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Insel Verlag Leseprobe Nitsch, Wolfram / Ritte, Jürgen Marcel Proust und der Erste Weltkrieg 17. Publikation der Marcel Proust Gesellschaft Herausgegeben von Wolfram Nitsch und Jürgen Ritte © Insel Verlag 978-3-458-17692-3

978-3-458-17692-3...Marcel Proust und der Erste Weltkrieg Beiträge des Symposions der Marcel Proust Gesellschaft in Köln im Jahr 2015 Herausgegeben von Wolfram Nitsch und Jürgen

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Insel VerlagLeseprobe

Nitsch, Wolfram / Ritte, JürgenMarcel Proust und der Erste Weltkrieg

17. Publikation der Marcel Proust GesellschaftHerausgegeben von Wolfram Nitsch und Jürgen Ritte

© Insel Verlag978-3-458-17692-3

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Marcel Proustund der Erste Weltkrieg

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Marcel Proust

und der Erste Weltkrieg

Siebzehnte Publikation derMarcel Proust Gesellschaft

Insel Verlag

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Marcel Proust und der Erste Weltkrieg

Beiträge des Symposions der Marcel Proust Gesellschaft in Köln im Jahr 2015

Herausgegeben von Wolfram Nitsch und Jürgen Ritte

Für die Wiedergabe des Werkes von Pablo Picasso:

© Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Veröffentlicht mit Unterstützung von

© Marcel Proust Gesellschaft, Köln 2017

Alle Rechte vorbehalten

Insel Verlag Berlin 2017

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in Germany

ISBN 978-3-458-17692-3

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Inhalt

Wolfram Nitsch/Jürgen Ritte: Vorwort 7

Karl Heinz Bohrer: Poetische Erinnerung und der Krieg 11

Jörg Dünne: Nacht über Paris. Krieg und Katastrophenlandschaft bei

Proust und Céline 30

Wolfram Nitsch: Luftschutzraum und Lustrevier. Die Metro in Le tempsretrouvé 51

Yuji Murakami: »J’étais comme un chirurgien…«. Der Erste Weltkrieg

und die röntgenologische Metapher in À la recherche du temps perdu68

Karin Westerwelle: Pathos und Trauer. Zur Rede über den Krieg bei

Proust 103

Brigitte Mahuzier: »Je suis Charlus«. Proust und die déraison d’état 139

Philippe Chardin: »Die Unmenschlichkeit hat ihre besten Zeiten noch

vor sich.« Bilder vom Ersten Weltkrieg bei Proust und Karl Kraus

160

Edward J. Hughes: »Comme on aimait en Dieu, je vois dans la guerre«.

Identität und Identifikation in Marcel Prousts Briefwechsel während

der Kriegsjahre 181

Jürgen Ritte: »Je crois qu’on généralise trop les crimes allemands.«

Prousts Deutschlandbild während der Kriegsjahre 201

Pyra Wise: Jean Bénac. Eine verborgene Quelle für Robert de Saint-

Loup 224

Abkürzungsverzeichnis 262

Zu den Autoren dieses Bandes 263

Namenregister 266

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Vorwort

Am Abend des 11. November 1918, die Tinte unter dem Waffenstillstands-

abkommen im Ersten Weltkrieg war noch nicht getrocknet, schrieb Mar-

cel Proust an seine Vertraute Geneviève Straus: »Was für ein wunder-

bares allegro presto in diesem Finale nach den unendlichen Längen des

Anfangs und alles Weiteren. Was für ein Dramatiker ist doch das Schick-

sal oder der Mensch, der sein Werkzeug gewesen ist…«. Und tags darauf

fuhr er, immer noch an dieselbe Adressatin gewandt, fort: »Nur in den

Dramen Shakespeares erlebt man, wie sich in einer einzigen Szene alle

Ereignisse überstürzen…« Das mag sich so anhören, als verfalle Proust,

kaum ist das Grauen beendet, wieder zurück ins ästhetisierende Parlan-

do des Salontons, den er Madame Straus gegenüber anzuschlagen pflegt.

