang je-doch nicht. Generell läßt sich aus dem liberalistischerweiterten Institutionalismus die Annahme extrapolie-ren, dass die Wirkung internationaler Institutionendann besonders hoch sein dürfte, wenn innenpolitische

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

36

und innergesellschaftliche Akteure sich auf sie beru-fen bzw. wenn diese im Kontext der zwischenstaatlichenInstitutionalisierungsprozesse entstehen und sich imGefolge transnationaler Netzwerke herausbilden.“

Ein weiterer Grundgedanke des Institutionalismus, der sich aufdie zuvor angesprochene Agent-Structure-Problematik bezieht,rückt den definitorischen Einfluss internationaler Organisatio-nen auf den Handlungsrahmen internationaler Akteure insBlickfeld. Kratochwil (1989), Keck (1991) u.a. führen aus,dass über etablierte Regelungen, Verfahren und RoutinenMöglichkeiten zu Handeln im starken Maße kanalisiert undHandlungsspielräume limitiert bzw. erweitert werden. Mit an-deren Worten: das internationales System wird eben nicht nurdurch tatsächliche Handlungen, sondern auch durch die ver-schiedenen Verfahrensregelungen geprägt. Dirk Messner(1999:49) weist in diesem Zusammenhang jedoch auf das Pro-blem der Instrumentalisierung hin:

„Entscheidungsfindungspozesse in übernationalen Orga-nisationen sind (...) oft intransparent und werden vonRegierungen nicht selten instrumentalisiert, um unpo-puläre Entscheidungen mit Verweis auf angebliche Sach-zwänge auf übergeordneten Politikebenen durchzuset-zen.“

2.4 Zur Theorie und Bedeutung zivilgesellschaftlicherAnsätze

In den vergangenen Jahren begann sich die sozialwissen-schaftliche Diskussion schwerpunktmäßig um ein Thema zudrehen: die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen dersog. ‚Globalisierung‘. Zunächst beschrieb der Begriff lediglichdie weltweite ökonomische Verflechtung, die insofern keinenwirklich neuen Zusammenhang darstellt, als dass es schonimmer einen Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwi-schen den Völkern bzw. Staaten gegeben hat. Seit spätestensden 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhren jedoch auch dieinternationalen Austauschbeziehungen eine Dynamik unge-ahnten Ausmaßes, hauptsächlich zurückzuführen auf die ex-plosionsartigen Entwicklungen in den Bereichen Transport

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

37

und Telekommunikation. Durch diese in erster Linie techni-schen Entwicklungen erhielt die Diskussion um die Globalisie-rung eine starke gesellschaftliche Komponente, waren dochihre Auswirkungen plötzlich innerhalb der individuellenWirklichkeit erfahrbar, angefangen vom Massentourismus, derpauschale Zugänge in selbst die entlegensten Winkel der Weltmöglich macht bis hin zum „global village“ (Mc Luhan 1995)des Internets.

Der Begriff ‚Globalisierung‘ bezieht sich heute auf die„Vermehrung und Verdichtung grenzüberschreitender In-teraktionen (...), die fast alle Gesellschaften, Staa-ten, Organisationen, Akteursgruppen und Individuen –freilich mit unterschiedlichem Tiefgang – in ein kom-plexes System wechselseitiger Abhängigkeiten verwik-keln“ (Messner/ Nuscheler (Hg.) 1997:29)

An dieser Stelle wird erkennbar, dass sich der neuartige Inter-pretationsrahmen der Globalisierung auf wesentlich verändertegesellschaftliche Paradigmen bezieht, u.a. auf

- eine stärkere (Selbst-)Wahrnehmung des Staatsbürgersals Individuum,

- eine fortgeschrittene technische Vernetzung,- eine gestiegene Menge an grenzüberschreitenden Inter-

aktionen sowie- einen Einbruch der internationalen Dimension in die all-

täglich Erfahrungswelt.

Gerade jener letztgenannte Punkt führt mich zu den theoreti-schen Grundüberlegungen, warum eine Diskussion um die zi-vile Gesellschaft für diese Arbeit unerlässlich ist. Sie fügtnämlich der sozialwissenschaftlichen Diskussion um partizi-pativen Pluralismus vs. Elitenmacht9 eine dritte Dimension

9 Siehe dazu exempl. Scharpf, E. 1970: Demokratietheorie zwischen

Utopie und Anpassung, Konstanz, 29ff; Schumpeter, J.A. 1950:Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Bern, 427ff; Bachrach B.1967: Die Theorie demokratischer Eliteherrschaft, Frankfurt/ Main

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

38

hinzu, die ‚direkte Intervention‘ genannt werden könnte – inAnlehnung an Cohen/ Aratos (1995) „direct Participation“.10

