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Die Monatszeitschrift Herausgeber: Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr.Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff In dieser Ausgabe: Die auch unter www.juris.de Topthema: Der nächsten Koalitionsver- handlung mit auf den Weg gegeben: Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Auf- gabe des Arbeitsrechts Prof. Dr. Gregor Thüsing Interview: „Im Namen der Deutschen Bischofskonferenz…“ VPräsLAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb Die Wissenszurechnung des Geschäftsführers beim Share Deal RA Dr. Rüdiger Werner Die Rechtsprechung des BGH zur sekundären Darlegungslast und zur Beweislast in Filesharing- Fällen RA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz M 6 Juni 2017

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Die Monatszeitschrift

Herausgeber:Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr. Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff

In dieser Ausgabe:

Die auch unter www.juris.de

Topthema:

Der nächsten Koalitionsver-handlung mit auf den Weg gegeben: Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Auf-gabe des ArbeitsrechtsProf. Dr. Gregor Thüsing

Interview:

„Im Namen der Deutschen Bischofskonferenz…“VPräsLAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb

Die Wissenszurechnung des Geschäftsführers beim Share DealRA Dr. Rüdiger Werner

Die Rechtsprechung des BGH zur sekun dären Darlegungslast und zur Beweislast in Filesharing-FällenRA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz

M 6 Juni

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INHALT

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

Expertengremium:Wolfgang Ball | RA Prof. Dr. Guido Britz | Prof. Dr. Harald Dörig | Dr. Heinz-Jürgen Kalb | Prof. Dr. mult. Michael Martinek | Dr. Wolfram Viefhues

Die Wissenszurechnung des Geschäftsführers beim Share DealRA Dr. Rüdiger Werner S. 222

Die Rechtsprechung des BGH zur sekun-dären Darlegungslast und zur Beweislast in Filesharing-FällenRA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz S. 229

Mindestentgelte für geduldete Konto-überziehungenBGH, Urt. v. 25.10.2016 - XI ZR 9/15Prof. Dr. Sebastian Omlor, LL.M. (NYU), LL.M. Eur S. 234

Ist das Einwurf-Einschreiben ein ein geschriebener Brief?BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15RA Dr. Udo Michalsky S. 237

Das Himbeer-Vanille-Abenteuer des in die Irre geführten VerbrauchersBGH, Urt. v. 02.12.2015 - I ZR 45/13Ri Dr. Norman Konecny S. 240

Der nächsten Koalitionsverhandlung mit auf den Weg gegeben: Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Aufgabe des ArbeitsrechtsProf. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard), Attorney at Law (New York) S. 242

Glücksspielgewinne und Arbeitslosen-geld IIBSG, Urt. v. 15.06.2016 - B 4 AS 41/15 RRiSG Dr. Franz Guttenberger, LL.M. (London) S. 249

Zivil- und Wirtschaftsrecht

Arbeitsrecht

Sozialrecht

Topthema:

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AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

INHALT

Bindungswirkung bundesverfassungs-gerichtlicher Entscheidungen und EMRKBVerwG, Urt. v. 21.09.2016 - 6 C 2/15Prof. Dr. Klaus F. Gärditz S. 252

Steuererlass aus Billigkeitsgründen nach dem sog. Sanierungserlass des BMFBFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15RiBFH Dr. Christian Levedag S. 254

TV-Berichterstattung und Unschulds-vermutungBGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16RA Prof. Dr. Guido Britz S. 257

„Im Namen der Deutschen Bischofskonfe-renz…“Interview mit VPräsLAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb S. 260

Münder, Sozialgesetzbuch II. Grundsiche-rung für ArbeitsuchendeRiBSG Dr. Thomas Flint S. 263

Verwaltungsrecht

Steuerrecht

INTERVIEW

Bücherschau

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EDITORIAL

Im Wahlkampf besinnen sich die Parteien wieder auf den sonst eher leisen, manchmal vergessenen Kern unserer Ge-sellschaft, die Familie. Gerne rückt dann, wenn es um die Fa-miliengerechtigkeit geht, das Steuerrecht ins Zentrum, ist die sog. Steuergerechtigkeit doch ein Lieblingsthema der Deutschen. Jedoch kann besteuert nur werden, was trotz Fa-milie verdient wurde. Wenn es nun aber darum geht, wie der Beruf in den Familienalltag integriert werden kann, rückt vor allem das Arbeitsrecht in den Fokus. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Aufgabe des Arbeitsrechts ist Topthe-ma dieses Heftes, gerade mit Blick auf die nächste Koali-tionsvereinbarung (Thüsing, S. 242). Es ist gesellschaftliches Allgemeingut, dass keine Frau vor der platten Wahl zwi-schen Familie und Karriere stehen sollte, gleichwohl ist diese Wahl vielfach Realität. Gerade das Arbeitsrecht ist traditio-nell blind gegenüber der Familie, wenngleich die viel be-schworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Interesse der Gesellschaft insgesamt liegt. Hier sind Sozialpartner, Be-triebe sowie der Gesetzgeber auf den Plan gerufen, etwa für familienfreundliche Arbeitszeiten oder einen familien-freundlichen Kündigungsschutz zu sorgen.

Der zivilrechtliche Teil der vorliegenden Ausgabe der jM be-schäftigt sich mit Fragen der effektiven Umsetzung an sich abstrakt „klarer“ gesetzlicher Vorgaben. So darf beim Unter-

nehmenskauf der Verkäufer, der das Vorhandensein be-stimmter Umstände garantiert, einen Mangel nicht arglistig verschweigen. Ist er aber beim Share Deal auf die Informatio-nen der Geschäftsführung des Tochterunternehmens ange-wiesen, stellt sich die Frage, inwieweit ihm das Wissen der Geschäftsführung des Zielunternehmens um Mängel zuge-rechnet werden kann, insbesondere, wenn der Geschäftsfüh-rer vom Käufer übernommen wird (dazu Werner, S. 222). Sub specie Filesharing geht es um die Verantwortlichkeit des An-schlussinhabers für eine Urheberrechtsverletzung ausgehend von seinem Anschluss; die Beweislage scheint schwierig (dazu Kuntz, S. 229). Das GmbH-Gesetz sieht an verschiede-nen Stellen den Versand von Willenserklärungen per einge-schriebenem Brief vor; ob hierfür auch ein Einwurf-Eischrei-ben genügt, hat der BGH nunmehr geklärt (dazu Michalsky, S. 237) Jeden Verbraucher als Darlehensnehmer interessiert die Frage nach der Angemessenheit von Mindestentgelten für geduldete Kontoüberziehungen (Omlor, S. 234 zu einem aktuellen BGH-Urteil). Verbraucherschutz scheint gefragt, wenn sich bei einem als „Felix Himbeer-Vanille-Abenteuer“ beworbenen Tee nur aus der Auflistung der Zutaten auf der Rückseite der Verpackung ergibt, dass er weder Spuren von Himbeeren noch von Vanille enthält (Konecny, S. 240).

Der sozialrechtliche Part des vorliegenden Heft betrifft die Anrechnung von Glücksspielgewinnen auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Guttenberger zu einem aktuellen Urteil des BSG, S. 249).Verwaltungsrechtlich geht es um die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Ent-scheidungen trotz ggf. nicht umfassender Aufarbeitung internationalen Grundrechtsschutzes (Gärditz zur aktuellen Rechtsprechung des BVerwG, S. 252). Im Steuerrecht bleibt in Sanierungsfällen nur die Hoffnung auf den künftigen Steuergesetzgeber, nachdem der GrS des BFH den sog. Sa-nierungserlass verworfen hat (dazu Levedag, S. 254).

Zentral für das rechtsstaatliche Strafverfahren ist der Grund-satz der Unschuldsvermutung. Wann er durch eine TV-Bericht-erstattung verletzt ist, und mit welchen Konsequenzen scheint vom BGH zunächst geklärt (dazu kritisch Britz, S. 257).

Am Ende des Heftes wird der Leser zum Arbeitsrecht zurück-geführt, jedoch aus einer ganz besonderen Perspektive: Es geht um Judikate im Namen der Deutschen Bischofskonferenz aufgrund eines Mandats des Heiligen Stuhls. Der Präsident des kirchlichen Arbeitsgerichtshofs der katholischen Kirche gibt im Interview (S. 260) spannende Einblicke in die Arbeit seines Ge-richts.

Ich wünsche im Namen der Herausgeber viel Freude beim Lesen.

Monika Jachmann-Michel

Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel,Vorsitzende Richterin am Bundesfinanzhof

Vergesst die Familien nicht!

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Die Monatszeitschrift

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

Zivil- und Wirtschaftsrecht

Die Wissenszurechnung des Geschäftsführers beim Share Deal*

RA Dr. Rüdiger Werner

Bei Unternehmenskäufen wird das gesetzliche Gewährleis-tungsrecht regelmäßig ausgeschlossen. Stattdessen garan-tiert der Verkäufer das Vorhandensein bestimmter Umstän-de. Etwas anderes gilt nach § 444 Alt. 1 BGB nur dann, wenn der Verkäufer einen Mangel arglistig verschweigt. Im Fall eines Share Deals verfügt der Verkäufer jedoch regelmäßig nur über eingeschränkte Kenntnisse des Unternehmens. Er muss sich daher auf die von der Geschäftsführung des Toch-terunternehmens bereitgestellten Informationen verlassen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit dem Verkäufer nicht das Wissen der Geschäftsführer des Zielunternehmens um vorhandene Mängel zugerechnet und daher der Vorwurf der Arglist erhoben werden kann. Wird der Geschäftsführer vom Käufer übernommen, stellt sich weiterhin die Frage, ob dem Käufer das Wissen des Geschäftsführers zuzurechnen ist und Ansprüche daher ausgeschlossen sind. Anlässlich eines zuletzt ergangenen Urteils des OLG Düsseldorf geht der nachfolgende Beitrag dieser Frage nach.

A. Problemstellung

Voraussetzung für den Arglistvorwurf ist die Verletzung einer Aufklärungspflicht. Eine solche Pflicht wird beim Unterneh-mensverkauf aus dem Informationsvorsprung des Verkäufers vor dem Käufer abgeleitet, der wegen der weitreichenden wirtschaftlichen Folgen des Unternehmenskaufs besonders kritisch ist. Speziell bei einem Share Deal ist dieser Informa-tionsvorsprung jedoch begrenzt. Das relevante Wissen liegt in diesem Fall bei der Geschäftsführung des Zielunternehmens, die aber gerade nicht Vertragspartei ist. Die korrekte Informa-tion des Käufers hängt damit nicht allein vom Verkäufer ab. Der Verkäufer ist insoweit auf die Mitwirkung der Geschäfts-führung der Zielgesellschaft angewiesen, die aber gerade nicht Vertragspartei ist. Der Verkäufer haftet daher, wenn ihm das Verhalten oder das Wissen der Geschäftsführer zuzurechnen ist.1 Werden die Geschäftsführer vom Käufer übernommen, stellt sich die Frage, ob dem Käufer deren Wissen zuzurechnen ist und Ansprüche des Käufers daher ausgeschlossen sind.

B. Der Sachverhalt

Dem Urteil des OLG Düsseldorf lag verkürzt folgender Sach-verhalt zugrunde: Die Konzernmutter Masterflex Group

(Verkäuferin) machte im November 2010 über eine Ad-hoc-Mitteilung ihre Absicht publik, sich von ihrem Geschäftsbe-reich „Mobility“ trennen zu wollen, der u.a. aus einer 51 %igen Beteiligung an der Clean Air Mobility GmbH und einer 100 %igen Beteiligung an der Velo Drive GmbH be-stand. Im April 2011 kaufte eine von der Privat Equity Fir-ma S beratene Investorengruppe über die für diesen Zweck kurzfristig gegründete Akquisitionsgesellschaft (Käuferin) sämtliche Geschäftsanteile an den beiden Zielgesellschaf-ten. Die Verkäufergruppe hatte keine Vendor Due Diligence vorgenommen, sondern informierte die Käufergruppe auf der Basis seitens der Geschäftsführer der Zielgesellschaften zur Verfügung gestellter Informationen.2 Im Kaufvertrag wurde die Haftung der Verkäuferin auf einen Katalog von Garantiezusagen beschränkt, der u.a. Bilanzgarantien für die Jahre 2009 und 2010 vorsah.3

Nach Bekanntgabe der Verkaufsabsichten hatte der Alt-Ge-schäftsführer H zunächst vergeblich versucht, die Zielge-sellschaften selbst zu übernehmen, was jedoch scheiterte. In diesem Zusammenhang hatte er darüber hinaus die spä-tere Käuferin kontaktiert und informiert. Nach Scheitern seines MBO-Versuchs hatte er schließlich für diese den Kontakt zu der Verkäuferin hergestellt.4 Im Beurkundungs-termin wurde der Unternehmenskaufvertrag konditionell verknüpft mit dem Erwerb von 49 % der Geschäftsanteile an der Akquisitionsgesellschaft durch den in der Geschäfts-führung der Zielgesellschaft verbleibenden Alt-Geschäfts-führer H. Unmittelbar nach dem Abschluss des Vertrags wurde H darüber hinaus zu einem der Geschäftsführer der Akquisitionsgesellschaft bestellt.5 H war weiterhin über eine dritte Gesellschaft an der Clean Air Mobility GmbH be-teiligt. Ein erfolgreicher Erwerb der Zielgesellschaften war daher gegen seinen Willen nicht möglich.6

* Zugleich eine Besprechung von OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15.

1 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2448; Koppmann, BB 2014, 1673, 1674.2 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 43, 65.3 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 4.4 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 5.5 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 2, 5.6 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 65.

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Für die beiden Zielgesellschaften wurde nach ihrem Erwerb durch die Käuferin im Laufe des Jahres 2012 das Insolvenz-verfahren eröffnet. Die Käuferin verklagte daraufhin die Verkäuferin auf Rückabwicklung des Unternehmenskauf-vertrages und verlangte Schadensersatz wegen vorsätzli-cher Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten. So hatte der Alt-Geschäftsführer H absichtlich bilanzrelevante Sachverhalte unzutreffend verbucht mit der Folge, dass der Jahresabschluss 2009 und der vorläufige Jahresabschluss 2010 um mehr als 200.000 € zu positiv dargestellt waren und statt eines Überschusses jeweils Fehlbeträge hätten ausgewiesen werden müssen.7 Diese manipulierten Finanz-daten lagen der von der Käuferin durchgeführten Due Dili-gence-Prüfung zugrunde und wurden auch in einer den Kaufprozessen einleitenden beidseitigen unverbindlichen Absichtserklärung in Gestalt eines sog. Letter of Intent in Bezug genommen.8

C. Das Urteil

Das Oberlandesgericht befürwortete im konkreten Fall einen Schadensersatzanspruch wegen vorvertraglicher Auf-klärungspflichtverletzung nach den § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2, §§ 249 ff. BGB.9 Ein solcher An-spruch scheide nicht deshalb von vornherein aus, weil die in den § 311 Abs. 2, § 241 Abs. 2 BGB normierten Grundsät-ze von den §§ 434 ff. BGB als abschließendes Sonderrege-lungen verdrängt würden. Zumindest für den Fall einer arg-listigen Täuschung über die Beschaffenheit der Sache enthielten die §§ 434 ff. BGB keine vorrangige Sonderrege-lung, sodass die Regelungen über die vorvertragliche Pflichtverletzung anwendbar seien. Insoweit bestehe eine planwidrige Gesetzeslücke, die unter Rückgriff auf § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB zu schließen sei. Dies gelte in derselben Weise für den Anspruch wegen Verschuldens bei Vertrags-schluss.10

Die Klägerin müsse sich das vorsätzliche Verhalten der Ge-schäftsführer G und H nach § 278 BGB wie eigenes Ver-schulden zurechnen lassen, soweit es um deren Falschan-gaben über bilanzrelevante Umstände gehe.11 Schalte die Verkäuferin von Geschäftsanteilen bei der von ihr geschul-deten Auskunftserteilung Manager und/oder sonstige Mit-arbeiter des Zielunternehmens ein und stammten die dem Käufer überlassenen Informationen vom Management der Zielgesellschaft oder deren Mitarbeitern, so seien diese re-gelmäßig Erfüllungsgehilfen des Verkäufers.12 Eine Haf-tungsfreizeichnung der Verkäuferin in Bezug auf vorsätzli-ches Verhalten ihrer Erfüllungsgehilfen wäre zwar nach den § 278 Satz 2, § 276 Abs. 3 BGB möglich gewesen und war auch von dieser gewollt. Sie habe eine solche Klausel in den Vertragsverhandlungen jedoch nicht durchsetzen kön-nen.13

Gleichwohl müsse sich auch die Käuferin das Wissen von G und H zurechnen lassen. Zwar enthalte der Kaufvertrag eine Regelung, die eine Haftung der Verkäuferin für der Käuferin bekannte Umstände ausschließe. Die entspre-chende Bestimmung des Kauf- und Abtretungsvertrags be-inhalte jedoch keine generelle Zurechnung der Kenntnisse und des Kennenmüssens der Geschäftsführer bezüglich der bilanzrelevanten Sachverhalte, sondern ausschließlich eine Wissenszurechnung in Bezug auf Ansprüche aus den Ga-rantien gemäß den Regelungen unter 8. des Kauf- und Ab-tretungsvertrags. Die durchgeführte Beweisaufnahme habe ergeben, dass die Verkäuferin ursprünglich versucht hatte, in den Vertrag eine Klausel aufzunehmen, die der Käuferin auf das Wissen von H gestützte Ansprüche umfassend ver-sagte, sich aber damit nicht durchsetzen können.14

Die Käuferin muss sich aber nach Auffassung des Gerichts das Wissen der Geschäftsführer H und G über § 166 BGB zurechnen lassen. Zwar sei H zum Zeitpunkt des Vertrags-schlusses noch nicht Geschäftsführer der Käuferin gewe-sen. Einer Berufung darauf stehe jedoch § 242 BGB ent-gegen. § 166 BGB sei im konkreten Fall im Übrigen unter den Gesichtspunkten des vorzeitigen Übergangs der Loyali-tät und der Veranlassung von Vertragsverhandlungen ana-log anwendbar.15 Die Ansprüche der Klägerin seien aber auch unter Berücksichtigung dieser Wissenszurechnung nicht nach § 442 Abs. 1 Satz 1 BGB ausgeschlossen, weil die Parteien nach dem Ergebnis der durchgeführten Be-weisaufnahme die Zurechnung der Kenntnis von H und G nur in Bezug auf Garantieansprüche übereinstimmend ge-wollt und vereinbart, diese im Übrigen aber ausgeschlossen hätten.16

D. Zurechnung zum Verkäufer

I. Verhaltenszurechnung

Problematisch sind zunächst die Ausführungen des Ge-richts zu § 278 BGB. Eine Verhaltenszurechnung kann über § 278 BGB erfolgen. Dies hängt davon ab, ob der Geschäfts-führer Erfüllungsgehilfe oder bloße Auskunftsperson ist.

7 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 38.8 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 5, 42.9 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 75.10 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 77 unter Hinweis

auf BGH, Urt. v. 27.03.2009 - V ZR 30/08.11 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 87.12 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 88.13 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 91.14 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 104 f.15 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 107 f.16 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 111.

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Die Monatszeitschrift

Nach einem Teil der Literatur sollen vom Verkäufer genann-te direkt befragte Auskunftspersonen im Unternehmen des Verkäufers grds. keine Erfüllungsgehilfen sein.17 Die Gegen-meinung will zu Informationszwecke eingebundene Perso-nen dagegen generell als Erfüllungsgehilfen des Verkäufers ansehen.18 Dies würde allerdings den Wortlaut des § 278 Satz 1 Alt. 2 BGB überdehnen.19 Eine Durchbrechung des Verschuldensprinzips beim Erfüllungsgehilfen rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass der Geschäftsherr die von ihm geschuldete Arbeit delegiert und dadurch das Risiko einer Pflichtverletzung bewusst erhöht.20 Bei einem Share Deal kann der Verkäufer seine Informationspflicht in Er-mangelung eigener Kenntnisse aber gar nicht persönlich er-füllen.21

Das Problem stellt sich in der Praxis insbesondere im Fall einer Zurechnung des Verschuldens des Bilanzerstellers bei einer fehlerhaften Bilanz, wenn dem Verkäufer selbst kein Verschulden vorgeworfen werden kann.22 In dem vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fall meinte das Gericht, die Ver-antwortung des Verkäufers für die durch die Geschäftsfüh-rer der Zielgesellschaft erstellten Bilanzen einfach pauschal damit begründen zu können, der Verkäufer sei bereits auf-grund seiner Gesellschafterposition für die monierten Bi-lanzmanipulationen mitverantwortlich.23 Tatsächlich zielt die Feststellung der Bilanz durch die Gesellschafter darauf ab, die Ansprüche und Verbindlichkeit der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft zum Bilanzstichtag konstitutiv zu fixieren.24 Die Bilanzierungspflicht liegt dagegen bei der Geschäftsleitung. Diese Pflicht besteht aber unabhängig von der Pflichtenstellung der Verkäuferin gegenüber der Käuferin.25

Der BGH hatte zunächst versucht, eine Verantwortung der Verkäuferin für den Bilanzersteller pauschal über § 278 BGB zu begründen. Bilanzen seien nach den §§ 238 ff. HGB persönliche Erklärungen des Kaufmanns und daher eigene Erklärungen.26 In einem Urteil aus dem Jahr 1979 schränk-te der BGH die Haftung der Verkäuferin für den Bilanzer-steller insofern ein, als diese nur hafte, wenn sie die Bilanz-erstellung eigens zur Vorlage bei der Verhandlung veranlasst habe.27 Eine Haftung soll darüber hinaus in Betracht kom-men, wenn die Verkäuferin eine noch ohne Bezug auf den Verkauf angefertigte Bilanz in späteren Verhandlungen ver-wendet.28 Das eigentliche Problem bleibt auch hier, ob sich die Verkäuferin des Bilanzerstellers auch im Verhältnis zum Kauf bei der Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten bedient, so-dass dieser auch in Verhältnis zur Käuferin Erfüllungsgehil-fe ist.29

In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahr 2003 ging es um den Verkauf einer als GbR geführten Patentanwalts-kanzlei. Dabei waren objektiv falsche Gewinn- und Verlust-rechnungen zur Grundlage der Kaufpreisverhandlungen

gemacht worden. Der BGH ließ hier dahinstehen, von wel-chen Beteiligten die falschen Gewinn- und Verlustrechnun-gen vorgelegt worden waren, da der Verkäufer sie sich in jedem Fall zu eigen gemacht habe. Er müsse sich die Fehler bei den Verbuchungen durch die Buchhalterin seiner Kanz-lei zurechnen lassen. Indem sich der Verkäufer bei seinen Angaben über die Verhältnis der Gesellschaft auf Zahlen-werke gestützt habe, die von der Buchhalterin der Kanzlei für diese erstellt worden waren und danach den Kaufpreis auf der Basis dieses Zahlenwerks kalkuliert habe, habe er sie als Erfüllungsgehilfin im Rahmen seiner kaufvertragli-chen Pflichten eingesetzt.30 Die Tendenz der Rechtspre-chung geht also eindeutig dahin, bei jeder unter Verletzung des Bilanzrechts erstellten Bilanz eine Haftung des Verkäu-fers zu befürworten, sofern die fragliche Bilanzposition von Bedeutung ist.

Der Käufer ist nicht schutzbedürftig, wenn ihm Informatio-nen mit dem Hinweis übergeben werden, der Verkäufer hafte nicht dafür. Umgekehrt ist der Verkäufer sehr wohl schutzwürdig, wenn ihm eine Person als Verhandlungsge-hilfe zugerechnet wird.31 Es kommt insoweit auf die Art und Weise der Erteilung der Information an. Allein der Umstand, dass eine Bilanz oder sonstige Informationen dem Verkäu-fer hilft, den Käufer über das Unternehmen zu informieren, kann nicht ausreichen. Der Wortlaut des § 278 BGB würde ansonsten überdehnt.32 Der Informationsgeber muss jeden-falls in eine ähnliche Position gerückt werden, wie ein An-walt oder ein sonstiger Transaktionsberater des Verkäu-fers.33 Etwas anderes muss allerdings gelten, wenn der

17 Huber, AcP 202 (2002), 179, 198; Müller, ZIP 2000, 817, 823.18 Jaques, BB 2002, 417; Weitnauer, NJW 2002, 2511, 2514; Hartung,

NZG 1999, 524, 527.19 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2452; Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl.

2014, Rn. 893.20 Grundmann in: MünchKomm, BGB, 7. Aufl. 2016, § 278 Rn. 48; Weiß-

haupt, ZIP 2016, 2447, 2452; Jauernig/Stadler, BGB, 16. Aufl. 2015, § 278 Rn. 2, 6; Prölss in: Festschrift für Canaris, 2007, S. 1037, 1061.

21 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2452; Seibt/Wunsch, ZIP 2008, 1093, 1097; Hemeling, ZHR 169 (2005), 274, 281.

22 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 862.23 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 25.24 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2452; Wicke, GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 46

Rn. 2.25 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2452.26 BGH, Urt. v. 05.10.1973 - I ZR 43/72.27 BGH, Urt. v. 22.11.1979 - III ZR 186/77.28 BGH, Urt. v. 25.05.1977 - VIII ZR 186/75.29 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 872.30 BGH, Urt. v. 04.06.2003 - VIII ZR 91/02.31 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 894 f.32 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 896 f.33 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 898.

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Verkäufer trotz der Erklärung, dass eine Person nicht Erfül-lungsgehilfe ist, sich dieser Person tatsächlich doch als Er-füllungsgehilfen bedient oder er Auskünfte, die er im eige-nen Namen erteilt, von Hilfspersonen zusammenstellen lässt, ohne dass dies dem Käufer erkennbar ist.34

Bei beurkundungspflichtigen Rechtsgeschäften ist die Rechtsprechung zum Teil davon ausgegangen, dass die Kenntnis eines vorbereitenden Verhandlungsgehilfen dem Verkäufer nicht zugerechnet werden könne, wenn dieser bei der notariellen Beurkundung durch eine andere Person vertreten wird. Der Warn- und Schutzzweck der Beurkun-dung könne sich nur gegenüber den Beteiligten an der Be-urkundung entfalten. Deshalb könne es auf die Kenntnis eines mit der Anfertigung des Vertragsentwurfs oder der Führung der Verhandlungen Beauftragten nicht ankom-men.35 Nach dem OLG Köln soll allerdings einem anwesen-den Vertreter eine Kenntnis der arglistigen Täuschung des nicht anwesenden Verhandlungsgehilfen analog § 166 BGB zugerechnet werden.36 Dass ein Vertrag zu seiner Wirksam-keit notariell beurkundet werden muss, kann richtiger An-sicht nach keiner Partei Rechte daraus abschneiden, dass sie zuvor belogen wurde.37

II. Wissenszurechnung

Arglistiges Verschweigen i.S.d. § 444 Alt. 1 BGB setzt nicht zwingend voraus, dass der Verkäufer selbst positive Kennt-nis von den offenzulegenden Umständen hat. Vielmehr soll ihm unter gewissen Voraussetzungen auch in seiner Orga-nisation vorhandenes Wissen zuzurechnen sein. Begründet wird die Zurechnung von Wissen mit dem Gedanken der Gleichstellung. Der Vertragspartner einer Organisation soll weder schlechter noch besser stehen als der einer natürli-chen Person, deren Wissen nicht organisatorisch aufgespal-ten ist.38 Da eine Organisation von den Vorteilen der Arbeitsteilung profitiert, könne sich die damit einhergehen-de Aufteilung des Wissens auf mehrere natürliche Personen nicht entlastend auswirken.39 Dem Verkäufer soll daher neben dem Wissen seines Vertreters i.S.d. § 164 BGB in analoger Anwendung des § 166 Abs. 1 BGB auch das Wis-sen sog. Wissensvertreter zugerechnet werden.40

Wissensvertreter ist nach dem BGH jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Auf-gaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei angefallenen Informationen zur Kenntnis zu nehmen sowie ggf. weiterzuleiten.41 Maßgeblich soll es dabei darauf an-kommen, dass der Dritte nach der internen Arbeitsorgani-sation dazu berufen ist, bestimmte Umstände für den Ge-schäftsherrn zur Kenntnis zu nehmen. Damit könne auch derjenige betraut sein, der nicht befugt ist, aus den zur Kenntnis genommenen Informationen Konsequenzen zu

ziehen bzw. Entscheidungen zu treffen, sondern derjenige, der die erlangten Informationen lediglich speichern oder weitergeben solle.42 Eine Zurechnung soll danach selbst dann möglich sein, wenn der Wissensträger nicht mit dem maßgeblichen Rechtsgeschäft befasst war bzw. noch nicht einmal von diesem wusste.43

Die Geschäftsführer der Zielgesellschaft sind zwar eine un-entbehrliche Quelle für die Informationsversorgung der Parteien des Unternehmenskaufvertrags. Repräsentanten des Verkäufers sind sie allein aufgrund ihrer Organstellung gleichwohl nicht.44 Nach der Wertung des § 166 Abs. 2 Satz 1 BGB, der die Relevanz von Wissen des Geschäfts-herrn für das Vertretergeschäft betrifft, soll das Wissen des Geschäftsherrn nur relevant sein, wenn dieser maßgebli-chen Einfluss auf das konkrete Rechtsgeschäft genommen hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht überzeu-gend, wenn umgekehrt das Wissen von Wissensvertretern, auf die § 166 BGB ohnehin nur im Weg der ausdehnenden Auslegung im Weg einer Analogie anwendbar ist, selbst dann zuzurechnen sein soll, wenn sie keinerlei Kenntnis von dem bzw. Einfluss auf das Rechtsgeschäft haben.45

Die Rechtsprechung folgte im Hinblick auf die Wissenszu-rechnung bei juristischen Personen zunächst der sog. Organtheorie. Danach wird der Gesellschaft nicht das Han-deln der Organmitglieder zugerechnet, sondern das Verhal-ten der sog. Organwalter gilt als eigenes Handeln der juris-tischen Person. Das Wissen eines Organmitglieds ist damit gleichzeitig auch Wissen der juristischen Person.46 Dabei galt nicht nur sowohl das privat als auch das geschäftlich erlangte Wissen eines aktiven Organmitglieds als Wissen der juristischen Person, sondern auch das (ehemalige) Wis-sen eines zwischenzeitlich aus dem Dienst für die Gesell-schaft ausgeschiedenen oder verstorbenen Organmitglieds

34 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 899 f.35 BGH, Urt. v. 21.02.1986 - V ZR 126/84; OLG Koblenz, Urt. v. 23.01.1992

- 5 U 901/91.36 OLG Köln, Urt. v. 03.04.1992 - 19 U 191/91.37 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 904.38 BGH, Urt. v. 15.04.1997 - IX ZR 105/96; BGH, Urt. v. 02.02.1996 - V ZR

239/94.39 BGH, Urt. v. 08.12.1989 - V ZR 246/87.40 BGH, Urt. v. 24.01.1992 - V ZR 262/90.41 BGH, Urt. v. 10.02.1971 - VIII ZR 182/69.42 Schulte, NJW 1990, 477, 479.43 BGH, Urt. v. 08.12.1989 - V ZR 246/87.44 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2453.45 Hoenig/Klingen, NZG 2013, 1046, 1049; Baum, Die Wissenszurech-

nung, 1999, S. 131; Dauner-Lieb in: Festschrift für A. Kraft, 1998, S. 50 f.46 BGH, Urt. v. 06.04.1964 - II ZR 75/62; BGH, Urt. v. 30.04.1955 - II ZR

5/54.