Und doch wissen wir aus einer genauen Lektüre der Korrespondenz in

den Kriegsjahren wie auch aus einer genauen Lektüre der Recherche und

ihrer Entstehungsgeschichte, welche gewaltige Wirkung das Ereignis des

Krieges und seiner Begleitumstände auf Prousts Leben, Schaffen und

Denken gezeitigt hat. Er hielt sich den Krieg nicht ästhetisierend vom

Leibe, der Krieg rückte ihm vielmehr zu Leibe, und zwar wörtlich: Mehr-

fach musste er sich einer militärischen Musterung zwecks Überprüfung

seiner Dienstuntauglichkeit unterziehen. Und diesen Untersuchungen

sah er mit durchaus gemischten Gefühlen entgegen: In die Angst, trotz

seiner miserablen Gesundheit noch mobilisiert zu werden, mischte sich

das schlechte Gewissen dessen, der sein Leben nicht an der Front riskier-

te – wie etwa Prousts Bruder Robert, der als Lazarettarzt mehrmals aus-

gezeichnet wurde, oder auch Reynaldo Hahn, der sich sogar aktiv um

seine Versetzung an die Front bemühte. Zum schlechten Gewissen kam

die Trauer um gefallene Bekannte und Freunde wie etwa Jean Bénac

(von dem in diesem Band erstmals ausführlicher die Rede ist) oder Ber-

trand de Fénelon. Der Krieg verschlechterte auch Prousts ohnehin schon

angespannte Finanzlage dramatisch: Als unvorsichtiger, ja leichtsinniger

Spekulant, der sich oftmals eher vom exotischen Wohlklang bestimmter

Aktientitel leiten ließ als von ökonomischer Vernunft, war Proust den

Kurseinbrüchen am Anfang des Ersten Weltkriegs, der zeitweiligen Schlie-

ßung bestimmter Börsen und der Suspendierung des internationalen

Handels stärker als andere Anleger ausgesetzt. Er verdankte es einem

entfernten Cousin, dem Bankier Lionel Hauser, dass er den Krieg nicht

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nur nicht mittellos überlebte, sondern auch noch komfortabel genug,

um, wie im Jahre 1917 wieder mehrmals geschehen, ins Ritz zu gehen

und dort Abendgesellschaften zu geben – und von dort aus den Abend-

himmel zu betrachten, an dem Flugzeuge wie Sternbilder aufstiegen.