Alfred Schütz (1972) und Jürgen Habermas (1992) zei-gen, dass sowohl politische als auch soziale Macht auf der Er-fahrungs- bzw. „Lebenswelt“ der Individuen einer Gesellschaftbasieren. Die Zivilgesellschaft stellt für Habermas das demo-kratische Instrument dar, dessen sich die politische Öffentlich-keit bedient, um in seiner Funktion als „Resonanzboden fürProbleme“, also als gesellschaftliches „Warnsystem“ zu fun-gieren und – z.B. über die Medien oder organisierte bzw. in-stitutionalisierte Interessengruppen – den „Problemdruck ver-stärken“ zu können11:

„Der Ausdruck »Zivilgesellschaft« verbindet sich al-lerdings inzwischen mit einer anderen Bedeutung alsjene »bürgerliche Gesellschaft« der liberalen Traditi-on, die Hegel schließlich als »System der Bedürfnisse«d.h. als marktwirtschaftliches System (...) auf denBegriff gebracht hatte. Was heute Zivilgesellschaftheißt, schließt nämlich die (...) Ökonomie nicht mehr(...) ein. Ihren institutionellen Kern bilden vielmehrjene nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Zusam-menschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis,die die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit inder Gesellschaftskomponente der Lebenswelt verankern.“(Habermas 1992:443)

Die hier verwandte Begriffsdefinition entspringt also ganz we-sentlich der veränderten Rolle – und den veränderten Mög-lichkeiten des Individuums, den Claus Leggewie (1996:1) vommehtodologischen Individualismus abgehoben sehen will:

„Der Durchschnittsmensch von heute ist nicht das (...)zoon politikon, sondern eher ein homo faber oder homoludens, auf die der spezialisierte politische Betrieb

10 Der von Cohen/ Arato verwendete Begriff scheint den Wirkungsgrad

und Handlungsspielraum von zivilgesellschaftlichen Initiativennicht hinreichend beschreiben zu können. Eine bloße Teilhabe amWillensbildungsprozess würde den Umstand außer Acht lassen,dass zivilgesellschaftliche Initiativen aktiv in das politische Ge-schehen einzugreifen in der Lage sind, wie beispielsweise durch dieVeröffentlichung von Schwarzen Listen von Politikern im Februar2000 in Südkorea (s.u.), woran die Regierung zerbrach.

11 Vgl. Habermas 1992:435

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

39

wenig attraktiv wirkt. Andererseits haben (...) vieleBürger das Politische in die sog. subpolitischen Sphä-ren ihres beruflichen, familiären und nachbarschaftli-chen Alltagslebens hineingeholt, d.h. es der vorgefun-denen Lebenswelt akkomodiert und praktizieren nun all-tagsdemokratische Mitwirkung mit wachsendem, ‚zivilge-sellschaftlichem‘ Autonomiebewußtsein.“

Der institutionentheoretisch entscheidende Beitrag Habermas‘besteht jedoch in einer Widerlegung Luhmanns These der„Organisationsfeindlichkeit von Zivilgesellschaft“12. Stattdes-sen beschreibt Habermas Zivilgesellschaft als Erweiterung desneo-institutionalistischen Ansatzes, auf u.a. dessen GrundlageCzempiel (1999) sein ‚Gesellschaftswelt‘-Konzept entwickelt.

Maull (1999) allerdings will zivilgesellschaftliche An-sätze grundsätzlich in eine eigene theoretische Kategorie fas-sen, die der „Postmoderne“. Er argumentiert:

„Die postmoderne Sicht schließlich lässt diese Annahmeeiner klaren Unterschiedlichkeit von Innen- und Au-ssenpolitik aufgrund ihrer Sichtweise einer umfassen-den, qualitativ neuartigen Intensität von Interdepen-denz – wir nennen dies heute ‚Globalisierung‘ – fallenund sieht Politik eher als Kontinuum denn als zweivöllig unterschiedliche Aktivitäten in voneinander ab-geschotteten Sphären der Innen- und Aussenpolitik. ZurKonfliktbearbeitung empfielt sich (...) neben Koopera-tion und Integration im Sinne der Institutionalistenauch Prävention, Vermittlung und Intervention in bin-nenstaatlichen Konflikten.“

Unabhängig davon, ob die zivilgesellschaftliche Dimensionnun eine eigene Kategorie darstellt, oder lediglich als eine Er-weiterung des bestehenden liberalen Ansatzes beschriebenwerden kann, umfasst die Definition des Begriffes „Zivilge-sellschaft“ auf systemischer Ebene die Doppelnatur einer Ent-wicklung, in der die zivile Gesellschaft als Reaktion auf denRückzugs des Nationalstaats in Bezug auf die Wahrnehmungöffentlicher Aufgaben das hinterlassene Vakuum füllt, ande-rerseits den Staat in verschiedenen Bereichen, z.B. bei Kon-trollfunktionen, aktiv zum Rückzug drängt.