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als Wissen.47 Diese umfassende Wissenszurechnung wurde allerdings insofern eingeschränkt, als sie nur für zuständi-ge, d.h. vertretungsberechtigte Organmitglieder galt.48

Im Jahr 1989 gab der BGH die Organtheorie schließlich auf und entwickelte stattdessen eine Pflicht zur ordnungsge-mäßen Wissensorganisation.49 Aus dieser Organisations-pflicht folgt sowohl eine Informationsweiterleitungspflicht als auch eine Informationsabfragepflicht. Eine am Rechts-verkehr teilnehmende Organisation muss daher nach den berechtigten Erwartungen des Rechtsverkehrs so organi-siert sein, dass Informationen, deren Relevanz für andere Personen innerhalb dieser Organisation bei den konkret Wissenden erkennbar ist, tatsächlich an jene Personen wei-tergeleitet werden.50 Weiterhin muss sichergestellt sein, dass ggf. nach erkennbar anderswo innerhalb der Organi-sation vorhandenen und für den eigenen Bereichen we-sentlichen Informationen nachgefragt wird.51 Begründet wird diese Pflicht damit, dass der Vertragspartner einer or-ganisatorisch aufgespaltenen juristischen Person nicht schlechtergestellt werden dürfe als der einen natürlichen Person.52

Teilweise wird vertreten, dass das Wissen des Geschäfts-führers der Zielgesellschaft dem Verkäufer stets zuzurech-nen sei.53 Allein die konzernrechtliche Verbundenheit von Verkäufer und Zielgesellschaft kann eine unternehmens-übergreifende Wissenszurechnung jedoch nicht rechtferti-gen. Vielmehr müssen zumindest eine besondere Ausübung von Leitungsmacht und eine Ausgliederung von Aufgaben auf die Zielgesellschaft hinzukommen.54 Unproblematisch ist eine konzerndimensionale Zurechnungseinheit bei kon-zernweiten Aufgaben. Solche obliegen Geschäftsleitern und Mitarbeitern der Tochtergesellschaft, die zu den für die Konsolidierung zuständigen Rechnungslegungseinheiten gehören und den entsprechenden Einheiten der Mutterge-sellschaft zuzurechnen sind.55 Etwas anderes gilt, wenn sich die Geschäftstätigkeit von Verkäufer und Zielgesell-schaft unterscheidet, da die Zielgesellschaft in diesem Fall eigene Aufgaben wahrnimmt.56

Eine vermittelnde Ansicht schließt die Wissenszurechnung jedenfalls dann aus, wenn der Verkäufer alles dafür getan hat, um sich bei den Geschäftsleitern und Mitarbeitern der Zielgesellschaft zu erkundigen, wobei die Anforderungen an diese Erkundigungen durch Vertraulichkeitsinteressen begrenzt sein sollen.57 Dagegen spricht, dass auf diese Wei-se fahrlässige Pflichtverletzungen über die Zurechnung des kognitiven Vorsatzelements zu einem Arglistvorwurf umge-deutet werden. In diesem Fall liegt nicht nur eine Wissens-, sondern auch eine Wollensfiktion vor.58 Weiterhin bestehen Zweifel, ob der Käufer bei einer professionellen Strukturie-rung des Unternehmenskaufs überhaupt schutzwürdig ist.59 Schließlich definiert der Geltungsgrund der Wissens-

organisationspflichten ihre Grenzen entlang der arbeitstei-ligen Struktur. Nur wenn diese konzerndimensional ausge-prägt ist, rechtfertigt sich eine entsprechende Verlängerung der Wissensorganisationspflichten über Unternehmens-grenzen hinweg.60

E. Wissenszurechnung zum Käufer

Nach § 442 Abs. 1 BGB kann der Käufer die gesetzlichen Gewährleistungsrechte nicht wegen eines Mangels gel-tend machen, den er bei Vertragsschluss kannte oder trotz redlich informierenden Verkäufers grob fahrlässig nicht kannte. Schlägt der vertraglich vereinbarte Ausschluss der Gewährleistung fehl, weil der Verkäufer dem Käufer einen Mangel arglistig verschweigt, so gilt etwas anderes dann, wenn der Verkäufer dem Käufer gleichwohl nachweisen kann, dass dieser den Mangel positiv kannte. Dies ist auch dann der Fall, wenn dem Käufer das entsprechende Wis-sen der Geschäftsführer der Zielgesellschaft zuzurechnen ist. Der Rechtsgedanke des § 442 Abs. 1 BGB, ob man die-sen nun im Verbot widersprüchlichen Verhaltens61 oder dem Gebot der Transaktionskostenminimierung sieht,62 strahlt auch auf die Auslegung eines Unternehmens-kaufvertrages aus, der zur Relevanz des Käuferwissens schweigt.63

Es stellt sich daher die Frage, ob die Haftung des Verkäu-fers nicht dadurch ausgeschlossen werden kann, dass das Wissen der Geschäftsführer der Zielgesellschaft dem Käu-

47 Schubert in: MünchKomm, BGB, 7. Aufl. 2015, § 166 Rn. 8; Buck, Wis-sen und juristische Person, 2001, S. 239 ff.

48 V. Gierke, Deutsches Privatrecht, Band 1: Allgemeiner Teil und Perso-nenrecht, 1895, S. 530 f.

49 BGH, Urt. v. 08.12.1989 - V ZR 246/87.50 BGH, Urt. v. 02.02.1996 - V ZR 239/94.51 BGH, Urt. v. 02.02.1996 - V ZR 239/94.52 BGH, Urt. v. 13.10.2000 - V ZR 349/99; BGH, Urt. v. 02.02.1996 - V ZR

239/94.53 Jaques, BB 2002, 417, 420; Hartung, NZG 1999, 524, 529.54 Hoenig/Klingen, NZG 2013, 1046, 1049; Schilken in: Staudinger, BGB,

2009, § 166 Rn. 32.55 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2454.56 Hoenig/Klingen, NZG 2013, 1046, 1049.57 Hoenig/Klingen, NZG 2013, 1046, 1049.58 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2454; Meyer, WM 2012, 2040, 2044; Gold-

schmidt, ZIP 2005, 1303, 1308; Jaques, BB 2002, 417, 421.59 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2454; Weißhaupt, WM 2013, 782, 788;

Goldschmidt, ZIP 2005, 445, 448; Jaques, BB 2002, 417, 421.60 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2454.61 Matusche-Beckmann in: Staudinger, BGB, 2004, § 442 Rn. 1.62 Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, S. 476.63 Weißhaupt, WM 2013, 782; Goldschmidt, ZIP 2005, 1305; Rasner, WM

2006, 1425, 1431; dagegen Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 1041.

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fer zugerechnet wird. Dagegen spricht grds., dass die Ziel-gesellschaft sowie ihre Geschäftsführer in die Sphäre des Verkäufers gehören, solange die Gesellschaft noch nicht verkauft worden ist. Geschäftsführer der Zielgesellschaft sind daher nur dann Wissensvertreter des Unternehmens-käufers, wenn sie übernommen werden und bereits bei Abschluss des Kaufvertrages als Verhandlungsgehilfen des Käufers auftreten.64 Im Regelfall hat der Käufer je-doch keinen direkten Zugang zu Personen aus der Zielge-sellschaft. Die zwischen den Parteien geschlossene Ver-traulichkeitsvereinbarung wird vielmehr ein Abwerbe- und Kontaktverbot vorsehen sowie vorschreiben, dass die Kommunikation ausschließlich über die Verkäuferseite verlaufen soll.65

Etwas anders soll allerdings dann gelten, wenn wie bei einem MBO die Geschäftsführer der Zielgesellschaft im M&A-Prozess oder bei den Verhandlungen als Repräsen-tanten der Käuferseite in Erscheinung treten oder in die M&A-Projektstruktur des Käufers einbezogen werden. Ob dies in dem dem Urteil des OLG Düsseldorf zugrunde lie-genden Sachverhalt der Fall war, bleibt aufgrund der Sach-verhaltsdarstellungen im Urteil unklar. Es bleibt z.B. offen, ob H wegen seiner Beteiligung an der Zielgesellschaft zu-gunsten des Käufers Einfluss genommen hat und aus die-sem Grund als dessen Verhandlungsgehilfe eingestuft wer-den kann. Darauf kam es aber im konkreten Fall überhaupt nicht an. Tatsächlich enthielt nämlich der Unternehmens-kaufvertrag eine Klausel, die hinsichtlich des vorläufigen Jahresabschlusses 2010 eine Wissenszurechnung ausdrück-lich anordnete.66

Das OLG Düsseldorf hielt in dem in Rede stehenden Fall § 166 BGB zunächst für unmittelbar anwendbar. H sei zwar zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kauf- und Abtretungs-vertrages weder Geschäftsführer noch Gesellschafter der als Käuferin auftretenden Akquisitionsgesellschaft gewe-sen. Nach Auffassung des Gerichts soll einer Berufung der Käuferin auf diesen Umstand jedoch § 242 BGB entgegen-stehen. Ausweislich der aufeinander bezogenen und mitei-nander verknüpften Verträge sei die Bestellung des H zum Geschäftsführer ebenso von vornherein geplant gewesen, wie die Beteiligung von G und H an der Akquisitionsgesell-schaft. Dazu komme, dass die Reihenfolge der einzelnen Akquisitionsbestandteile allein vom Willen der Akquisi-tionsgesellschaft abhing, was Manipulationsmöglichkeiten eröffne.67

Das Gericht stützt eine Zurechnung des Wissens der Alt-Ge-schäftsführer G und H weiterhin auf eine analoge Anwen-dung von § 166 BGB unter dem Aspekt vorzeitig überge-gangener Loyalität sowie der Veranlassung von Vertrags-verhandlungen. Die Käufer hätten bei wirtschaftlicher Betrachtung zumindest auch für die am Erwerb der Gesell-

schaftsanteile interessierten Alt-Geschäftsführer H und G verhandelt. Die S habe bei Aufnahme der Gespräche mit der Verkäuferin bereits seit längerem in Kontakt zu H und G gestanden, sich mit deren Vorhaben befasst und ihr Finan-zierungsinteresse bekundet, sodass sie mit den Alt-Ge-schäftsführern gleichsam in einem Lager gestanden habe. Im Übrigen sei der Anteilserwerb von diesen finanziert wor-den, sodass sie wirtschaftlich betrachtet Partner der Trans-aktion und Veranlasser der Verkaufsverhandlungen mit der Verkäuferin gewesen seien.68

Das Oberlandesgericht rechnete das Wissen des H über den manipulierten Bilanzen der Käuferin zwar zu, schloss aber gleichzeitig Ansprüche wegen vorvertraglicher Aufklä-rungspflichtverletzung unter Hinweis auf die einschränken-de Klausel zur Käuferkenntnis aus. Dagegen spricht, dass eine Haftung aus Verschulden beim Vertragsschluss als Ver-trauenshaftung voraussetzt, dass der Anspruchsteller auf die entsprechenden Informationen vertraut hat.69 Wenn ihm diese aber bekannt waren, dann scheidet eine vertrau-ensbezogene Haftung von vornherein aus. Aus der Bilanz-garantie könnte der Käufer daher keine Garantieansprüche geltend machen, weil insoweit eine Kenntniszurechnung für die Bilanzgarantie 2010 nicht durch den Kenntnisaus-schluss für die Bilanzgarantie verdrängt wird. Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn sich der Käufer dem Parteiwil-len der Kenntniszurechnung für die Bilanzmanipulationen, die dem Jahresabschluss 2010 zugrunde lagen, entziehen könnte, weil er die Manipulationen rügte.70

F. Konsequenzen für die Praxis

Der Verkäufer wird primär daran interessiert sein, ein mög-lichst richtiges und vollständiges Bild von der Zielgesell-schaft bekommen, um das mit den im Kaufvertrag abgege-benen Garantien verbundene Risiko einschätzen zu können. Er ist grds. nicht zur Durchführung einer Vendor Due Dili-gence verpflichtet und wird eine solche schon aus Kosten-gründen nur in besonders gelagerten Problemfällen durch-führen. Die Bereitstellung der erforderlichen Informationen wird daher im Normalfall durch die Geschäftsführer der Zielgesellschaft erfolgen. Ob der Verkäufer die Zielgesell-

64 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2454; Hilgard, BB 2013, 963, 970; Gold-schmidt, ZIP 2005, 1305, 1310.

65 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2454; Hartung, NZG 1999, 524, 526.66 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2455.67 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 107.68 OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2016 - I-6 U 20/15 Rn. 108.69 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2455; Canaris, Die Vertrauenshaftung im

Deutschen Privatrecht, 1971, S. 506.70 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2455.

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schaft mit eigenem Personal untersucht, um die erforderli-chen Informationen zu bekommen, ist eine Frage der Abwä-gung zwischen dem Vertrauen in die Geschäftsführung und der mit der Transaktion verbundenen Risiken. Der Verkäufer kann sich jedoch absichern, indem er vor dem Abschluss des Unternehmenskaufvertrages von den Geschäftsführern sog. Management Letters zu den transaktionswesentlichen Umständen einfordert.71

Um eine Einstufung der Geschäftsführer als Verhandlungs-gehilfen zu vermeiden, sollte ihre Rolle auf Verkäuferseite nicht über die Aufgabe der Zulieferung relevanter Daten und Informationen hinausgehen und keine Projektleitungs-aufgaben bzw. Mitwirkungen an wesentlichen Weichen-stellungen für die Vertragsverhandlungen umfassen.72 In jedem Fall sollte gegenüber dem Käufer frühzeitig klarge-stellt werden, dass die Geschäftsführer der Zielgesellschaft nicht Repräsentanten der Verkäuferseite sind.73 Die Infor-mationsversorgung umfasst auch die Unterstützung bei der Erarbeitung einer verkäuferseitigen Geschäftsplanung so-wie Präsentation und Auskünfte während einer oder meh-rerer Besprechungen mit Kaufinteressenten. Bei diesen Be-sprechungen ist darauf zu achten, dass Geschäftsleiter der Zielgesellschaft keine widersprüchlichen oder tendenziösen Aussagen machen.74

Generell sollte im Unternehmenskaufvertrag konkret fest-gelegt werden, welche konkreten Einzelpersonen Wissens-träger des Verkäufers sind. Dagegen wird teilweise auf § 276 Abs. 3 BGB verwiesen.75 Eine Freizeichnung darf also in keinem Fall das positive Wissen des aktuellen Organwal-ters des Verkäufers oder der zur Unterzeichnung des Unter-nehmenskaufvertrages Bevollmächtigten in direkter An-wendung von § 166 Abs. 1 BGB erfassen. Eine Ausklamme-rung sonstiger Wissensträger muss aber möglich sein. Systematisch geht es hier gerade nicht um einen Ausschluss der Vorsatzhaftung, sondern um eine vertragsautonome Konturierung der nicht gesetzlich geregelten Frage der Wis-senszurechnung. Unabhängig davon sind die professionell beratenen Parteien eines Unternehmenskaufs nicht schutz-würdig, wenn sie frei über Risikoallokation im Hinblick auf nicht einbezogenes Wissen verhandeln.76

In dem besonderen Ausnahmefall, bei dem die Geschäfts-führer der Zielgesellschaft wie im Rahmen eines MBO auf der Käuferseite stehen, dürfte ihr Wissen um das Unterneh-men auf dringenden Wunsch des Verkäufers vertraglich dem Käufer zugeschrieben werden, soweit die Geschäfts-führer nicht ohnehin direkt substanzielle Garantien gegen-über weiteren Investoren auf der Käuferseite abgeben.77 In dem vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fall hatte der Ver-käufer seine Haftung selbst im Hinblick auf Garantiefälle hingenommen, bei denen der Alt-Geschäftsführer H von den zugrunde liegenden Umständen wusste, beide Ver-

tragsparteien aber unaufgeklärt gelassen hatte. Das Risiko für Informationsfehler durch die Geschäftsführer der Ziel-gesellschaft war also trotz der Ähnlichkeit mit einem MBO vom Verkäufer übernommen worden. Das Problem kann auf einfache Weise durch Parteivereinbarung gelöst wer-den, da die Haftung des Käufers nach § 442 BGB ohne Wei-teres abdingbar ist.78

G. Fazit

Die Geschäftsführer der Zielgesellschaft sind grds. nicht Er-füllungsgehilfen des Verkäufers. Etwas anderes gilt nur, wenn sie maßgeblichen Einfluss auf die Verhandlungen ge-nommen haben. Auch eine Wissenszurechnung analog § 166 BGB ist ausgeschlossen. Im Einzelfall kann das Wis-sen der Geschäftsführer der Zielgesellschaft dem Käufer zu-zurechnen sein. Etwas anders soll allerdings dann gelten, wenn diese wie bei einem MBO im M&A-Prozess oder bei den Verhandlungen als Repräsentanten der Käuferseite in Erscheinung treten oder in die M&A-Projektstruktur des Käufers einbezogen werden. Der Verkäufer kann eine Zu-rechnung des Wissens der Geschäftsführer des Zielunter-nehmens ausschließen, indem er gegenüber dem Käufer klarstellt, dass die Geschäftsführer nicht Repräsentanten der Käuferseite sind bzw. die Personen, deren Wissen dem Verkäufer zugerechnet werden kann, im Unternehmens-kaufvertrag abschließend definiert werden.

71 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2456; Hohaus/Kaufhold, BB 2015, 709, 710; Koppmann, BB 2014, 1673, 1677; Hoenig/Klingen, NZG 2013, 1046, 1049.

72 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2456.73 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2456; Hartung, NZG 1999, 524, 530.74 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2456; Koppmann, BB 2014, 1673, 1677.75 Rasner, WM 2006, 1425, 1429; Jaques, BB 2002, 417, 420.76 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2457; Weißhaupt, WM 2013, 782, 788;

Hilgard, BB 2013, 963, 968; Hoenig/Klingen, NZG 2013, 1046, 1051.77 Weißhaupt, ZIP 2016, 2447, 2457; Goldschmidt, ZIP 2005, 1305, 1306.78 Wächter, M&A Litigation, 2. Aufl. 2014, Rn. 1050.

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Die Rechtsprechung des BGH zur sekundären Darlegungslast und zur Beweislast in Filesharing-Fällen*

RA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz

A. Einleitung

Mit der Entscheidung „Sommer unseres Lebens“1 im Jahr 2010 hat das Phänomen „Filesharing“ den BGH erreicht. Der BGH hatte sich seit dieser ersten Entscheidung bereits mehrfach mit den Problemen des Filesharings zu befassen. Der vorliegende Beitrag will die Leitlinien des BGH zur se-kundären Darlegungslast und zur Beweislast in diesen Fäl-len nachzeichnen und zugleich die gerade erst im Volltext veröffentlichte Entscheidung „Afterlife“2 einordnen.

B. Die bisherige Rechtsprechung des BGH

Der Rechteinhaber trägt nach der bisherigen BGH-Recht-sprechung nach den allgemeinen Grundsätzen als An-spruchsteller die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs auf Schadensersatz erfüllt sind. Er hat darzulegen und im Be-streitensfall nachzuweisen, dass der Anschlussinhaber für die von ihm behauptete Urheberrechtsverletzung als Täter verantwortlich ist. Mit der Entscheidung „Sommer unseres Lebens“ hat der BGH festgestellt, dass eine tatsächliche Vermutung dafür besteht, dass der Anschlussinhaber für die Rechtsverletzung verantwortlich ist, wenn ein geschütz-tes Werk der Öffentlichkeit von einer IP-Adresse aus zu-gänglich gemacht, die zum fraglichen Zeitpunkt dem An-schlussinhaber zugeteilt ist.

Als Ausnahme für die tatsächliche Vermutung sind nach der bisherigen BGH-Rechtsprechung nur die bewusste Zurver-fügungstellung des Internetanschlusses für Dritte sowie die Nutzung durch Dritte über einen ungesicherten WLAN-Zu-gang anerkannt.

In diesen Fällen trifft den Inhaber des Internetanschlusses eine sekundäre Darlegungslast. Diese führt weder zu einer Umkehr der Beweislast noch zu einer über die prozessuale Wahrheitspflicht und Erklärungslast (§ 138 Abs. 1 und 2 ZPO) hinausgehenden Verpflichtung des Anschlussinha-bers, dem Anspruchsteller alle für seinen Prozesserfolg be-nötigten Informationen zu verschaffen. Der Anschlussinha-ber genügt seiner sekundären Darlegungslast vielmehr dadurch, dass er dazu vorträgt, ob andere Personen und ggf. welche anderen Personen selbstständigen Zugang zu seinem Internetanschluss hatten und als Täter der Rechts-verletzung ernsthaft in Betracht kommen. In diesem Um-fang ist der Anschlussinhaber im Rahmen des Zumutbaren zu Nachforschungen sowie zur Mitteilung verpflichtet, wel-

che Kenntnisse er dabei über die Umstände einer eventuel-len Verletzungshandlung gewonnen hat. Der sekundären Darlegungslast genügt der Anschlussinhaber, wenn er vor-trägt, welche Personen mit Rücksicht auf Nutzerverhalten, Kenntnisse und Fähigkeiten sowie in zeitlicher Hinsicht Ge-legenheit hatten, die fragliche Verletzungshandlung ohne Wissen und Zutun des Anschlussinhabers zu begehen.3 Die pauschale Behauptung der bloß theoretischen Möglichkeit des Zugriffs von im Haushalt lebenden Dritten auf den Internetanschluss genügt hierbei seit der „Tauschbör-sen III“-Entscheidung4 des BGH nicht. Entspricht der Be-klagte seiner sekundären Darlegungslast, ist es wieder Sa-che des Rechteinhabers als Anspruchsteller, die für eine Haftung des Anschlussinhabers als Täter einer Urheber-rechtsverletzung sprechenden Umstände darzulegen und nachzuweisen.

Streitig – und zu unterschiedlichen Entscheidungen der In-stanzgerichte führend – waren nach der bisherigen Recht-sprechung des BGH, der diese Fragen weitgehend offenließ, vor allem Art und Umfang der Nachforschungspflichten des Anschlussinhabers und die Frage der Beweislastverteilung im Einzelnen.

C. Einzelne Entscheidungen der Instanzgerichte im Kontext

Weitgehende Übereinstimmung besteht in der Rechtspre-chung der Instanzgerichte hinsichtlich der Grenzen der se-kundären Darlegungslast des Anschlussinhabers. Die Ge-richte gehen davon aus, dass der Anschlussinhaber nicht durch eigene Nachforschungen aufklären muss, wer Täter der Rechtsverletzung ist.5 Die sekundäre Darlegungslast soll auch nicht zu einer Umkehr der Beweislast führen mit der Pflicht, sich exkulpieren zu müssen.6

* Der Aufsatz ist zugleich eine Anmerkung zu BGH, Urt. v. 06.10.2016 - I ZR 154/15.

1 BGH, Urt. v. 12.05.2010 - I ZR 121/08.2 BGH, Urt. v. 06.10.2016 - I ZR 154/15.3 BGH, Urt. v. 12.05.2016 - I ZR 48/15 - „Everytime we touch“.4 BGH, Urt. v. 11.06.2015 - I ZR 75/14.5 OLG Köln, Urt. v. 15.05.2012 - 6 U 239/11.6 LG Rostock, Urt. v. 31.01.2014 - 3 O 1153/13.

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Das AG Mannheim7 lehnt bereits die Annahme einer tat-sächlichen Vermutung als mit der allgemeinen Lebens-erfahrung nicht vereinbar ab. Die sekundäre Darlegungslast führe nicht zur Umkehr der Beweislast, diese verbleibe beim Anspruchsteller.

Das AG Saarbrücken8 entschied, dass der in Anspruch Ge-nommene seinen Pflichten nur genügt, wenn er die zu-gangsberechtigten Personen benennt, die als Täter in Be-tracht kommen und er Nachforschungen wie im Transport-recht anstellt. Die sekundäre Darlegungslast sei als erfüllt anzusehen, wenn der in Anspruch Genommene alle er-wachsenen Hausgenossen, die Zugriff auf das Internet ha-ben, namentlich benenne, als Zeugen aufbiete und die in seinem Zugriff stehenden Rechner auf das Vorhandensein der fraglichen Dateien und einer Filesharing-Software untersuche. Dem in Anspruch Genommenen obliege dabei der Vollbeweis hinsichtlich des Vorliegens einer Ausnahme von der tatsächlichen Vermutung, nicht hingegen der Voll-beweis des Gegenteils, also die Widerlegung der Täter-schaft.

Die sekundäre Darlegungslast führt nach Ansicht des AG Charlottenburg9 weder zu einer Umkehr der Beweislast noch zu einer über die prozessuale Wahrheitspflicht und Er-klärungslast hinausgehenden Verpflichtung des Anschluss-inhabers, dem Anspruchsteller alle für seinen Prozesserfolg benötigten Informationen zu verschaffen. Vielmehr sei es im Fall der Erfüllung der sekundären Darlegungslast durch den Anschlussinhaber wiederum Sache des Rechteinha-bers, die für eine Haftung des Anschlussinhabers als Täter oder Teilnehmer einer Urheberrechtsverletzung sprechen-den Umstände darzulegen und nachzuweisen. Insoweit rei-che es nicht, den gesamten Vortrag des Anschlussinhabers mit Nichtwissen zu bestreiten.

Nach dem AG Stuttgart10 geht die sekundäre Darlegungs-last nicht so weit, dass sie nur dann als erfüllt anzusehen wäre, wenn der Anschlussinhaber einen Alleintäter indivi-duell benennt. Vielmehr sei insoweit ausreichend, dass ein klar abgrenzbarer Personenkreis zum Tatzeitpunkt tatsäch-lich Zugang zum Internet hatte und dieser Personenkreis namentlich benannt wird. Der Anschlussinhaber brauche im Rahmen der Nachforschungspflicht die infrage kom-menden Computer nicht auf das Vorhandensein einer File-sharing-Software zu untersuchen. Für das Vorliegen der nach der BGH-Rechtsprechung bestehenden tatsächlichen Vermutung sei derjenige beweispflichtig, der sich auf die tatsächliche Vermutung beruft, mithin der Rechteinhaber. Den Anschlussinhaber treffe hierbei jedoch eine sekundäre Darlegungslast; werde er dieser Darlegungslast gerecht, sei es wieder Sache des Rechteinhabers die für eine Haftung des Anschlussinhabers als Täter sprechenden Umstände darzulegen und zu beweisen.

Nach dem OLG München11 betrifft in Filesharing-Fällen die sekundäre Darlegungslast des Anschlussinhabers die der Feststellung der Täterschaft vorgelagerte Frage, ob die Vo-raussetzungen für die tatsächliche Vermutung vorliegen, er sei der Täter. Erst wenn der Anschlussinhaber dieser sekun-dären Darlegungslast genügt habe, treffe den Anspruch-steller die Last der dann erforderlichen Beweise; genüge der Anschlussinhaber seiner sekundären Darlegungslast dagegen nicht, so müsse er zur Widerlegung der dann für den Anspruchsteller streitenden tatsächlichen Vermutung den Gegenbeweis erbringen.

Das AG Frankenthal12 äußerte Zweifel an der tatsächlichen Vermutung vor allem in Mehrpersonenhaushalten und nahm detailliert zu den Anforderungen an den Vortrag zur Erfüllung der sekundären Darlegungslast Stellung:

„Die Annahme einer derartigen tatsächlichen Vermutung begegnet in Haushalten, in denen mehrere Personen selbst-ständig und unabhängig Zugang zum Internet haben, je-doch bereits grundsätzlichen Bedenken. Die Aufstellung einer tatsächlichen Vermutung setzt voraus, dass es einen empirisch gesicherten Erfahrungssatz aufgrund allgemei-ner Lebensumstände dahingehend gibt, dass ein Anschluss-inhaber seinen Internetzugang in erster Linie nutzt und über Art und Weise der Nutzung bestimmt und diese mit Tatherrschaft bewusst kontrolliert. Ein derartiger Erfah-rungssatz existiert indes nicht. Die alltägliche Erfahrung in einer Gesellschaft, in der das Internet einen immer größe-ren Anteil einnimmt und nicht mehr wegzudenken ist, be-legt vielmehr das Gegenteil. Wenn sich der Internetan-schluss in einem Mehrpersonenhaushalt befindet, ent-spricht es vielmehr üblicher Lebenserfahrung, dass jeder Mitbewohner das Internet selbstständig nutzen darf, ohne dass der Anschlussinhaber Art und Umfang der Nutzung bewusst kontrolliert. Der Anschlussinhaber genügt daher vorliegend seiner sekundären Darlegungslast, wenn er sei-ne Täterschaft bestreitet und darlegt, dass ein Hausgenosse selbstständig auf den Internetanschluss zugreifen könne, weil sich daraus bereits die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes als die seiner Alleintäter-schaft ergibt. Weitergehende Angaben werden in einem Mehrpersonenhaushalt vom Anschlussinhaber nicht im Rahmen der sekundären Darlegungslast verlangt werden können, da der Anschlussinhaber ohnehin nur zu Tatsachen vortragen kann, die er üblicherweise aus eigener Anschau-

7 AG Mannheim, Urt. v. 18.01.2017 - U 10 C 1780/16.8 AG Saarbrücken, Urt. v. 07.12.2016 - 121 C 339/16.9 AG Charlottenburg, Urt. v. 29.11.2016 - 206 C 329/16.10 AG Stuttgart, Urt. v. 31.08.2016 - 4 C 1254/16.11 OLG München, Urt. v. 14.01.2016 - 29 U 2593/15.12 AG Frankenthal, Urt. v. 16.03.2016 - 3a C 299/15.

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ung vorzutragen vermag. Eigene Ermittlungen dahinge-hend, wer möglicherweise als Täter des behaupteten Urhe-berrechtsverstoßes in Betracht kommt, hat der Anschluss-inhaber hingegen nicht durchzuführen. Auch eine Überwa-chung der Familie bei der Internetnutzung kann vom Anschlussinhaber nicht verlangt werden, da dies mit dem grundgesetzlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG nicht zu vereinbaren ist. Lediglich bei einem 1-Personen-Haus-halt wird man regelmäßig detailliertere Erläuterungen ver-langen können. Insoweit reicht es nach hiesiger Auffas-sung, unter Berücksichtigung der dem Beklagten obliegen-den prozessualen Wahrheitspflicht aus, dass der Anschluss-inhaber vorträgt, weder die streitgegenständliche Datei, noch eine entsprechenden Filesharing-Software befinde sich auf seinem Rechner, da für diesen Fall eine täterschaft-liche Handlung ausgeschlossen ist. Sowohl bei Mehrperso-nen-, als auch bei einem 1-Personen-Haushalt ist mit der sekundären Darlegungslast des Anschlussinhabers gerade keine Beweislastumkehr verbunden. Die sekundäre Darle-gungslast umfasst nicht die Pflicht des Behauptenden, die-sen Sachverhalt ggf. auch zu beweisen. Ein der sekundären Darlegungslast genügender Vortrag hat vielmehr zur Folge, dass der grundsätzlich Beweisbelastete seine Behauptun-gen beweisen muss.“

Bei einem Mehrpersonenhaushalt reicht es nach Auffas-sung des AG Bielefeld13 aus, dass die Familie selbstständig auf den Internetanschluss zugreifen kann. Ein empirisch ge-sicherter Erfahrungssatz, dass der Anschlussinhaber seinen Internetzugang in erster Linie selbst nutze und über Art und Weise der Nutzung bestimme, existiert nach Ansicht des AG Bielefeld nicht.

Diese nur exemplarische Zusammenstellung verschiedener entschiedener Fälle zeigt, dass der Umfang der sekundären Darlegungslast und die Beweislastverteilung von den Ge-richten unterschiedlich gesehen werden.

Die Bandbreite reicht insoweit von der bloßen Darlegung des selbstständigen Zugangs seitens der Familienmitglie-der (so AG Bielefeld), über den Vollbeweis dafür, dass die Voraussetzungen einer Ausnahme der tatsächlichen Vermu-tung vorliegen (so AG Saarbrücken), bis hin zum Gegenbe-weis gegen die für den Anspruchsteller streitenden tatsäch-lichen Vermutung (so OLG München).

Der BGH hatte noch in der „BearShare“-Entscheidung14 angedeutet, dass der Anschlussinhaber bei Erfüllung seiner sekundären Darlegungslast „im Rahmen des Zumutbaren auch zu Nachforschungen verpflichtet … [sei] … (Vgl. zur Recherchepflicht beim Verlust oder einer Beschädigung von Transportgut BGH, Urteil vom 11. April 2013 - I ZR 61/12, TranspR 2013, 437 Rn. 31; insoweit a.A. OLG Hamm, MMR 2012, 40 f.; OLG Köln, GRUR-RR 2012, 329, 330; LG Mün-

chen v. 22.3.2013 - 21 S 28809/11 m. Anm. Mantz, MMR 2013, 396)“.

Der BGH hatte dabei auf die im Transportrecht bei Verlust oder Beschädigung von Transportgut gebotenen Nachfor-schungen verwiesen. Diese Überlegungen gibt der BGH mit der nun bekannt gewordenen Entscheidung „Afterlife“ je-doch offenbar wieder auf.

D. Die Entscheidungen des BGH vom 06.10.2016 („Afterlife“)15 und vom 30.03.2017 („Loud“)16

Die Bestimmung der Reichweite der dem Anschlussinhaber obliegenden sekundären Darlegungslast hat nach der erst-genannten BGH-Entscheidung mit Blick darauf zu erfolgen, dass einerseits die urheberrechtliche Position des Rechtein-habers unter dem grundrechtlichen Schutz des Art. 17 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta und des Art. 14 Abs. 1 GG steht. Erst die Kenntnis von den Umständen der Anschluss-nutzung durch den Anschlussinhaber versetze den Verletz-ten in die Lage, seine Ansprüche geltend machen zu kön-nen. Aufseiten des Anschlussinhabers schützen allerdings andererseits die Grundrechte gem. Art. 7 EU-Grundrechte-charta und Art. 6 Abs. 1 GG das ungestörte eheliche und fa-miliäre Zusammenleben vor staatlichen Beeinträchtigun-gen.

Nachprüfungen dahin gehend, ob die Ehefrau hinsichtlich der behaupteten Zugriffszeiten oder wegen der Art der Internetnutzung als Täterin der geltend gemachten Rechts-verletzung in Betracht kommt, waren danach dem An-schlussinhaber in dem nun vom BGH entschiedenen Fall nicht zumutbar.

Der BGH erteilt einer Heranziehung der Grundsätze des Transportrechts in Abweichung zu den entsprechenden An-deutungen in der „BearShare“-Entscheidung eine deutli-che Absage. Handlungspflichten im kaufmännischen Ver-kehr seien nicht ohne Weiteres auf das Verhalten von Privatleuten übertragbar.

Es sei dem Inhaber eines privaten Internetanschlusses auch nicht zumutbar, die Internetnutzung seines Ehegatten einer Dokumentation zu unterwerfen, um im gerichtlichen Ver-fahren seine täterschaftliche Haftung abwenden zu kön-nen. Ebenfalls unzumutbar sei es, dem Anschlussinhaber die Untersuchung des Computers seines Ehegatten im Hin-blick auf die Existenz von Filesharing-Software abzuverlan-gen.

13 AG Bielefeld, Urt. v. 06.03.2014 - 42 C 368/13.14 BGH, Urt. v. 08.01.2014 - I ZR 169/12.15 BGH, Urt. v. 06.10.2016 - I ZR 154/15.16 BGH, Urt. v. 30.03.2017 - I ZR 19/16

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Soweit die Vorinstanz jedoch eine Untersuchung des (eige-nen) Computers generell nicht für erforderlich gehalten habe, stelle dies eine zu weitgehende Einschränkung der dem Anschlussinhaber obliegenden Pflichten dar. Im Rah-men des Vortrags zu Umständen, die seine eigene Internet-nutzung betreffen, könne der Anschlussinhaber vielmehr auch zu der Angabe verpflichtet sein, ob auf dem von ihm genutzten Computer Filesharing-Software vorhanden ist.