Proust verfolgte das Kriegsgeschehen mit großem Interesse, las täg-

lich sieben Zeitungen und wurde über dieser Zeitungslektüre zum hefti-

gen Kritiker des »bourrage de crâne«, der Gehirnwäsche durch eine pa-

triotisch-chauvinistisch aufgeheizte Presse, die jeden Deutschen – mit

einem von Proust nur ausnahmsweise verwendeten Wort – als »boche«

beschimpfte und die von Proust geliebte Kultur des Feindes, vor allem

die deutsche Musik und Philosophie, mit Hohn und Spott überzog. Man

fühlt sich bei der Lektüre der Korrespondenz oder einiger Passagen

der Recherche zuweilen an die ätzende Medienkritik eines Karl Kraus er-

innert. Proust ging sogar so weit, 1915 in einem Brief an Louis d’Albuféra

zu vermuten, man »übertreibe« im Allgemeinen die Kriegsgräuel der

Deutschen – und dies nach der Zerstörung der Kathedrale von Reims

durch die deutsche Artillerie, nach der Verletzung der Souveränität Bel-

giens und der dort, etwa in Leuwen, nachweislich begangenen Kriegsver-

brechen. Mit solch provokanten Äußerungen konnte er sich freilich nicht

an eine Öffentlichkeit wagen, die in Paris sämtliche Depots der Schwei-

zer Firma Maggi verwüstete, weil man sie für Filialen der deutschen

Spionage hielt. Aber man darf wohl behaupten, dass Proust damit nach

seinem Engagement in der Dreyfus-Affäre sowie nach seinem Kampf ge-

gen den gefürchteten »Tod der Kathedralen« ein drittes Mal ins Feld zog,

um für die Wahrheit und die Vernunft, die ersten Opfer des Krieges, eine

Lanze zu brechen. In À la recherche du temps perdu delegiert Proust die

Kritik an den intellektuellen und moralischen Verwerfungen im Hinter-

land an einige Romanfiguren: an Robert de Saint-Loup, der als vorbild-

licher, weil ritterlicher Soldat in den Kampf zieht, ohne den Gegner zu

hassen; und an die schillernde, provokant germanophile Gestalt des Ba-

ron de Charlus, den der Erzähler auf seinem Gang durch das nächtliche

Paris der Kriegszeit ins Männerbordell begleitet.

Damit ist auch der entscheidende Niederschlag (oder gar Einschlag)

des Krieges in Prousts Welt benannt. Er betrifft die Arbeit am Roman

selbst. Das erste Manuskript der Recherche war bereits 1912 abgeschlos-

sen, Anfang und Ende waren geschrieben, zwei große Bände sollten es zu-

nächst sein. Nachdem Proust lange und erfolglos nach einem Verleger ge-

sucht hatte, erschien schließlich der erste Band Du côté de chez Swann am

14. November 1913 auf Prousts Kosten im Verlag des jungen Bernard

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Grasset. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Der Verlag der

Nouvelle revue française, Gallimard, der Prousts Manuskript zunächst ab-

gelehnt hatte, besann sich eines Besseren und versuchte ihn nach dem

Erscheinen seines Romans von einem Verlagswechsel zu überzeugen.

Dieser fand nach einigen Verhandlungen auch statt, doch unterbrach

der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die zügige Publikation der bereits

fertig gestellten Teile. Das Verlagsgeschäft kam annähernd zum Erlie-

gen. Proust, der das Wort »fin« schon längst geschrieben haben wollte,

schrieb unterdessen »ohne Ende« weiter, um die inzwischen sprichwört-

liche Formulierung von Rainer Warning aufzunehmen, blähte den Ro-

man gleichsam von innen her auf, führte ihn in andere Dimensionen bis

hin zur Unabschließbarkeit – und so hielt, wohl ab 1916, auch der Erste

Weltkrieg Einzug in das Universum der Recherche. Ein mit gut hundert

Seiten in der Pléiade-Ausgabe vergleichsweise kurzes, aber dichtes und

entscheidendes Kapitel am Anfang von Le temps retrouvé ist ihm gewid-

met. Dass dieses Kapitel nicht nur von anekdotischem Wert ist und nicht

nur zeithistorisches Kolorit in den Roman bringen soll, zeigt sich schon

an einer winzigen, aber entscheidenden und oftmals übersehenen Kor-

rektur am bereits 1913 erschienenen Auftaktband Du côté de chez Swann:

Hatten (und haben) nachfolgende Generationen von Lesern die dort vor-

kommende Ortschaft Combray, in der die Handlung ihren Anfang nimmt,

umstandslos mit dem realen, südwestlich von Chartres gelegenen Illiers

identifiziert, dem Geburts- und Herkunftsort von Prousts Vater Adrien,

so nimmt Proust anlässlich der Neuauflage von Du côté de chez Swann im

Jahre 1919 bei Gallimard eine bedeutende geographische Veränderung

vor: Combray und die ganze Welt von Combray mit ihren beiden We-

gen, dem zu Swann und dem zu den Guermantes, liegt nunmehr in der

Nähe von Reims, also in unmittelbarer Nähe des Frontverlaufs, und

ist so, genau wie Gilberte Swann als Schlossherrin von Tansonville, mit

dem Kriegsschicksal Frankreichs aufs engste verwoben. Damit verleiht

Proust seinem Roman, der auch als Abgesang auf eine Epoche angelegt

war, endgültig die Signatur der literarischen Moderne, deren avanciertes-

te Vertreter, etwa die mit ihm bekannten und von ihm mit amüsiertem

Interesse wahrgenommenen »Dadas« André Breton oder Philippe Sou-

pault, aus der Kriegserfahrung ungleich radikalere Konsequenzen für

die Kunst gezogen hatten. Es wirkt ganz so, als ordnete der Krieg bei

Proust nicht nur die gesellschaftlichen und sexuellen, sondern auch die

ästhetischen Koordinaten neu.

Diesen und anderen Aspekten der »Grande Guerre« bei Proust geht der

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vorliegende Band, die erste deutschsprachige Buchpublikation zum The-

ma1, auf verschiedenen Wegen nach. In der internationalen, besonders in

der französischsprachigen Forschung hingegen ist Prousts Auseinander-

setzung mit dem Krieg zuletzt – wohl auch im Hinblick auf die zahlrei-

chen Gedenkfeiern zu den Ereignissen zwischen August 1914 und No-

vember 1918 – schon mehrfach behandelt worden2. Daher verfolgt unser

Band, der auf ein internationales Symposion der Marcel Proust Gesell-

schaft vom 25. bis zum 27. Juni 2015 in Köln zurückgeht, auch das Ziel,

der deutschsprachigen Leserschaft einige der namhaftesten Experten auf

diesem Gebiet aus Frankreich, Großbritannien, den USA und Japan vor-

zustellen. Unser Dank gilt all jenen, die sowohl das Symposion als auch

diePublikation ermöglichthaben: derDeutschenForschungsgemeinschaft,

dem Centre d’Études et de Recherches sur l’Espace Germanophone an

der Université de la Sorbonne Nouvelle/Paris 3, der Arbeitsgemeinschaft

literarischer Gesellschaften sowie der Dr. Speck Literaturstiftung. Be-

sonders danken möchten wir Leyla Bektas MA für die Redaktion des

Bandes sowie Dr. Moth Stygermeer für die Übersetzung der französisch-

sprachigen Beiträge von Philippe Chardin, Edward Hughes, Brigitte Ma-

huzier, Yuji Murakami und Pyra Wise.

Köln/Paris, im Juni 2016 Wolfram Nitsch/Jürgen Ritte

Anmerkungen

1 Ausdrücklich erwähnt sei freilich der wegweisende Aufsatz von Reinhold Hohl,

»Proust et la Grande Guerre – Proust und der 1. Weltkrieg«, in: Proustiana Nr. 23

(2005), S. 93-121.

2 Vgl. insbesondere Brigitte Mahuzier, Proust et la guerre, Paris 2014 (Recherches

proustiennes); Philippe Chardin/Nathalie Mauriac Dyer (Hg.), Proust écrivainde la Première Guerre mondiale, Dijon 2014 (Écritures).

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Poetische Erinnerung und der Krieg

Karl Heinz Bohrer

Am 6. August 1914, eine Woche nach der Kriegserklärung Österreich-

Ungarns an Serbien, der die Kriegserklärung Deutschlands an Russland

und Frankreich gefolgt war, notierte Franz Kafka in seinem Tagebuch:

»Von der Literatur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn

für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere

ins Nebensächliche gerückt. Und es ist in einer schrecklichen Weise ver-

kümmert und hört nicht auf zu verkümmern«.1 Im Blick auf Kafkas Auf-

zeichnungen und Briefe zwischen 1914 und 1918 wird deutlich, dass die

Darstellung dessen, was er sein »traumhaftes inneres Leben« nennt, die

Darstellung des äußeren Lebens, nicht zuletzt der Kriegsereignisse, auf

ein Minimum beschränkte. Die zitierte Eintragung spricht am Ende über

den Tod, über die »ewigen Qualen des Sterbens«. Diese Worte, die schon

im Herbst 1914 für die Erfahrungen der jungen Männer Europas viel-

sagend waren, sind in Kafkas Text auf das eigene »traumhafte innere

Leben« bezogen. Lässt sich diese Differenz von Innerem und Äußerem

als paradigmatisch für Schriftsteller, genauer: für Literatur, verstehen?