12 vg. von Beyme 1999:2

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

40

Nach Messner/ Nuscheler (1996:7) nehmen zivilgesell-schaftliche Akteure – national und international – hauptsäch-lich vier verschiedene Funktionen wahr:

- „Sie können in Problemfeldern tätig sein, die der Staatnicht adäquat oder noch gar nicht aufgegriffen hat.

- Sie können gegründet werden, um den Staat aus be-stimmten Problemfeldern herauszuhalten; er kann sichdann auf die Ergebniskontrolle beschränken.

- Sie können gegenüber staatlichen SteuerungsansprüchenKontroll- und Korrektivfunktionen wahrnehmen.

- Sie etablieren sich als wichtige ‚Mitspieler‘ in der Welt-Gesellschaft; entwicklungspolitische Gruppen, Men-schenrechts- und Umweltorganisationen tragen zur Her-ausbildung einer internationalen Öffentlichkeit bei.“

Selbst wenn zivilgesellschaftliche Akteure, wie Cohen undArato (1992) zeigen, keine Macht erlangen13 können, so dehntsich ihr Einfluss durch Wissen („government by discussion“)14,Institutionalisierung und Vernetzung auf viele Bereiche desPolitischen aus. Das Beispiel der durch eine von südkoreani-schen Bürgergruppen erstellte schwarze Liste korrupter Polit i-ker im Februar 2000 zerbrochenen Regierung des Landeszeigt, wie stark der Einfluss zivilgesellschaftlicher Gruppen –zumindest auf bestehende staatliche Machtgefüge – sein kann.

„Seit sich in Südkorea ein Bündnis von 480 Basis- undBürgergruppen (...) in den Wahlkampf einmischt, sinddie Parteien in Panik.“ (Kunz 2000)

Durch die verstärkte Ausrichtung auf den Gestaltungsbereicheiner internationalen ‚Makro‘-Ebene (suprastaatliche Struktu-ren) vergrößert sich die Kluft zwischen der Ebene, auf der Ent-scheidungen gefällt werden und der ‚Mikro‘-Ebene (Lebens-

13 Zum Macht- und Einflussbegriff im internationalen System siehe auch:

Baumann/ Rittberger/ Wagner 1998:5: „‚Macht‘ ist die Fähigkeit,seine Interessen im internationalen System durchzusetzten. (...)‚Einfluss‘ hingegen ist das Maß der Kontrolle über die eigene Um-welt.“

14 Vgl. hierzu insbesondere Mill 1989 sowie Kinder/ Herzog 1993

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

41

welt), auf die diese Entscheidungen Auswirkung haben. 15 Aberauch umgekehrt gilt, das – mit Verweis auf die zuvor erwähnte‚Agent-Structure‘-Problematik – (lokales) Handeln von Indivi-duen Auswirkungen auf die globale Ebene mit sich bringt.Giddens argumentiert:

„Local transformation is as much part of globalisationas the lateral extension of social connections acrosstime and space.“ (Giddens 1990:64)

Und auch:„In forging their self-identities, no matter how localtheir specific contexts of action, individuals con-tribute to and directly promote social influences thatare global in their consequences and implications.“(Giddens 1991:2)

Hervorgerufen durch die Erkenntnis dieser Zusammenhängeartikuliert sich das dringende Bedürfnis einer sich individuali-sierenden Gesellschaft nach einer Neudefinition bzw. Erweite-rung der Rolle des Staates um eine ‚Scharnierfunktion‘, mitder die zwischen den Ebenen liegenden Strukturen verbundenbzw. überbrückt werden können, da diese das heute eingefor-derte Maß an politischer und administrativer Transparenz ver-hindern. Darüber hinaus stehen sie den von den meisten Staa-ten selbst propagierten Vorstellungen eines ‚lean government‘entgegen. Der Staat, der im Grunde gewährleisten müsste, diebeschriebene Kluft zwischen den politischen Ebenen zu über-brücken, kann diese ihm gestellte Aufgabe nur ungenügendwahrnehmen, ist er doch selbst Teil der langen Entschei-dungswege und Intransparenz fördernden Strukturen. Zudemist er wesentlich damit beschäftigt, auf der suprastaatlichenEbene selbst als Akteur bei der Verteilung von Macht, Ein-fluss, Posten und Geld aufzutreten.16 Die Rückkopplung zuseiner gesellschaftlichen Basis gerät ihm dabei allzu leicht ausseinem Blickfeld.