Bezüglich einer weiteren Entscheidung des BGH vom 30.03.2017 (I ZR 19/16) liegt bislang nur die Pressemittei-lung des BGH vor17.

Diese lautet auszugsweise:

„Nach Auffassung des BGH trägt im Ausgangspunkt die Klägerin als Anspruchstellerin die Darlegungs- und Beweis-last dafür, dass die Beklagten für die Urheberrechtsverlet-zung als Täter verantwortlich sind. Allerdings spreche eine tatsächliche Vermutung für eine Täterschaft des Anschluss-inhabers, wenn zum Zeitpunkt der Rechtsverletzung keine anderen Personen – etwa die Familienangehörigen – die-sen Internetanschluss benutzen konnten. Zu dieser Frage müsse sich der Anschlussinhaber im Rahmen einer sog. se-kundären Darlegungslast erklären, weil es sich um Umstän-de auf seiner Seite handele, die der Klägerin unbekannt sei-en. In diesem Umfang sei der Anschlussinhaber im Rahmen des Zumutbaren zu Nachforschungen sowie zur Mitteilung verpflichtet, welche Kenntnisse er dabei über die Umstände einer eventuellen Verletzungshandlung gewonnen habe. Entspreche der Anschlussinhaber seiner sekundären Darle-gungslast, sei es wieder Sache der klagenden Partei, die für eine Haftung der Beklagten als Täter einer Urheberrechts-verletzung sprechenden Umstände darzulegen und nachzu-weisen.

Die Beklagten hätten im Streitfall ihrer sekundären Darle-gungslast nicht genügt, weil sie den Namen des Kindes nicht angegeben hätten, das ihnen gegenüber die Rechts-verletzung zugegeben habe. Diese Angabe sei den Beklag-ten auch unter Berücksichtigung der Grundrechtspositio-nen der Parteien zumutbar gewesen. Zugunsten der Kläge-rin seien das Recht auf geistiges Eigentum nach Art. 17 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta (GRCh) und Art. 14 GG sowie auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 GRCh und auf Seiten der Beklagten der Schutz der Familie gemäß Art. 7 GRCh und Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen und in ein angemessenes Gleichgewicht zu bringen. Danach sei der Anschlussinhaber etwa nicht verpflichtet, die Internet-nutzung seines Ehegatten zu dokumentieren und dessen Computer auf die Existenz von Filesharing-Software zu untersuchen. Habe der Anschlussinhaber jedoch im Rah-men der ihm obliegenden Nachforschungen den Namen des Familienmitglieds erfahren, das die Rechtsverletzung

begangen habe, müsse er dessen Namen offenbaren, wenn er eine eigene Verurteilung abwenden will.“

E. Konsequenzen der neuen Entscheidungen des BGH

Die oben angedeuteten Streitfragen der Rechtsprechung sind durch die nun bekannt gewordene Entscheidung ledig-lich hinsichtlich der Nachforschungspflichten im Rahmen der sekundären Darlegungslast in Mehrpersonenhaushal-ten und hier speziell innerhalb des Familienverbundes als geklärt anzusehen. Die verschiedentlich erhobenen Forde-rungen, der Anschlussinhaber müsse zum zeitlichen Um-fang und zu den Zeitpunkten der Nutzung seiner Familien-mitglieder Nachforschungen anstellen18 oder seine Fami-lienmitglieder konkret befragen und das Ergebnis der Be-fragung mitteilen,19 sind nach dem Wortlaut der Pressemit-teilung zu der Entscheidung „Loud“ jedoch weiterhin als offen und nicht entschieden zu beurteilen, da der BGH laut Pressemitteilung Nachforschungen im Rahmen des Zumut-baren für angemessen erachtet und den Anschlussinhaber zur Mitteilung verpflichtet, welche Kenntnisse er dabei über die Umstände einer eventuellen Verletzungshandlung ge-wonnen hat. Hier wäre der Volltext der Entscheidung hin-sichtlich der Frage, was der BGH konkret für zumutbar hält, abzuwarten. Jedenfalls hat der BGH mit der Entscheidung „Loud” die Fallkonstellation entschieden, dass dem An-schlussinhaber die Person des Täters bekannt ist. Der BGH erachtet in dieser Fallgestaltung das grundrechtlich ge-schützte Interesse des Rechteinhabers als vorrangig vor den Interessen der Familie.

Aufgrund der Pressemitteilung offen ist die Frage, wie der BGH den Wertungswiderspruch behandelt, der durch die Ausweitung der sekundären Darlegungslast im Hinblick auf das in einem Verfahren zu Gunsten des Familienangehöri-gen geltende Zeugnisverweigerungsrecht entsteht. Denn wenn der Anschlussinhaber bzw. das betreffende Familien-mitglied im Prozess berechtigt wäre als Zeuge die Aussage zu verweigern (vgl. §§ 383 ff. ZPO), dann darf der Inan-spruchgenommene – will man Widersprüche vermeiden – auch nicht verpflichtet sein, im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast den familienangehörigen Täter zu benen-nen. Diese Fragen können erst nach Lektüre der Entschei-dungsgründe beantwortet und daher hier nur angedeutet werden.

17 Pressemitteilung des BGH Nr. 46/2017 v. 30.03.2017. Siehe hierzu: https://www.juris.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jnachr-JU-NA170303730&psml=jurisw.psml&max=true.

18 Dagegen bereits LG Potsdam, Urt. v. 08.01.2015 - 2 O 252/14.19 Dagegen bereits LG Hannover, Urt. v. 15.08.2014 - 18 S 13/14.

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Die Rechtsverteidigung gegen Filesharing-Klagen wird durch die nun vorliegende Entscheidung „Afterlife“ zumin-dest für Mehrpersonenhaushalte im familiären Verbund er-leichtert. Es reicht nun aus, zum Vorhandensein von Filesha-ring-Dateien und entsprechender Software auf den im eigenen Zugriff des Anschlussinhabers stehenden Compu-tern vorzutragen und ansonsten die als Täter nicht nur hypothetisch, sondern tatsächlich in Betracht kommenden Familienmitglieder – unter Schilderung von deren Internet-Nutzungsverhalten – konkret zu benennen.

Zwar hat der BGH in der Entscheidung „Afterlife“ nur die Konstellation von Ehegatten entschieden, doch sind die bis-herigen Grundsätze zur sekundären Darlegungslast des BGH schon bisher auch auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft übertragen worden.20 Gleiches wird für im Haushalt lebende weitere Familienmitglieder gelten müssen, die ebenfalls dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG unterfallen.

Eine weitergehende und noch offene Frage ist, ob auch zum Haushalt gehörende sonstige Mitbenutzer zum An-wendungsbereich der neuen Rechtsprechung gehören, die nicht in einem über Art. 6 Abs. 1 GG geschützten familiären Verhältnis zum Anschlussinhaber stehen. Da der BGH den grundrechtlichen Schutz von Ehe und Familie in der jüngs-ten Entscheidung explizit erwähnt hat, können daran Zwei-fel bestehen. Es sollten nach Ansicht des Verfassers jedoch zumindest solche Personen mit erfasst werden, zu denen ein vergleichbar enges Vertrauensverhältnis21 und damit eine vergleichbare Pflichtenlage besteht. Damit scheiden meines Erachtens z.B. bloß gelegentliche Besucher des An-schlussinhabers bzw. seiner Familie aus.

Fraglich ist, ob sich das gesamte System der Haftungsrege-lungen angesichts der EuGH-Rechtsprechung zu öffentli-chem WLAN in einem Wertungswiderspruch befindet. Der EuGH hatte im Ergebnis entschieden, dass ein Betreiber eines öffentlichen WLAN-Hotspots nicht auf Schadens-ersatz bei Rechtsverletzungen durch Dritte in Anspruch ge-nommen werden kann.22

Das AG Mannheim23 hatte diesbezüglich kürzlich ausge-führt:

„Weshalb zeitlich nach dieser Entscheidung noch immer ein drastisch rigideres Haftungsregime zulasten desjenigen – zudem rechtlich und geschäftlich in der Regel nicht ge-schulter Privatpersonen – gelten können soll, welcher die weitaus weniger gefährliche Handlungsursache setzt, näm-lich einen privaten Internetanschluss zur Benutzung durch einen eng begrenzten Nutzerkreis, erschließt sich dem Ge-richt nicht. Es wäre schlicht jedem Privatmann anzuraten, seinen Internetanschluss öffentlich zugänglich zu machen, etwa in der Form eines Hotspots, damit die oben dargeleg-ten Haftungsprivilegierungen [des EuGH] griffen.“

Der Kern dieser Argumentation ist nach derzeitigem Rechts-stand nicht von der Hand zu weisen.

Das LG München I hat mit Beschluss vom 17.03.201724 Zweifel daran geäußert, dass die BGH-Entscheidung „After-life“ europarechtskonform ist. Das Gericht hat dem EuGH die beiden folgenden Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

„1. Ist Art. 8 Absätze 1 und 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 der Richt-linie 2001/29/EG so auszulegen, dass „wirksame und ab-schreckende Sanktionen bei Verletzungen des Rechts der öffentlichen Zugänglichmachung eines Werkes“ auch dann noch gegeben sind, wenn eine Schadensersatzhaftung des Inhabers eines Internetanschlusses, über den Urheber-rechtsverletzungen durch Filesharing begangen wurden, ausscheidet, wenn der Anschlussinhaber mindestens ein Familienmitglied benennt, dem neben ihm der Zugriff auf diesen Internetanschluss möglich war, ohne durch entspre-chende Nachforschungen ermittelte nähere Einzelheiten zu Zeitpunkt und Art der Internetnutzung durch dieses Fami-lienmitglied mitzuteilen?

2. Ist Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/48/EG so auszulegen, dass „wirksame Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums“ auch dann noch gegeben sind, wenn eine Schadensersatzhaftung des Inhabers eines Inter-netanschlusses, über den Urheberrechtsverletzungen durch Filesharing begangen wurden, ausscheidet, wenn der An-schlussinhaber mindestens ein Familienmitglied benennt, dem neben ihm der Zugriff auf diesen Internetanschluss möglich war, ohne durch entsprechende Nachforschungen ermittelte nähere Einzelheiten zu Zeitpunkt und Art der Inter-netnutzung durch dieses Familienmitglied mitzuteilen?“

Dies bedeutet, dass der Kern der Entscheidung des BGH „Afterlife“ durch den EuGH überprüft werden wird, sofern der EuGH die Voraussetzungen, die die Vorlagefragen selbst aufstellen, für gegeben erachtet25.

F. Fazit und Ausblick

Die oben zitierte jüngst bekannt gewordene Entscheidung „Afterlife“ des BGH ist bereits nur nach Vorliegen der Pres-semitteilung als Meilenstein der Rechtsprechung gefeiert worden. Der Verfasser hält sie lediglich für einen weiteren Mosaikstein in der Reihe der bisherigen BGH-Entscheidun-

20 So AG Bremen-Blumenthal, Urt. v. 28.11.2014 - 43 C 1150/13.21 So auch Heckmann/Specht in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, 5. Aufl.

2017, Kap. 3.2.22 EuGH, Urt. v. 15.09.2016 - C-484/14 - „Mc Fadden“.23 AG Mannheim, Urt. v. 18.01.2017 - U 10 C 1780/16.24 LG München, Beschl. v. 17.03.2017 - 21 O 24454/1425 Hieran zweifelt der Verfasser dieses Aufsatzes.

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gen zum Filesharing. Bestätigung für diese Ansicht ist die kurze Zeit später bekannt gewordene Entscheidung „Loud“, die in der Zusammenschau nach Ansicht des Verfassers die Gefahr begründet, dass die BGH-Rechtsprechung zum File-sharing sich zu einer reinen Einzelfallbeurteilung entwickelt.

Die Aufgabe der Gesetzgebung einerseits und des BGH an-dererseits wird in näherer Zukunft aus Sicht des Verfassers auch darin bestehen, die Rechtsprechung des EuGH sowie die Gesetzgebung zu offenen Netzen mit den Haftungsre-geln für Filesharing im rein privaten Bereich in einen wider-spruchsfreien Einklang zu bringen.

Mindestentgelte für geduldete Konto-überziehungenBGH, Urt. v. 25.10.2016 - XI ZR 9/15

Prof. Dr. Sebastian Omlor, LL.M. (NYU), LL.M. Eur*

A. Problemstellung

Die Inhaltskontrolle von Entgeltklauseln zählt zu den klassi-schen Themenbereichen des Bankrechts. Die Vielzahl der in-stanzgerichtlichen wie höchstrichterlichen Entscheidungen1 belegt nicht nur eine hohe praktische Relevanz, sondern auch eine im Vergleich zu anderen Gebieten des Bankrechts herausgehobene Einzelfallorientierung, die sich – sachnot-wendig für die AGB-Kontrolle – auf die konkrete Fassung einer einzelnen Klausel bezieht. Überziehungszinsen mit den zugehörigen Formularklauseln befinden sich dabei nicht nur auf einem rechtspolitisch umkämpften Terrain,2 sondern stellen auch die Zivilrechtsdogmatik vor Herausforderun-gen. Einzubeziehen sind neben den Grundfragen der Ent-geltklauselkontrolle (§ 307 Abs. 3 Satz 1 BGB) vor allem dar-lehens-, verbraucherschutz- und geldrechtliche Bezugs-punkte. Im Geld- und Darlehensrecht ist namentlich die Kon-turierung einer Definition des Zinses als Hauptleistungspflicht des Darlehensnehmers zu verorten. Ausweislich von § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB liegt darin zugleich das für § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB maßgeblich gesetzliche Leitbild.

Die Höhe von Zinsen in Darlehensverträgen einschließlich der vereinbarten oder geduldeten Überziehung eines Giro-kontos unterliegt dem Prinzip der Zinsfreiheit.3 Mit Ausnah-me einer Sonderregelung für das Pfandleihgewerbe (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PfandlV) existiert lediglich eine allgemei-ne Grenze aus §§ 138, 305 ff. BGB.4 Staatlich verordnete Höchstsätze bestehen damit im Regelfall nicht. Auch die AGB-Kontrolle greift allenfalls zurückhaltend ein, da § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB Zinsabreden insofern grds. kontrollfrei stellt, als unmittelbar die Zinszahlung als Hauptleistungs-

pflicht betroffen ist. Daher hat sich die gerichtliche Kontrolle von Entgeltklauseln spätestens seit dem BGH-Urteil zu Be-arbeitungsentgelten in Verbraucherdarlehensverträgen5 da-rauf konzentriert, dem Zinsbegriff nicht unterfallende Ent-geltkomponenten herauszufiltern und über § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu verwerfen. In diese Reihe gliedert sich auch das für die amtliche Entscheidungssammlung vorgesehene Urteil des XI. Zivilsenats6 zu Mindestentgelten für geduldete Kontoüberziehungen ein, zu dem am selben Tag eine weitge-hend gleich gelagerte Parallelentscheidung7 desselben Se-nats ergangen ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

I. Sachverhalt der Revisionsentscheidung

In den gegenüber Privatkunden verwendeten „Bedingungen für geduldete Überziehungen“ der nach §§ 1, 3 UKlaG vom Dachverband der Verbraucherzentralen beklagten Bank wa-ren u.a. Klauseln enthalten, die zwar einen (variablen) Zins-satz von 12,90 % p.a. für geduldete Überziehungen vorsa-hen, jedoch diesen durch ein Mindestentgelt von 6,90 € pro Rechnungsabschluss ergänzten. Im Einzelnen hieß es:

„5. Die Höhe des Sollzinssatzes für geduldete Überziehun-gen, der ab dem Zeitpunkt der Überziehung anfällt, beträgt 16,50 % p.a. (Stand August 2012). Die Sollzinsen für gedul-dete Überziehungen fallen nicht an, soweit diese die Kosten der geduldeten Überziehung (siehe Nr. 8) nicht übersteigen.

(…)

8. Die Kosten für geduldete Überziehungen, die ab dem Zeitpunkt der Überziehung anfallen, betragen 6,90 Euro (Stand August 2012) und werden im Falle einer geduldeten

* Der Autor ist Direktor des Instituts für Rechtsvergleichung (Professur für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bankrecht so-wie Rechtsvergleichung) an der Philipps-Universität Marburg.

1 Vgl. stellvertretend aus den vergangenen Jahren BGH, Urt. v. 22.05.2012 - XI ZR 290/11 mit Anmerkung Omlor, EWiR 2012, 447; BGH, Urt. v. 17.12.2013 - XI ZR 66/13 mit Anmerkung Omlor, EWiR 2014, 133; BGH, Urt. v. 27.01.2015 - XI ZR 174/13 mit Anmerkung Omlor, LMK 2015, 368609; BGH, Urt. v. 20.10.2015 - XI ZR 166/14 mit Anmerkung Omlor, LMK 2016, 376661; OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.07.2012 - I-6 U 195/11 - ZIP 2012, 1748 mit Anmerkung Omlor, EWiR 2012, 555; OLG Frankfurt, Urt. v. 29.05.2015 - 10 U 35/13 mit Anmerkung Omlor, EWiR 2015, 753; LG Stuttgart, Urt. v. 05.02.2014 - 13 S 126/13 mit Anmerkung Omlor, EWiR 2014, 405.

2 BT-Drs. 18/1342 (Bündnis 90/Die Grünen); 18/807 und 18/2741 (Die Linke); 18/2777 (Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz).

3 Mugdan II 107.4 Omlor in: Staudinger, BGB, 2016, § 246 Rn. 49.5 BGH, Urt. v. 13.05.2014 - XI ZR 405/12, XI ZR 170/13.6 BGH, Urt. v. 25.10.2016 - XI ZR 9/15.7 BGH, Urt. v. 25.10.2016 – XI ZR 387/15.

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Überziehung einmal pro Rechnungsabschluss berechnet. Die Kosten für geduldete Überziehung fallen jedoch nicht an, soweit die angefallenen Sollzinsen für geduldete Über-ziehungen diese Kosten übersteigen.“8

II. Vorinstanzliche Urteile

Entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung des LG Frank-furt a.M.9 hatte das OLG Frankfurt10 als Berufungsinstanz den begehrten Unterlassungsanspruch gewährt. Das Beru-fungsgericht stufte die Klausel als Preisnebenabrede ein und eröffnete damit die AGB-Kontrolle. Zwar liege teilweise ein Entgeltcharakter – mit der Folge eines Ausschlusses der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB – vor. Jedoch bezeichneten die Geschäftsbedingungen den Betrag von 6,90 € selbst als „Kosten“, die dem Zins als darlehensver-tragliche Hauptleistungspflicht des Darlehensnehmers gegenüberstünden. Kosten zeichneten sich in Abgrenzung zum Zins als laufzeitunabhängiges Entgelt aus.

Der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 Nr. 1 BGB hal-te die Klausel sodann nicht stand. Erstens werde auf den Darlehensnehmer unzulässigerweise ein Aufwand für Tätig-keiten des Verwenders abgewälzt. Zweitens beruhe das ge-setzliche Leitbild des Darlehensvertrags auf einer laufzeit-abhängigen Ausgestaltung des Entgelts für die Kapitalnut-zung. Überdies liege ein über § 2 UKlaG adressierbarer Verstoß der Klausel gegen § 138 Abs. 1 BGB vor.11

III. Gründe der Revisionsentscheidung

Der XI. Zivilsenat schloss sich nicht nur im Ergebnis, son-dern auch in den wesentlichen Zügen der Urteilsgründe der Vorinstanz an. Der BGH wiederholt zunächst seine ständige Rechtsprechung zur AGB-Kontrolle von Entgeltklauseln unter Abgrenzung von Preisneben- und Preishauptabreden. Einer Kontrolle unterlägen danach insbesondere solche Klauseln, „die das Hauptleistungsversprechen abweichend vom Gesetz … einschränken, verändern, ausgestalten oder modifizieren“ (Rn. 21 des Urteils). Nicht kontrollfähige Preisnebenabreden zeichneten sich hingegen durch ihre nur mittelbare Einwirkung auf den Preis aus. Maßgeblich sei eine Auslegung der Klausel aus der Sicht „eines recht-lich nicht vorgebildeten Durchschnittskunden nach dem objektiven Gehalt und typischen Sinn“ (Rn. 23 des Urteils).

Der BGH hielt für die angegriffenen Klauseln einen Rück-griff auf die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB für geboten, da nach den aufgezeigten Grundsätzen sowohl eine Auslegung als Preishaupt-12 als auch als Preisneben-abrede möglich sei. Für eine Preishauptabrede spreche, dass es sich bei einer geduldeten Überziehung um keine Zusatzleistung der Bank ohne korrespondierenden An-spruch des Kunden handele; insofern gibt der Senat seine

frühere gegenteilige Rechtsprechung13 auf. Ausweislich von § 505 Abs. 2 und 4 BGB komme ein Darlehensvertrag zustande, dessen Hauptleistungspflichten in der Klausel festgelegt würden. Andererseits folge aus einer wirtschaft-lichen Betrachtung der Klausel, dass die Verwenderin die allgemeinen Sollzinsen für die von dem Mindestentgelt er-fassten Fälle als nicht auskömmlich betrachte und auf diese Weise den Kostenaufwand etwa für Bonitätsprüfungen be-rechnen wolle. Von dieser letzteren und kundenfeindlichs-ten Alternative geht der erkennende Senat aus und stufte die Klausel als verdecktes Bearbeitungsentgelt ein.

Im Rahmen der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB stützt sich der Senat auf seine inzwischen gefestigte Judikatur14 zur grundsätzlichen Unzulässigkeit von formularmäßigen Bearbeitungsentgelten in Darlehens-verträgen. Die zu prüfende Klausel enthalte ein verdecktes Bearbeitungsentgelt. Es existierten keine hinreichenden Gründe, um die durch die Abweichung von den wesentli-chen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung indizierte Unangemessenheit ausnahmsweise entfallen zu lassen. Im Gegenteil ziehe die Anwendung des Mindestentgelts eine Sittenwidrigkeit des Darlehensvertrages gem. § 138 Abs. 1 BGB nach sich, da sich im Fall von geringen Überziehungs-beträgen – bei 10 € für einen Tag bspw. 25.185 % p.a. – ex-trem marktunübliche Zinssätze ergäben. Dem Darlehensge-ber stehe es offen, insofern eine Mischkalkulation für geduldete Überziehungen vorzunehmen oder ein Zinsmo-dell mit gestaffelten Zinssätzen anzubieten.

C. Bewertung

Dem BGH ist sowohl im Ergebnis als auch in den wesentli-chen Zügen der Begründung zuzustimmen.

I. Der Zinsbegriff als Ausgangspunkt

Das BGB kennt weder ein systematisch wie inhaltlich in sich geschlossenes Zinsrecht noch eine Legaldefinition des Zin-

8 Vgl. zu einer vergleichbaren Entgeltklausel mit einem Mindestentgelt von 2,95 € BGH, Urt. v. 25.10.2016 - XI ZR 387/15.

9 LG Frankfurt, Urt. v. 21.06.2013 - 2-12 O 345/12.10 OLG Frankfurt, Urt. v. 04.12.2014 - 1 U 170/13 mit Anmerkung Jung-

mann, WuB 2015, 312.11 Gegen eine Einstufung von § 138 BGB als verbraucherschützende

Norm i.S.d. § 2 Abs. 1 UKlaG hingegen OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.07.2015 – I-6 U 94/14.

12 So OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.07.2015 – I-6 U 94/14 zu einer vergleich-baren Klausel.

13 BGH, Urt. v. 14.04.1992 - XI ZR 196/91.14 BGH, Urt. v. 13.05.2014 - XI ZR 405/12 (Verbraucherdarlehen); BGH,

Urt. v. 28.10.2014 - XI ZR 348/13 Rn. 32 (Verjährung des Rückforde-rungsanspruchs); BGH, Urt. v. 16.02.2016 - XI ZR 454/14 Rn. 36 (För-derdarlehen).

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Die Monatszeitschrift

ses.15 Ebenso wie bei der Definition des Geldes16 bedarf es einer Nominaldefinition, die für eine Systematisierung des privaten Zinsrechts taugt, ohne dabei die Spezifika der ein-zelnen zinsrechtlichen Normen auszublenden. Vor diesem Hintergrund ist als Zins im Rechtssinne das für die Möglich-keit des Gebrauchs von zeitweilig überlassenem Kapital zu leistende Entgelt anzusehen, das zeitabhängig, aber zugleich gewinn- und umsatzunabhängig berechnet wird.17 Damit müssen Zinsen stets in einem bestimmten Verhältnis zu einem festgelegten Zeitraum stehen, in welchem die Mög-lichkeit zur Kapitalnutzung eingeräumt wird.18

Der Umstand, dass es sich bei dem Pauschalbetrag von 6,90 € um eine absolute Summe statt eines relativen Pro-zentsatzes handelt, rechtfertigt nicht bereits die Einord-nung als Nicht-Zins. Zinsen im Rechtssinne müssen keines-falls notwendig durch einen Prozentsatz ausgedrückt werden. Wird die Zahlung eines absoluten Betrags verein-bart, kann es sich ebenfalls um einen Zins handeln, solange er nur in Bezug zu einem festen Zeitraum gesetzt wird.19 Die Zinsen für den gesamten Darlehenszeitraum können in einer Einmalzahlung enthalten sein und müssen keine fort-laufende Regelmäßigkeit aufweisen.20

Das Pauschalentgelt entzieht sich dennoch dem rechtlichen Zinsbegriff, weil es unabhängig von dem Zeitraum der ein-geräumten Möglichkeit zur Kapitalnutzung ist. Es wird ein-mal pro Rechnungszeitraum fällig, sofern eine geduldete Überziehung in Anspruch genommen wird und die alterna-tive Methode der Entgeltberechnung nicht zu einem höhe-ren Betrag führt. Ob ein Darlehen einen, zwei oder drei Tage in Anspruch genommen wird, ändert an der Höhe des Ent-gelts nichts. Im Ergebnis liegt ein Mischwesen vor, das so-wohl über eine Zins- als auch eine Bearbeitungsentgelts-komponente verfügt. Dass in der Klausel terminologisch zwischen Kosten (Pauschale von 6,90 €) und Zinsen (Soll-zinssatz von 16,50 % p.a.) differenziert wird, ist für die ma-teriell-rechtliche Einordnung ohne Belang. Hat der Darle-hensnehmer allein die Pauschale für eine geduldete Überziehung zu entrichten, handelt es sich damit dennoch nicht um ein zinsloses Darlehen.

II. Angemessenheitskontrolle

Die Abweichung vom gesetzlichen Leitbild des Darlehens-vertrags, die als Hauptleistungspflicht des Darlehensneh-mers neben der Zinszahlung keine weitere Entgeltpflicht vorsieht (vgl. § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB), indiziert die Unan-gemessenheit der Regelung nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Die den Zins im Rechtssinne als darlehenstypologische Gegenleistung verabsolutierende höchstrichterliche Recht-sprechung mag formalistisch erscheinen – letztlich basiert sie aber zumindest im Ausgangspunkt auf einer folgerichti-gen und stimmigen Anwendung der § 307 Abs. 2 Nr. 1,

§ 488 Abs. 1 Satz 2 BGB. Dem Darlehensgeber steht es im Lichte der grundrechtlich geschützten (insbesondere Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG) Zinsfreiheit offen, den Zinssatz bis zur Grenze des § 138 BGB festzulegen.

Für geduldete Überziehungen kann, wie der Senat aus-drücklich betonte, ein im Vergleich zur vereinbarten Über-ziehung oder sonstigen Darlehenskonstellationen generell erhöhter Zinssatz verlangt werden, um die höheren Verwal-tungs- und Refinanzierungskosten sowie ein möglicherwei-se gesteigertes Ausfallrisiko aufzufangen. Die wirtschaftli-che Betätigungsfreiheit der Bank wird nur in überschauba-rem Umfang eingeschränkt. Gegenüber Verbrauchern greift in der Interessenabwägung auch der Gesichtspunkt ein, dass eine Konzentration der Entgeltzahlungspflicht auf Zin-sen im Rechtssinne die Transparenz der Darlehenskosten für den Darlehensgeber deutlich verbessert; die ausufern-den gesetzlichen Informationspflichten (vgl. Art. 247 EGBGB) rufen demgegenüber die Gefahr einer Informa-tionsüberflutung hervor. Der XI. Zivilsenat musste sich im Verfahren nach dem UKlaG hingegen nicht dazu äußern, ob im Lichte von § 310 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB die Inte-ressenabwägung gegenüber einem unternehmerischen Darlehensnehmer abweichend vorzunehmen ist.21

III. Rechtliche Einordnung der geduldeten Über-ziehung

In einem Nebenaspekt befassen sich die Urteilsgründe (Rn. 26) mit der Frage, ob es sich bei der geduldeten Über-ziehung um eine schlichte Zusatzleistung der kontoführen-den Bank handele, auf welche der Kunde auf Grundlage der

15 RG, Urt. v. 29.01.1942 - II 118/41; Berger, RabelsZ 61 (1997), 313, 316; Ernst, ZfPW 2015, 250.

16 Im Einzelnen Omlor, Geldprivatrecht, 2014, S. 59 ff. m.w.N.17 BGH, Urt. v. 13.05.2014 - XI ZR 405/12 Rn. 43; Canaris, NJW 1978,

1891, 1892; Bezzenberger, WM 2002, 1617 f.; Krepold in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 78 Rn. 1; Omlor in: Staudinger, BGB, 2016, § 246 Rn. 23; ähnlich Berger, RabelsZ 61 (1997), 313, 316.

18 BGH, Urt. v. 09.11.1978 - III ZR 21/77; BGH, Urt. v. 29.06.1979 - III ZR 156/77; Grundmann in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 246 Rn. 4; Omlor in: Staudinger, BGB, 2016, § 246 Rn. 31; Krepold in: Schimans-ky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 78 Rn. 3.

19 Arnold in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2014, § 246 Rn. 9.20 Belke, BB 1968, 1219, 1220 f.; Canaris, NJW 1978, 1891 und 1893;

Zellweger-Gutknecht, ZfPW 2015, 350, 367.21 Bejahend für Bearbeitungsentgelte OLG München, Beschl. v.

13.10.2014 - 27 U 1088/14; OLG Dresden, Urt. v. 03.08.2016 - 5 U 138/16; OLG Hamburg, Urt. v. 27.04.2016 - 13 U 134/15; OLG Frank-furt (17. Zivilsenat), Urt. v. 12.10.2016 - 17 U 165/15; a.A. (für Unwirk-samkeit auch gegenüber Unternehmern) OLG Düsseldorf, Urt. v. 15.07.2016 - I-7 U 109/15; OLG Frankfurt (3. Zivilsenat), Urt. v. 25.02.2016 - 3 U 110/15.

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JM 6 Juni

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Ist das Einwurf-Einschreiben ein ein-geschriebener Brief?BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15

RA Dr. Udo Michalsky

A. Problemstellung

Was ist unter einem eingeschriebenen Brief zu verstehen? So einfach die Frage ist, so schwer scheint sie zu beantwor-ten zu sein. Die Deutsche Post AG bietet1 fünf verschiedene Einschreiben an: das Einschreiben Einwurf, Einschreiben, Einschreiben Eigenhändig, Einschreiben Rückschein und Einschreiben Eigenhändig Rückschein. Das GmbH-Gesetz sieht an verschiedenen Stellen2 vor, dass bestimmte Wil-lenserklärungen mittels eingeschriebenen Briefes erfolgen müssen. Der in der Praxis bedeutendste Fall ist die Einberu-fung einer Gesellschafterversammlung. Diese muss nach § 51 Abs. 1 Satz 2 GmbHG mittels eingeschriebener Briefe erfolgen. Ebenso hat im Zusammenhang mit der Kaduzie-rung eines Geschäftsanteils die Zahlungsaufforderung nach § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG mittels eingeschriebenen Briefes zu erfolgen. Das GmbH-Gesetz definiert nicht, wel-che Art des Einschreibens unter eingeschriebenem Brief im Sinne der einzelnen Normen des GmbH-Gesetzes zu verste-hen ist. Infolge dessen herrscht Streit im Schrifttum, ob alle in den AGB der Deutschen Post AG vorgesehenen Arten des Einschreibens den Formerfordernissen des eingeschriebe-nen Briefes im Sinne des GmbHG genügen. Dieser Streit be-trifft insbesondere das Einwurf-Einschreiben, da diese Art des Einschreibens erst im Jahr 1997 eingeführt wurde, aber auch andere Einschreibe-Arten, da es im Zeitpunkt des In-krafttretens des GmbHG nur das Übergabe-Einschreiben gab und der historische Gesetzgeber sich daher nicht mit der Frage befasst hat, ob auch andere Formen des Ein-schreibens dem Formerfordernis des eingeschriebenen Briefes genügen.3

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der BGH hatte nunmehr Gelegenheit zu klären, was unter einem eingeschriebenen Brief i.S.d. § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG zu verstehen ist. Es lag folgender Sachverhalt zu-grunde: Die klagende GmbH hatte die Beklagte mit Ein-wurf-Einschreiben der Deutschen Post AG aufgefordert, einen angeblich noch offenen Betrag von 15.000 € auf das

1 https://www.deutschepost.de/de/e/einschreiben.html.2 § 21 Abs. 1 Satz 2, § 21 Abs. 2, § 27 Abs. 1 Satz 2, § 51 Abs. 1 Satz 1

GmbHG.3 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 15.

bisherigen Vertragsbeziehungen keinen Anspruch habe. Zu-treffend leitet der Senat aus § 505 Abs. 2 und 4 BGB ab, dass es sich zumindest bei einer geduldeten Überziehung in diesem Sinne um einen (Verbraucher-)Darlehensvertrag handeln muss.22 Missverständlich gerät allerdings die For-mulierung der Randnummer 26 der Urteilsgründe, die na-helegen könnte, dass „auf Grund der vorher getroffenen Vereinbarung“ ein Anspruch auf Einräumung einer gedul-deten Überziehung bestehen könnte. Ein solcher Anspruch auf Abschluss eines Darlehensvertrages, der konkludent durch die Duldung der Überziehung erst zustande kommt, besteht jedoch wesensnotwendig in Abgrenzung zur einge-räumten Überziehungsmöglichkeit nicht.23 Daran ändert auch die chronologisch vorgelagerte Regelung zur Zinshö-he in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Zah-lungsdiensterahmenvertrag nichts. Die Ausführungen des Senats zielen lediglich darauf ab, aus der in der älteren Rechtsprechung vorgenommenen Einordnung als „zusätz-liche Leistung“24 nicht die Konsequenz ziehen zu müssen, es handele sich bei der entsprechenden Entgeltabrede automatisch um eine Preisnebenabrede.