Trifft sie auch zu auf Prousts distanzierte Einlassungen zum Ersten

Weltkrieg in seinen Briefen, aber auch im letzten Band von À la recherchedu temps perdu? Gilt unabhängig von Kafkas Sätzen, dass sich die poeti-

sche Erinnerung, eben das »traumhafte innere Leben«, prinzipiell vom

historischen Gedächtnis unterscheidet?

Bevor ich zu dieser zentralen Frage meiner Ausführungen komme, sei

die politisch-historische Voraussetzung des Blicks auf den Krieg bei fran-

zösischen Schriftstellern unabhängig von der literarischen Darstellungs-

form genannt: Dieser Blick war a priori geprägt von der Erfahrung des

preußisch-französischen Krieges von 1870/71. Die katastrophische Nie-

derlage der französischen Armee hatte eine kulturdiagnostische Diskus-

sion über den deutschen Gegner hervorgerufen, in der die bisher vorherr-

schende, sozusagen de Staël’sche Perspektive über Nacht verschwand:

das Bild Deutschlands als eines politisch und militärisch nicht ambitio-

nierten Landes, dessen in der Provinz lebende Dichter und Denker das

allein Erwähnenswerte seien. Es war ein harmloses Deutschland ohne das

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Preußen Friedrichs des Großen, Scharnhorsts oder Blüchers. Stattdes-

sen nun das alarmierende Bild einer technokratisch-ökonomisch avan-

cierten, machtpolitisch ehrgeizigen Nation mit Preußen als ihrem Zen-

trum. Den Tagebüchern der Brüder Goncourt lassen sich einschlägige

Diskussionen innerhalb der Pariser Intelligenz über die Relevanz der

neuen deutschen Modernität entnehmen. Besonders die Reaktion des

einflussreichen Religionsphilosophen Ernest Renan ist hervorzuheben,

der den preußisch-deutschen Sieg nicht bloß als Ausdruck brutaler Macht-

maschinerie verstand, sondern eine intellektuelle Substanz entdeckte,

die ihn beunruhigte und die seine Confrères seiner Meinung nach ernst

nehmen sollten.

Bei der Mehrheit der französischen Schriftsteller setzte sich indes ein

äußerst negatives Deutschlandbild fest, das Bild eines auch in Zukunft

gefährlichen Gegners, wofür die Erzählungen Maupassants charakteris-

tisch waren. Romain Rollands romantisierende Darstellung eines deut-

schen Komponisten in seinem enorm populären Roman Jean-Christophekonnte demgegenüber nur als eine kulturelle deutsch-französische Uto-

pie angesichts der drohenden Zeichen einer bevorstehenden Katastrophe

gelten. Die Vorkriegs- und Kriegsnotizen von Apollinaire, dem Anreger

des Pariser Surrealismus, der 1919 an seiner Kriegsverwundung starb,

scheinen charakteristischer für das französische Bild des deutschen Geg-

ners zu sein. Die Pointe ist dabei Apollinaires Argument einer für selbst-

verständlich genommenen französischen Superiorität auf dem Gebiet des

zivilisatorischen und literarischen Stils, die er besonders in seinen kultur-

kritischen Schriften hervorhebt.2 Dabei hatte er in der »Rhénanes« be-

titelten Gruppe von Gedichten eine von Clemens Brentano angeregte

Rhein-Mythologie mit symbolistischer Metaphorik verknüpft. Seine Iro-

nisierung des deutschen kulturellen Anspruchs beruhte auf der spezi-

fischen Kenntnis deutscher Kulturdebatten, nicht zuletzt der emphati-

schen Vereinigungsrhetorik, die ihm politisch die Naivität einer zu spät

gekommenen Nation zu sein schien.

