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Pestaluzzen-Reise 2016 nach Como, Bergamo und Gravedona Treffpunkt am Samstag, den 10. September, ist der Bahnhof Como. Wir 24 Familienmitglieder aus den Linien Trauben, Wolkenstein, Männedorf, Münsterhof und Tagmersheim besteigen nach herzlichen Be- grüssungen den Bus, der uns zum Seidenmuseum bringt. (Am Bahnhof sehen wir mit eigenen Augen das Elend der Flüchtlinge aus Afrika in ihren Zelten, die vergeblich versuchen, die Grenze bei Chiasso zu überschreiten.) Im Museo didattico della Seta, ein privat gehaltenes, grosszügig ausgestattetes Museum mit Maschinen, Ar- beitsgeräten und Gegenständen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, können wir uns über die Arbeitsgänge von der Seidenraupenzucht über die Abwicklung des Ko- kons, das Spinnen, Färben, Weben, Bedrucken bis zu den fertigen Kleidern ein gutes Bild machen. Die Seide spielte in unserer Familie eine grosse Rolle. Schon Jo- hann Anton Pestaluz begann in Bergamo Seide und an- dere Textilien einzukaufen, um sie (nach Weiterver- arbeitung) von Zürich nach Lyon, Frankfurt und andere Städte zu exportieren. Später führten seine Nachkommen in Bergamo bis etwa 1850 eine Filiale. So fahren wir anschliessend mit dem Bus nach Bergamo, beziehen das Zimmer im Best Western Hotel Capello d’Oro und werden dort von Annamaria Rota für den Stadtrundgang abgeholt. Die Reformierten in Bergamo Zuerst aber besuchen wir die reformierte Waldenser Kirche. Der aus Deutschland stammende Pfarrer Winfrid Pfannkuche erklärt, dass die Schweizer Familien Mitte des 16. Jahrhunderts nach Bergamo kamen, als man hier begann, Seidenraupen zu zü- chten und Seide herzustellen. Seide löste damals die Wolle als wichtigstes textiles Produkt ab. Im Handel mit Rohseide nach Norden engagierten sich unter anderem die reformierten Schweizer Steiner und Pesta- lozzi. Die Familienmitglieder, die sich in Bergamo aufhielten, trafen sich wohl am Sonntag zum Gottesdienst. Im Jahr 1807 wurde die heute bestehende Kirche in der Nähe des Parco Frizzoni gebaut. Erster Pfarrer war Joh. Caspar von Orelli aus Zürich. Die reformierte Kirchgemeinde in Bergamo wurde – anders als die Waldenser im übrigen Italien – unter der Voraussetzung geduldet, dass sie die katholische Bevölkerung nicht missionierte.

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Pestaluzzen-Reise 2016 nach Como, Bergamo und Gravedona

Treffpunkt am Samstag, den 10. September, ist der Bahnhof Como. Wir 24 Familienmitglieder aus den

Linien Trauben, Wolkenstein, Männedorf, Münsterhof und Tagmersheim besteigen nach herzlichen Be-

grüssungen den Bus, der uns zum Seidenmuseum bringt. (Am Bahnhof sehen wir mit eigenen Augen das

Elend der Flüchtlinge aus Afrika in ihren Zelten, die vergeblich versuchen, die Grenze bei Chiasso zu

überschreiten.)

Im Museo didattico della Seta, ein privat gehaltenes,

grosszügig ausgestattetes Museum mit Maschinen, Ar-

beitsgeräten und Gegenständen aus dem 18. und 19.

Jahrhundert, können wir uns über die Arbeitsgänge von

der Seidenraupenzucht über die Abwicklung des Ko-

kons, das Spinnen, Färben, Weben, Bedrucken bis zu

den fertigen Kleidern ein gutes Bild machen. Die Seide

spielte in unserer Familie eine grosse Rolle. Schon Jo-

hann Anton Pestaluz begann in Bergamo Seide und an-

dere Textilien einzukaufen, um sie (nach Weiterver-

arbeitung) von Zürich nach Lyon, Frankfurt und andere

Städte zu exportieren. Später führten seine Nachkommen in Bergamo bis etwa 1850 eine Filiale.

So fahren wir anschliessend mit dem Bus nach Bergamo, beziehen das Zimmer im Best Western Hotel

Capello d’Oro und werden dort von Annamaria Rota für den Stadtrundgang abgeholt.