D. Auswirkungen für die Praxis

Bei der Gestaltung von Zinsklauseln, genauer: Zinsbestim-mungsklauseln,25 in Darlehensverträgen mit einem Ver-braucher als Darlehensnehmer ist darauf zu achten, dass sämtliche vom Darlehnsnehmer zu erbringenden Entgelte der juristischen Zinsdefinition unterfallen. Einmalzahlun-gen von absoluten Beträgen sind danach zulässig, sofern sie über einen konkreten Bezugszeitraum der Kapitalüber-lassung verfügen. Sonderkosten für Bearbeitung, Refinan-zierung oder Risikotragung müssen in die Bemessung der Zinshöhe integriert werden. Ein Zinsmodell, das je nach Darlehenshöhe unterschiedliche Zinssätze vorsieht und da-mit die divergierende Kostenstruktur widerspiegelt, steht ebenfalls nicht in Widerspruch zum gesetzlichen Leitbild des Darlehensvertrages. Noch nicht höchstrichterlich ent-schieden ist hingegen, ob die höhere Professionalität und Geschäftsgewandtheit bei unternehmerischen Darlehens-nehmern eine Wirksamkeit von Mindestentgeltklauseln be-gründen.26

22 Ebenso bereits Knops in: BeckOGK BGB, § 505 Rn. 9, Stand: 17.03.2016; Schwintowski in: jurisPK BGB, 8. Aufl. 2017, § 505 Rn. 2 ff.

23 Binder in: BeckOGK BGB, § 488 Rn. 105, Stand: 01.11.2016.24 BGH, Urt. v. 14.04.1992 - XI ZR 196/91.25 Vgl. zu den einzelnen Arten von Zinsklauseln Omlor in: Staudinger,

BGB, 2016, § 246 Rn. 50 ff.26 Zu Bearbeitungsentgelten sind Revisionen unter Az. XI ZR 551/14, XI

ZR 213/16 und XI ZR 578/16 anhängig.

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Die Monatszeitschrift

GmbHG herleiten.11 Im Zeitpunkt der Einführung des § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG im Jahr 1892 gab es nur das Überga-be-Einschreiben. Der historische Gesetzgeber hat sich folg-lich nicht mit der Frage befasst, ob auch andere Formen des Einschreibens von der auszulegenden Norm erfasst werden sollen.12 Daraus, dass der Gesetzgeber trotz kontroverser Diskussionen seit der Einführung des Einwurf-Einschrei-bens im Jahr 1997 und trotz der Aktivitäten an anderer Stel-le im GmbH-Gesetz bei § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG untätig blieb, schließt der BGH, dass der Gesetzgeber hier keinen Handlungsbedarf sieht,13 also alle Arten der Einschreiben der Deutschen Post AG als geeignet sieht, das Formerfor-dernis des eingeschriebenen Briefes zu wahren.

Auch im Rahmen der teleologischen Auslegung kommt der BGH zu dem Ergebnis, dass das Einwurf-Einschreiben der Deutschen Post AG den formalen Anforderungen des § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG entspricht. Bei einer Gesamtbetrach-tung der Vor- und Nachteile der beiden Versendungsarten in Bezug auf Sinn und Zweck der Norm ist das Einwurf-Ein-schreiben dem Übergabe-Einschreiben zumindest gleich-wertig.14 Die gesetzliche Vorgabe, dass die Zahlungsauffor-derung als eingeschriebener Brief versendet werden soll, dient dazu, vorrangig den Zugang der Zahlungsaufforde-rung sicherzustellen. Es soll außerdem erreicht werden, dass der Fristlauf zweifelsfrei kontrolliert werden kann.15 Die Vorschrift dient schließlich dem Schutz des Gesellschaf-ters als Erklärungsempfänger.16 Dem Gesellschafter soll der „Ernst der Lage“ vor Augen geführt werden.17

Der BGH vergleicht den Verfahrensablauf beim Übergabe-Einschreiben mit dem beim Einwurf-Einschreiben und kommt zu dem Ergebnis, dass das Risiko, dass die Willens-

Stammkapital der Klägerin zu zahlen, eine Frist bis 31.07.2011 für die Zahlung gesetzt und angekündigt, dass für den Fall der Nichteinhaltung der Frist gem. § 21 Abs. 1 Satz 1 GmbHG der Ausschluss aus der Gesellschaft erfolgen werde. Eine Zahlung erfolgte nicht; der Geschäftsanteil der Beklagten an der Klägerin wurde kaduziert. Die Vorinstanz hat festgestellt, dass die sonstigen Voraussetzungen der Kaduzierung vorliegen. Die Parteien streiten nur noch über die Frage, ob die Kaduzierung deshalb unwirksam ist, weil die Zahlungsaufforderung als Einwurf-Einschreiben der Deutschen Post AG versendet wurde. Zahlt ein Gesellschaf-ter nämlich die von ihm geschuldete Einlage nicht, kann ihm nach § 21 Abs. 1 Satz 1 GmbHG zusammen mit der Zahlungsaufforderung angedroht werden, dass er im Fall der Nichtzahlung aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird.4 Diese Zahlungsaufforderung hat nach § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG mittels eingeschriebenen Briefes zu erfol-gen. Streitig war, ob auch ein Einwurf-Einschreiben aus-reicht, um das Formerfordernis des § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG zu erfüllen.

Nach einer Auffassung im Schrifttum muss ein eingeschrie-bener Brief i.S.d. § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG ein Übergabe-Einschreiben sein, wobei ein Übergabe-Einschreiben mit Rückschein nicht gefordert wird. Das 1997 eingeführte Ein-wurf-Einschreiben reicht danach nicht aus.5 Nach a.A. ge-nügt die Zahlungsaufforderung durch Einwurf-Einschreiben den Anforderungen des § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG.6 Der BGH schließt sich der letztgenannten Auffassung an7 und stellt klar, dass das Einwurf-Einschreiben der Deutschen Post AG die formalen Anforderungen eines eingeschriebe-nen Briefes gem. § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG wahrt.8 Zu die-sem Ergebnis gelangt der BGH im Wege einer Auslegung nach dem Wortlaut, anhand des historischen Gesetzgeber-willens und der teleologischen Auslegung.

Nach dem Wortlaut der Vorschrift erfolgt die Zahlungsauf-forderung mittels „eingeschriebenen Briefes“, also per Ein-schreiben. Derzeit bietet die Deutsche Post AG9 – wie ein-gangs ausgeführt – fünf verschiedene Einschreiben an. Dabei wird unter „Einschreiben“ das einfache Übergabe-Einschreiben verstanden, welches noch zusätzlich mit der Option „Rückschein“ und/oder „Eigenhändig“ kombiniert werden kann. Bei der Übermittlungsart „Einschreiben Ein-wurf“ wird der Begriff des „Einschreibens“ als Oberbegriff verwendet und der Zusatz „Einwurf“ lediglich als Unter-scheidungszusatz angefügt. Das Einwurf-Einschreiben der Deutschen Post AG fällt daher ebenso wie das Übergabe-Einschreiben unter den Oberbegriff des Einschreibens und damit unter den Wortlaut des § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG.10

Auch aus dem Willen des Gesetzgebers lässt sich nach An-sicht des BGH kein Ausschluss des Einwurf-Einschreibens als zulässige Form der Übermittlung i.S.d. § 21 Abs. 1 Satz 2

4 Vgl. zu den einzelnen Voraussetzungen § 21 GmbHG.5 Vgl. Verse in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., § 21 GmbHG

Rn. 19; Fastrich in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 21 Rn. 8.6 Vgl. Wicke, GmbHG, 3. Aufl., § 21 Rn. 4 mit Verweis auf § 51 Rn. 2.7 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 12.8 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 7.9 https://www.deutschepost.de/de/e/einschreiben.html.10 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 13; Köper, NZG 2008, 96 ff.,

97 zu § 51 Abs. 1 Satz 1 GmbHG.11 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 14.12 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 15.13 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 17.14 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 18.15 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 21; Wicke, GmbHG, 3. Aufl.,

§ 21 Rn. 4; Verse in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., § 21 GmbHG Rn. 19.

16 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 21; Fastrich in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 21 Rn. 8.

17 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 21; Wicke, GmbHG, 3. Aufl., § 21 Rn. 4; Verse in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., § 21 GmbHG Rn. 19.

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erklärung nicht zugeht, bei Verwendung eines Übergabe-Einschreibens höher ist als bei einem Einwurf-Einschreiben. Dies leitet er u.a. daraus her, dass beim Übergabe-Ein-schreiben die Sendung nur gegen Unterschrift ausgehän-digt wird. Wird kein Empfangsberechtigter angetroffen, wird ein Benachrichtigungszettel in den Briefkasten einge-legt und die Sendung sieben Werktage zur Abholung bereit-gehalten. Holt der Empfänger das Einschreiben nicht ab, so ist es nicht zugegangen. Der Zugang des Benachrichti-gungsscheins ersetzt nach ständiger Rechtsprechung den Zugang des Einschreibebriefes nicht.18 Dem Empfänger kann es allenfalls nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) ver-sagt sein, sich darauf zu berufen, dass ihm die Sendung nicht zugegangen ist.19 Zu diesen Zugangsschwierigkeiten kann es beim Einwurf-Einschreiben nicht kommen. Hier er-folgt die Ablieferung durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten des Empfängers. Für den Zugang gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB genügt es, wenn das Schreiben so in den Bereich des Empfängers gelangt, dass dieser unter norma-len Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklä-rung Kenntnis zu nehmen. Dies ist beim Einlegen in den Briefkasten des Empfängers der Fall.20 Die Möglichkeit der Zugangskontrolle ist bei beiden Einschreibeformen gleich21 und auch hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Postlaufs selbst, also des Transports der Sendung, ergeben sich keine Qualitätsunterschiede zwischen einem Einwurf-Einschrei-ben und einem Übergabe-Einschreiben. Die Aufgabe (Ab-sendung) beider Arten von Einschreiben ist gleich. Die Sen-dungen werden durch die gleichen Postangestellten ausgetragen. Nur am Empfangsort sind unterschiedliche Formalien zu beachten, die auf die Sicherheit des Sen-dungstransports selbst jedoch keinen Einfluss haben.22

Schließlich dient das Erfordernis der Übermittlung der Zah-lungsaufforderung mittels Einschreiben neben der Siche-rung des Zugangs auch Beweiszwecken.23 Dieser Gesetzes-zweck ist nach Ansicht des BGH bei Verwendung des Einwurf-Einschreibens der Deutschen Post AG ebenfalls ge-währleistet, mag die Beweiskraft auch nicht so ausgeprägt sein wie bei einem Übergabe-Einschreiben.24 Für den Ab-sender streitet beim Einwurf-Einschreiben bei Vorlage des Einlieferungsbelegs zusammen mit der Reproduktion des Auslieferungsbelegs der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Sendung durch Einlegen in den Briefkasten bzw. das Postfach zugegangen ist, wenn das vorbeschriebene Verfahren eingehalten wurde.25

Aus diesen Gründen sieht der BGH das Einwurf-Einschrei-ben der Deutschen Post AG dem Übergabe-Einschreiben in Hinblick auf den mit § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG verfolgten Zweck als zumindest gleichwertig an, sodass eine Versen-dung der Zahlungsaufforderung mittels Einwurf-Einschrei-ben die formalen Anforderungen des § 21 Abs. 1 Satz 2

GmbHG, den Versand durch eingeschriebenen Brief, wahrt. Damit ist geklärt, dass es eines Versandes mittels Überga-be-Einschreiben nicht bedarf.

C. Kontext der Entscheidung und Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung hat dem BGH die Gelegenheit gegeben, die im Schrifttum bislang umstrittene Frage zu klären, was unter einem eingeschriebenen Brief im Sinne des GmbHG zu verstehen ist und insbesondere die Unsicherheit zu be-enden, ob auch die Verwendung des Einwurf-Einschreibens geeignet ist, dem Formerfordernis „eingeschriebener Brief“ Genüge zu tun. Das GmbHG sieht an verschiedenen Stellen den Versand von Willenserklärungen per eingeschriebenen Brief vor. Der in der Praxis wohl am häufigsten vorkommen-de Fall ist der der Einladung zu einer Gesellschafterver-sammlung. Diese ist nach § 51 Abs. 1 GmbHG per einge-schriebener Briefe einzuberufen26. Die Entscheidung des BGH ist zwar zu § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG, also zum Ver-sand der Zahlungsaufforderung im Zusammenhang mit der Kaduzierung ergangen. Jedoch sind die Ausführungen des BGH so allgemein gehalten, dass sie gleichermaßen auch für das Formerfordernis des § 51 Abs. 1 GmbHG bei der Ein-ladung zur Gesellschafterversammlung Geltung beanspru-chen können. Sämtliche Erwägungen, die der BGH im Rah-men der Auslegung anführt, passen auch bei § 51 Abs. 1 GmbHG, da die Auslegung nicht auf spezifische Besonder-heiten des § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG abstellt. Damit ist nunmehr auch die bislang streitige Frage geklärt, dass eine Gesellschafterversammlung auch mittels Einwurf-Ein-schreiben formgerecht einberufen werden kann.27

18 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 23; ständige Rechtsprechung z.B. BGH, Urt. v. 11.07.2007 - XII ZR 164/03 Rn. 20; BGH, Urt. v. 26.11.1997 - VIII ZR 22/97.

19 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 23; BGH, Urt. v. 11.07.2007 - XII ZR 164/03 Rn. 21 ff.; BGH, Urt. v. 26.11.1997 - VIII ZR 22/97.

20 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 25; BGH, Urt. v. 08.01.2014 - IV ZR 206/13 Rn. 8.

21 Siehe hierzu die Ausführungen des BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15, unter Rn. 26.

22 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 27.23 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 31; Fastrich in: Baumbach/

Hueck, GmbHG, 21. Aufl., § 21 Rn. 8.24 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 31.25 BGH, Urt. v. 27.09.2016 - II ZR 299/15 Rn. 33; vgl. OLG Saarbrücken,

Urt. v. 20.03.2007 - 4 U 83/06; LArbG Köln, Urt. v. 14.08.2009 - 10 Sa 84/09.

26 Siehe auch oben unter A.27 So bereits das LG Mannheim, Urt. v. 08.03.2007 - 23 O 10/06; Lutz,

Der Gesellschafterstreit, 2. Aufl., Rn. 84; K. Schmidt/Seibt in: Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2010, § 51 Rn. 10.

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Die Monatszeitschrift

Die Entscheidung ist von großer praktischer Bedeutung. Zwar liegt die besondere Bedeutung der Entscheidung nicht so sehr im Bereich des § 21 GmbHG, da solche Fälle in der Praxis eher selten vorkommen. Wichtig ist sie aber im Be-reich der Einladung zu Gesellschafterversammlungen. Ge-wissermaßen dem gesunden Menschenverstand folgend hat eine Vielzahl von Geschäftsführern erkannt, dass die Verwendung eines Einwurf-Einschreibens der Verwendung des Übergabe-Einschreibens nicht nur gleichwertig ist, son-dern insbesondere in puncto Zugang die oben dargelegten Vorteile bietet. Dementsprechend wurde bei absehbar strei-tigen Gesellschafterversammlungen wegen der damit ver-bundenen Vorteile statt mit einem Übergabe-Einschreiben mit einem Einwurf-Einschreiben eingeladen. Da höchstrich-terlich nicht geklärt und das Schrifttum diesbezüglich zer-stritten war, ob ein Einwurf-Einschreiben ausreichend ist, hatte der im Rahmen einer Gesellschafterversammlung überstimmte Gesellschafter immer das taktische Mittel, eine Anfechtbarkeit des Beschlusses wegen angeblich nicht ordnungsgemäßer Einberufung der Gesellschafterversamm-lung geltend zu machen, um so zu versuchen, im Verhand-lungswege ein für ihn günstiges Zugeständnis zu erlangen. Dem gebietet die Entscheidung nunmehr Einhalt. Sie hat daher Rechtssicherheit geschaffen und ist deshalb zu be-grüßen. Der BGH hat die Gelegenheit genutzt, über den konkreten Fall des § 21 Abs. 1 Satz 2 GmbHG hinaus allge-mein Ausführungen zu dem im GmbHG an mehreren Stellen verwendeten Tatbestandsmerkmal „per eingeschriebenen Brief“ zu machen und so für das GmbHG zu klären, dass auch das Einwurf-Einschreibens die Form wahrt. Die Ent-scheidung dient den Bedürfnissen der täglichen Praxis.

Verallgemeinert musste der BGH also klären: Muss das drin sein, was draufsteht? Und wann ist drin, was draufsteht?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbrau-cherverbände, der in die Liste qualifizierter Einrichtungen nach § 4 UKlaG eingetragen ist, hat die Beklagte, die den streitgegenständlichen Tee vertreibt, vor dem LG Düssel-dorf darauf in Anspruch genommen, dass sie es unterlässt, für den streitgegenständlichen Tee mit der Bezeichnung „Himbeer-Vanille-Abenteuer“ und/oder der Abbildung von Himbeeren und Vanilleblüten (vgl. den Abdruck aller Seiten der Verpackung in der Urteilsbegründung) zu werben oder werben zu lassen, wenn keine Bestandteile von Himbeeren und Vanille im Produkt enthalten sind. Daneben wollte er die Abmahnkosten von 200 € erstattet wissen.

Das LG Düsseldorf hat der Klage stattgegeben.1 In der Beru-fung hat das OLG Düsseldorf die Klage abgewiesen.2 Mit der Revision vor dem BGH hat der Kläger die Wiederherstel-lung des erstinstanzlichen Urteils begehrt. Der BGH wiede-rum hat die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorge-legt mit der Frage, ob die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür durch das Ausse-hen, die Bezeichnung oder bildliche Darstellung den Ein-druck des Vorhandenseins einer bestimmten Zutat erwecken dürfen, obwohl diese Zutat tatsächlich nicht vorhanden ist und sich dies allein aus dem Verzeichnis der Zutaten gem. Art. 3 Abs. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2000/13/EG ergibt.3 Der EuGH hat diese Frage dahin gehend beantwortet, dass eine derartige Etikettierung und Aufmachung mit der genannten Richtlinie nicht vereinbar ist.4 Der BGH hat daraufhin letzten Endes das Urteil des Oberlandesgerichts mit dem hier be-sprochenen Urteil aufgehoben und die Berufung der Beklag-ten gegen das Urteil des Landgerichts zurückgewiesen.

Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte das streitgegen-ständliche Produkt nicht nur unter dem Namen „Himbeer-Vanille-Abenteuer“ vermarktet, sondern hinzukam, dass auf der Front- und Oberseite der Verpackung groß Himbee-ren und Vanilleblüten abgebildet waren und zudem ein Logo mit den Worten „nur natürliche Zutaten“. Aus dem Zutatenverzeichnis auf der Rückseite ergab sich jedoch im Widerspruch hierzu, dass das Produkt lediglich „natürliches Aroma mit Vanille-“ bzw. „Himbeergeschmack“ enthielt. Mithin hatte der BGH darüber zu entscheiden, ob der Ver-

Das Himbeer-Vanille-Abenteuer des in die Irre geführten VerbrauchersBGH, Urt. v. 02.12.2015 - I ZR 45/13

Ri Dr. Norman Konecny

A. Problemstellung

Im vorliegenden Fall hatte sich der erste Senat des BGH mit einer auf den ersten Blick amüsant klingenden Frage zu be-schäftigen: Wird ein durchschnittlicher Verbraucher, der sich über den Inhalt eines Lebensmittels informieren will, da-durch in die Irre geführt, dass ein Tee unter der Bezeichnung „Felix Himbeer-Vanille-Abenteuer“ verkauft und beworben wird, obwohl dieser tatsächlich weder Spuren von Himbee-ren noch von Vanille enthält und sich dies nur aus der Auflis-tung der Zutaten auf der Rückseite der Verpackung ergibt?

1 LG Düsseldorf, Urt. v. 16.03.2012 - 38 O 74/11.2 OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.02.2013 - I-29 U 59/12.3 BGH, EuGH-Vorlage v. 26.02.2014 - I ZR 45/13 - „Himbeer-Vanille-

Abenteuer I“.4 EuGH, Urt. v. 04.06.2015 - C-195/14.

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braucher, der sich über die Zutaten des Produkts informie-ren will, durch die Angaben auf der Verpackung in die Irre geführt wird, also ob die Aufmachung des Produkts einen Verstoß gegen § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LFGB a.F. und/oder § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 UWG darstellt. Diese Frage hat der BGH letztendlich nach Maßgabe der Antwort des EuGH auf den Vorlagebeschluss bejaht.

In den Mittelpunkt der Entscheidung stellt der BGH, im Ein-klang mit dem EuGH, den „normal informierten und ver-nünftig aufmerksamen und kritischen Verbraucher“. Er stellt zunächst heraus, dass er an seiner grundsätzlichen Rechtsprechung festhält, dass ein solcher, der sich in seiner Kaufentscheidung nach der Zusammensetzung des Pro-dukts richtet, zunächst das Verzeichnis der Zutaten liest, dieses also maßgeblich ist für die Frage, ob der Verbraucher durch die Etikettierung des Produkts über dessen Zusam-mensetzung in die Irre geführt wird. Die Frage, ob bereits dies hier der Fall (siehe hierzu weiter unten), lässt er jedoch bewusst offen, geht stattdessen einen Schritt weiter und stellt ausnahmsweise die Gesamtaufmachung des Pro-dukts als maßgeblichen Faktor heraus. Er ergänzt nämlich diesen Grundsatz um die Feststellung, dass die Etikettie-rung i.S.v. Art. 1 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie 2000/13/EG alle Angaben, Kennzeichnungen, Hersteller- und Handels-marken, Abbildungen oder Zeichen, die sich auf ein Lebens-mittel beziehen und auf dessen Verpackung angebracht sind, umfasse. Er kommt zu dem Schluss, dass wenn einzel-ne dieser Elemente unwahr, falsch, mehrdeutig wider-sprüchlich oder unverständlich sind, das Verzeichnis der Zu-taten, auch wenn es richtig und vollständig ist, in bestimmten, d.h. Ausnahme-, Fällen gleichwohl nicht ge-eignet ist, einen falschen oder missverständlichen Eindruck des Verbrauchers bezüglich der Eigenschaften des betref-fenden Lebensmittels zu berichtigen, der sich aus den an-deren Elementen der Etikettierung ergibt. Er stellt demge-mäß im Ergebnis für die Frage nach der Irreführung des Verbrauchers auf den sich aus den einzelnen Elementen so-wie dem Zutatenverzeichnis ergebenden Gesamteindruck der Etikettierung ab, stellt jedoch klar, dass dieser nur in Ausnahmefällen trotz einer ordnungsgemäßen Zutatenliste zu einer Irreführung führen kann.

Der BGH kommt in seiner Entscheidung nach der Darlegung dieser Grundsätze zu dem Ergebnis, dass mit dem hiesigen „Himbeer-Vanille-Abenteuer“ ein solcher Ausnahmefall ge-geben ist. Er stellt im Wesentlichen darauf ab, dass neben dem Namen des Produkts die in den Vordergrund gestellten Angaben auf der Verpackung durchweg hervorgehoben auf das Vorhandensein von Himbeer- und Vanillebestandteilen im Tee hinweisen. Dieser Eindruck werde durch die blick-fangmäßigen Darstellungen der Himbeerfrüchte und Vanil-leblüten noch verstärkt, ebenso durch die ergänzende An-

gabe „nur natürliche Zutaten“, die nach Art eines Quali-tätssiegels ebenfalls blickfangmäßig herausgestellt ist. Nach Ansicht des BGH führen all diese Punkte zusammen-genommen dazu, dass der durchschnittliche Verbraucher, auf den abzustellen ist, der Zutatenliste nicht (mehr) ent-nimmt, dass der streitgegenständliche Tee weder Himbeer- noch Vanillebestandteile enthält und daher ein solcher Aus-nahmefall vorliegt, in dem die Zutatenliste allein nicht ge-eignet ist, die in den Vordergrund gerückten, objektiv un-richtigen Angaben auf der Produktverpackung durch klarstellende Angaben aufzuklären.

Keine Entscheidung trifft der BGH über die sich im vorlie-genden Fall ebenfalls aufdrängende Frage, ob nicht bereits die Zutatenliste an sich irreführend ist. Er deutet dieses Pro-blem lediglich dadurch an, dass er sie als „im Übrigen auch schon für sich gesehen nicht eindeutig“ bezeichnet. Man wird diese Formulierung aber dahin gehend deuten kön-nen, dass der BGH bereits aus der Angabe „natürliches Aro-ma mit Vanille-“ bzw. „Himbeergeschmack“ in der Zuta-tenliste die Gefahr der Irreführung des Verbrauchers erkannt, sich für die Entscheidung aber auf das schwerwie-gendere Argument des irreführenden Gesamteindrucks ge-stützt hat. Nichtsdestotrotz ist in diesem Punkt Fezer zuzu-stimmen, wenn er sagt, dass die Systematik der Aromen und ihre Begriffsvielfalt selbst für einen informierten Ver-braucher kaum verständlich ist, die Angabe aber zumindest keine ausreichende Information über die Art des Aroma-stoffs darstellt.5 Zwar stellt die Definition des „natürlichen Aromastoffs“ in Art. 3 Abs. 2 Buchst. c) der Aromenverord-nung 1334/2008/EG gerade nicht darauf ab, dass ein sog. natürliches Aroma aus dessen in der Natur vorkommenden Träger gewonnen wird – d.h., dass z.B. Himbeeraroma nicht aus Himbeeren oder Erdbeeraroma nicht aus Erdbeeren ge-wonnen werden muss, um als „natürliches Aroma“ nach dieser Verordnung bezeichnet zu werden. Es erscheint je-doch höchst zweifelhaft, ob dem durchschnittlichen Ver-braucher, der – trotz der wie hier eindeutigen Angaben auf der Verpackung – die Zutatenliste liest, der Unterschied zwischen „natürlichem Aroma mit Himbeergeschmack“ und „Himbeeraroma“ ohne eine entsprechende Klar- oder Gegenüberstellung bewusst ist, sondern er wohl bei einem „natürlichen Aroma“ eher auf die Beinhaltung der natürli-chen Bestandteile des Geschmacks vertrauen wird.6

Des Weiteren hat der BGH klargestellt, dass, da der kläge-rische Unterlassungsanspruch auf die Zukunft gerichtet war, dieser auch nach der nunmehr geltenden Verordnung

5 Fezer, VuR 2015, 289, 293.6 Dem wohl zustimmend Apel/Fuchs, WRP 2016, 841, 842.

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(EU) 1169/2011 betreffend die Information der Verbrau-cher über Lebensmittel (LMIV) begründet ist. Die Regelung ist mit Wirkung vom 13.12.2014 an die Stelle der Richtlinie 2000/13/EG getreten und seitdem auch im nunmehr maß-geblichen § 11 Abs. 1 Nr. 1 LFGB n.F. angeführt. Der BGH stellt darauf ab, dass die neue Regelung nicht weniger streng, sondern strenger als die bisherige ist und es auch nach dieser für die „normalerweise verwendeten Zutaten“ darauf ankommt, welche Zutaten der Verbraucher nach Aussehen, Bezeichnung und bildlicher Darstellung erwar-ten kann. Dass in Anbetracht dessen nach der oben darge-legten Argumentation eine nunmehr anderweitige Be-urteilung nicht in Betracht kommt, liegt auf der Hand. Hinzu legt er dar, dass Fragen wie die vorliegende einzig nach den einschlägigen Normen des Lebensmittelrechts zu entscheiden sind und deswegen für darüber hinausgehen-de Informationspflichten nach Art. 7 der Richtlinie 2005/29/EG bzw. deren Umsetzung in § 5a Abs. 3 Nr. 1 UWG kein Raum ist.

C. Auswirkungen für die Praxis

Die Auswirkungen für die Praxis sind offensichtlich: Der BGH hat klargestellt, dass nach wie vor grds. die auf der Produktverpackung abzudruckende Zutatenliste dafür maßgeblich ist, ob der durchschnittliche Verbraucher ord-nungsgemäß informiert oder dadurch in die Irre geführt wird, dass entweder angegebene Zutaten in dem jeweili-gen Produkt nicht enthalten oder nicht angegebene Zuta-ten enthalten sind und sich aus dem Gesamteindruck der übrigen Etikettierung nur im Ausnahmefall eine Irreführung

ergeben kann, sofern die Zutatenliste wahrheits- und damit ordnungsgemäß ist. Allerdings hat er die Grenzen dafür, wann ein solcher Ausnahmefall vorliegt, schärfer kontu-riert. Lebensmittelhersteller werden in Zukunft noch ge-nauer darauf achten müssen, wie sie ihre Produkte benen-nen und ihre Produktverpackungen gestalten. Sie sind dazu gehalten, sicherzustellen, dass sich aus dem Gesamtein-druck von Namen, Abbildungen, Verpackungs- und Pro-duktdesign, Slogans, Logos etc. nicht die fehlerhafte Erwar-tung tatsächlich nicht enthaltener Zutaten erweckt wird. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Lebensmittelhersteller auch im Lichte dieses Urteils weiter versuchen werden, die – nunmehr enger gezogenen – Grenzen des Machbaren und Zulässigen auszuloten.

D. Bewertung

Zu den grundlegenden Fragen, die der BGH zu klären hatte (siehe A.), bleibt festzuhalten: Dass das drin sein muss, was draufsteht, ist in Anbetracht der dargelegten gesetzlichen Regelungen eine Binsenweisheit. Die wesentlich interes-sante Frage danach, wann denn auch tatsächlich das drin ist, was draufsteht, hat der BGH im Ergebnis dahin gehend beantwortet, dass der durchschnittliche Verbraucher sich zur Information nicht mehr der Zutatenliste bedienen muss, wenn die übrige Aufmachung des Produkts in ihrer Ge-samtheit die Beinhaltung bestimmter Zutaten eindeutig suggeriert. Dies hat der BGH im vorliegenden Fall als gege-ben angesehen. Somit entspricht das Urteil letztlich dem grundlegend verbraucherschutzfreundlichen Duktus der Rechtsprechung des BGH und insbesondere des EuGH.

Arbeitsrecht

Der nächsten Koalitionsverhandlung mit auf den Weg gegeben: Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Aufgabe des Arbeitsrechts1

Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard), Attorney at Law (New York)

Eine der drängenden Aufgaben künftiger Ordnung des Arbeitsmarkts ist die Erschließung des Erwerbspotenzials weiblicher Arbeitnehmer. Wir wollen Familie – und was können wir dafür tun, dass mehr Menschen den Mut zur Fa-miliengründung fassen? Oftmals ist es das Entweder-oder, zu dem sich Eltern – zumeist Frauen – gezwungen sehen: entweder Familie oder Karriere. Viel wäre gewonnen, hier die Wahlfreiheit zu erhöhen und Zwischenwege zu eröff-

nen. So hat auch Papst Benedikt XVI. dazu aufgerufen, bes-sere Voraussetzungen für eine Vereinbarkeit von Familie

1 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, der am 07.04.2017 auf einem Symposium in Wiesbaden zu Ehren Reinhard Richardis als „juristische Erwiderung“ auf einen Impuls durch Bundesfamilienministerin a.D. Dr. Kristina Schröder gehalten wurde. Auch an dieser Stelle herzliche Glückwünsche an den Jubilar.

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und Beruf zu schaffen. Der Papst forderte die Wirtschaft auf, die Interessen und den Schutz der Familie als Keimzelle der Gesellschaft stets zu berücksichtigen. Es bedürfe eines neu-en „harmonischen Zusammenspiels“ zwischen beiden Be-reichen.2 Papst Franziskus fasst nach: „Das weibliche Talent ist unentbehrlich in allen Ausdrucksformen des Gesell-schaftslebens; aus diesem Grund muss die Gegenwart der Frauen auch im Bereich der Arbeit garantiert werden“.3 Man mag es anders formulieren, man mag andere Stimmen zitieren,4 aber diese Forderung ist heute gesellschaftliches Allgemeingut. Dennoch ist bislang zu wenig passiert.