„In liberal democracies where citizens fail in suffi-cient numbers to achieve such identities, thereby re-maining bound in their self-definition to particular-

15 Vgl. Touraine 1999:1416 Vgl. Bridges 1998a

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

42

istic cultural world views, liberal democratric po-litical institutions can eventually lose not onlytheir legitimacy, but their very intelligibilitiy aswell. Thus, the legitimacy and, at the extreme, thevery existence, of the liberal democratic state de-pends upon ist success in creating the constituency itserves.“ (Bridges 1998c:2)

Die hier angesprochene Legitimationskrise des Nationalstaatsund seiner Institutionen verschärft sich solange, wie er sich beiseinen Handlungen auf internationalem Parkett nicht oder nurungenügend der ‚Lebenswelt‘ der in ihm lebenden ‚Staats‘-Bürger orientiert, sei es um Entscheidungen zu legitimierenoder Entwicklungen zu diskutieren. Daher richtet sich das zi-vilgesellschaftliche Augenmerk hinsichtlich einer ‚direktenIntervention‘ zunehmend auch auf die internationalen Zusam-menhänge. Newmann (1998:2f)17 argumentiert:

„(...) that there has been a shift from industrialismand international politics, where the nation-statedominated global relations, to an era of post-industrial and post-international politics where thenation-state has to share global relations with inter-national organisations, transnational corporations andtransnational social movements, making the state andist local needs subservient to global forces.“

Die zivilgesellschaftliche Entwicklung wirkt auf die supra-staatliche Ebene jedoch nicht nur, indem sie auf die bestehen-den Strukturen bzw. Institutionen versucht Einfluss zu neh-men, sondern auch, indem sie diese Ebene zunehmend selberinstitutionalisiert (s.u.). Dies ist u.a. dem Umstand geschuldet,dass sich zivilgesellschaftliche Initiativen häufig eines be-stimmtes Problems – oder einer spezifischen Problemkonstel-lation – annehmen, welche(s) so – oder so ähnlich – auch inanderen betroffenen Gesellschaften unterhalb der supranatio-nalen Struktur besteht – oder wahrgenommen wird. Eine Inter-essenüberschneidung führt im Zeitalter der Datenhighwayssehr viel schneller zu einer internationalen Diskussion überempfundene Mißstände, zu einer Vernetzung von Gleichge-sinnten, zu einer Koordination von Aktionen und letztlich zurAusgründung internationaler Institutionen. 17 siehe auch: Rosenau 1990

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

43

Wie Müller/ Wallacher (1998:4) u.a. hervorheben, basiertdie Vernetzung, die Institutionalisierung – und damit letztlichdas Maß an politischem Einfluss der Zivilgesellschaft auf einerschnellen und weltweiten Kommunikation...

...„wie das Beispiel Indonesien verdeutlicht, wo dieneuen Kommunikationsmedien wesentlich zum Erfolg derDemokratiebewegung gegen Suharto beigetragen haben.“

An dieser Stelle sei auf das sich seit einigen Jahren in der Dis-kussion befindliche Konzept der ‚global governance‘ verwie-sen, welches neue Herausforderungen und Handlungsoptionenauch für regionale (Sicherheits-)Institutionen bereithält. Ord-nungspolitik bzw. ‚Governance‘ ist nach Messner/ Nuscheler(1996:3) die „Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denenIndividuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre ge-meinsamen Angelegenheiten regeln.“ Governance, bisher vor-wiegend als das System der zwischenstaatlichen Beziehungenverstanden, bezieht nun auch Nichtregierungsorganisationen,Bürgerbewegungen, multinationale Konzerne und den globa-len Finanzmarkt – und die mit diesen Gruppen und Institutio-nen interagierenden Massenmedien – konzeptionell mit ein.

Die international besetzte ‚Commission on Global Go-vernance‘ hat 1995 in ihrem Bericht ‚Our Global Neighbour-hood‘ mit dem Konzept ‚global govemance‘ ein Leitbild zurRückgewinnung politischer Steuerungsfähigkeit in der inter-dependenten Welt und damit ein mögliches Modell für eineWeltordnungspolitik in einer globalisierten Welt vorgelegt. 18

Das Leitbild wird durch ein Ordnungsmodell konkretisiert, indessen Zentrum die Zusammenarbeit zwischen staatlichen undnicht-staatlichen Akteuren auf den verschiedenen Handlungse-benen (lokal, regional, national, global) in einem kooperativenPolitikprozess steht.19 Ein solches Ordnungsmodell erfordertein hier bereits diskutiertes verändertes Verständnis der Rolledes Nationalstaates und insbesondere traditioneller national-staatlicher Souveränität:

18 Vgl. Messner/Nuscheler 199619 Vgl. Abb.3 (Seite 45)

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

44

„In der modernen liberalen Staatstheorie ist der Trä-ger der Souveränität nicht »der Staat«, sondern dasVolk, die Gemeinschaft. (...) Wer aus Gründen seinerSicherheit zugunsten der Demokratisierung in einem an-deren Land interveniert, interveniert zugunsten derGesellschaft dort gegen ihr Politisches System, dasihr die als dem Souverän zustehende Partizipation ander Herrschaft verweigert.“ (Czempiel 1999:137)

Die Verdichtung transnationaler Interaktionen und Interdepen-denzen bedingt, so postuliert das Konzept der ‚global Go-vernance‘, ein föderatives System geteilter Souveränitäten, indem Kompetenzen auf die entsprechenden Handlungsebenenübertragen werden, ohne den notwendigen Grad an Einheitaufzugeben. Dem Nationalstaat kommt, trotz Souveränität-seinbußen, eine (wenngleich – wie erwähnt – nicht unproble-matische) ‚Scharnierfunktion‘ zwischen den verschiedenenHandlungsebenen zu. Die Ausdifferenzierung der politischenHandlungsebenen erfordert zudem subsidiäre Strukturen imglobalen Maßstab.