Gegenüber einer solchen Thematisierung des Krieges bzw. des Kriegs-

gegners fällt in ProustsBriefen einemarkanteEnthaltsamkeit auf.DieBe-

handlung des Themas verrät wohl eine kalkulierte Haltung, die Prousts

spezifischer, am jeweiligenAdressaten orientierter Briefrhetorik entspricht,

bei der jedenfalls keine existentielle oder historisch-politische Identifika-

tion mit dem Krieg gegen Deutschland zu erkennen ist wie in Apolli-

naires Texten vor und nach 1914 oder in Flauberts Briefen nach 1870/71.

Dennoch hat Proust der Krieg und sein Verlauf, wie ein Brief vom März

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1915 zeigt, nachdrücklich beschäftigt, und er hat die Nachrichten dar-

über zeitweise täglich verfolgt. Die wenigen Hinweise in den Briefen zwi-

schen 1914 und 1918, die auf Prousts persönliche Einstellung und Wertung

schließen lassen, zeigen aber auch eine ideologiekritische oder mentali-

tätsdiagnostische Distanz gegenüber dem polemischen Vokabular seiner

Zeitgenossen, wie sie auch im letzten Buch der Recherche deutlich wird.

Wörter wie »Boche« oder »ihre Kultur« werden als »Gerede« bezeichnet,

die Polarisierung von Deutschland und »Zivilisation«, wie sie Joséphin

Péladan in seinem Buch L’Allemagne devant l’humanité et le devoir descivilisés (1916) entfaltet, sind in Frage gestellt. Proust bekennt sich zu

Richard Wagners Musik – Tristan und der Ring werden hervorgehoben –

und kommentiert kritisch deren Tabuisierung aus patriotischen Grün-

den. Selbst zum Kult um die französischen Kriegsgefallenen aus höheren

Kreisen hält er ironische Distanz.

Angesichts der witzigen und historisch erkenntnisreichen Kritik Apolli-

naires am Stil des deutschen kulturellen Nationalismus entspricht Prousts

Zurückhaltung in den Briefen wohl seiner von Tradition geprägten In-

tellektualität: der Ironie gegenüber Meinungssachen. Das einzige Mal, wo

Proust in seinen Briefen vom Krieg selbst spricht, bei der Beschreibung

deutscher Flugzeuge über Paris, nimmt er eine als ästhetisch misszuver-

stehende Perspektive ein, auf die ich zum Abschluss anlässlich der Kriegs-

reflexion in Le temps retrouvé eingehen werde. Die Abwesenheit des mas-

senhaften Sterbens in seiner Korrespondenz ist indessen mit einem Um-

stand zu erklären, der die einleitende Frage nach dem paradigmatischen

Charakter von Kafkas Schweigen betrifft: Auch Proust denkt den Tod

als eine für ihn wie für alle anderen bestehende existentielle Bedrohung,

die nicht exklusiv dem Krieg zugeordnet werden kann: »[…] daß der Tod

unsere einzige Hoffnung ist und uns den Mut gibt, bis zum Abend fort-

zuwandern« (Brief an André Gide vom 20. Februar 1919).3

Wie stellt sich nun aber der Krieg selbst in der literarischen Tradition

dar, jenseits politischer Urteile und kultureller Meinungen? Der Krieg

war, bevor er durch den Ersten Weltkrieg moralisch, psychologisch und

politisch gebrandmarkt wurde, ein zentrales Thema der literarischen Phan-

tasie von ihren Anfängen an: als ein besonderer Modus, der im Begriff

der poetischen Erinnerung von historischem Gedächtnis unterscheidbar

ist. Dieser Unterschied ist am Gegensatz von Victor Hugos Gedicht »À

l’Arc de Triomphe« als vollendetem Gedächtnisdenkmal einerseits und

Baudelaires Gedicht »Le Cygne« als reflexiver Zersetzung des histori-

schen Gedächtnisses andererseits von Barbara Vinken deutlich gemacht

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worden.4 Ebenso ist das auch im realistischen Roman immer anwesende