A. Von der traditionellen Blindheit des Arbeitsrechts gegenüber der Familie

Es ist Zeit, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stär-ker im Fokus der Politik steht als ehedem. Dabei ist der Grundkonflikt5 offensichtlich: Arbeitnehmer sind am Arbeits-platz ihrem Arbeitgeber arbeitsvertraglich verpflichtet. Dane-ben aber sind sie auch Ehegatten, Lebenspartner, Familienvä-ter und -mütter und auch selbst Kinder ihrer Eltern. Damit sind sie anderen Menschen persönlich verpflichtet. Die Ver-pflichtungen sind nur vereinzelt verrechtlicht, so z.B. in § 1626 Abs. 1 BGB (Elterliche Sorge) oder in § 1353 Abs. 1 BGB (Eheliche Lebensgemeinschaft). Überwiegend sind sie dagegen emotionaler und ethischer Natur. Pflichtenkollisio-nen sind vorprogrammiert: Samstag gehört Papi mir – oder muss er doch dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen?

Die Familie als Gemeinschaft mit eigenen Interessen und Voraussetzungen ist dennoch kein genuiner Topos des Arbeitsrechts, dient es doch in erster Linie dem Ausgleich des Verhandlungsungleichgewichts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Was der Arbeitnehmer nicht durch seine Marktmacht als sozialen Schutz erhandeln kann, das will ihm das Gesetz garantieren. Die Familie ist hier nicht un-mittelbar verortet. Arbeitsrechtliche Vorschriften, die die Fa-milie als Schutzsubjekt einbeziehen, fehlen zumeist. Und dies obwohl Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie dem besonde-ren Schutz durch die staatliche Ordnung unterstellt. Fami-lienbezogene Interessen werden nur insoweit geschützt, als es sich um Interessen auch des Arbeitnehmers selbst handelt. Sofern arbeitsrechtliche Normen eine die Familie schützende Wirkung entfalten, so ist dies regelmäßig nicht final, sondern lediglich mittelbare Folge der arbeitnehmer-schützenden Normintention:6

– Die Familie mittelbar schützende Vorschriften finden sich bspw. im ArbZG (§§ 3, 5) und im BUrlG (§ 3): Dort, wo die zulässige Höchstarbeitszeit beschränkt wird bzw. wo dem Arbeitnehmer eine Mindestanzahl von jährlichen Urlaubstagen garantiert wird, profitieren auch Familien-angehörige des Arbeitnehmers.

– Die Interessen von Familienangehörigen der Arbeitneh-mer werden mittelbar auch durch das TzBfG berück-sichtigt: § 8 Abs. 1 TzBfG räumt Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate bestanden hat, ein einklagbares Recht darauf ein, dass die vertrag-lich vereinbarte Arbeitszeit verringert wird.7 Hiervon machen, wie die Praxis gezeigt hat, insbesondere berufs-tätige Frauen Gebrauch, um neben der Berufstätigkeit Zeit für die Familie zu haben und beides miteinander zu vereinbaren.

– Die Regelungen des MuSchG (insbesondere die §§ 3, 4, 6, 7, 8, 9, 11, 15, 16) enthalten Bestimmungen, die die (werdende) Mutter schützen und erkennen damit eben-falls an, dass Arbeitnehmerinnen neben beruflichen Ver-pflichtungen regelmäßig auch eine besondere Funktion innerhalb der Familie erfüllen.

– Mittelbar geschützt wird die Familie auch über die Vor-schrift des § 1 Abs. 3 KSchG. Hiernach stellen die Unter-haltspflichten eines Arbeitnehmers ein Sozialkriterium dar, das im Rahmen der bei einer betriebsbedingten Kün-digung vorzunehmenden Sozialauswahl ausreichend zu berücksichtigen ist. Bleiben Unterhaltspflichten des be-troffenen Arbeitnehmers unberücksichtigt und kommen für die betriebsbedingte Kündigung andere vergleich-bare, aber weniger schutzwürdige Arbeitnehmer in Be-tracht, so ist die Kündigung sozial nicht gerechtfertigt. Unmittelbar vor der Kündigung geschützt sind damit Familienväter und -mütter. Mittelbaren Schutz genießen die Familienangehörigen.

All diese Vorschriften berücksichtigen somit rein mittelbar familienbezogene Interessen. Es handelt sich um Fami-

2 Ansprache am 15.10.2011 vor Teilnehmern einer internationalen Kon-ferenz über die katholische Soziallehre, abrufbar unter www.domradio.de/nachrichten/2011-10-15/papst-fordert-bessere-vereinbarkeit-von-familie-und-arbeit.

3 Evangelii Gaudium, Abschn. 103 unter Bezugnahme auf Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, S. 295.

4 Siehe bereits Emma Ihrer, die im Jahr 1898 mit ihrer Schrift „Die Arbei-terinnen im Klassenkampf“ einen damals wichtigen Beitrag zur sozia-listischen Frauenbewegung leistete.

5 Dieser Grundkonflikt und mögliche Handlungsoptionen wurden bereits – größtenteils wörtlich übereinstimmend mit dem vorliegenden Text – im 8. Familienbericht der Bundesregierung formuliert (BT-Drs. 17/9000). Der Verfasser dieses Buchs war Vorsitzender der Kommission und Verfasser des entsprechenden Berichtsteils.

6 Anders das Sozialrecht: Durch § 10 SGB V und § 25 SGB XI werden Familienangehörige des Arbeitnehmers als Stammmitglied explizit in den Kreis der Anspruchsberechtigen bei der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung einbezogen.

7 Freilich unter der Voraussetzung, dass der Arbeitgeber, unabhängig von der Anzahl der Personen in Berufsausbildung, i.d.R. mehr als 15 Arbeitnehmer beschäftigt, siehe § 8 Abs. 7 TzBfG.

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lienschutz des Arbeitnehmerschutzes willen. So wundert es vielleicht nicht, dass sich das Wort „Familie“ in den äl-teren Büchern des Arbeitsrechts nur unter dem Stichwort der Mitarbeit von Familienangehörigen findet8 und dass auch der wohl auflagenstärkste Kommentar zum ArbZG das Wort „Familien“ nicht in seinem Stichwortregister führt.9 Wo die Familie also im Arbeitsrecht berücksichtigt wird, wird dies von außen an dieses Rechtsgebiet heran-getragen. Hier gibt es prominente Initiativen, gerade auch von juristischer Seite. So forderten etwa schon der 60. Deutsche Juristentag 1990 und in seiner Folge der 65. Deutsche Juristentag 200410 gesetzliche Regelungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dieser Wunsch ist zwar teilweise Wirklichkeit geworden, teilweise aber auch in Vergessenheit geraten: „Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern ist ein Recht auf Teilzeitarbeit einzuräumen“, hieß es 1990 und seit 2000 gibt es § 8 TzBfG mit einem entsprechenden Anspruch. „Kinderbetreuungskosten, die mit der Berufstätigkeit zusammenhängen, müssen steuer-rechtlich uneingeschränkt geltend gemacht werden kön-nen“ – das aktuelle Steuerrecht sieht anders aus, und es ist schade, dass auch die Koalitionsvereinbarung hier kei-nen Schritt weiter gehen will.11 „Arbeitszeitflexibilisie-rung, Teilzeitarbeit und alternierende Telearbeit als For-men familiengerechten Personaleinsatzes sind weiter zu entwickeln. Dabei ist auf die besonderen Bedürfnisse der kleinen und mittleren Unternehmen Rücksicht zu neh-men“, hieß es 2004 auf dem Juristentag – getan hat sich seitdem nur wenig. Das vorbereitende Gutachten dieses Juristentags hat in seiner Stellungnahme hierzu allerdings auch hervorgehoben, dass die finanziellen Lasten einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wenn nicht von Verfassungs wegen, so doch rechtspolitisch in aller Regel nicht bei den Arbeitgebern, sondern bei der Allge-meinheit zu platzieren seien. Denn die aus der besseren Vereinbarkeit erwachsenden Vorteile sind regelmäßig ge-samtgesellschaftliche und nicht primär solche des Arbeit-gebers.12 Dementsprechend liegt der Handlungsauftrag auch beim Staat.

B. Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Interesse der Gesellschaft insgesamt

Dass hier gehandelt wird, liegt nicht nur im Interesse der Arbeitnehmer. Die gesamtgesellschaftlichen Vorteile des Gelingens von Familie sind vielfach beschrieben worden. Die Familie ist Keimzelle gesellschaftlicher Organisation. Sie wird gegründet nicht aus Verpflichtung, sondern aus Wunsch. Sie entspricht dabei einem urmenschlichen Be-dürfnis: Der Mensch ist auf Gemeinschaft hingeordnet, er bedarf von klein auf der Zuwendung, wie er auch von klein auf das Bedürfnis hat, sich dem Gegenüber zuzuwenden.

Keine Gesellschaft besteht daher ohne familiäre Bindun-gen. In ihnen lernt und lebt der Mensch Verantwortung.

Familie ist aber nicht nur emotionale Gemeinschaft, son-dern eben auch Verantwortungsgemeinschaft. Die wechsel-seitige Verbundenheit und Gemeinschaft führen zu Solida-rität. Sie beschreiben als Seinsprinzip die Zusammengehö-rigkeit des Individuums zu Gruppen und die tatsächliche Verbundenheit von Gruppen, sie bestimmen als Sollens-prinzip die hieraus resultierende Pflicht zur Hilfe und zum Eintreten füreinander. Dies spiegelt die Verantwortung in der Familie: Sie wird persönlich empfunden, aber auch ge-sellschaftlich eingefordert. Sie ist zunächst autonom gebil-det, aber in Grenzen auch rechtlich als heteronome Ver-pflichtung nachgezeichnet. Der Einzelne will für den Ande-ren da sein, muss es in bestimmten Grenzen aber auch: Dem Recht zur Erziehung der Kinder entspricht die Ver-pflichtung zur elterlichen Sorge. Ehegatten sind wechselsei-tig zum Unterhalt berechtigt, aber auch verpflichtet (§ 1360 Satz 1 BGB).

Die in der Familie gelebte Verantwortung entspricht damit zunächst dem Wunsch des Einzelnen. Sie ist aber auch Grundlage für gesellschaftliches Gelingen. Das gilt zu-nächst für die Bereitschaft, familiäre Verantwortung zu übernehmen: Eine Gesellschaft ohne Kinder überaltert und stirbt. Die demografische Entwicklung in Deutschland ist Ursache vielfältiger Herausforderungen. Das gilt dann auch in der gelebten Familie: Die Erziehung der Kinder erfordert elterliches Engagement. Sie kann und muss durch staatli-ches Handeln erleichtert und unterstützt werden; auch dann steht sie jedoch unter elterlicher Verantwortung. Wie groß die Rolle der Möglichkeiten und des Einsatzes der El-tern in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder ist, zeigt sich – es kann nicht laut genug beklagt werden – immer noch daran, wie stark der schulische Erfolg von Kindern vom Bil-dungsstand ihrer Eltern abhängt. Aber nicht nur die Verant-wortung gegenüber der jüngeren Generation ist betroffen, sondern auch gegenüber der vorangegangenen. Das Sys-tem der Pflegeversicherung wäre nicht durchführbar ohne

8 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. I und II, 1. Aufl. 1928/1930.9 Baeck/Deutsch, ArbZG, 2004.10 Siehe hierzu das Gutachten Junkers, Arbeitsrecht zwischen Markt und

gesellschaftspolitischen Herausforderungen; eine Kurzfassung ist ab-gedruckt in der Sonderbeilage zu NZA 16/2004.

11 Mutiger war der 8. Familienbericht der Bundesregierung BT-Drs. 17/9000, S. 87.

12 Junker, NZA, Beilage zu Heft 16/2004, 9; dementsprechend befürwor-tet er auch die Kosten des gesamtgesellschaftlichen Vorteils „Mutter-schaft“ auch der Allgemeinheit aufzuerlegen, indem die Entgeltfort-zahlung bei Mutterschaft ganz durch staatliche Zuwendungen finanziert wird.

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den großen Anteil familiärer Pflege. Das SGB XI kann nicht ersetzen, was Millionen von Familienmitgliedern ohne und außerhalb rechtlicher Rahmenbedingungen leisten.13 Was im familiären Kontext persönlich empfundener Verantwor-tung und Verbundenheit entspricht, überträgt die Pflege-versicherung auf das Verhältnis der Generationen zueinan-der.

Damit Familie aber gelingen kann, bedarf es ökonomischer, aber eben auch zeitlicher Ressourcen. Wenn Familie sich vor allem auch in der wechselseitigen Verbundenheit kons-tituiert, im täglich gelebten Miteinander, dann braucht sie Zeiten der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit. Diese zu fin-den, ist heute schwieriger geworden als ehemals. Der Wan-del der Zeitinstitutionen ist offensichtlich: Der Sonntags-schutz wird durch immer flexiblere Ladenöffnungszeiten infrage gestellt, die Arbeitszeiten allgemein werden glei-tender und fließend. Damit sind heute die verschiedenen Taktgeber familiärer Zeit stärker als ehemals aufgefordert, die Freiräume zeitlicher Gemeinsamkeit zu schaffen und zu respektieren.

In jüngerer Vergangenheit hat der Staat auf das gesamtge-sellschaftliche Anliegen der Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bereits (teilweise) reagiert und recht-liche Rahmenbedingungen geschaffen, die familiäre Inte-ressen gezielt berücksichtigen: So räumt § 15 BEEG berufs-tätigen Eltern einen Anspruch auf Elternzeit ein. Anspruchsberechtigt sind dabei sowohl der berufstätige Vater als auch die Mutter. Diesen wird die Möglichkeit ein-geräumt, temporär aus dem Berufsleben auszusteigen, um intensiver Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.

C. Perspektiven moderner Gesetzgebung

Will man also weitergehen und ein spezifisch familien-freundliches Arbeitsrecht schaffen, so kann das verschiede-nen Zielen dienen: Zunächst kann es dem Wohl des Arbeit-nehmers selber dienen, dessen Lebensqualität verbessert wird, wenn er all das tun kann, was ihm wichtig ist. Wer das Bedürfnis hat oder sich in der Verantwortung sieht, seinen Kindern in der Erziehung Zeit einzuräumen, die ihm bislang nicht zur Verfügung steht, oder seinen Eltern Pflege zukom-men zu lassen, die bislang nicht möglich war, der sieht in neuen zeitlichen Freiräumen für die Familie einen Wert auch für sich selber und nicht allein für die, denen er sich zuwendet. Dieses Mehr an Lebensqualität für den Arbeit-nehmer, das mit jeder Zeitsouveränität des Arbeitnehmers einhergeht, kann ein erstes Ziel sein, dem familienfreundli-ches Arbeitszeitrecht dienen kann. In einem zweiten Schritt kann es aber eben auch eine spezifisch familienpolitische Zielsetzung haben. Die Förderung von Familien und von Kindern, sowie die Unterstützung der familiären Pflege als

der wichtigste Pfeiler der Pflege in Deutschland überhaupt, realisiert ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, das über den Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeit-nehmer hinausgeht. Drittens dienen arbeitsrechtliche Rege-lungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch der stärkeren Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Sie sind es, die oftmals die Opt-out-Lösung wählen, wenn Be-ruf und Familie sich nicht vereinbaren lassen. Welches die-ser Ziele der Gesetzgeber vorrangig verfolgt, muss er klar benennen, denn nur in Ansehung dieser Ziele lässt sich sa-gen, ob es bessere oder andere Mittel zum gleichen Zweck hin gibt. Die Vielschichtigkeit der Ziele eines familienpoli-tisch motivierten Arbeitsrechts spiegelt sich in der Viel-schichtigkeit der Familienpolitik insgesamt.

Familienfreundliche Arbeitszeiten sind damit ein wesentli-cher Faktor für das Gelingen von Familie. Die Sozialpartner sind sich dieser Verantwortung bewusst und haben dies durch vielfältige Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen belegt. In jüngerer Zeit hervorzuheben ist die Initiative von familienbewussten Arbeitszeiten.14 Unabhängig von dieser Initiative existieren bereits eine Vielzahl von tarifvertragli-chen und betrieblichen Regelungen, die hier einen Aus-gleich der Interessen von Arbeitgeberseite und Belegschaft versuchen: Auf der einen Seite das Bedürfnis moderner Be-triebsstrukturen nach flexiblen Arbeitszeiten und arbeitge-berseitiger Disposition, auf der anderen Seite die Planbar-keit und Berechenbarkeit, aber auch Flexibilität des Arbeitnehmers zur Vereinbarkeit mit familiären Pflichten.

Die Tarifautonomie, d.h. das Recht der Tarifvertragsparteien (Arbeitgeber/Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften), die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ohne staatlichen Einfluss festzulegen, ist grundrechtlich garantiert in Art. 9 Abs. 3 GG und tragendes Prinzip der sozialen Marktwirt-schaft.15 Nur die Tarifvertragsparteien haben die für die Re-gelung von Arbeitsbedingungen notwendige Sachkunde. Sie können gezielter als der Gesetzgeber auf Probleme und Bedürfnisse in der konkreten Branche eingehen. Deshalb muss es in erster Linie Aufgabe der Sozialpartner sein, in Ta-rifverträgen und Betriebsvereinbarungen für familien-freundliche Arbeitszeiten zu sorgen. Dabei ist die Heraus-forderung, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitgeberseite an flexiblen Arbeitszeiten und arbeitge-berseitiger Disposition als Bedürfnis moderner Betriebs-

13 Pflegende Angehörige leisten einen wesentlichen Beitrag zur Pflege-situation in Deutschland: Ca. 70 % der Pflegenden werden im häus-lichen Umfeld betreut.

14 Abrufbar unter www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung2/Pdf-An-lagen/charta-familienfreundliche-arbeitszeiten,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf.

15 Ausführlich Thüsing/Braun, Tarifrecht, 2. Aufl. 2015, § 1 Rn. 9 ff.

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strukturen und denen der Belegschaft an größerer Arbeits-zeitsouveränität zu finden.

Die Motive, warum auch Arbeitgeber Wert auf die Vereinbar-keit von Familie und Beruf in ihrem Unternehmen legen, sind nicht rein uneigennützig. Vielmehr ist Familienfreundlichkeit heute ein entscheidender Erfolgsfaktor für Unternehmen. 90 % der Beschäftigten zwischen 25 und 39 Jahren mit Kin-dern geben an, dass ihnen Familienfreundlichkeit genauso wichtig ist wie das Gehalt oder sogar wichtiger.16 Um ad-äquat qualifizierte Mitarbeiter – insbesondere junge, quali-fizierte Frauen – für eine Stelle zu gewinnen, müssen Unter-nehmen sich als attraktive Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt positionieren; dafür sind Angebote zur Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf unerlässlich. Darüber hinaus verspricht man sich von derartigen Maßnahmen mehr Arbeitszufriedenheit und eine Steigerung der Produktivität.17

Will man bei diesem Befund nicht stehen bleiben, sind die tarifvertraglichen und betrieblichen Regelungen auszu-bauen und zu kombinieren. Die Richtung zeigt, dass in ver-schiedenen Betrieben und Unternehmen einzelne Elemente der Arbeitszeitflexibilisierungen im Sinne von familien-freundlichen Arbeitszeiten existieren, diese aber sehr unter-schiedlich sein können. Auch ist die Unterstützung der ver-schiedenen Arbeitnehmergruppen durch solche Flexibilisie-rungsregelungen unterschiedlich. Es zeigt sich, dass gut qualifizierte Arbeitnehmer hier mit einem größeren Ent-gegenkommen der Arbeitgeberseite rechnen können als geringer qualifizierte. Hierhinter steckt eine betriebswirt-schaftliche Logik: Der Arbeitgeber muss für Arbeitskräfte, die auf dem Markt gesucht sind, besonders attraktiv sein. Diese Attraktivität äußert sich nicht allein in einer monetä-ren Leistung, sondern auch in der Möglichkeit, konkurrie-rende Lebensplanung mit beruflicher Existenz zu verbin-den.

Will der Gesetzgeber über diese Regelung hinaus tätig wer-den, so könnte er an verschiedenen Instrumenten ansetzen, die freilich in der Koalitionsvereinbarung nicht genannt sind – wohl aber im 8. Familienbericht der Bundesregie-rung:18

Stärkere Berücksichtigung der Unterhaltspflichten in der Sozialauswahl: Auch im Kündigungsschutz könnte es zu einer stärkeren Betonung familienpolitischer Elemente kommen. Arbeitnehmer, die länger als sechs Monate in einem Unternehmen mit mehr als zehn Arbeitnehmern be-schäftigt sind, genießen Kündigungsschutz nach dem Kün-digungsschutzgesetz. Eine Kündigung ist nur zulässig, so-weit soziale Rechtfertigung besteht. Solche rechtfertigenden Gründe können in der Person des Arbeitnehmers, im Verhal-ten des Arbeitnehmers oder aber im Betrieb des Arbeitge-bers liegen. Bei der betriebsbedingten Kündigung, bei der kein Bedarf des Arbeitgebers für die Weiterbeschäftigung

des Arbeitnehmers besteht, hat der Arbeitgeber bei ver-gleichbaren Arbeitnehmern eine Sozialauswahl durchzu-führen, bei der er die sozial Schutzbedürftigen im Betrieb belässt und die weniger sozial Schutzbedürftigen entlässt. Die sozialen Kriterien, nach denen sich die Schutzbedürftig-keit der vergleichbaren Arbeitnehmer bemisst, zählt § 1 Abs. 2 KSchG abschließend auf: Unterhaltsverpflichtung, Schwerbehinderung, Dauer der Beschäftigung und Alter. Die obligatorische Berücksichtigung des Alters ist – insbe-sondere unter europarechtlichen Gesichtspunkten – in jün-gerer Zeit verstärkt in Kritik geraten. Ältere Arbeitnehmer werden durch die Kriterien überproportional begünstigt, sind diese doch regelmäßig auch die Arbeitnehmer, die über eine längere Betriebszugehörigkeit verfügen. Da also die längere Betriebszugehörigkeit die älteren Arbeitnehmer be-reits regelmäßig schützt, mag erwogen werden, das Alter als eigenständiges Kriterium der Sozialauswahl zu strei-chen und hierfür eine obligatorisch stärkere Gewichtung der Unterhaltskriterien durch das Gesetz vorzusehen. Jün-gere Arbeitnehmer in Zeiten der Familiengründung, die sonst oftmals in der Sozialauswahl als die weniger Schutz-bedürftigen herausfallen, würden hierdurch verstärkt ge-schützt. Die stärkere Sicherung der beruflichen Perspektive wird zur finanziellen Absicherung der Familie beitragen und damit auch die Entscheidung für die Familie erleichtern.

Die heutige Interpretation durch die Gerichte erscheint demgegenüber unausgewogen. Beleg hierfür ist ein Urteil des LArbG Köln.19 Hierbei ging es um die soziale Rechtmä-ßigkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Der Kündi-gungsschutzklage des betroffenen Arbeitnehmers wurde stattgegeben, weil der Arbeitgeber im Rahmen der nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotenen Sozialauswahl das Lebensalter des Arbeitnehmers nicht hinreichend berücksichtigt hatte. Das LArbG Köln hatte die Frage zu entscheiden, welchem von zwei vergleichbaren Arbeitnehmern bei Wegfall eines Arbeitsplatzes unter sozialen Gesichtspunkten gekündigt werden kann. Im konkreten Fall konkurrierten innerhalb der Sozialauswahl zwei etwa gleich lang beschäftigte verheira-tete Führungskräfte in der Metallverarbeitung, von denen der eine 35 Jahre alt war und zwei Kinder hatte, der andere 53 Jahre alt und kinderlos. Das Gericht entschied, dass die Kündigung des älteren Arbeitnehmers unwirksam war, weil

16 Broschüre „Familienbewusste Arbeitszeiten“ des BMFSFJ, S. 5, abruf-bar unter www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Familienbewusste-Arbeitszeiten-Flyer,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf.

17 Seyda/Settes, IW-Trends 2/2010, 12.18 Im Folgenden – wie auch einige Passagen im vorangegangen Text –

wörtlich übernommen, soweit der Verfasser dieses Buchs auch Verfas-ser des Texts des Familienberichts war.

19 LArbG Köln, Urt. v. 18.02.2011 - 4 Sa 1122/10.

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der jüngere Arbeitnehmer im Gegensatz zum älteren besse-re Chancen hatte, alsbald eine neue Arbeit zu finden, so-dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die Unterhaltspflichten für seine Kinder nicht beeinträchtigt werden würden. Die Entscheidung ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie we-nig familiäre Belange von Arbeitnehmern in der Rechtspre-chung Berücksichtigung finden. Sie stellt ab auf die Progno-se, dass der jüngere Arbeitnehmer leicht einen neuen Arbeitsplatz finden wird. Diese Prognose kann sich als falsch herausstellen. Jüngere Arbeitnehmer, insbesondere solche mit schulpflichtigen Kindern, sind hinsichtlich der Wahl ihres Arbeitsortes häufig weniger flexibel und können örtlich weiter entfernte Stellen daher regelmäßig nicht an-nehmen, wenn sie hierfür den Wohnort wechseln müssen. Dies zeigt, dass eine stärkere Berücksichtigung der Unter-haltsverpflichtungen im Rahmen der Sozialauswahl gebo-ten ist. Umso wohltuender die Argumentation einer ande-ren Kammer des LArbG Köln20 nur wenige Zeit später: „Es mag dahinstehen, ob die Beklagte dem Alter und der Be-triebszugehörigkeit gegenüber den Unterhaltspflichten einen generellen Vorrang eingeräumt hat. Im Vergleich zu der ‚nur‘ drei Jahre länger beschäftigten Kollegin K wiegen die drei Unterhaltspflichten des Klägers jedenfalls deutlich schwerer, so dass die Berücksichtigung der Sozialkriterien insgesamt nicht mehr als ausreichend bezeichnet werden kann. […] Die besondere Schutzbedürftigkeit junger Fami-lien wird auch im 8. Familienbericht der Bundesregierung (BT-Drucks. 17/9000) betont, der u.a. eine stärkere Berück-sichtigung der Unterhaltspflichten bei der Sozialauswahl fordert. Dabei wird kritisiert, dass ältere Arbeitnehmer durch das Abstellen auf Betriebszugehörigkeit und Alter überproportional begünstigt würden. Auch dieser Aspekt muss bei der Abwägung der Sozialkriterien beachtet wer-den.“ Diese – ganz und gar richtige – Interpretation könnte gesetzgeberisch verfestigt werden.21

Obligatorische Berücksichtigung der Unterhaltsverpflich-tungen in Sozialplänen: Eine gesetzgeberische Maßnahme mit ähnlicher Stoßrichtung wäre es, für Sozialpläne eine ob-ligatorische Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtun-gen vorzusehen. Sozialpläne nach dem BetrVG sind dazu gedacht, die Nachteile, die mit betrieblichen Änderungen verbunden sind, insbesondere Entlassungen, sozial abzufe-dern. Sie sind obligatorisch bei Betriebsänderungen in be-triebsratsrepräsentierten Betrieben mit mehr als 20 Arbeit-nehmern (§ 111 Satz 1 BetrVG). Die Praxis der Sozialpläne hat gezeigt, dass hier oftmals sehr stark auf Betriebszuge-hörigkeit und Alter Rücksicht genommen wird, nicht aber auf Unterhaltsverpflichtungen der Arbeitnehmer.

Zentrale Aufgabe eines Sozialplans ist es, die sich aus einer Betriebsänderung entstehenden wirtschaftlichen Nachteile zumindest abzumildern.22 Der Verlust des Arbeitsplatzes

soll und kann aber nicht vollständig entschädigt werden, es soll aber die Zeit bis zu einer neuen Beschäftigung sozial überbrückt werden.23 Wichtigstes praktisches Element ist hierbei die Gewährung von Abfindungen. Klar wird damit aber, dass ein generalisierender Maßstab hierfür nicht prak-tikabel ist, um individuelle Härten auszugleichen. Da aber auch eine rein individuelle Beurteilung nicht möglich ist, wurden für die Abfindung pauschalisierende Maßstäbe an-hand von Kriterien wie Alter, Betriebszugehörigkeit, bisheri-ges Arbeitsentgelt, Familienstand etc., entwickelt. Ziel war es, einen möglichst gerechten Ausgleich der sozialen Inte-ressen zu schaffen. Dies wurde prinzipiell auch vom BAG für zulässig erklärt.24 Zu diesen Kriterien kann und muss auch die mögliche Unterhaltsverpflichtung gehören,25 denn damit verbunden ist zumindest die Prognose einer er-schwerten Wiedereingliederung, sowie die Bedeutung des Arbeitsplatzes. Möglich bleibt zwar auch eine rein individu-elle Festlegung26 – die praktische Bedeutung ist aus orga-nisatorischen Gründen aber gering.

Welche Bedeutung die Unterhaltsverpflichtung bei der Ge-währung von Sozialplanabfindungen in der Praxis hat, ist bislang empirisch kaum belegt. Beispiele für Formulierun-gen zur Berechnung von Abfindungen werden sehr an-schaulich von Temming27 und Kleinebrink28 gegeben. Hier zeigt sich bereits die überragende Bedeutung der Berück-sichtigung des Lebensalters für die Abfindungshöhe, das in den besprochenen Fallkonstellationen stets das maßgebli-che Kriterium ist. Unterhaltsverpflichtungen werden nur im Rahmen eines Pauschalbetrags berücksichtigt. Bei den For-meln zur Berechnung der Abfindung hat die Unterhaltsver-pflichtung damit nur eine sehr untergeordnete Bedeu-tung.29 Bestätigt wird dies auch bei einem weiteren Blick in die relevante juristische Literatur. Problematisiert wird hier insbesondere die Berücksichtigung des Alters bei Gestal-

20 LArbG Köln, Urt. v. 09.01.2014 - 6 Sa 533/13 unter Bezugnahme auf den 8. Familienbericht.

21 Das BAG hat sie in der Revision nicht infrage gestellt: BAG, Urt. v. 29.01.2015 - 2 AZR 164/14.

22 Vgl. nur: Oetker in: GK, BetrVG, §§ 112, 122a BetrVG Rn. 126; siehe auch die Definition in § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG.

23 BAG, Urt. v. 15.01.1991 - 1 AZR 80/90; BAG, Urt. v. 09.11.1994 - 10 AZR 281/94.

24 BAG, Urt. v. 05.10.2000 - 1 AZR 48/00; BAG, Urt. v. 14.08.2001 - 1 AZR 760/00; BAG, Beschl. v. 24.08.2004 - 1 ABR 23/03.

25 BAG, Urt. v. 12.11.2002 - 1 AZR 58/02.26 BAG, Urt. v. 12.11.2002 - 1 AZR 58/02.27 Temming, RdA 2008, 205, 211 ff.28 Kleinebrink, ArbRB 2004, 254.29 Vgl. hierzu auch die Hinweise der Arbeitnehmerkammer Bremen:

www.arbeitnehmerkammer.de/mitbestimmung/haeufig-gestellte-fra-gen/sozialplan-betriebsaenderung/betriebsaenderung-interessenaus-gleich-sozialplan.html#482.

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tung von Sozialplänen nach § 112 BetrVG. Die Unterhalts-pflicht wird zwar auch erwähnt, hat aber nur eine unterge-ordnete Bedeutung.30 Auch aus entsprechenden Urteilen zur Abfindung bei Sozialplänen ergibt sich eine nur geringe Bedeutung der Unterhaltsansprüche; bei der Formel zur Er-mittlung der Abfindung werden sie üblicherweise nicht be-rücksichtigt.31 Jedenfalls werden die Unterhaltsansprüche nicht in der Berechnung als solcher verwandt, sondern nur als meist verhältnismäßig geringer Pauschalbetrag berück-sichtigt.32 Nur sehr vereinzelt wird ein Punkteschema (ver-gleichbar der Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündi-gung) herangezogen.33 Die nur sehr geringe Verbreitung dieser Berechnungsform resultiert wohl auch aus der deut-lich verringerten Praktikabilität.34 Bereits mit dieser – kei-neswegs abschließenden Betrachtung – bestätigt sich der Befund: Die Berücksichtigung von Unterhaltspflichten bei der Berechnung von Abfindungen im Rahmen von Sozial-plänen ist bislang nicht genereller Art. Vielmehr sind und bleiben Alter und Betriebszugehörigkeit die bestimmenden Kriterien. Wenn Unterhaltspflichten beachtet werden, dann zumeist nur in Form eines verhältnismäßig geringen Sockel-betrages; nur äußerst selten werden Punkteschemata an-gewandt, bei denen Unterhaltspflichten eine gehobene Be-deutung zugewiesen wird. Dies hat auch eine betriebswirt-schaftliche Logik: Der Arbeitgeber, der ältere Arbeitnehmer stärker begünstigt, kann dies als ein Instrument zur Verjün-gung seiner Belegschaft nutzen. Je höher die Anreize in So-zialplänen sind, den Betrieb mit Abfindungen zu verlassen, desto eher werden sich dann insbesondere Ältere für die-sen Schritt entscheiden. Dem nun könnte entgegengewirkt werden durch eine Ergänzung des § 112 Abs. 5 BetrVG. Zu den bislang von der Einigungsstelle zwingend zu berück-sichtigenden Kriterien und Grundsätzen sollte auch die fa-miliäre Lage des Arbeitnehmers gehören.