„Diese liberale Vorstellung von Demokratie, orientiertam Subjekt und seiner Lebenserfahrung, wendet sichgrundsätzlich ‚nach unten‘. Sie unterscheidet sich vonder heute üblichen Suche einer Lösung ‚oben‘, also ei-ner Lösung oberhalb des Nationalstaats, auf der Euro-pa- oder Weltebene. Längst hat ja die ‚nach unten‘orientierte Demokratie eine neue Ebene in der politi-schen Gesellschaft geschaffen.“ (Touraine 1999:14)

Angesichts der parallel zur Globalisierung verlaufenden Ten-denzen zur Regionalisierung und Partikularisierung20 gewin-nen insbesondere die regionalen Governance-Ebenen als Ba-sissysteme einer globalen Ordnung an Bedeutung. Bundesau-ßenminister Fischer (1999:8) erklärte in der Eröffnungsredezum Gründungstreffen des Forum Globale Fragen :

„Die Einsicht nimmt zu, dass die Zivilgesellschaftweit mehr als bislang in die Zukunftsgestaltung aufglobaler Ebene eingebunden werden muss. (...) Das istes, was wir unter dem Begriff ‚global governance‘ ver-stehen, und eine solche Kultur der Vernetzung und derKooperation wollen wir zu einem Markenzeichen derdeutschen Außenpolitik (...) machen.“

20 Vgl. Johnson 1991

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

45

Der Lokal- und Regionalpolitik kommt in einem föderativenOrdnungssystem eine wichtige Bedeutung zu. Die ‚Global-Governance‘-Architektur kann – und muss – auf regionalelntegrationsprojekte (bspw. EU, OAU, OAS, Arabische Ligao.a.) aufbauen, die in unterschiedlichen Graden der Integrationund Leistungsfähigkeit bereits in vielen Regionen der Weltanzutreffen sind. In diesen regionalen Basis-Systemen, densog. ‚regional integration projects‘ 21, fällt es den teilnehmen-den Gesellschaften aufgrund gemeinsamer Traditionen undkorrespondierender Wertesysteme22 im allgemeinen leichter,Teile ihrer bisher an den Nationalstaat delegierten Souveränitätabzutreten und regional zu kooperieren. Neben dem weiterhinwichtigen internationalen Instrument des Nationalstaats, denneuen zivilgesellschaftlichen Akteuren und

„(...) den supranationalen Institutionen (...) werden‚internationale Regime‘ wie das der WTO (...) zu immerwichtigeren globalen Steuerungsinstrumenten im Rahmenvon Global Governance. Die Regeln dieser Regime ge-stalten die zivilgesellschaftlichen Organisationen,die bereits einen hohen Grad an internationaler Ver-netzung erreicht haben, politisch aktiv mit.“ (Müller/Wallacher 1998:11)

Zweifelsohne darf nicht übersehen werden, dass die Möglich-keiten der Zivilgesellschaft im Bezug auf die Einflussnahmeund Gestaltung des Politischen ihre Grenzen besitzt. Bei-spielsweise wirkt sich die Zersplitterung des zivilgesellschaft-lichen Potentials in unzählige kleine und Kleinst-Akteure hin-sichtlich Koordination und Effektivität ungünstig aus.

„Mit ihrem wachsenden Einfluss ist auch die Gefahr desMißbrauchs sowie der Abhängigkeit von staatlichen In-teressen gestiegen. Außerdem verfügen sie nur bedingtüber eine demokratische Legitimation.“ (Müller/ Walla-cher (1998:7)

Alle hier genannten Entwicklungen basieren zudem auf einemden teilnehmenden Gesellschaften zugrundeliegenden libera-

21 Vgl. Kapitel 3.6.22 Dabei wird im Verlaufe der Arbeit noch zu diskutieren sein, ob im

asiatisch-pazifischen Raum generell von einem korrespondierendenWertesystem gesprochen werden kann.

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

46

len Demokratiemodell als Ausgangspunkt für die zivilgesell-schaftliche Diskussion bzw. Entwicklung. Für die vorliegendeArbeit muss jedoch berücksichtigt werden, dass im asiatisch-pazifischen Raum in vielen Fällen nicht von liberalen Demo-kratien im ‚westlichen‘ Sinne gesprochen werden kann. Dahermuss der tatsächlich vorhandene Spielraum von zivilgesell-schaftlichem Einfluss auf die die Sicherheit betreffenden Be-lange der Region einer genauen Prüfung unterzogen werden.Insbesondere das Staatsverständnis in z.B. China oder Nordko-rea wird einer Einbeziehung internationaler NGOs in den si-cherheitssystembildenden Prozess Grenzen setzen. Daher sindauch Ansätze des ‚global governance‘-Konzepts realpolitischunter dem Aspekt ihrer nur eingeschränkten Übertragbarkeitzu bewerten.