Die Reformierten in Bergamo

Zuerst aber besuchen wir die reformierte Waldenser

Kirche. Der aus Deutschland stammende Pfarrer Winfrid

Pfannkuche erklärt, dass die Schweizer Familien Mitte

des 16. Jahrhunderts nach Bergamo kamen, als man hier

begann, Seidenraupen zu zü-

chten und Seide herzustellen.

Seide löste damals die Wolle als

wichtigstes textiles Produkt ab.

Im Handel mit Rohseide nach

Norden engagierten sich unter

anderem die reformierten

Schweizer Steiner und Pesta-

lozzi. Die Familienmitglieder,

die sich in Bergamo aufhielten,

trafen sich wohl am Sonntag zum Gottesdienst. Im Jahr 1807 wurde die heute

bestehende Kirche in der Nähe des Parco Frizzoni gebaut. Erster Pfarrer war

Joh. Caspar von Orelli aus Zürich. Die reformierte Kirchgemeinde in Bergamo

wurde – anders als die Waldenser im übrigen Italien – unter der Voraussetzung

geduldet, dass sie die katholische Bevölkerung nicht missionierte.

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Der frühere Marktplatz und die obere Stadt

Frau Rota zeigt uns gleich bei der Kirche das

grosse Gebiet, wo früher der jährliche Markt

auf einer Wiese stattfand und wo die Pesta-

lozzi ihre Ware einkauften. Heute ist der

grösste Teil des Areals mit Strassen und

repräsentativen Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert über-

baut. Die obere Stadt hingegen, welche wir nun mit dem

Funicolare erreichen, hat das mittelalterliche Erscheinungs-

bild erhalten.

Wir bestaunen die Piazza Vecchia, die prachtvoll ausges-

tattete Grabkapelle von Bartolomeo Coleone (gest. 1475)

und die Basilika Santa Maria Maggiore, in der fast jeder

Quadratmeter Wand mit Gemälden und Teppichen verziert

ist.

Polenta e Osei

Das Abendessen nehmen wir im Restaurant Ciotola in der unteren Stadt ein. Speziell gut munden die

Teigwaren mit Speck, Rosinen und Amaretti und das

Dessert, genannt Polenta e Osei.

Dieses

sieht aus

wie ein

gelber

Maisku-

chen mit

ge-

bratenen

Spatzen drauf – ein Arme-Leute-Essen. In Tat und Wahrheit

ist es Biscuit mit Creme, überzogen von gezuckertem Marzi-

pan und garniert mit kleinen Schokolade-Vögelchen.

Eine eindrückliche Passfahrt

Am Sonntag fahren wir mit dem Bus über den Passo di San Marco ins Veltlin. Die Handelsroute über die-

sen Pass wurde notwendig, nachdem der spanische Gubernator des Herzogtums Mailand, Don Pedro En-

riquez de Açevedo, Graf von Fuentes, für die Bündner Händler die Zölle über den Comersee nach Mai-

land stark erhöht hatte, weil er die Händler aus dem Deutschen Reich bevorzugen wollte. Um dieser fi-

nanziellen Belastung auszuweichen, musste ein neuer Weg gewählt werden. Er führte von Chiavenna

entlang dem Ostufer des Lago di Mezzola und dem Rand des Pian di Spagna, wohin die Truppen der 1603

erbauten Festung Fuentes nicht gelangen konnten, nach Süden. In Morbegno wurde die Brücke über die

Adda benutzt, um dann über den Passo di San Marco schliesslich Bergamo zu erreichen.

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Wir fahren nun den Weg von Süden nach Norden, auf dem die Han-

delsware nach Zürich transportiert wurde. Die Strasse ist zuerst breit

und führt ohne grosse Steigung nach Norden durch gelegentliche

Tunnel ins Tal hinein. Dann wird die Strasse schmaler und steiler, bis

wir nach etwa eineinhalb Stunden auf der über der Waldgrenze gele-

genen Passhöhe auf 1992 m ankommen. Auch viele Motorradfahrer

sind

oben

und

treffen

sich an

einem

Event.

Der

ziemlich

starke

Gegen-

verkehr stellt für den Chauffeur eine echte

Herausforderung dar. Auf jeden Fall ist die

Fahrt ins Veltlin sehr eindrücklich.

Ergänzungen zum Familienbuch von Martin

Während der Busfahrt am Samstag und Sonntag werden Texte unseres

Familienhistorikers Martin aus Aarau, der leider anfangs August ver-

storben ist, vorgelesen. Einige hat er wenige Tage vor seinem Tod noch

diktiert. Sie stellen interessante Ergänzungen der Angaben im Fami-

lienbuch dar und sind auf der Website abgelegt. So ist Martin, der mit

dem OK die Reise rekognosziert hatte, noch präsent. Auch seine Frau Ur-

sula und seine Tochter Alexandra nehmen an der Reise teil.