Insbesondere aber zur Minderung der Konflikte zwischen Arbeitszeit und Zeit für Familienverantwortung können ge-setzgeberische Maßnahmen erwogen werden, Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern eine größere Arbeitszeitsou-veränität zu geben. Die Bandbreite gesetzgeberischer Regelungen ist hier groß. Möglich erscheint insbesondere auch eine Neuausrichtung des TzBfG. Hierin ist das Recht des Arbeitnehmers auf Teilzeit normiert. Der Arbeitnehmer bekommt ein einseitiges Recht zur Vertragsänderung. Die-ses zivilrechtlich recht weitgehende Eingriffsrecht in den bestehenden Vertrag wurde bei seiner Schaffung insbeson-dere arbeitsmarktpolitisch begründet, in der Hoffnung, dass die reduzierte Arbeitszeit durch Neueinstellung kom-pensiert wird. Heute zeigt sich in der Praxis, dass dieses Recht insbesondere von Eltern – insbesondere Müttern – genutzt wird, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu realisieren. Im Koalitionsvertrag 2013 hat man sich darauf geeinigt, ein Recht auf Rückkehr in die Vollzeit

zu schaffen.35 Im TzBfG sollte künftig geregelt werden, dass Menschen das Recht haben, Teilzeitarbeit befristet zu vereinbaren, wenn sie sich um Kinder oder pflegebedürfti-ge Familienangehörige kümmern. Sie sollen einen Rechts-anspruch darauf bekommen, nach einer gewissen Zeit wie-der Vollzeit zu arbeiten.

Daraus ist nun nichts geworden. Der letzte Koalitionsaus-schuss hat das Vorhaben beerdigt. Vielleicht, weil man zu sportlich dachte. Denn nicht im Gesetzesentwurf des Minis-teriums enthalten war eine Begrenzung auf gesamtgesell-schaftlich wertvolle Motive der Reduzierung (Pflege, Erzie-hung), wie sie im Koalitionsvertrag zumindest anklingt. Ungleiches wird gleich behandelt. Wer seine Mutter pflegen will, wird genauso gestellt, wie der, der sein Golf-Handi- cap verbessern will. Hierfür einen solchen weitgehenden Eingriffsvorbehalt in den Vertrag zugunsten des Arbeitneh-mers vorzusehen, ist nicht gerechtfertigt. Pacta sunt ser-vanda – und wo das nicht der Fall sein soll, braucht es dafür hinreichend gewichtige Gründe. Nicht im Koalitionsvertrag enthalten war zudem der völlige Verzicht auf eine Mindest-länge der Reduzierung und ein Mindestausmaß (z.B. min-destens 25 %, mindestens ein Jahr lang). Eben solch eine Grenze könnte Missbrauch vorbeugen und die Praxis ent-lasten. Bei einem nächsten Anlauf sollte hier klarer fokus-siert werden. Prüfet alles und behaltet das Gute. Wer mit Augenmaß und Sachverstand vorgeht, kann daraus eine gute Sache machen.

30 Siehe hierzu nur exemplarisch die führenden Kommentare zum BetrVG: Fitting, BetrVG, § 112 Rn. 125; Löwisch/Kaiser, BetrVG, § 112 Rn. 35; Kania in: ErfK, BetrVG, § 112a Rn. 27; Hohenstatt/Willemsen in: Henss-ler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 112 BetrVG Rn. 29; Richardi/Annuß, BetrVG, § 112 Rn. 91; Däubler in: Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, BetrVG, §§ 112, 112a Rn. 94 ff.

31 Vgl. hierzu nur die Fallgestaltungen in jüngster Zeit: LArbG Chemnitz, Urt. v. 18.09.2009 - 3 Sa 640/08; BAG, Urt. v. 21.07.2009 - 1 AZR 899/08; BAG, Urt. v. 21.07.2009 - 1 AZR 566/08; LArbG Bremen, Urt. v. 22.01.2009 - 3 Sa 153/08; BAG, Urt. v. 11.11.2008 - 1 AZR 475/07.

32 Vgl. 6.500 €: LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.09.2009 - 10 Sa 2421/08; 1.000 €: BAG, Urt. v. 20.01.2009 - 1 AZR 740/07 - AP Nr. 198 zu § 112 BetrVG 1972; 3.000 €: LArbG Frankfurt, Urt. v. 27.11.2007 - 4 Sa 1014/07; LArbG Köln, Urt. v. 07.11.2007 - 3 Sa 203/07; 4.000 €: LArbG Hannover, Urt. v. 20.02.2007 - 9 Sa 1373/06.

33 LArbG Hamm, Urt. v. 18.12.2007 - 14 Sa 1499/07.34 Schweibert in: Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturie-

rung und Übertragung von Unternehmen, Teil C, Rn. 243.35 Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode „Deutschlands Zukunft ge-

stalten“ zwischen CDU, CSU und SPD, S. 50: „Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich zum Beispiel wegen Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen zu einer zeitlich befristeten Teilzeitbeschäfti-gung entschieden haben, wollen wir sicherstellen, dass sie wieder zur früheren Arbeitszeit zurückkehren können. Dazu werden wir das Teil-zeitrecht weiterentwickeln und einen Anspruch auf befristete Teilzeit-arbeit schaffen (Rückkehrrecht).“

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Glücksspielgewinne und Arbeitslosengeld IIBSG, Urt. v. 15.06.2016 - B 4 AS 41/15 R

RiSG Dr. Franz Guttenberger, LL.M. (London)

A. Problemstellung

Mit der Ausübung von Glücksspiel verbundene Rechtsfra-gen haben die Gerichtshöfe des Bundes zuletzt im verstärk-ten Maße erreicht.1 Auch der 4. Senat des BSG blieb von einer hierauf bezogenen Rechtsstreitigkeit nicht ausge-nommen. Dabei mag es auf den ersten Blick erstaunen, dass die mit den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs ver-folgten Aufgaben und Ziele auch von der Thematik des Glücksspiels beeinflusst werden können.

Für den Durchschnittsbürger scheint es nicht recht nachvoll-ziehbar, dass selbst Menschen, die sich in einer finanziellen Notlage befinden und hilfebedürftig sind, vom Glücksspiel, bei dem nachgewiesenerweise die Gewinne hinter den Ver-lusten zurückbleiben, nicht „die Finger lassen“ können. Doch gibt es in Deutschland unabhängig vom jeweiligen sozialen Status eine halbe Million pathologische Glücksspieler und rund 800.000 problematische Spieler. Eine besonders große Suchtgefahr lösen Geldspielautomaten aus („Suchtrisiko Nr. 1“). Dabei hat Glücksspielsucht für Betroffene und deren Familien oft dramatische psychische und materielle Folgen.2 Für Bezieher von Arbeitslosengeld II stellt sich die Frage nach dem Fortbestehen bzw. dem Umfang der Hilfebedürftigkeit, wenn ausnahmsweise doch Gewinne erzielt werden.

Die hier besprochene Entscheidung des BSG ist in diesem Le-bensumfeld angesiedelt. Der 1976 geborene Kläger und seine mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebende Familie bezog seit November 2005 laufende Leistungen zur Sicherung des Le-bensunterhalts nach dem SGB II. Bei einer Überprüfung der zurückliegenden Bewilligungszeiträume durch den SGB II-Leistungsträger aus Anlass eines Folgeantrags für die Zeit ab Mai 2008 konnten Einzahlungen auf das Konto des Klägers in beträchtlicher Höhe festgestellt werden. Er erklärte hierzu, dass er regelmäßig spiele, hierfür von seinem Konto Geld ab-hebe und Gewinne immer wieder einbezahle. Der Umstand, dass die abgehobenen Beträge die eingezahlten übersteigen, belege, dass er nur Verluste gemacht hat. Im weiteren Verfah-ren ließ der Kläger vortragen, dass er spielsüchtig ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

I. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall wendet sich der Kläger gegen einen Aufhebungs- und Erstattungs-

bescheid des Beklagten betreffend die Bewilligungszeiträu-me November 2005 bis Juni 2006 und September 2006 bis April 2008. Die Bewilligungsbescheide für die genannten Zeiträume seien rechtswidrig und würden gem. § 45 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen; die rechtsgrundlos erbrachten Leistungen seien zu erstatten. Die aus den Kontoauszügen ersichtlichen Bareinzahlungen seien als Einkommen i.S.v. § 11 SGB II zu berücksichtigen. Auf den Widerspruch des Klägers reduzierte der Beklagte den Erstattungsbetrag geringfügig auf 10.482,72 €, da bei Erteilung des angefochtenen Bescheides nicht berücksich-tigt worden sei, dass das von dem Kläger erzielte Einkom-men auf alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu vertei-len ist. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid enthalte im Tenor zudem eine offensichtliche Unrichtigkeit, soweit der erste Rückforderungszeitraum mit dem 30.06.2006 en-det; aus der Begründung des Bescheides sei ersichtlich, dass dieser Zeitraum sich auch auf den Monat Juli 2006 er-streckt.

Mir der hiergegen erhobenen Klage macht der Kläger gel-tend, dass er keine zusätzlichen Gewinne und damit Ein-künfte erzielt hat. Dies folge schon daraus, dass er etwa in der Zeit vom 23.02. bis 20.03.2008 6.910 € an Geldautoma-ten eingezahlt, im gleichen Zeitraum an Geldautomaten und durch EC-Kartenverfügungen aber 7.630 € abgehoben hat. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. U.a. aufgrund einer Neuberechnung abweichender Bedarfe hat das Lan-dessozialgericht3 auf die Berufung des Klägers den Erstat-tungsbetrag unter Einbeziehung des Monats Juli 2006 auf 9.678,30 € reduziert. Als notwendige, mit der Einkommens-erzielung verbundene Ausgaben könnten nur die unmittel-bar zum Spielgewinn führenden Spieleinsätze abgesetzt werden; solche seien jedoch im konkreten Fall nicht fest-stellbar. Spieleinsätze, die nicht zum Gewinn führen, seien nicht vom Einkommen vor dessen Berücksichtigung bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunter-halts abzugsfähig. Da die tatsächlich erzielten Gewinne nur zu einem Bruchteil durch Kontoeinzahlungen dokumentiert sind, scheide auch eine Absetzung sämtlicher vom Konto ab-gehobener Beträge aus.

1 Zur Vergabe von Sportwettkonzessionen vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.02.2016 - 1 BvR 3078/15; zum staatlichen Sportwettenmonopol und Glücksspielstaatsvertrag vgl. zuletzt BVerwG, Urt. v. 15.06.2016 - 8 C 5.15; zu Amtshaftungsansprüchen wegen Untersagung der Ver-mittlung von Sportwetten vgl. BGH, Urt. v. 16.04.2015 - III ZR 204/13; zur Umsatzbesteuerung von Glücksspielen vgl. BFH, Beschl. v. 14.12.2015 - XI B 113/14; zur Verdachtskündigung infolge des Besuchs von Therapiestunden wegen Glücksspiels vgl. BAG, Urt. v. 12.02.2015 - 6 AZR 845/13.

2 BT-Drs. 17/6338, S. 1 f. – vgl. auch die nachfolgende öffentliche Anhö-rung des Ausschusses für Gesundheit, Protokoll Nr. 17/67.

3 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 19.03.2015 - L 15 AS 301/11.

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II. Das BSG hat zuerst mit Blick auf das Verwaltungsverfah-ren die Entscheidung des Landessozialgerichts korrigiert, soweit in die Erstattungsforderung nach § 50 SGB X auch der Monat Juli 2006 einbezogen worden ist, weil es inso-weit an einer Aufhebung des zugrunde liegenden Bewilli-gungsbescheides nach Maßgabe der §§ 45 ff. SGB X fehlt. Bei der im Verfügungssatz des Aufhebungsbescheides be-stimmten Begrenzung des Aufhebungszeitraums handelt es sich um keine offenbare Unrichtigkeit nach § 38 SGB X im Sinne einer als unschwer erkennbaren Fehlbezeichnung. Denn auch der im Bescheid verfügte Aufhebungszeitraum bis einschließlich Juni 2006 ist ohne Weiteres denkbar und wird durch weitere Umstände nicht infrage gestellt. Ver-bleibende Unklarheiten gehen zulasten des Beklagten. Das BSG nimmt für die enge Auslegung des § 38 SGB X auf Kommentarliteratur sowie auf die zurückliegende Entschei-dung des BSG4 zur offensichtlichen Unrichtigkeit eines Datums Bezug.

Das BSG sieht sich mangels tatsächlicher Feststellungen des Landessozialgerichts auch nicht in der Lage, über die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheides auf der Grundlage des § 45 SGB X zu befinden. Doch ist ohne die Notwendigkeit der Änderung des Verfügungssatzes ein Austausch der Rechtsgrundlage zulässig. Infrage kommt in-soweit § 48 SGB X, der nur den Einkommenszufluss und den dadurch bedingten Wegfall des Anspruchs verlangt, was nach den Feststellungen des Landessozialgerichts der Fall gewesen ist.

Gewinne aus Glücksspiel sind gem. § 11 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigendes Einkommen; die Berechnung deren Höhe richtet sich nach § 2b Alg II-V (i.d.F. vom 17.08.2005). Die im Rahmen der Teilnahme am Glücksspiel vergeblich aufgewendeten Spieleinsätze sind nicht von den Spielge-winnen absetzbar. Es handelt sich hierbei nicht um mit der Erzielung des Einkommens verbundene „notwendige Auf-wendungen“. Hierzu rechnen schon nach dem Wortlaut nur solche, die dem Gewinn unmittelbar nutzen, durch den Spielgewinn bedingt sind und im Rahmen einer vernünfti-gen Wirtschaftsführung anfallen. Der in § 11 SGB II konkre-tisierte Nachranggrundsatz, nach dem zur Verfügung ste-hendes Einkommen zunächst zur Bedarfsdeckung zu verwenden ist, gebietet zudem, dass vorhandenes – auch aus Glücksspiel erzieltes – Einkommen zur Lebensunter-haltssicherung und nicht für einen Spieleinsatz verwendet wird, der unwirtschaftlich ist, weil er außer Verhältnis zum Spielgewinn steht. Auch handelt es sich beim Glücksspiel-einsatz um eine bloße Einkommensverwendung, nicht aber um einen Einsatz zur Einkommenserzielung.

Das BSG musste die Rechtssache an das Landessozialge-richt zurückverweisen, weil es ohne Feststellungen zum Zeitpunkt und Höhe der Zuflüsse aus den Glücksspielge-

winnen über den Umfang der Hilfebedürftigkeit nicht ent-scheiden kann. Dabei wird eingeräumt, dass eine weitere Sachaufklärung im wiedereröffneten Berufungsverfahren nur schwierig oder kaum durchführbar sein dürfte, weshalb auch eine Schätzung der Einkünfte in Betracht zu ziehen sein wird. Erst wenn eine derartige mangels geeigneter An-knüpfungstatsachen ausscheidet, kommt eine Beweislast-entscheidung infrage. Sollte die Unaufklärbarkeit maßgeb-lich auf der Verletzung von Mitwirkungspflichten durch den Kläger beruhen und aufgrund dieser Umstände erhebliche Zweifel an dessen Hilfebedürftigkeit bestehen, kann die Be-weislastentscheidung zur Folge haben, dass der Kläger für den streitigen Aufhebungszeitraum durchgehend als nicht hilfebedürftig anzusehen ist (Umkehr der Beweislast). Im Weiteren werden im Rahmen von „Segelanweisungen“ noch mögliche Ergebnisse einer weiteren Sachverhaltsauf-klärung durch das Landessozialgericht und deren rechtliche Zuordnung in den Blick genommen.

C. Kontext der Entscheidung

Zur offenbaren Unrichtigkeit von Verwaltungsakten führt die Entscheidung des BSG dessen ständige Rechtsprechung fort, wonach Rechenfehler nur dann ohne Weiteres auch of-fenbar sind, wenn sie nach dem Erkenntnisvermögen eines verständigen Lesers auf den ersten Blick nachvollzogen werden können.5 § 38 SGB X ist dabei bewusst dem § 42 VwVfG nachgebildet,6 wobei auch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte davon ausgeht, dass „den Beteiligten die Unrichtigkeit des Verwaltungsaktes ohne weiteres auf-zufallen hat“, und zwar in dem objektivierten Sinne, dass sich diese jedermann gleichsam aufdrängen muss.7 Die Be-richtigung hat deshalb auch nur Klarstellungsfunktion.8 Eine derartige restriktive Engführung des § 38 SGB X ist ge-boten, um Bestimmungen zur Bestandskraft eines Beschei-des nicht in unkontrollierbarer Weise auszuhebeln.9

Mit dem in der Entscheidung weiter angesprochenen „Aus-tausch der Rechtsgrundlage“ bzw. „Stützen der Entschei-dung auf eine andere Rechtsgrundlage“ (im Sinne eines „Nachschiebens von Gründen“) findet ebenso eine lang-jährige Spruchpraxis des BSG ihre Fortsetzung. Der erken-nende 4. Senat hat auch im umgekehrten Fall, dass eine Be-hörde seine Entscheidung zu Unrecht auf § 48 SGB X stützt, während § 45 SGB X Anwendung findet, als nicht klagebe-gründend erachtet, solange der Verwaltungsakt dadurch

4 BSG, Urt. v. 29.11.2012 - B 14 AS 196/11 R Rn. 18.5 Vgl. BSG, Urt. v. 27.03.1984 - 5a RKn 2/83 m.w.N.6 Vgl. BT-Drs. 8/2034, S. 33 zum Regierungsentwurf des SGB X.7 BVerwG, Beschl. v. 23.10.1985 - 7 B 193/85.8 BSG, Urt. v. 31.05.1990 - 8 RKn 22/88.9 Littmann in: Hauck/Noftz, SGB X, § 38 Rn. 11, Stand 12/2013.

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nicht in seinem Regelungsumfang oder seinem Wesensge-halt verändert bzw. die Rechtsverteidigung des Betroffenen in nicht zulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert wird.10 Auch in diesem Bezug besteht Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte.11

Die Berechnung der Höhe der Einnahmen aus Glücksspie-len richtet sich nach § 4 Satz 1 Alg II-V (bzw. § 2b Alg II-V i.d.F. vom 17.08.2005), der seinerseits auf § 2 Alg II-V ver-weist. Eine Anwendung des § 3 Alg II-V (bzw. § 2a Alg II-V i.d.F. vom 22.08.2005) scheidet aus, da von keiner gewerb-lichen Tätigkeit auszugehen ist;12 dabei stellt das BSG für die Abgrenzung der Einkommensarten auf die Begrifflich-keiten des Steuerrechts ab, dessen hierauf bezogene Be-deutung es bereits in einer früheren Entscheidung13 hervor-gehoben hat. Nach § 11b Abs. 1 Nr. 5 SGB II (bzw. § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB II i.d.F. v. 24.12.2003) sind die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben abzuziehen. Nur das dem Hilfebedürftigen tat-sächlich zur Verfügung stehende Einkommen bestimmt sei-ne Hilfebedürftigkeit; um diese zu ermitteln, sind bei Ein-kommen aus Glücksspielen somit der Zeitpunkt und die Höhe des Zuflusses des Gewinns von Bedeutung, wobei al-lenfalls der jeweilige tatsächliche zum Gewinn führende Spieleinsatz absetzbar ist. Das BSG räumt ein, dass eine diesbezügliche Sachverhaltsaufklärung im Regelfall schei-tern wird und bringt die Möglichkeiten einer Schätzung der Einnahmen (bei Vorliegen geeigneter Anknüpfungstatsa-chen) oder einer Beweislastentscheidung ins Spiel. Ange-sprochen ist damit zum einen die Beweismaßreduzierung des § 287 Abs. 2 ZPO (i.V.m. § 202 SGG) als besondere Form einer gesetzlichen Beweiserleichterung, die abgehend von dem in § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG niedergelegten Vollbeweis als Regelbeweismaß14 Wahrscheinlichkeitserwägungen hinsichtlich der Höhe einer Forderung ausreichen lässt. § 287 ZPO entnimmt dem Anwendungsbereich des § 128 SGG gezielt einzelne Tatbestandsmerkmale, unterwirft sie einer beweisrechtlichen Sonderregelung und verhindert so das Scheitern materiell berechtigter Ansprüche an prozes-sualen Anforderungen. Die Grenze der Reichweite des § 287 ZPO ist dabei dort zu ziehen, wo es um den eigentli-chen Anspruchsgrund geht, nämlich um diejenigen An-spruchsvoraussetzungen, von denen das Gesetz den An-spruch vorbehaltlich seiner Höhe bzw. seines Umfangs abhängig macht. Hier gelten die Anforderungen des Vollbe-weises.15 Somit wird vorliegend allenfalls eine Schätzung der Höhe der Einnahmen aus dem Glücksspiel in Betracht kommen, während der Zufluss als solcher sowie dessen Zeitpunkt (monatliche Betrachtungsweise) im Vollbeweis zu belegen sind. Zum anderen ist der Vorgang richterlicher Schadensschätzung ein Teil der Beweiswürdigung und da-mit von der Frage nach der Beweislast, deren Umkehr der 4. Senat in Erwägung zieht, streng zu trennen. Eine Beweis-

lastumkehr kommt nicht schon aus allgemeinen Gerechtig-keits- oder Billigkeitserwägungen im Einzelfall in Betracht, sondern setzt stets eine generelle Regelbildung voraus. Da sich mit ihr ein Eingriff in Wertungen des materiellen Rechts verbindet und es sich somit methodisch um ein Problem der richterlichen Rechtsfortbildung handelt, kann sie nur in we-nigen, genau umschriebenen Fallgruppen Platz greifen.16 Die insoweit nicht einheitliche17 Rechtsprechung des BSG geht in jüngerer Zeit gehäuft vom Vorliegen eines derarti-gen Falles aus, wenn in der persönlichen Sphäre oder in der Verantwortungssphäre eines Betroffenen wurzelnde Vor-gänge nicht aufklärbar sind und die zeitnahe Aufklärung des Sachverhalts durch unterlassene Angaben oder unzu-reichende Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung er-schwert oder verhindert wird, letztlich also eine „besonde-re Beweisnähe“ zu einem Beteiligten besteht.18 Ob dieser weitgehenden Rechtsprechung in ihrer Allgemeinheit zu folgen ist, bedürfte einer genaueren Untersuchung.

Ggf. ermittelte Glücksspielgewinne sind als „einmalige Ein-nahmen“ auf einen angemessenen Zeitraum aufzuteilen und monatlich mit einem Teilbetrag anzusetzen. Zur Ab-grenzung zu laufenden Einnahmen knüpft das BSG an sei-ne gefestigte Judikatur an, wonach einmalige Einnahmen solche sind, bei denen sich das Geschehen in einer einzigen Leistung erschöpft, während laufende Einnahmen auf dem-selben Rechtsgrund beruhen und regelmäßig erbracht wer-den.19 Für den Fall wiederholt zufließender Spielgewinne gilt nichts anderes; insoweit stellt das BSG in Präzisierung seiner Rechtsprechung allein auf den jeweiligen Rechts-grund der Einnahme ab mit der Konsequenz, dass Glücks-spielgewinne auch dann als einmalige Einnahmen anzuse-hen sind, wenn sie bei fortgesetztem Spiel häufig auftreten.

10 BSG, Urt. v. 21.06.2011 - B 4 AS 22/10 R Rn. 26 m.w.N.11 BVerwG, Urt. v. 27.10.1993 - 8 C 33/92 Rn. 18.12 Zur steuerlichen Abgrenzung von reinem Glücksspiel und professio-

nellem Spiel (Turnierpoker als Gewerbebetrieb) BFH, Urt. v. 16.09.2015 - X R 43/12 Rn. 13 ff.

13 BSG, Urt. v. 22.08.2013 - B 14 AS 1/13 R Rn. 20.14 Vgl. Pawlak in: Hennig, SGG, § 128 Rn. 49, Stand Mai 1997.15 Vgl. auch BGH, Urt. v. 17.12.2014 - VIII ZR 88/13 Rn. 45; BGH, Urt. v.

24.02.2005 - VII ZR 141/03 Rn. 15; BGH, Urt. v. 04.11.2003 - VI ZR 28/03 Rn. 15; zum Stand der Diskussion in der Literatur, vgl. Prütting in: MünchKomm, ZPO, 5. Aufl. 2016, § 287 Rn. 7 ff.

16 Prütting in: MünchKomm, ZPO, 5. Aufl. 2016, § 286 Rn. 123 ff.; Foers-te in: Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 286 Rn. 37.

17 Vgl. Bolay in: Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl. 2017, § 128 Rn. 17 m.w.N.18 Vgl. BSG, Urt. v. 10.09.2013 - B 4 AS 89/12 R Rn. 32; BSG, Urt. v.

08.09.2010 - B 11 AL 4/09 R Rn. 24; BSG, Urt. v. 24.05.2006 - B 11a AL 7/05 R Rn. 33; anders etwa BSG, Beschl. v. 04.02.1998 - B 2 U 304/97 B Rn. 4 f.

19 Vgl. BSG, Urt. v. 24.04.2015 - B 4 AS 32/14 R.

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D. Bewertung und Auswirkungen für die Praxis

Der rechtlichen Einordnung von Glücksspielgewinnen als einmalige Einnahmen, die nach § 4 Alg II-V zu berechnen und auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Abzug vergeblicher Spieleinsätze anzurechnen sind, ist zuzustimmen. Gleiches gilt für die Ausführungen zur of-fensichtlichen Unrichtigkeit und zum Austausch der Rechts-grundlage. Im Übrigen versucht das BSG, für eine sehr sin-guläre Fallgestaltung den Jobcentern Hinweise zur konkre-ten Einkommensermittlung nach § 11 SGB II an die Hand zu geben. Doch scheint es zweifelhaft, ob Ermittlungen über zu berücksichtigendes Einkommen aus Glücksspielgewin-nen generell zu einem Erfolg führen können. Nicht nur das Landessozialgericht dürfte angesichts einer zeitlichen Dis-tanz von ca. zehn Jahren zu den zu hinterfragenden Ereig-nissen mit weiteren Ermittlungen zur (durch Kontoeinzah-lungen auch nicht vollständig dokumentierten) Höhe und dem Zeitpunkt des Zuflusses der Spielgewinne scheitern. Auch ein Jobcenter wird sich bei Bearbeitung eines Leis-tungsantrags – obwohl dann mit einem deutlich näheren zeitlichen Bezug – auf keine gesicherten Nachweise des Zu-flusses von Einkommen eines Hilfebedürftigen aus Glücks-spielen stützen können, wenn diese – was der Regelfall sein dürfte – ihre Gewinne nicht dokumentieren oder zu-mindest durchgehend auf ein Bankkonto einzahlen. Letzte-res dürfte spätestens dann ausscheiden, wenn die vorlie-gende Entscheidung im „Glücksspielmilieu“ bekannt ge-worden ist. Gewinne aus Glücksspielen haben einen sehr volatilen Charakter („wie gewonnen so zerronnen“) und werden vom Spieler Dritten oft nicht mitgeteilt. Zu einem möglichen Beweisnotstand und damit auch zu einer mög-lichen Beweislastumkehr wird es gar nicht erst kommen, da ein Jobcenter mangels belastbarer Hinweise schon von einem aufzuklärenden Sachverhalt nicht ausgehen kann.

Verwaltungsrecht

Bindungswirkung bundesverfassungsge-richtlicher Entscheidungen und EMRKBVerwG, Urt. v. 21.09.2016 - 6 C 2/15

Prof. Dr. Klaus F. Gärditz

A. Problemstellung und Kontext der Entscheidung

Das Urteil des BVerwG betrifft die verfassungsprozessualen Folgeprobleme eines langjährigen staatskirchenrechtlichen Rechtsstreits. Ein Ehepaar hatte eine als Körperschaft des

öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 WRV i.V.m. Art. 140 GG) verfasste jüdische Gemeinde verklagt und die Feststellung begehrt, zu keinem relevanten Zeitpunkt zu Gemeindemit-gliedern geworden zu sein. Der Kern des Streits betraf hier-bei die Frage, welche Voraussetzungen an eine melderecht-liche Erklärung zur Glaubenszugehörigkeit zu stellen sind, damit eine Person nach staatlichem Recht als Mitglied einer Religionsgemeinschaft anzusehen ist. Anders als die Vorinstanzen1 hatte das BVerwG zunächst der Klage statt-gegeben und festgestellt, dass Klägerin und Kläger nie Mit-glieder in der beklagten Gemeinde waren.2 Das BVerfG hat-te das Urteil jedoch durch Kammerbeschluss aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das BVerwG zurückver-wiesen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG), weil es die Re-ligionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 – 2 GG) und das Selbstbestim-mungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG) der beklagten Gemeinde mit Blick auf deren Definitionsauto-nomie über den Mitgliedschaftsstatus als verletzt erachte-te.3 Beanstandet wurden nicht die vom BVerwG zugrunde gelegten verfassungsrechtlichen Maßstäbe, sondern deren Anwendung auf den konkreten Fall, nämlich wie die gegen-über der Meldebehörde abgegebenen Erklärungen recht-lich zu würdigen sind. Für das BVerwG, das nunmehr ab-schließend über den Rechtsstreit zu entscheiden hatte, stellte sich die Frage, wie weit die Bindungswirkung der Kammerentscheidung des BVerfG reicht.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das BVerwG hält sich im Ergebnis nach § 31 Abs. 1 BVerfGG für daran gehindert, der Klage erneut – nunmehr wegen einer Verletzung von Art. 9 EMRK – stattzugeben. Die Bin-dung an die bundesverfassungsgerichtliche Feststellung der Grundrechtsverletzung nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bewirke im Fall der Zurückverweisung der Sache an das Fachgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG, dass dieses die fest-gestellte Verfassungsverletzung seiner erneuten Entschei-dung jedenfalls bei unveränderter Sach- und Rechtslage im Ergebnis zugrunde legen müsse. Das Fachgericht dürfe da-her die vom BVerfG als grundgesetzwidrig aufgehobene Entscheidung nicht für grundgesetzkonform erklären. Diese Bindung an den Tenor der Entscheidung des BVerfG beste-he unabhängig vom Inhalt der tragenden Gründe. Sie hin-dere das Fachgericht daran, den Einwendungen des beim BVerfG unterlegenen Beteiligten gegen das Vorliegen der festgestellten Grundrechtsverletzung Rechnung zu tragen.

1 VG Frankfurt, Urt. v. 20.09.2005 - 11 E 1452/04; VGH Kassel, Urt. v. 19.05.2009 - 10 A 2079/07.

2 BVerwG, Urt. v. 23.09.2010 - 7 C 22/09.3 BVerfG, Beschl. v. 17.12.2014 - 2 BvR 278/11.4 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04.

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Die Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG gelte zwar nicht für Fragen, die Auslegung und Anwendung der EMRK be-treffen, da diese innerstaatlich nach ständiger Rechtspre-chung nur den Rang einfachen Gesetzesrechts habe. Ob-gleich das BVerfG die EMRK bei der Auslegung der parallelen Grundrechte des GG berücksichtige, sei daher die EMRK auch kein Prüfungsmaßstab im Verfassungsbe-schwerdeverfahren. Indes sei der Senat, der substantiiert Zweifel an der Vereinbarkeit der vom BVerfG vorgenomme-nen Auslegung mit Art. 9 EMRK artikuliert, durch § 31 Abs. 1 BVerfGG daran gehindert, seine Erkenntnisse zur Be-kenntnisfreiheit nach Art. 9 EMRK in die Auslegung der Art. 4 Abs. 1 – 2, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV ein-fließen zu lassen. Abweichendes ergebe sich auch nicht aus Art. 10 GRCh. Denn das deutsche Staatskirchenrecht – so wird zutreffend konstatiert – liege grds. außerhalb des An-wendungsbereichs des Unionsrechts, sodass es nach Art. 51 Abs. 2 GRCh an einem hinreichenden Anknüpfungspunkt für die Anwendung der Charta fehle.

C. Auswirkungen für die Praxis

Für die Praxis bedeutet dies einmal mehr, dass mögliche Einwirkungen überstaatlichen Rechts auf die Grundrechts-interpretation, die in einer immer feingliedriger verzahnten Grundrechtsarchitektur unübersehbar zunehmen, von den Parteien im Prozess vor den Fachgerichten und nachfolgend im Verfassungsbeschwerdeverfahren selbst zu thematisie-ren sind, um eine umfassende Aufarbeitung durch das BVerfG zu erreichen. Anderenfalls kann es – wie offenbar vorliegend – dazu kommen, dass eine Frage verfassungs-rechtlich verbindlich bereits entschieden ist, die Einflüsse des internationalen Grundrechtsschutzes in sich über-schneidenden Interpretationsräumen aber noch nicht hin-reichend diskutiert wurden. Auch wenn das BVerfG die Konkordanz des deutschen Grundrechtsschutzes mit der EMRK von Amts wegen sicherstellt, weil es sich um eine qua Interpretation zu beantwortende Rechtsfrage handelt,4 ist die behauptete Beschwer, die von einer unzureichenden Berücksichtigung – insbesondere der EMRK – bei der Aus-legung und Anwendung der relevanten Grundrechte ausge-hen soll, von den Parteien – wohl bereits kraft materieller Subsidiarität5 – vor den Fachgerichten substantiiert darzu-legen.6 Menschenrechtsfreundliche Grundrechtsinterpreta-tion wird so prozessualisiert.

Keine Bedeutung hat die vorliegende Entscheidung hin-gegen für Fälle, in denen nach Art. 51 Abs. 1 GRCh europäi-sche Grundrechte zur Anwendung kommen. Der insoweit greifende Vorrang des Unionsrechts ist nämlich von allen Fachgerichten von Amts wegen sowie ohne Bindung an einen etwaigen verfassungsgerichtlichen Entscheidungs-vorrang durchzusetzen.7 Eine Auslegung der §§ 31, 95

BVerfGG, die ein Fachgericht an der Durchsetzung uniona-ler Grundrechtsstandards hinderte, würde den Vorrang des Unionsrechts verletzten und wäre daher – jedenfalls unter-halb der Schwelle des grundrechtlichen Identitätsvorbe-halts8 – fehlerhaft.