2.5 Teilbedeutung des (neo-) realistischen Ansatzes

Neben diesen Beschränkungen der liberalen, insbesondere zi-vilgesellschaftlichen Denkansätze muss in der asiatisch-pazifischen Region, stärker als bspw. in Europa, der Staat alseinheitlicher und oftmals entscheidender Akteur in den inter-nationalen Beziehungen akzeptiert werden. Dies äußert sichzum einen in einer – wie noch gezeigt wird – starken Bilatera-lität in den internationalen Beziehungen und einer damit ver-bundenen Schwäche multilateraler Institutionen, als auch indem Umstand, in der Region äußerst abgeschlossene Gesell-schaften mit starker außen- und innenpolitischen Betonung desStaats als universellem Bezugsrahmen, wie z.B. in China,Burma oder Nordkorea, vorzufinden. Mit dieser Tatsache ein-her geht eine heterogene, insgesamt aber weniger stark ent-wickelte Ausprägung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, eben-so wie eine im Grunde erst seit der Asienkrise einsetzende Ak-zeptanz von gesellschaftlicher Interdependenz.

Daher müssen – insbesondere im Feld der internationa-len Beziehungen – die (neo-) realistischen Prämissen in dieBetrachtungen miteinfließen. Morgenthau (1963) Waltz (1979)und Gilpin (1981) beschreiben den Staat als von Nationalinter-essen geleiteteten außenpolitischen Akteur, welcher nach der

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

47

Sicherung des eigenen Überlebens, Macht und weitestgehen-der Autonomie23 strebt. Dabei beziehen sich die Realisten aufdas Grundmotiv des ‚kollektiven Eigeninteresses‘. Wenngleicheine liberale Kritik an einem staats- oder gesellschaftsinternhomogenen Eigeninteresses grundsätzlich berechtigt ist, mussjedoch die faktisch vorhandene Definitionsmacht nationalerInteressen durch den Staat in vielen asiatischen Ländern aner-kannt werden.

Abb. 2 Akteure in der Staatenwelt

Quelle: Druwe/ Hahlborn/ Singer 1995:66Rittberger (1995:74ff) führt aus, dass ein solches Verhalten ininternationalen Beziehungen zwangsläufig eine der folgendenbeiden alternativen Entwicklungen nach sich zieht:

1. entweder etabliert sich innerhalb eines internationalen Sy-stems eine „balance of power“, also ein Abschreckungs-und Gleichgewichtssystem, oder

23 Mit Autonomie ist nicht nur die formale, sondern auch die faktische

Unabhängigkeit von anderen Akteuren gemeint.

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

48

2. eine von einer Hegemonialmacht dominierte Struktur, „dieaber im Prinzip genauso vergänglich ist wie jede ‚balanceof power‘ bzw. Abschreckung“ (ders.: 74).

Beide Alternativen, so Acharya (1999:2), verdichten sich inAsien zu einem kaum trennbaren Konglomerat:

„Realists argue that regional order in Asia depends onhow the big powers such as US, China, Japan, Russiaand to some extend India interact among themselves. Itis the balance among these powers that is really cen-tral to the prospects for security. (...) The balanceof power in Asia means American strategic predomi-nance, (...) American military presence, American se-curity commitments, American bilateral alliances(...)“.

Grundsätzlich liegt der realistischen Sichtweise auf die inter-nationale Politik zugrunde, dass Staaten ihre Entscheidungenauf der Basis von „Kosten-Nutzen-Kalkülen“24 hinsichtlich ih-rer eigenen Interessen treffen. Internationale Institutionen sindvor diesem Hintergrund Instrumente staatlicher Machtpolitik,die dem Ziel des eigenen Überlebens dienlich sein sollen – undkeinesfalls dem Machterhalt bzw. -gewinn im Wege stehendürfen. Die sich aus einer solchen Sichtweise beinahezwangsläufig ergebende Ineffektivität internationaler Organi-sationen führt nicht nur, quasi als eine Art self-fullfilling pro-phecy, zu einem ‚strukturellen Misstrauen‘ gegenüber interna-tionalen Organisationen, sondern auch zu dem oft beschriebe-nen ‚Sicherheitsdilemma‘, welches sich aus den konkurrieren-den Eigeninteressen der verschiedenen staatlichen Akteure er-gibt. Anstatt, wie es Czempiel25 u.a. Institutionalisten tun, ausdiesem Sicherheitsdilemma eine Notwendigkeit für internatio-nale Institutionen herzuleiten, postuliert der Realismus:

„Friedenssichernd kann eine internationale Organisati-on im anarchischen Selbsthilfesystem der Staaten nurals diplomatisches Instrument einer globalen oder re-gionalen Hegemonialmacht sein, als Mittel der Durch-

24 Vgl. Baumann/ Rittberger/ Wagner 1999:425 Vgl. Czempiel 1996:7 „(...) ganz aufheben läßt sich das Sicherheits-

dilemma nicht. Aber abschwächen läßt es sich in einer internatio-nalen Organisation.(...)“

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

49

setzung und Bewahrung ihres Weltordnungskonzeptes.“(Rittberger 1995:74f)

Im Falle einer hegemonialen Dominanz, so führt Keohane(1989:74-100) aus, würde gemäß der ‚Theorie der hegemo-nialen Stabilität‘ ein Wegfall der hegemonialen Ordnung einenZerfall der sie konstituierenden Institutionen mit sich bringen.Darüber hinaus werden internationale Organisationen entwe-der im ökonomischen oder zwischenstaatlichen Bereich kon-zeptionell miteinbezogen,

„der generelle Trend einer wachsenden Anzahl interna-tionaler Organisationen innerhalb wie außerhalb desPolitikbereichs 'Sicherheit' bleibt in der realisti-schen Betrachtung jedoch ein Rätsel.‘ (Rittberger1995:76)

Neorealisten wie Waltz (1979) oder Gilpin (1987) erweiternden militärisch definierten Begriff der Macht um die wirt-schaftliche Macht. Ein herausgehobener Machtstatus ist ohnewirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht mehr denkbar, gleich-sam beschreibt in Nordostasien der Fall Nordkoreas eine fürdie Arbeit wichtige Ausnahme von der ansonsten stringentenneorealistischen Prämisse.

Kittel e.a. (1995:75f) modifizieren die ‚systemische Va-riable‘ der „internationalen Machtverteilung“ durch die ‚posi-tionale Variable‘ der „relativen Machtposition“. Damit tragensie dem Umstand Rechnung, dass sich einzelne Staaten ihresrelativen Machtanspruchs, also der Limitierung der eigenenMöglichkeiten, bewusst sind. Daher muss der Staat, sofern essich nicht um Hegemonialstaaten handelt, zum eigenenMachterhalt verschiedene Zwänge, Regeln und Verfahren inden internationalen Beziehungen akzeptieren, ohne das dieseunmittelbar zu einem ‚Nutzen‘ führen.

2.6 Das Konzept der „friedlichen Koexistenz“ im kon-flikttheoretischen Ansatz

Wie eingangs erwähnt, soll an dieser Stelle kurz auf das Kon-zept der „friedlichen Koexistenz“ eingegangen werden. Es be-ruht in seinen Ursprüngen auf den Ideen des französischen

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

50

Philosophen Fénelon26, der sich intensiv mit den Prinzipien derinternationalen Machtverteilung auseinandersetzte:

„(...) der so modern anmutende Begriff ‚Friedliche Ko-existenz’ zwischen verschiedenartigen Gesellschaftssy-stemen (...) wurde nicht, wie irrtümlich weithin ange-nommen (.) von Lenin gebildet, sondern von dem franzö-sischen Gelehrten und Mitglied der Akademie Fénelon.(...) ’Friedliche Koexistenz’ sollte praktisch zwi-schen Gemeinwesen mit unterschiedlicher religiöserGrundlage (zwischen Katholizismus und Protestantismus)herrschen – in der Moderne soll das Konzept Staatenmit unterschiedlicher ideologischer Grundlage ein ge-regeltes Miteinander erlauben.“(Albrecht 1999:46)

Dieses solchermaßen angelegte Prinzip der Machtverteilungfand in den 50er Jahren Einzug in die kommunistischen bzw.postkommunistischen Staatsdoktrinen verschiedener Länder,u.a. der UdSSR; der VR China und Nordkoreas. Bis heutehalten insbesondere China und Nordkorea an einer solchenKonzeption fest. Es sind insbesondere fünf Charakteristika,mit denen sich dieses Prinzip beschreiben läßt:

- gegenseitigen Achtung der Souveränität und territorialenIntegrität,

- gegenseitiger Nichtangriff,- gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angele-

genheiten,- Gleichberechtigung und- gegenseitiger Nutzen.