Unser Wappen in der Taufkirche in Gravedona

Nach einem reichhaltigen, typisch italienischen Sonntags-Mittagessen im Restaurant Boschetto in Sorico

fahren wir weiter nach Gravedona. In der Taufkirche Santa Maria del Tiglio,

direkt am Comersee, erklärt uns die Kunsthistorikerin Laura Tamanini-

Mastalli viel Interessantes über die Entstehung und den Bau der Kirche.

Ebenfalls anwesend sind Franca Comalini, eine Zürcher Architektin, deren

Familie aus Livo oberhalb Grabedona stammt, und Catarina Gongiasca vom

Verein Pro Loco. – Die Umrisse des ersten Baus aus dem 6. Jahrhundert

sind noch zu sehen, auch Teile des Bodenmosaiks. Diese erste Kirche bran-

nte aber nieder oder wurde zerstört. Da die Gemeinde inzwischen gewach-

sen war, und da nur einmal jährlich, nämlich am Sonntag nach Ostern,

getauft wurde, baute man um 1150 eine grössere Kirche, welche heute hier

steht. Das im Boden eingelassene Taufbecken, in welchem die Täuflinge

ganz untergetaucht wurden, ist mit einer Steinplatte bedeckt. Die Bauleute

waren sog. Comaschi (von lat. cum machina: sie benutzten von Hand an-

getriebene «Maschinen», um die Bauten zu erstellen) oder Comacini (von

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Como stammend). Da sie in ganz Europa tätig waren, kannten sie viele verschiedene Baustile und

wandten diese Kenntnisse nun auch beim Bau der neuen Taufkirche an. Man erkennt langobardische,

byzantinische und arabische Einflüsse; arabisch ist z.B. die Wahl von schwarzen und weissen Steinen im

Mauerwerk oder der obere Abschluss der Säulenkapitelle. Byzantinisch

ist die Kreuzform der Taufkirche; Baptisterien sind sonst oktogonal in

Analogie zu einer Krone. Das Kircheninnere war früher vollständig

bemalt. Leider sind heute nur noch Fragmente sichtbar, z.B. ein Bild

des Letzten Gerichts auf der Wand gegen die Kirche San Vincenzo hin.

Die übrigen Wände wurden im Auftrag und mit Spenden von Grave-

doner Familien bemalt, die dann auch das Thema bestimmten. – In die

Nordwand eingelassen befindet sich eine Gedenktafel der Familie Ca-

zola mit den Jahreszahlen 1634 und 1687 und darüber ein (wahr-

scheinlich älteres) Wappen der Familie Pestalozzi mit einem Löwen,

der einen Schlüssel hält. Ein Dank an Leo, der auf die Schultern seines

Vaters Alain geklettert ist, um das Wappen zu fotografieren!

Abschluss der Reise

Als Dieter (Mä) ausserhalb der Kirche fotografieren wollte, wurde ihm schwarz vor den Augen; er fiel hin

und blieb liegen, sogleich umsorgt von den beiden Aerzten und dem Apotheker der Reisegruppe. Bald

konnte er zum Glück wieder aufstehen und die Reise fortsetzen. Gute Besserung, Dieter, für das

Ausheilen der beim Sturz zugezogenen Blessuren!

Den Abschluss des Wochenendes bildete die Fahrt dem schönen Comersee entlang nach Lugano, von wo

aus die meisten mit dem Zug wieder in den Norden reisten. Wir hörten und sahen viel Interessantes und

hatten ausgiebig Zeit zu plaudern und uns besser kennenzulernen. Wunderbar klappte die Zusam-

menarbeit im OK mit Danielle Pestalozzi und Henrich Börjes-Pestalozza. Euch herzlichen Dank!

v.l.: Danielle, Léo Hsiung, Edi, Alain Hsiung, Philipp Renz, Dieter (Mü), Alexandra, Urs, Ursle, Beat, Lisbeth

Landolt, Jeanne, Dieter (Mä), Silvia, Elisabeth, Alain, Andres

es fehlen: Nepo, Pe, Hanna, Rahel, Ursula, Henrich Börjes-Pestalozza, This Landolt

Text: Dieter (Mü)

Bilder: Henrich (Ta), Rahel (Mä) und Nepo (Tr)