D. Bewertung

I. Rechtsgrundlage der Bindung

Das BVerwG changiert bei der Herleitung der Bindungswir-kung zwischen § 31 Abs. 1 einerseits und § 95 BVerfGG an-dererseits. Auch Entscheidungen des BVerfG entfalten – von der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zu unterscheidende9 – materielle Rechtskraft.10 Die Rechts-kraft von Urteilen und Beschlüssen wird zwar im BVerfGG nicht näher ausgeformt; die Rechtskraftfähigkeit ergibt sich aber verfassungsimmanent aus der Funktionszuordnung des BVerfG zur rechtsprechenden Gewalt.11 Der konkrete Umfang der Rechtskraft einer Entscheidung über eine Ver-fassungsbeschwerde folgt aus dem Tenor nach § 95 Abs. 1 BVerfGG, der insoweit vom Gericht, an das nach § 95 Abs. 2 BVerfGG zurückverwiesen wurde, zu beachten ist. Wird eine verfassungswidrige Auslegung oder Anwendung des Gesetzes festgestellt, ist der Umfang der sich aus dem Te-nor ergebenden Bindung – vergleichbar einem Beschei-dungsurteil im Rahmen des § 113 Abs. 5 VwGO – ggf. im Lichte der tragenden Gründe auszulegen. Bereits die mate-rielle Rechtskraft der – weil unanfechtbar: formell rechts-kräftigen – Kammerentscheidung bewirkt also eine Bin-dung des im „Instanzenzug“ untergeordneten Fachgerichts, ohne dass es auf die – ihrerseits auslegungsbedürftige12 – Reichweite der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG überhaupt ankäme. § 31 Abs. 1 BVerfGG wiederum ist eine Bestimmung des Prozessrechts, die die prozessualen Fol-gen von Entscheidungen – stattgebende Kammerentschei-

5 Hierzu m.w.N. Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl. 2015, § 90 Rn. 162.6 Auffällig ist vorliegend jedenfalls, dass die Bedenken, die das BVerwG

nunmehr in Bezug auf Art. 9 EMRK artikuliert, in der ersten Entschei-dung des BVerwG aus dem Jahr 2010 in den Gründen keine Rolle spiel-ten.

7 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.01.2010 - C-555/07 - „Kücükdeveci“ Rn. 52 ff.; EuGH, Urt. v. 22.06.2010 - C-188/10 und C-189/10 - „Melki u. Abdeli” Rn. 53 f.; EuGH, Urt. v. 04.06.2015 - C-5/14 - „Kernkraftwerke Lippe-Ems GmbH“ Rn. 31 ff.

8 Hierzu BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 - 2 BvR 2735/14.9 BVerfG, Beschl. v. 06.10.1987 - 1 BvR 1086/82; vgl. ferner BVerfG, Urt.

v. 22.11.2001 - 2 BvE 6/99; Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl. 2015, § 31 Rn. 28; Vogel in: Starck, BVerfG und GG, Bd. I, 1976, S. 568, 602 f.

10 BVerfG, Urt. v. 22.11.2001 - 2 BvE 6/99; Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl. 2015, § 31 Rn. 13.

11 BVerfG, Urt. v. 22.11.2001 - 2 BvE 6/99.12 Vgl. BVerfG, Urt. v. 26.02.2014 - 2 BvE 2/13.

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dungen mit Blick auf § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG einge-schlossen13 – definiert, hingegen nicht die materielle Richtigkeit einer bestimmten Auslegung absichert.14 Die Bindung wird insoweit akteursbezogen über die Parteien hinaus auf andere Organe des Staates und inhaltlich auf die tragenden Gründe einer Entscheidung erstreckt. Richti-gerweise ergibt sich vor diesem Hintergrund vorliegend die Bindung an die Feststellung des BVerfG bereits aus § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, weil das Gericht, an das zurückver-wiesen wurde, die materiell rechtskräftigen Vorgaben zu beachten hat, die aus dem Tenor des Kammerbeschlusses des BVerfG erwachsen. Auf § 31 Abs. 1 BVerfGG kommt es insoweit nicht mehr an.

II. Inhalt der Bindung

Inhaltlich konnte das BVerwG keine vom vorausgegange-nen Kammerbeschluss abweichende Entscheidung mit der Begründung treffen, die vom BVerfG zugrunde gelegte Auslegung des Art. 4 Abs. 1 – 2 GG sei mit Art. 9 EMRK un-vereinbar. Dies wäre keine – auch von § 95 Abs. 1 BVerfGG nicht generell untersagte – Rechtfertigung des inhaltsglei-chen Prozessergebnisses durch andere Gründe, die nicht formal Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Entschei-dung waren. Denn wenn eine Feststellung der Nichtmit-gliedschaft die Verfassungsgarantien der Religionsfreiheit und des Selbstbestimmungsrechts der jüdischen Gemein-de verletzt, kann ein entsprechender Feststellungsan-spruch auch nicht auf Art. 9 EMRK gestützt werden, weil diese völkervertragsrechtliche Gewährleistung – ungeach-tet interpretatorischer Bemühungen um eine Völkerrechts-freundlichkeit der Grundrechtsinterpretation – normenhie-rarchisch unter dem Grundgesetz steht. Anders gewendet: Das BVerfG hat die möglichen Einflüsse der EMRK auf die Auslegung der anzuwendenden Grundrechte zu berück-sichtigen. Tut das BVerfG dies nicht oder nicht hinrei-chend,15 bleibt ggf. die vorgenommene Verfassungsausle-gung fehlerhaft bzw. perspektivisch unvollständig. Es ist aber nicht Aufgabe der Fachgerichte, das BVerfG zu korri-gieren16 oder zu überprüfen, ob überhaupt die Vorausset-zungen einer Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG vorlagen,17 etwa weil der Einfluss der EMRK auf ein konkretes Grundrecht von einem Senat des BVerfG noch nicht hinreichend ausbuchstabiert ist. Könnte die Bindung nach § 95 Abs. 1 bzw. § 31 Abs. 1 BVerfGG mit dem Argument überwunden werden, das BVerfG habe „falsch“ entschieden, liefe die zur normativen Sicherung der Autorität sowie Direktionskraft des BVerfG18 gesetzlich angeordnete Bindung leer. Es steht allerdings der unterle-genen Seite frei, (erneut) Verfassungsbeschwerde einzule-gen und hierbei die Fehlerhaftigkeit der vorausgegange-nen Kammerentscheidung des BVerfG geltend zu machen. Entsprechende Unsicherheiten mögen dann ggf. (nach-

träglich) Entscheidungsbedarf des zuständigen Senats des BVerfG indizieren.

13 BVerfG, Beschl. v. 05.12.2005 - 2 BvR 1964/05; Burkiczak in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 15a Rn. 7; Detterbeck, Streit-gegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 538; Heusch in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 31 Rn. 52; Klein in: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 1447; Rixen, NVwZ 2000, 1364, 1366 f.; von Ungern-Stern-berg, AöR 138 (2013), 1, 17.

14 Eine solche Wirkung, die ggf. verfassungswidrige Leitsätze vergleich-bar einer authentischen Verfassungsinterpretation verbindlich macht, wäre mit dem Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.10.1987 - 1 BvR 1086/82; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015, Rn. 12, 15.

15 Der maßgebliche Kammerbeschluss ging auf Art. 9 EMRK jedenfalls nicht ein.

16 Heusch in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 31 Rn. 52.17 So aber BGH, NStZ 2006, 346 Rn. 45 f., der insoweit die Gefolgschaft

verweigerte. Das BVerfG hat sich hierauf nicht eingelassen und die er-neute Verfassungsbeschwerde aus Sachgründen nicht angenommen: BVerfGK 8, 260, 262 ff.

18 Von Ungern-Sternberg, AöR 138 (2013), 1, 17.

Steuerrecht

Steuererlass aus Billigkeitsgründen nach dem sog. Sanierungserlass des BMFBFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15

RiBFH Dr. Christian Levedag

A. Problemstellung

Streitig ist im Ausgangsverfahren im Rahmen eines Erlassbe-gehrens, ob aufgrund einer Billigkeitsmaßnahme gem. § 163 AO in Verbindung mit dem sog. Sanierungserlass des BMF im Streitjahr 2007 Erträge in der Gewinnermittlung des Klägers aus dem Verzicht einer Bank auf fällige Zahlungsansprüche außer Ansatz zu lassen sind. Der für das Verfahren zuständi-ge X. Senat hatte im Vorlagebeschluss1 das Verfahren ausge-setzt und dem GrS die Rechtsfrage zur Entscheidung vorge-legt, ob der sog. Sanierungserlass gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstößt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

I. Das Finanzamt hatte den aus dem Forderungsverzicht ent-standenen Gewinn des Klägers der Besteuerung zugrunde

1 BFH, Beschl. v. 25.03.2015 - X R 23/13.

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gelegt, den anschließenden Erlassantrag des Klägers abge-lehnt und den dagegen gerichteten Einspruch mit der Be-gründung zurückgewiesen, die im Sanierungserlass genann-ten Voraussetzungen lägen nicht vor. Es fehle an der Sanie-rungseignung des Forderungsverzichts, weil der Kläger auch im Folgejahr einen Verlust erzielt habe. Zudem habe der Klä-ger im Streitjahr Teilwertabschreibungen auf den betriebli-chen Grundbesitz vornehmen können. Hätte er diese Mög-lichkeit genutzt, wäre es auch ohne den begehrten Billig-keitserlass nicht zur Festsetzung von Einkommensteuer ge-kommen. Das Finanzgericht hat die vom Kläger erhobene Verpflichtungsklage mit der Begründung abgewiesen, die durch den Sanierungserlass getroffene Verwaltungsregelung verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Ver-waltung.2 Im Revisionsverfahren legte der X. Senat im Vorla-gebeschluss3 seine hiervon abweichende Auffassung dar. Er beabsichtigte, das Finanzgerichtsurteil aufzuheben und den Streitfall zur Prüfung der Voraussetzungen einer sachlichen Unbilligkeit anhand des Sanierungserlasses an das Finanzge-richt zurückzuverweisen. Auch das dem Verfahren beigetre-tene BMF sah im Sanierungserlass keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.

II. Der GrS hat nunmehr im hier besprochenen Beschluss entschieden, der Sanierungserlass verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung:

1. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der seinen Niederschlag in § 85 AO gefunden habe, verpflichte die Finanzbehörden, die wegen Verwirklichung eines steuer-rechtlichen Tatbestands entstandenen Steueransprüche4 festzusetzen und die Steuer zu erheben.5 In dem von den Grundsätzen der Gleichheit und der Gesetzmäßigkeit ge-prägten Steuerschuldverhältnis entspreche der Pflicht des Schuldners zur gesetzmäßigen Steuerzahlung die Pflicht der Finanzbehörden zur gesetzmäßigen Steuererhebung.6 Die mit dem Vollzug der Steuergesetze beauftragte Finanzver-waltung habe die Besteuerungsvorgaben in strikter Legali-tät umzusetzen und so Belastungsgleichheit zu gewährleis-ten.7 Hieraus folge, dass es einen im Belieben der Finanzverwaltung stehenden, freien Verzicht auf Steuerfor-derungen weder im Einzelfall noch im Wege von Verwal-tungserlassen gebe.8

2. Rechtliche Grundlagen für einen Steuererlass aus Billig-keitsgründen seien die Vorschriften der §§ 163, 227 AO, auf die sich der Sanierungserlass ausdrücklich beziehe. Zur Ab-grenzung der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite der Rege-lungen entspreche es der ständigen Rechtsprechung des BFH unter Bezugnahme auf den Beschluss des GmS-OGB9, dass die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme so-wohl im Festsetzungs- als auch im Erhebungsverfahren eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung sei, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff

der Unbilligkeit bestimmt würden. Das in §§ 163 und 227 AO verwendete Merkmal „unbillig“ sei ein im gerichtlichen Verfahren überprüfbarer Rechtsbegriff, sodass kein dieses Merkmal einschließendes behördliches Ermessen und des-halb auch keine durch eine ermessenslenkende Verwal-tungsvorschrift herbeigeführte Ermessensreduktion auf Null in Betracht komme. Der Steuererlass könne in Fällen, in denen die Unbilligkeit der Besteuerung i.S.d. §§ 163 und 227 AO nicht gegeben sei, somit auch nicht mit einer durch Verwaltungsvorschrift geschaffenen Selbstbindung der Fi-nanzverwaltung und einem darauf gestützten Anspruch des Steuerpflichtigen auf Gleichbehandlung begründet werden, denn Art. 3 Abs. 1 GG vermittele keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis.10 Der Sanierungserlass sei im Ergebnis eine norminterpretie-rende (das Merkmal sachlicher Unbilligkeit konkretisieren-de) Verwaltungsvorschrift, welche die gleichmäßige Ausle-gung und Anwendung des Rechts sichern solle und keine Bindungswirkung im gerichtlichen Verfahren habe.11

3. Eine sachliche Unbilligkeit stelle immer auf den Einzelfall ab und sei atypischen Ausnahmefällen oder bei mehreren Steuerpflichtigen durch besondere Ausnahmevorausset-zungen gekennzeichneten Fallgruppen vorbehalten. Sie diene dem Ausgleich von Härten, wenn die Rechtsanwen-dung zu einem vom Steuergesetzgeber nicht gewollten Er-gebnis führe. Gründe außerhalb des Steuerrechts, wie z.B. wirtschafts-, arbeits-, sozial- oder kulturpolitische Gründe, könnten einen Billigkeitsentscheid nicht rechtfertigen.12 Insbesondere das mit der InsO verfolgte Ziel, insolvente Unternehmen zu erhalten und die außergerichtliche Sanie-rung zu fördern, zwinge nicht zu der Folgerung, der Fiskus habe sich mit Steuersubventionen an Sanierungen zu betei-ligen.13 Der Gesetzgeber habe die frühere gesetzliche Re-gelung zur Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen gem. § 3 Nr. 66 EStG a.F. in Kenntnis des neuen Insolvenzrechts beseitigt, sodass anzunehmen sei, er habe dessen Regelun-gen für ausreichend gehalten, um die Sanierung insolventer Unternehmen zu fördern.14

2 FG Sachsen, Urt. v. 24.04.2013 - 1 K 759/12.3 BFH, Beschl. v. 25.03.2015 - X R 23/13.4 § 38 AO.5 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 91 bis 93.6 BVerfG, Urt. v. 27.06.1991 - 2 BvR 1493/89.7 BVerfG, Urt. v. 27.06.1991 - 2 BvR 1493/89.8 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 93.9 GmS-OGB, Beschl. v. 19.10.1971 - GmS-OGB 3/70.10 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 108.11 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 107.12 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 113.13 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 139.14 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 139.

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4. Der GrS folgt der im Schrifttum geäußerten Auffassung nicht, ein Sanierungsgewinn (betrieblicher Ertrag), der auf dem Forderungsverzicht eines Gläubigers in Sanierungsab-sicht beruhe, stelle einen atypischen Einzelfall für die Be-steuerung dar, weil der Sanierungsgewinn weder zu einem Liquiditätszufluss noch unmittelbar zu einem Zuwachs an Leistungsfähigkeit führe. Die Erfassung des „Wegfallge-winns“ als Betriebseinnahme15 verbiete es – so der GrS –, eine hierauf beruhende Besteuerung als ungewollte und „überschießende“ Folge der Gewinnermittlungsregeln zu qualifizieren.16 Der durch den Forderungsverzicht eines Gläubigers entstandene Gewinn sei nicht nur bilanzieller Natur, sondern auch mit einer Steigerung der wirtschaftli-chen Leistungsfähigkeit verbunden. Aufseiten des Steuer-pflichtigen trete die Erhöhung der Leistungsfähigkeit fak-tisch bereits mit der ursprünglichen Leistung des Gläubi-gers (hier: der Ausreichung der Darlehensmittel durch die Bank) ein, die wegen des bilanziellen Ausweises einer Ver-bindlichkeit nur zunächst gewinnneutral bleibe.17 Dass die Besteuerung des Sanierungsgewinns für das betroffene Unternehmen problematisch sei, weil der durch den Forde-rungsverzicht gewonnene wirtschaftliche Spielraum wieder eingeengt werde, führe – so der GrS in Rn. 119 – nicht zu sachlicher Unbilligkeit der Besteuerung, denn sachliche Gründe für eine Billigkeitsentscheidung seien unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichti-gen zu beurteilen.

5. Die fehlende sachliche Unbilligkeit der Besteuerung eines Sanierungsgewinns sei schließlich aus der Abschaf-fung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. abzuleiten, die der Gesetzge-ber ausdrücklich auch zur Erzielung zusätzlicher Steuerein-nahmen vorgenommen habe.18 Dies werde auch nicht durch die spätere Einführung der Mindestbesteuerung19 in-frage gestellt. Der Gesetzgeber habe bei Abschaffung des uneingeschränkten Verlustvortrags gem. § 10d EStG, der nach Abschaffung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. vermehrt zu nicht verrechenbaren Sanierungsgewinnen habe führen müssen, keine Sonderreglungen für Sanierungsgewinne geschaf-fen.20 Die Finanzverwaltung verstoße gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, wenn sie ein aus ihrer Sicht vorliegendes Versäumnis oder widersprüchliches Ver-halten des Gesetzgebers korrigiere und die vom Gesetzge-ber aufgehobene Steuerbefreiung für Sanierungsgewinne jedenfalls im Ergebnis durch Verwaltungsvorschrift wieder einführe.21

C. Kontext der Entscheidung

I. Der GrS bejaht die Entscheidungserheblichkeit der Vorla-gefrage.22 Er akzeptiert im Rahmen der Prüfung der Ent-scheidungserheblichkeit der Vorlagefrage die Beurteilung des X. Senats, dass der Sanierungserlass eine Selbstbin-

dung der Verwaltung bewirkt habe und im Streitfall auch keine anderen Billigkeitsgründe ersichtlich seien,23 stellt aber einschränkend fest, eine Ermessensrichtlinie der Ver-waltung könne eine Bindung der Gerichte bei der Prüfung von Erlassvoraussetzungen und Ermessensentscheidungen gem. § 102 Satz 1 FGO nur bewirken, wenn sie eine ausrei-chende Rechtsgrundlage habe und der Gesetzeslage nicht widerspreche.24 Materiell-rechtlich beurteilt der GrS in Rn. 107 des Beschlusses den Sanierungserlass als norm-interpretierende Verwaltungsvorschrift.25

II. Der X. Senat musste die mit dem Kläger für das Streitjahr zusammen veranlagte Ehefrau des Klägers im Revisionsver-fahren nicht gem. § 60 Abs. 3 FGO i.V.m. § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO notwendig beiladen. Denn bei einer Verpflichtungskla-ge des einen Ehegatten auf eine abweichende Steuerfest-setzung aus Billigkeitsgründen müsse keine notwendig ein-heitliche Entscheidung i.S.d. § 60 Abs. 3 FGO ergehen.26

D. Auswirkungen für die Praxis und Bewertung

Die Entscheidung des GrS ist in ihrer umfassenden und sys-tematischen Begründung konsequent. Der Gesetzgeber hat die Steuerbefreiung in § 3 Nr. 66 EStG a.F. mit dem Ziel der Einnahmenerzielung verbunden und daran auch bei Ände-rung des § 10d Abs. 2 EStG festgehalten. Diese Wertung lässt sich nicht durch eine Verwaltungsvorschrift überspie-len.27

Für die Praxis bleibt die im Beschluss des GrS in Rn. 145 an-gedeutete Möglichkeit, einen Billigkeitserlass auf persönli-che Billigkeitsgründe zu stützen. Verpflichtungsklagen, die sich auf die Voraussetzungen des Sanierungserlasses und damit eine sachliche Unbilligkeit stützen, können nach dem Beschluss des GrS keinen Erfolg mehr haben.28 Derzeit wird auf Bund-Länder-Ebene eine mögliche (Weiter-)Anwend-barkeit des Sanierungserlasses aus Vertrauensschutzgrün-den diskutiert. Bis zu einer abschließenden Entscheidung

15 § 4 Abs. 1 und 3 EStG; ggf. i.V.m. § 5 Abs. 1 EStG und § 8 Abs. 1 KStG.16 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 115.17 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 116.18 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 124, 128.19 § 10d Abs. 2 EStG.20 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 131.21 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 137.22 § 11 Abs. 4 FGO.23 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 45.24 BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 42 m.w.N.25 Siehe oben unter B.II.2.26 Siehe BFH, Beschl. v. 28.11.2016 - GrS 1/15 Rn. 35.27 Ebenso Werth, DB 2017, 337, 338.28 Siehe zu den verschiedenen denkbaren Fallgruppen Beutel/Eilers,

FR 2017, 266, 268 f.

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hierüber sollen Anträge auf abweichende Steuerfestset-zung und/oder Steuerstundung und Steuererlass aufgrund des Sanierungserlasses (auch in Restschuldbefreiungsfäl-len) nicht positiv beschieden und keine verbindlichen Aus-künfte in der Sache erteilt werden.29

Die im Beschluss des GrS enthaltene Wertung, beim Steuer-pflichtigen erhöhe sich die Leistungsfähigkeit „bereits“ durch den Forderungsverzicht, hätte auch anders ausfallen können. Die Befreiung des Steuerpflichtigen vom Schulden-dienst für die erlassene Verbindlichkeit versetzt diesen nur in die Lage, künftig höhere Erträge zu erzielen, die nach den Grundsätzen der Abschnittsbesteuerung in späteren Zeit-räumen der Besteuerung unterliegen.30

Der GrS mahnt in Rn. 146 die Notwendigkeit einer gesetz-lichen Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen an. Der Bundesrat31 hat hierzu einen ersten Entwurf zur Einführung neuer Vorschriften in § 3a EStG-E, § 3c Abs. 4 EStG-E, § 3a GewStG-E vorgelegt, die rückwirkend in allen noch offenen Fällen anzuwenden sein sollen und auch die Gewerbe-steuer umfassen, obwohl der Sanierungserlass für Letztere nicht galt. Allerdings wirft die Würdigung des GrS, ein Sa-nierungsgewinn vermittle echte steuerliche Leistungsfähig-keit und dessen Besteuerung stelle den Normalfall dar, für die Vereinbarkeit der Neuregelungen mit dem unionsrecht-lichen Beihilfeverbot schwierige Fragen auf.32

Strafrecht

29 Oberfinanzdirektion Frankfurt a. M. v. 22.02.2017 - S 2140 A-4-St 213 - FMNR0fa310017 Rn. 15.

30 Beutel/Eilers, FR 2017, 266, 267; siehe auch Werth, DB 2017, 337, 338.31 BR-Drs. 59/17 vom 10.03.2017.32 Hinder/Broekmann, GmbHR 2017, 324, 325.

TV-Berichterstattung und Unschulds-vermutungBGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16

RA Prof. Dr. Guido Britz

A. Einleitung

Der Grundsatz der Unschuldsvermutung zählt ohne Zweifel zum Kernbestand eines rechtsstaatlich verfassten Strafver-fahrens. Es handelt sich demnach um originäres Strafver-fassungsrecht.1 Kodifiziert ist der Grundsatz zunächst in Art. 6 Abs. 2 EMRK, wonach jede Person, die einer Straftat

angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig gilt. Dies bedeutet, dass weder Gerichte noch Staatsanwaltschaften noch sonstige öffentliche Stellen einen Beschuldigten als schuldig ansehen, bezeichnen oder behandeln dürfen, bevor nicht die Schuld aufgrund gericht-licher Verurteilung festgestellt ist.2 Daneben haben auch die Medien, welche für sich grds. die Freiheit der Meinungs-äußerung nach Art. 10 EMRK sowie Art. 5 Abs. 1 GG rekla-mieren können, im Rahmen ihrer Berichterstattung über Strafverfahren die Unschuldsvermutung zu beachten, so-dass eine sog. Vorverurteilung zu vermeiden ist.3 Eine aus-drückliche gesetzliche Entsprechung zu Art. 6 Abs. 2 EMRK findet sich im deutschen (Verfahrens-)Recht bekannterma-ßen nicht. Freilich wird die Unschuldsvermutung seit Lan-gem schon aus dem Rechtsstaatsprinzip destilliert, womit ihr zugleich Verfassungsrang zukommt,4 unabhängig da-von, dass die EMRK formal als sog. einfaches Bundesrecht – gleichwertig daher neben der StPO – gilt und sie zwi-schenzeitlich auch zur Auslegung des GG heranzuziehen ist.

Besondere Bedeutung erlangt der Grundsatz der Un-schuldsvermutung bei der medialen Berichterstattung im Ermittlungs-, Zwischen- und Hauptverfahren. Da sowohl das Ermittlungs- als auch das Zwischenverfahren unter Be-rücksichtigung des verfahrensrechtlichen Normenpro-gramms nicht öffentlich ausgestaltet sind, konkurrieren die ihrerseits verfassungsrechtlich verbürgte Presse- und Me-dienfreiheit mit der Unschuldsvermutung vor allem bei Presseerklärungen, -mitteilungen oder -konferenzen bzw. sonstiger Medienunterrichtung durch die öffentlichen Strafverfolgungsbehörden. Im Hauptverfahren mit der Hauptverhandlung im Zentrum kommen der Öffentlich-keitsgrundsatz und die sich hieraus ergebenden Möglich-keiten der Gerichtsberichterstattung hinzu.

Im konkreten Fall stellen sich vor diesem Hintergrund Fra-gen danach, ob eine Verletzung der Unschuldsvermutung vorliegt und welche Konsequenzen sich hieraus ergeben können. In diesem spannungsreichen Feld ist die Entschei-dung des BGH zu verorten; zusätzlich ist vom Sachverhalt

1 Zu dieser Terminologie: Jahn, Strafverfassungsrecht: Das Grundgesetz als Herausforderung für die Dogmatik des Straf- und Strafverfahrens-recht, in: Tiedemann/Sieber/Satzger/Burchard/Brodowski, Die Verfas-sung moderner Strafrechtspflege, S. 63 ff., 65.

2 Kreicker in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg, Europäisches Straf-recht, § 51 Rn. 24 m.w.N. Instruktiv und ausführlich: Satzger in: Satz-ger/Schluckebier/Widmaier, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 7 ff.

3 Radtke/Hohmann/Ambos, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 36.4 Hierzu: BVerfG, Beschl. v. 15.12.1965 - 1 BvR 513/65; BVerfG, Beschl.

v. 26.03.1987 - 2 BvR 589/79: „Die Unschuldsvermutung ist eine be-sondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfas-sungsrang“.

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Entscheidung oder eine Äußerung eines Amtsträgers, die eine einer Straftat angeklagte Person betrifft, die Auffas-sung widerspiegelt, sie sei schuldig, bevor der gesetzliche Nachweis der Schuld erbracht ist.13 Die Einbeziehung von Amtsträgern wird damit begründet, dass der verfahrens-rechtliche Grundsatz sowohl die Rechte der Verteidigung als auch die Wahrung der Ehre und Würde des Angeklagten garantiert.14 Bei der Prüfung, ob eine Verletzung gegeben sein kann, kommt es auf die Wortwahl sowie auf die Um-stände an, unter denen die Aussage getätigt wurde.15

Übertragen auf den vorliegenden Sachverhalt war dem BGH zufolge – obwohl die Wortwahl des Ermittlungsbeam-ten für nicht unbedenklich erachtet wurde –16 wegen der sonstigen Umstände eine Verletzung der Unschuldsvermu-tung nicht gegeben: keine Berichterstattung über das kon-krete Strafverfahren, keine Namensnennung, Identifizie-rung der Beschuldigten aufgrund der Äußerungen des Beamten nicht möglich, keine regionale oder landesweite mediale Aufmerksamkeit betreffend das konkrete Strafver-fahren, die Bilder der Beschuldigten waren verpixelt.17

Die fallspezifischen Überlegungen des Strafsenats – deren maßgeblicher Ausgangspunkt die Verletzung der Un-schuldsvermutung und die Methode zu deren Feststellung sind – sind gewissermaßen eingebettet in die weitergehen-de Frage, welche verfahrensrechtlichen Konsequenzen sich aus einer Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermu-tung ergeben können. Nahezu a priori abgelehnt wird zu-nächst die Annahme eines Verfahrenshindernisses wegen (vorverurteilender) TV-Berichterstattung.18 Sodann wird auch eine mögliche Kompensation über das bekannte sog. Vollstreckungsmodell vom Senat in Zweifel gezogen.19 Ar-gumentativ wird dies damit unterlegt, dass vom EGMR – anders etwa als in den Fällen der (unzulässigen) Tatprovo-

her eine eher ungewöhnliche Fallkonstellation gegeben. Des Weiteren geht es im Urteil des BGH aber auch um spe-zifische revisionsrechtliche Fragen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Ausgangspunkt der Entscheidung des 1. Senats ist – grob skizziert – folgender Sachverhalt:5 Nach Anklageerhebung, aber vor Beginn der Hauptverhandlung wurde eine TV-Sen-dung zur Thematik von Wohnungseinbrüchen in Deutsch-land ausgestrahlt. Mit dem polizeilichen Hauptsachbe-arbeiter wurde ein Interview geführt und in seinem Dienstzimmer wurden TV-Aufnahmen gefertigt, auf denen die schließlich verpixelten Lichtbilder der Angeklagten zu sehen waren. Gleichwohl konnten die Beschuldigten er-kannt werden. Im Interview, welches mit der Staatsanwalt-schaft abgestimmt war, sprach der Beamte ohne Hinweis auf eine fehlende rechtskräftige Verurteilung von „Tätern“, „Bandenmitgliedern“ und „Einbrechergruppierung“.

Im Rahmen seiner Verurteilung wegen schweren Banden- und Wohnungseinbruchdiebstahls zu Gesamtfreiheitsstra-fen von je drei Jahren und acht Monaten hat das LG Stutt-gart zur Kompensation eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung ausgeurteilt, dass bei jedem Ange-klagten zwei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe als voll-streckt gelten.6 Der BGH hatte über die auf die gewährte Kompensation beschränkte Revision der Staatsanwalt-schaft zu entscheiden.7

Die Beschränkung der Revision auf die Kompensationsent-scheidung erachtete der Senat für wirksam. Insofern rekur-rierte er auf bereits vorliegende Entscheidungen betreffend Verfahrensverzögerungen, bei denen die isolierte Überprü-fung anerkannt wurde. Demnach scheidet eine (wirksame) Beschränkung der Revision auf die Kompensationsent-scheidung nur dann aus, wenn im Einzelfall eine untrenn-bare Verknüpfung dieser Entscheidung mit dem Strafaus-spruch als solchem gegeben ist. Diese relevante Verknüp-fung ist lediglich dann gegeben, wenn das Tatgericht den fraglichen Umstand sowohl bei der Kompensation als auch in der Strafzumessung herangezogen hat;8 was in der an-gefochtenen Entscheidung freilich nicht der Fall war.9

Nach Klärung dieser Vorfrage lehnte der 1. Senat in casu eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung ab.10 Ausgangspunkt ist eine abstrahierende Beschreibung der Verletzung der Unschuldsvermutung unter Berücksich-tigung der Rechtsprechung des EGMR.11 Demnach besteht ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen dem Grund-satz des fairen Verfahrens und der Unschuldsvermutung dahin gehend, dass Letztgenannte ein Merkmal von Erstem ist.12 Eine Verletzung der Unschuldsvermutung – und damit (auch) des Fair Trial – ist gegeben, wenn eine gerichtliche

5 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 17.6 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 1.7 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 2.8 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 9.9 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 11.10 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 15.11 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 19.12 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 19; vgl. hierzu auch:

Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 212 m.w.N.

13 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 19.14 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 19.15 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 20.16 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 22.17 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 23, 26.18 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 3.19 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 29.

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kation –20 keine bestimmte Art der Kompensation bei einem Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 EMRK vorgegeben wer-de. Da die Unschuldsvermutung ferner keine detailliert be-stimmten Ge- und Verbote enthalte, bedürften die Auswir-kungen auf das Verfahrensrecht der Konkretisierung nach sachlichen Gesichtspunkten, sodass der Gesetzgeber auf-gerufen sei.21 Offengelassen wird schließlich, ob Verstöße gegen die Unschuldsvermutung unter Umständen bei der Strafzumessung berücksichtigt werden können;22 wobei angemerkt wird, dass nach einer Entscheidung des 4. Se-nats23 selbst eine aggressive und vorverurteilende Bericht-erstattung in den Medien regelmäßig keinen bestimmen-den Strafzumessungsgrund i.S.v. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO darstelle.24 Umgekehrt wird darauf hingewiesen, dass Äu-ßerungen unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK Befan-genheit begründen können, sodass der Beschuldigte über einen entsprechenden Antrag auf Verletzungen der Un-schuldsvermutung reagieren könne.25

C. Bewertung und Auswirkungen für die Praxis

Den zentralen Kern der Entscheidung des 4. Strafsenats macht – unter zutreffender Rückbindung an die Rechtspre-chung des EGMR – die Beschreibung der Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung aus; einschließlich der Klarstellung, dass neben den primär der Verfahrensma-xime verpflichteten Gerichten bzw. Richtern ausdrücklich (sonstige) Amtsträger einbezogen werden. Die Unschulds-vermutung bindet daher Judikative und Exekutive gleicher-maßen; vor allem natürlich Staatsanwaltschaft und polizei-liche Ermittlungsbehörden. Ob eine Verletzung vorliegt, beurteilt sich nach dem Wortlaut der Äußerung sowie ihren Umständen. Sicherlich konsensfähig ist ferner die revisions-rechtliche Klarstellung, dass separate Kompensationsent-scheidungen wirksam gesondert zur Überprüfung gestellt werden können.