„(...) Im Jahr 1982 wurden sie in die Verfassung derVR China aufgenommen. Danach sind die Fünf Prinzipiender friedlichen Koexistenz zu einem Grundprinzip derchinesischen Regierung geworden, freundschaftliche Be-ziehungen mit anderen Ländern herzustellen und zu ent-wickeln.“ (Botschaft der VR China in der Bundesrepu-blik Deutschland 2000)

Interessanterweise rief (und ruft) eine solche aussenpolitischeKonzeption unter den liberalen Demokratien des ‚Westens‘weniger Widerspruch hervor, als innerhalb der Reihen der ei-gen Ideologie, verzichtet ein solches Konzept – wenigstens auf 26 Mit dem bürgerliche Namen Francios de Salignac de la Mothe (1651-

1715)

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

51

dem Papier – auf das lange Zeit so gefürchtete Ziel einerkommunistischen Weltrevolution:

„Die Staaten und Parteien also, die nur die ‚Koexi-stenz‘ und den Wettbewerb zwischen den Staaten ins Au-ge fassen, statt die absolute Unvereinbarkeit zwischenzwei feindlichen Klassen zu propagieren und den be-waffneten Kampf für die Befreiung des Proletariats vomkapitalistischen Joch, sind in Wirklichkeit weder re-volutionäre Staaten noch revolutionäre Parteien undihre Phraseologie maskiert den kapitalistischen Gehaltihres Gefüges.“ (Internationale Kommunistische Partei(Hg.) 1951:14)

Das Konzept einer friedlicher Koexistenz, von dem Morgent-hau (1963:308) etwas pauschal behauptet, es „spiegelt genaudie Machtverteilung wider, die zwischen den VereinigtenStaaten und der Sowjetunion“ zu Zeiten des Kalten Kriegs be-stand, spielt für den analytischen Kontext dieser Arbeit inzweierlei Hinsicht eine Rolle: Erstens im Zusammenhang mitden Zielvorstellungen eines internationalen Regimes in derRegion Nordostasiens, in der mit China und Nordkorea zweiStaaten die ‚friedliche Koexistenz‘ der Systeme anstreben,während die USA auf ihr über die Jahrzenhnte aufrechterhal-tenes System der hegemonialen Dominanz setzen. Zweitenserlangt dieses Modell erhebliche Relevanz im Zusammenhangmit der Diskussion um eine koreanische Wiedervereinigung, inder nach nordkoreanischen Vorstellungen die friedliche Ko-existenz in Form einer Art ‚Doppelstruktur‘ der Systeme undRegierungen die Grundlage jedweder weiterer Entwicklungdarstellt27.

Fischer (1987) erörtert im Zusammenhang mit verschied-nenen Sicherheitssystemen28 das Problem, dass das Koexi-stenzrecht, Grundlage für das Prinzip der friedlichen Koexi-stenz, als „horizontales“ Prinzip mit den „vertikalen“ Integra-tionsmustern herkömmlicher, d.h. gemeinsamer, bzw. kollek-tiver Sicherheitsmechanismen unvereinbar ist. Der Kern desProblems liegt in der Souveränitätsfrage, die in den auf Ko-operation beruhenden Sicherheitsmodellen nicht mehr aus- 27 Vgl. insbesondere: Choi, Ki-Wan 199228 Siehe Kapitel 3

Kapitel 2: Rahmenbedingungen und Theorien internationaler Organisationen

52

schließlich von nationalen Entscheidungsträgern bzw. –me-chanismen entschieden wird, sondern die von den teinehmen-den Staaten verlangt, Souveränitätsrechte bewußt an die Si-cherheitssysteme abzutreten.

„Die souveränitätsaufbrechende Funktion der Kooperati-on steht im krassen Gegensatz zu den Prinzipien derfriedlichen Koexistenz, die in ihrer Gesamtheit inviel stärkerem Maße als westliche Rechtspositionen zurKooperationsverpflichtung vorrangig eine souveräni-tätserhaltende und souveränitätsverstärkende Funktionhaben.“ (Fischer 1987:71)

Schmidt (1985:221) behauptet demgegenüber: „GemeinsameSicherheit ist eine Grundlage der Idee und Politik friedlicherKoexistenz“. Dobrosielski (1986) weist jedoch darauf hin, dassBefürworter einer friedliche Koexistenz den Kooperationsge-danken lediglich nichtmilitärisch interpretieren und damit dieletztlich entscheidende Hürde eines funktionierenden Sicher-heitssystems aufrecht erhalten. Hinsichtlich der in diesem Ka-pitel bereits erörterten gewandelten Bedingungen in einer in-terdependenten Gesellschaftswelt kann das Konzept der fried-lichen Koexistenz ein wichtigen Schritt hin zu einer weiterge-henden – dann auch militärischen Kooperation – markieren, dasie den Ansatz einer gesellschaftlichen Kooperation bejaht.

An dieser Stelle wird die Notwendigkeit deutlich, dieTheorien internationaler Organisationen mit den Grundlagender sicherheitstheoretischen Diskussion zu verknüpfen. Eineklare Trennung ist ohnehin kaum möglich, da internationaleOrganisationen die Frage nach Sicherheit und seinen Modellengenauso berühren wie umgekehrt durch eine Formulierung si-cherheitspolitischer Zielvorstellungen auch die Rolle interna-tionaler Organisationen in der internationalen Politik definiertwird.