Nicht befriedigend ist hingegen die Skizzierung des Um-gangs mit Verletzungen der Unschuldsvermutung. Denn ein Verfahrenshindernis soll fast gänzlich ausscheiden.26 Auch eine Kompensation über die sog. Vollstreckungslösung oder über die Strafzumessung stellen nach Auffassung des Straf-senats grds. keine geeigneten Möglichkeiten dar. De lege lata bleibt deshalb primär nur das Instrumentarium der Be-fangenheit. Freilich kann sich dies nur auf Gerichtsperso-nen und Sachverständige beziehen, da eine analoge An-wendung der §§ 22 ff. StPO bspw. auf die Staatsanwaltschaft zwar diskutiert, allerdings nach wie vor abgelehnt wird.27

Die Überlegungen des BGH zur (Nicht-)Kompensation bzw. zur Nichtkompensationsfähigkeit von Verstößen gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK verweisen wohl auf ein grundsätzliches Dilemma, welches in dieser Form nur bei der Unschuldsver-

mutung auftreten kann. Denn eine unzulässige externe Vor-verurteilung über Medien hebt sich durch eine spätere jus-tizielle Verurteilung gewissermaßen selbst auf: Was bliebe zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung wiedergutzu-machen? Deutlich wird damit aber auch, dass eine Verlet-zung der Rechte aus Art. 6 Abs. 2 EMRK für das Verfahren bis hin zur (straf-)richterlichen Entscheidung über die indi-viduelle Schuld eines Beschuldigten von besonderer Bedeu-tung ist. Es geht um die unmittelbare Verfahrensgestaltung als solche. Eine wirksame Kompensation hat also sofort im Verfahren und i.d.R. als direkte Reaktion auf die Verletzung der Unschuldsvermutung zu erfolgen, da ansonsten die Fairness des Verfahrens nicht gewährleistet ist. Mithin sind die Erwägungen des BGH zur Befangenheit konsequent und zutreffend; wenn auch angesichts der überragenden Bedeutung der Unschuldsvermutung nicht ausreichend bzw. befriedigend. Denn erfasst ist nämlich lediglich die in-terne, nicht aber die externe „Vorverurteilung“. In der Tat wäre es nun am Gesetzgeber, Abhilfe zu schaffen.

20 Ausführlich hierzu: Britz, jM 2016, 123 ff.21 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 30.22 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 32.23 BGH, Beschl. v. 30.03.2011 - 4 StR 42/11.24 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 34.25 BGH, Urt. v. 07.09.2016 - 1 StR 154/16 Rn. 33.26 Zu einem möglichen Verfahrenshindernis bei sog. Medienkampagnen:

Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 84, 167, 213.

27 Radtke/Hohmann/Alexander, StPO, § 22 Rn. 8 m.w.N.; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 22 Rn. 3.

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INTERVIEW

Der kirchliche Arbeitsgerichtshof entscheidet „im Namen der Deutschen Bischofskonferenz auf Grund eines Manda-tes des Heiligen Stuhls“. Wie ist die kirchliche Arbeitsge-richtsbarkeit aufgebaut? Für welche Fälle ist sie zuständig? In welchen Verhältnissen steht sie zur staatlichen Gerichts-barkeit? Über diese Fragen und über einiges mehr sprechen wir mit dem Präsidenten des kirchlichen Arbeitsgerichtsho-fes, Dr. Heinz-Jürgen Kalb, der vor seiner Tätigkeit in der kirchlichen Gerichtsbarkeit viele Jahre Richter in der staat-lichen Arbeitsgerichtsbarkeit war.

Weth: Lieber Herr Kalb, Sie sind seit 2016 Präsident des kirchlichen Arbeitsgerichtshofs der katholischen Kirche (KAGH). Was sind die Aufgaben dieses Gerichts und welche Aufgaben hat sein Präsident?

Kalb: Die katholische Kirche in Deutschland hat im Jahr 2005 zur Sicherung der richtigen Anwendung des kirchli-chen Arbeitsrechts eine eigene kirchliche Arbeitsgerichts-barkeit in zwei Instanzen errichtet. Für die Bistümer im Be-reich der Deutschen Bischofskonferenz ist der KAGH als Revisionsgericht mit Sitz in Bonn gegründet worden. Er überprüft bei zulässigen Revisionen die Entscheidungen der kirchlichen Arbeitsgerichte, die auf diözesaner oder mehrdiözesaner Ebene zuständig sind.

Die Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung (KAGO) bestimmt, dass der KAGH in der Besetzung mit fünf Richtern, nämlich dem Präsidenten oder dem Vizepräsidenten, den beiden Mitgliedern mit der Befähigung zum staatlichen bzw. kirch-lichen Richteramt und zwei weiteren beisitzenden Richtern aus den Kreisen der Dienstgeber und der Mitarbeiter ent-scheidet. Als besondere Aufgabe ist dem Präsidenten die alleinige Zuständigkeit für sog. Verfahrensbeschwerden gegen Entscheidungen des Kirchlichen Arbeitsgerichts oder seines Vorsitzenden zugewiesen. Nicht zuletzt hat er in Ab-stimmung mit dem Vizepräsidenten für die Aufstellung eines Geschäftsverteilungsplans zu sorgen.

Wie ist die kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit aufge-baut?

Wie bereits erwähnt, gibt es seit 2005 anstelle der früheren Schlichtungsstellen eine zweistufig aufgebaute kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit, die kirchlichen Arbeitsgerichte als Tatsacheninstanz und den KAGH als Revisionsinstanz. Die Entscheidungen der ersten Instanz unterliegen der Rechts-kontrolle durch den KAGH , soweit die Revision zugelassen worden ist. Das kann wie im staatlichen Recht auch über eine Nichtzulassungsbeschwerde geschehen. Das Kirchli-che Arbeitsgericht entscheidet wie das staatliche Arbeits-

gericht in Kammerbesetzung mit dem Vorsitzenden sowie einem Beisitzer aus den Kreisen der Dienstgeber und einem Beisitzer aus den Kreisen der Mitarbeiter.

In welchem Verhältnis stehen staatliche und kirchli-che Arbeitsgerichtsbarkeit?

Es handelt sich um zwei voneinander völlig unabhängige Gerichtsbarkeiten, die in ihrem Zuständigkeitsbereich je-weils autonom entscheiden. Die Verfassungsgarantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts umfasst mit der Kom-petenz zur Rechtsetzung in eigenen Angelegenheiten die Befugnis zur Kontrolle des selbst gesetzten Rechts. Der Unterschied kommt auch darin zum Ausdruck, dass die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit ihre Urteile „im Namen des Volkes“ verkündet, der kirchliche Arbeitsgerichtshof dagegen „im Namen der Deutschen Bischofskonferenz auf Grund eines Mandats des Heiligen Stuhls“.

Das höchste Gericht der katholischen Kirche ist übrigens die Apostolische Signatur in Rom, die auch 2010 eine no-vellierte Fassung der KAGO nunmehr zeitlich unbefristet genehmigt hat. Die Apostolische Signatur könnte man ähn-lich wie das BVerfG als eine Art „Superrevisionsinstanz“ bezeichnen, die gegen an sich nicht mehr anfechtbare Ent-scheidungen des KAGH angerufen werden kann. Dies ist in einem aufsehenerregenden Fall 2009 tatsächlich passiert, der dann mit einer – aufhebenden – Entscheidung eines päpstlichen Delegationsgerichts abgeschlossen wurde. Da gilt wirklich der Satz: „Roma locuta, causa finita!“

Sind für alle Streitigkeiten mit kirchlichen Arbeitneh-mern die kirchlichen Arbeitsgerichte zuständig?

Nein. Handelt es sich um Streitigkeiten aus dem Arbeitsver-hältnis, so entscheiden die staatlichen Arbeitsgerichte im Urteilsverfahren nach dem Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG). Das wird durch Art. 10 Abs. 1 der Grundordnung für die ka-

Vizepräsident des LAG Köln a.D.

Heinz-Jürgen Kalb war von 2002 bis 2014 Vizepräsident des Landesarbeits-gerichts Köln. Seit 2016 ist er Präsident des kirchlichen Arbeitsgerichtshofs der katholischen Kirche. Weiterhin ist er Au-tor und Herausgeber zahlreicher wissen-schaftlicher Werke und gehört zum Ex-pertengremium der jM.

Dr. Heinz-Jürgen Kalb

„Im Namen der Deutschen Bischofskonferenz…“

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tholische Kirche (GrO) ausdrücklich klargestellt. An dieser Zuständigkeit ändert sich nichts, auch wenn die Entschei-dung von der Anwendung kirchlichen Rechts abhängt. Die staatlichen Gerichte haben insoweit die Kompetenz zur In-zidentkontrolle. Demgegenüber sind die kirchlichen Arbeits-gerichte nach Art. 10 Abs. 2 GrO zuständig für alle Rechts-streitigkeiten auf den Gebieten der kirchlichen Ordnungen für ein Arbeitsvertrags- und des Mitarbeitervertretungs-rechts. Dabei geht es einmal um Streitigkeiten über Rechts-fragen des kircheneigenen „Dritten Weges“, also um Fra-gen der Gestaltung und Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsverfahrens (sog. KODA-Ordnung). Der andere Bereich betrifft die Streitigkeiten aus den kirch-lichen Mitarbeitervertretungsordnungen (MAVO), die in der kirchengerichtlichen Praxis überwiegen.

Welche arbeitsrechtlichen Besonderheiten gelten für kirchliche Arbeitnehmer?

Die Besonderheiten ergeben sich aus der Eigenart des kirchlichen Dienstes. Kirchliche Einrichtungen dienen dem Sendungsauftrag der Kirche. Alle, die darin mitarbeiten, bil-den – unabhängig von der Verschiedenheit der Dienste und ihrer rechtlichen Ausgestaltung – eine Dienstgemeinschaft. Alle Beteiligten, Dienstgeber und Mitarbeiter, müssen be-reit sein, „an der Verwirklichung eines Stückes Auftrag der Kirche im Geist katholischer Religiosität, im Einklang mit dem Bekenntnis der katholischen Kirche und in Verbindung mit den Amtsträgern der katholischen Kirche“ mitzuwirken, wie es die deutschen Bischöfe in einer Erklärung zum kirch-lichen Dienst formuliert haben. Nähere Festlegungen der Anforderungen an Träger und Leitung kirchlicher Einrich-tungen sowie an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fin-den sich in der Grundordnung des kirchlichen Dienstes, hier insbesondere in Art. 4 und 5 zu den Loyalitätsobliegenhei-ten und zu den Rechtsfolgen etwaiger Verstöße dagegen.

Finden Sie es richtig, dass der Chefarzt in einem kirch-lichen Krankenhaus mit der Begründung gekündigt werden kann, er sei nach seiner Scheidung eine zwei-te Ehe eingegangen?

Das ist eine nach wie vor spannende Frage, die vom BAG noch nicht abschließend entschieden worden ist. Zwar hat es in einem ersten Urteil die Kündigung für unwirksam ge-halten (BAG, Urt. v 08.09.2011 - 2 AZR 543/10). Die Ent-scheidung wurde aber vom BVerfG (Beschl. v. 22.10.2014 - 2 BvR 661/12) aufgehoben, weil die bei der Anwendung des KSchG vorgenommene Interessenabwägung dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht nicht in dem verfas-sungsrechtlich gebotenen Umfang Rechnung getragen habe. Das BAG hat die Sache nunmehr dem EuGH zur Klä-rung europarechtlicher Vorfragen vorgelegt (Beschl. v. 28.07.2016 - 2 AZR 746/14 A). Letztlich geht es um eine

„offene Gesamtabwägung“ zwischen dem Selbstbestim-mungsrecht der Kirche und den Interessen und Grundrech-ten der kirchlichen Arbeitnehmer. Dabei kommt es aus mei-ner Sicht auf alle Umstände des Einzelfalls an.

Sie waren über viele Jahre Richter der staatlichen Ar-beitsgerichtbarkeit und sind nun in der kirchlichen Arbeitsgerichtbarkeit tätig. Unterscheidet sich die richterliche Tätigkeit in beiden Gerichtbarkeiten?

Die Verfahren ähneln sich sehr, weil die KAGO wesentliche Prinzipien des staatlichen Arbeitsgerichtsverfahrens über-nommen hat, insbesondere die Beteiligung ehrenamtlicher Richter beider Seiten an der Entscheidungsfindung und das Primat der mündlichen Verhandlung. Die Vorschriften des ArbGG über das Urteilsverfahren finden überdies entspre-chende Anwendung, soweit die KAGO nichts anderes be-stimmt. Es ist daher kein Zufall, dass viele erfahrene Kolle-ginnen und Kollegen aus der staatlichen Gerichtsbarkeit auch in der kirchlichen Arbeitsgerichtsbarkeit tätig sind.

Welche Fälle, die Sie als Richter entschieden haben, waren besonders spannend?

Oft, vielleicht sogar überwiegend, waren es Fälle, die letzt-lich nicht streitig zu entscheiden waren, weil man die Partei-en vom Sinn und Nutzen einer interessengerechten gütli-chen Lösung überzeugen konnte. Die gütliche Erledigung des Rechtsstreits soll ja nach dem ArbGG während des gan-zen Verfahrens angestrebt werden. Das gilt natürlich auch für das kirchliche Verfahren. Mich persönlich hat eine für die Parteien passende Regelung stets mehr befriedigt als ein streitiges Urteil, so gut es auch zu begründen war. Richtig spannend waren einige spektakuläre Kündigungsfälle, de-ren Entscheidung mit schwierigen Abwägungen verbunden waren. Um nur ein Beispiel zu nennen, erinnere ich mich an einen Fall, in dem wir eine fristlose verhaltensbedingte Kün-digung ohne Schuldvorwurf an den erkrankten Arbeitneh-mer wegen der Schwere der Tat und ihrer Auswirkungen auf den Betriebsfrieden für gerechtfertigt gehalten haben.

Welche Eigenschaften muss aus Ihrer Sicht ein guter Arbeitsrichter haben? Braucht er andere Eigenschaf-ten als ein Richter anderer Gerichtbarkeiten?

Das Richteramt verlangt meines Erachtens neben der fach-lichen Qualifikation eine Persönlichkeit, der immer bewusst ist, dass sie im demokratischen Rechtsstaat übertragene Macht ausübt. Damit muss der Richter vom ersten Tag sei-ner Tätigkeit verantwortungsvoll umgehen. Er sollte in glei-chem Maße über Selbst- und Pflichtbewusstsein verfügen und seine dienende Funktion nicht aus den Augen verlie-ren. Beim Arbeitsrichter sollte die soziale Kompetenz be-sonders ausgeprägt sein. Wer mit den Parteien über eine gütliche Beilegung des Konflikts reden will, muss zuhören

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können und braucht Einfühlungsvermögen in die unter-schiedlichen Interessen beider Seiten. Um es plakativ zu sa-gen: Ein Arbeitsrichter, der aufgrund seiner überlegenen Rechtskenntnisse alles entscheiden und stets „kurzen Pro-zess“ machen wollte, wäre fehl am Platz.

Welche Ratschläge würden Sie einem jungen Richter geben, um Ihm einen guten Einstieg in die richterli-che Tätigkeit zu erleichtern?

Im Idealfall hat ein junger Richter bereits Erfahrungen als Referendar in der Ausbildung bei Gericht gesammelt und weiß schon ganz gut, was ihn erwartet. Als Proberichter steht er dann auch nicht allein, sondern kann sich Rat bei erfahrenen Kolleginnen und Kollegen holen. Das setzt na-türlich Team- und Kommunikationsfähigkeit voraus, über die ein guter Richter ohnehin verfügen muss. Ganz wichtig ist die schnelle Beherrschung der richterlichen Verfügungs-technik, um effizient arbeiten zu können. Vor allem würde ich jungen Kollegen empfehlen, auch als Zuhörer in Sitzun-gen anderer zu hospitieren. Dabei kann man viel für die eigene Praxis lernen. Zudem ist der laufende Gedankenaus-tausch im Kollegenkreis ein Quell der Inspiration und Hilfe bei der Lösung von Problemen aller Art.

Ist die richterliche Tätigkeit eine spannende Tätig-keit?

Ich halte die richterliche Tätigkeit für eine der interessan-testen überhaupt, weil sie ständig mit neuen Herausforde-rungen verbunden ist. Kein Fall ist wie der andere, und ge-rade in dieser Abwechslung liegt ein besonderer Reiz. Wenn man dann auch noch mit einer so dynamischen Rechtsma-terie wie der des Arbeitsrechts beschäftigt ist, kann es nie langweilig werden. Ich habe die Berufswahl jedenfalls nie bereut und das Richteramt mit all seiner Freiheit und Ver-antwortung immer gern ausgeübt. Richtig spannend ist na-

türlich die mündliche Verhandlung mit teils überraschen-den Wendungen, die man bei noch so guter Vorbereitung nicht vorhersehen kann. In der Verhandlung mit den Partei-en sehe ich auch einen Kernbereich der richterlichen Tätig-keit.

Was kennzeichnet eine gute richterliche Entschei-dung?

Sie muss für die Parteien lesbar sein und ihre wesentlichen Argumente reflektieren. Die Parteien, für die das Urteil be-stimmt ist, müssen verstehen, warum das Gericht gerade so und nichts anders entschieden hat. Die Entscheidung muss klar aufgebaut sein und die Dinge ohne überflüssiges Bei-werk auf den Punkt bringen.

Sollten Gerichtsverhandlungen im Fernsehen über-tragen werden?

Da bin ich eher skeptisch, weil zu viel Medienöffentlichkeit der Rechtsfindung abträglich sein kann, wie wir bei einigen „Schauprozessen“ in den letzten Jahren erlebt haben. Bild- und Tonaufnahmen haben Rückwirkungen auf das Verhal-ten der Betroffenen, auch der handelnden Richter. Es sind Lösungen mit Augenmaß erforderlich. Was für das BVerfG richtig ist, muss nicht gleichermaßen für Instanzgerichte zutreffen.

Was sind die wichtigsten Eigenschaften eines Ju-risten?

Sach- und Fachkompetenz, schnelle Auffassungsgabe, logi-sches Denken, Dialogbereitschaft, Offenheit für Neues, Abstraktionsvermögen und Nachdenklichkeit statt Recht-haberei.

Ich bedanke mich für das angenehme Gespräch!

Das Interview wurde geführt von Prof. Dr. Stephan Weth.

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Münder, Sozialgesetzbuch II. Grundsiche-rung für ArbeitsuchendeHerausgegeben von Prof. Dr. Johannes MünderNomos Verlagsgesellschaft, 6. Aufl. 2017, 1.367 Seiten, gebunden, 65,00 €, ISBN: 978-3-8487-1999-0

RiBSG Dr. Thomas Flint

„Was ist zu wünschen übrig und von einer 6. Auflage zu er-hoffen? Da bleibt für mich wenig übrig, denn man greift doch auf diesen Lehr- und Praxiskommentar zum SGB II deshalb zu, wenn man auf ihn zugreift, weil er so ist wie er ist.“ So habe ich es in meiner Rezension der in 2013 er-schienenen 5. Auflage des von Johannes Münder herausge-gebenen Kommentars formuliert (NZS 2014, 258). Der Wunsch ist nicht unerfüllt geblieben. Die diesen Kommen-tar als traditionsreiches Markenzeichen prägenden Merk-male weist auch die 6. Auflage auf.

Das gegenüber der Vorauflage unveränderte Team von Au-toren und einer Autorin hat eine Neuauflage vorgelegt, die um mehr als 150 Seiten im Umfang gewachsen ist. Ge-schuldet ist diese Erweiterung nicht nur und auch nicht in erster Linie der Verarbeitung von seit der 5. Auflage veröf-fentlichter Rechtsprechung und Literatur. Vielmehr hat nach einer etwas ruhigeren Phase der Gesetzgeber in 2016 mehrfach das SGB II geändert, und es betreffen viele dieser Änderungen zentrale Regelungsinhalte der Grundsiche-rung für Arbeitsuchende. Diese Änderungen sind in der Neuauflage berücksichtigt, verarbeitet und profund kom-mentiert.

So leistet Conradis eine Erläuterung des § 41a SGB II, der eine neu in das SGB II gelangte eigenständige Vollregelung zu vorläufigen und abschließenden Entscheidungen über Geld- und Sachleistungen enthält. Diese neue Regelung ist in der Verwaltungs- und Rechtsprechungs- ebenso wie in der Beratungspraxis von erheblicher Bedeutung. Conradis widmet sich ihr aus seiner anwaltlichen Perspektive und weist dabei auf die in der Ausgestaltung auch problemati-schen Teile hin. Korte und Thie gehen im Rahmen der Kom-mentierung des § 7 SGB II auf die neuen Regelungen über die aus dem Kreis der erwerbsfähigen Leistungsberechtig-ten ausgeschlossenen Ausländerinnen und Ausländer ein (Rn. 17 ff.) und bieten hier eine systematische Ordnung der Vielzahl normativer Anknüpfungspunkte, die sich eben nicht nur aus dem SGB II ergeben, sondern für die auch das SGB I und das SGB XII sowie das AsylbLG, das deutsche Aufenthaltsrecht und das über- und zwischenstaatliche Recht in den Blick zu nehmen sind. In ihrer Kommentierung des § 20 SGB II und des neuen Regelbedarfs-Ermittlungs-gesetzes im Anhang zu dieser Kommentierung setzt sich

Lenze unter anderem kritisch mit den neu ermittelten Re-gelbedarfen auseinander und hält die aus ihrer Sicht zen-trale verfassungsrechtliche Frage für weiterhin ungeklärt, ob die Regelbedarfe gegenwärtig einen ausreichenden fi-nanziellen Spielraum für den internen Ausgleich zwischen den Bedarfspositionen gewährleisten.

Dieser sehr knappe Überblick macht deutlich, dass in der Neuauflage der Nutzer nicht nur etwas über die neuen Re-gelungen erfährt, sondern dass ihm dies auch in Form von meinungsstarken Positionen geboten wird. Diese Positio-nen müssen nicht geteilt werden, aber dass sie hier vorge-stellt und begründet werden und dass die Erläuterung des neuen Rechts sich nicht nur auf die Wiedergabe der Geset-zesmaterialien beschränkt, ist ein Pluspunkt für den Kom-mentar.

Dass es rechtpolitisch Anlass zur Kritik an den Neuregelun-gen im SGB II geben kann, etwa weil das sog. Rechtsverein-fachungsgesetz vom 26.07.2016 (BGBl. I 2016, 1824) das Recht eben nicht nur vereinfacht hat, sondern es mit weite-ren kleinteiligen Differenzierungen komplizierter gemacht hat, ist nicht zu bezweifeln. Eine kritische Position lässt sich den sachkundigen Ausführungen von Heinrich Alt, ehemali-ges Mitglied des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit, entnehmen, in seinem Gutachten zum Reformbedarf der Grundsicherung, erstellt im Auftrag der Friedrich-Nau-mann-Stiftung für die Freiheit (Februar 2017, abrufbar unter: https://shop.freiheit.org/#!/Publikation/665). Für sei-ne Diagnose, dass die Idee, die Grundsicherung für Arbeit-suchende in der Leistungsgewährung einfacher als die alte Sozialhilfe zu gestalten, grandios gescheitert sei, bietet er als Therapien unter anderem die radikale Überprüfung des Leistungsrechts der Grundsicherung anhand klar definierter Prinzipien und den Verzicht auf die Kumulation von Sozial-leistungen an. Mit berechtigter Skepsis sieht er, dass dazu auch der politische Mut und die Erkenntnis gehörten, dass Fairness nicht ausschließlich etwas mit centgenauer Ab-rechnung zu tun hat. Denn in der Tat ist das Existenzsiche-rungsrecht für die Politik interessant letztlich nur als Feld, auf dem Gerechtigkeitsdifferenzierungen blühen. Hier wir-ken – wie auch sonst im Bereich des Sozialen – die Forde-rung aus der Gesellschaft nach immer weiterer Verrechtli-chung und Vergerechtlichung und der Ruf nach der Ver -antwortung des Staates sowie das Aufgreifen der Forde-rung und die Annahme des Rufes durch den immer kompli-zierteren und teureren, in Gerechtigkeitsdifferenzierungen verstrickten, immer weitere Lebensbereiche regulierenden Staat zusammen (Flint, Wieviel Sozialstaat braucht die Ge-sellschaft im Kapitalismus mit menschlichem Antlitz? in: Plöse/Fritsche/Kuhn/Lü ders, „Worü ber reden wir eigentlich?“, Festgabe fü r Rosemarie Will, 2016, S. 422).

BÜCHERSCHAU

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Die Monatszeitschrift

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DIE AUTOREN

IMPRESSUM

Herausgeber: Vors. Richter am BSG Prof. Dr. Thomas Voelzke, KasselVors. Richterin am BFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel, München Vizepräsident des LG Holger Radke, Mannheim Prof. Dr. Stephan Weth, Universität des Saarlandes, SaarbrückenRechtsanwalt Prof. Dr. Christian Winterhoff, Hamburg

Expertengremium: Vors. Richter am BGH a.D. Wolfgang Ball, LembergRechtsanwalt Prof. Dr. Guido Britz, HomburgVizepräsident des LAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb, Köln Richter am BVerwG Prof. Dr. Harald Dörig, LeipzigProf. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, Universität des Saarlandes, Saar-brücken Weiterer aufsichtsführender Richter am AG a. D. Dr. Wolfram Viefhues, Oberhausen

Redaktion: Rechtsanwalt Daniel Schumacher

Medieninhaber und Verlag: juris GmbH, Juristisches Informationssystem für die Bundesrepublik Deutschland, Gutenbergstraße 23, 66117 Saarbrücken, Tel.: 0681 5866-0, Fax: 0681 5866-239, E-Mail: [email protected]äftsführer: Samuel van Oostrom, Johannes Weichert, Aufsichtsratsvorsit-zender: Ministerialdirigent Dr. Matthias Korte

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für Manuskripte, die unverlangt einge-sendet werden. Mit Annahme der Veröffentlichung erwirbt der Verlag das aus -schließliche Verlagsrecht, insbesondere auch das Recht zur Herstellung elektro -nischer Versionen sowie das Recht zu deren Vervielfältigung online oder off-line ohne zusätzliche Vergütung.

Urheber-und Verlagsrechte: Alle veröffentlichten Beiträge sind urheberrecht -lich geschützt. Das gilt auch für die Leitsätze der Gerichtsentscheidungen, so-weit sie vom Autor bearbeitet wurden. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen Einrichtungen. Eine Reproduktion oder Über-tragung in maschinenlesbare Sprache ist – außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes – nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

Erscheinungsweise: 11 Ausgaben jährlich, davon ein Doppelheft (August/ September), sowie als Beilage zum Anwaltsblatt

Bezugspreis: Im Jahresabonnement 180,- € zuzüglich Versandkosten incl.Online-Zugang unter juris.de Das Jahresabonnement verlängert sich um ein Jahr, wenn es nicht sechs Wo-chen vor Jahresende gekündigt wird.

Bestellungen: Über jede Buchhandlung und beim Verlag

Satz: Datagroup Int., Timisoara

Druck: L.N. Schaffrath GmbH &Co.KG Druck Medien, Marktweg 42-50, 47608 Geldern

ISSN: 2197-5345

Rechtsanwalt

Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen; Promotion über ein Thema aus dem Bereich des Internationalen Gesellschaftsrechts. Herr Werner ist seit 1997 Rechtsanwalt und war für ver-schiedene Wirtschaftskanzleien in München und Stuttgart tätig. Seit 2004 ist er Rechtsan-

walt in Gerlingen und Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zu gesell-schaftsrechtlichen Themen.

Dr. Rüdiger Werner

Rechtsanwalt und Fachanwalt für IT-Recht

Wolfgang Kuntz ist Rechtsanwalt und Fachan-walt für IT-Recht in der Kanzlei Valentin & Kol-legen in Saarbrücken. Daneben ist der Autor als Syndikusanwalt für die Recht für Deutschland GmbH tätig und verantwortlicher Redakteur der von Prof. Dr. Maximilian Herberger heraus-

gegebenen Internetzeitschrift JurPC (www.jurpc.de). Ferner arbeitet der Autor in der Gemeinsamen Kommission „Elektronischer Rechtsverkehr“ des EDV-Gerichtstages e.V. mit und kann diverse Veröffentlichungen in verschiedenen juristischen Fachzeitschriften vorweisen. Weiterhin ist er u.a. für den Saarländischen Anwaltverein (SAV GmbH) als Referent für Semi-nare und Fortbildungsveranstaltungen im Einsatz.

Wolfgang Kuntz

Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn

Herr Thüsing ist seit dem Wintersemester 2004/2005 Direktor des Instituts für Arbeits-recht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn. In den vergangenen zehn

Jahren war er mehr als 20 Mal Sachverständiger bei Anhörungen verschie-dener Ausschüsse des Bundestages (Arbeit und Soziales, Gesundheit, In-neres, Familie, Recht, Europa). Er ist Autor zahlreicher Standardwerke des Arbeitsrechts und ein gefragter Redner.

Prof. Dr. Gregor Thüsing

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NEUES VON juris

NEUAUFLAGE juris PraxisKommentar SGB XI, Soziale Pflegeversicherung, 2. Auflage online

Gesamtherausgeber:

Prof. Dr. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozial-gerichts, Kassel Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vorsitzender Richter am

Bundessozialgericht, Kassel

Bandherausgeber:

Prof. Dr. Ernst Hauck, Vorsitzender Richter am Bundes-sozialgericht, Kassel

Der juris PraxisKommentar berücksichtigt die umfang-reiche Rechtsprechung und Literatur zum SGB XI mit den Schwerpunkten

Leistungsberechtigter und versicherungspflichtiger Personenkreis Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung Organisation und Finanzierung der Sozialen Pflege-

versicherung.

Die grundlegenden und aktuellen Gesetzesänderun-gen werden in der 2. Auflage 2017 umfassend kom-mentiert durch das

Erste Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versor-gung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Erstes Pflegestärkungsgesetz – PSG I) v. 17.12.2014, BGBl I 2014, 2222 Zweite Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versor-

gung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zwei-tes Pflegestärkungsgesetz – PSG II) v. 21.12.2015, BGBl I 2015, 2424 Dritte Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versor-

gung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) v. 23.12.2106, BGBl I 2016, 319

Folgende Neuerungen sind besonders hervorzuheben:

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff soll neben kör-perlichen Einschränkungen geistige und seelische Ein-schränkungen stärker berücksichtigen. Im Fokus einer neuen Begutachtung stehen die Fä-

higkeiten und der Grad der Selbstständigkeit des Einzelnen. Gutachter sollen in sechs Lebensbereichen beurteilen, in welchem Maße sich ein Mensch noch selbst versorgen kann oder ob er Hilfe benötigt. Fünf Pflegegrade ersetzen die bisherigen drei Pflege-

stufen. Dadurch soll eine genauere Begutachtung vor-genommen werden können, welche die Beeinträchti-gungen der Menschen besser berücksichtigt.

Außerdem wird das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde-rungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) v. 23.12.2016, BGBl I 2016, 3234 berücksichtigt.

Die Herausgeber, Autorinnen und Autoren verfügen über große praktische Erfahrung, sei es in der Justiz oder als führende Mitarbeiter in Verwaltung und Ver-bänden. Aktualisierungen werden fortlaufend ein-gearbeitet. So arbeiten Sie immer auf dem neuesten Stand des Rechts.

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jurisAllianz führende Großkommentare, Handbücher, Zeitschriften und Praxisratgeber zur Verfügung. ju-ris verknüpft diese Inhalte zuverlässig mit Gesetzen, Verwaltungsvorschriften und Urteilen mittels ihrer bewährten und unerreichten juris Recherche-Techno-logie. Durch intelligente Verschlagwortung und Verlin-

Page 50: 2017 Die Monatszeitschrift - juris.de · PDF fileBeweislast in Filesharing-Fällen RA und FA für IT-Recht Wolfgang Kuntz M 6 Juni 2017. NEU: Gesetzliches Güterrecht! STAUDINGER Online

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Die Monatszeitschrift

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Die Monatszeitschrift

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NEUES VON juris

kung kann der Anwender sich darauf verlassen, stets die Informationen zu finden, die er für seine tägliche Arbeit benötigt.

Eine von juris und DATEV eigens hierfür entwickelte Schnittstelle ermöglicht es, dass die Nutzer aus der DATEV-Anwendung heraus die juris PartnerModule zum Steuerrecht der jurisAllianz Partner Verlag Dr. Otto Schmidt und Stollfuß Medien direkt durchsuchen können. Der Vorteil für die DATEV-Mitglieder liegt da-rin, dass in der Steuer-, Rechts- und Wirtschaftsdaten-bank LEXinform zukünftig deutlich mehr Verlagsinhal-te zur Verfügung stehen.

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Die Neubearbeitung des Gesetzlichen Güterrechts bringt die Kommentierung auf den aktuellen Stand. Sie nimmt die durch die Reform des Zugewinnaus-gleichsrechts geänderte Rechtslage auf und wertet die dazu bereits vorliegende Rechtsprechung und Li-teratur aus. Die seit Inkrafttreten des FamFG gelten-den Verfahrensregeln werden, wo es darauf ankommt, ausführlich berücksichtigt.

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Infos zum Ablauf und zur Anmeldung unserer kosten-losen Online-Schulungen unter: www.juris.de/webinare

Basis I Einführung in die juris Recherche

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21.06.2017, 11:00-12:00 Uhr

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14.06.2017, 14:00-15:00 Uhr

Fortgeschrittene

08.06.2017, 11:00-12:00 Uhr

28.06.2017, 14:00-15:00 Uhr

20.07.2017, 10:00-11:00 Uhr

Informationsforen und Veranstaltungen

Weitere aktuelle Termine finden Sie hier: www.juris.de/veranstaltungen

Informationsforum Hamburg

07.06.2017

Informationsforum Köln

21.06.2017

Informationsforum München

05.07.2017

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