Imaginäre hervorzuheben, das Rainer Warning im Anschluss an Bach-

tins Werk Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman und an Cor-

nelius Castoriadis’ Buch L’institution imaginaire de la societé erläutert

hat.5 Von diesen beiden Kategorien, der Zersetzung des historischen Ge-

dächtnisses und dem Imaginären bei der Schilderung des Realen, ist aus-

zugehen, wenn man die poetische Erinnerung an den Krieg vom histori-

schen Kriegsgedächtnis unterscheidet, wie das im Folgenden geschehen

soll.

Schon Homers Ilias, das erste Stück europäischer Literatur, wirft die

Frage auf, inwiefern das künstlerische Interesse des Dichters besonders

der Darstellung des Kampfes galt. Die Signifikanz des Kriegsthemas in

der Malerei seit Renaissance und Barock, die Devise »arma et litterae«,

also die unmittelbare Analogisierung von Krieg bzw. Waffen und Lite-

ratur in der Ikonographie des Herrschers, gehören in die Kriegsemble-

matik der europäischen Literatur. Selbst Hamlet, der Denker, wird am

Ende auf eine Kanone gelegt, und man sagt ihm nach, er hätte sich höchst-

königlich, d.h. kriegerisch bewährt. Diese kulturell etablierte Kriegssym-

bolik ist aber nur der Rahmen einer die historische Vergangenheit spe-

zifischer betreffenden Präsenz des Krieges in Roman und Drama der

Neuzeit. Shakespeares 1590 geschriebene Theatralisierung der Rosenkrie-

ge, Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg von 1810, Tolstois Epo-

chenepos Krieg und Frieden von 1864/69, William Faulkners 1939 ge-

schriebener Bürgerkriegsroman The Unvanquished und Claude Simons

Kampfdarstellungen in La Route des Flandres von 1960 oder L’Acacia von

1989 seien hier aus einem viel größeren Feld genannt – wozu auch Ge-

dichte des deutschen Expressionismus gehören –, weil sie verschiedene

Nationalliteraturen repräsentieren, dem literarisch-kulturellen Bewusst-

sein besonders geläufig sind und in ihrer Gegensätzlichkeit die Differenz

von poetischer Erinnerung und historischem Gedächtnis besonders her-

vortreten lassen.DasumgekehrteVerfahren,nämlichHaydenWhitesLek-

türe historischer Texte nach den Regeln der poetischen Rhetorik, also

mythischer Archetypen, sei beiseitegelassen, weil White zwar einen Wi-

derspruch gegen die hier behauptete Differenz von Geschichtsschreibung

und Poesie erkennen lässt, aber nicht ihre Widerlegung. Die Kriegsdar-

stellungen der genannten Schriftsteller sind vor allem aber deshalb ange-

führt, weil an ihnen das Merkmal des Imaginären besonders hervortritt,

beziehungsweise weil erkennbar wird, inwiefern die Kriegsthematik das

Imaginäre fördert. Dabei fällt jeweils ein anderer Aspekt ins Auge: die

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Intensität der Hassrede bei Shakespeare; die geträumte Unendlichkeit

bei Kleist; die Kontingenz der Stimmung bei Tolstoi; das lakonische De-

tail bei Faulkner; die mythische Figur bei Simon.

Es hätte nahegelegen, die wahrscheinlich stilistisch machtvollste und

auch imaginativste Darstellung des Krieges als Gemetzel, nämlich Louis-

Ferdinand Célines Roman Voyage au bout de la nuit, einzubeziehen. Aber

es geht hier nicht um hierarchische Reihenfolgen, sondern ausschließlich

um die Verschiebung vom historischen Gedächtnis zur Erinnerung, die

von Célines Darstellung gewiss bestätigt worden wäre. Die in der genann-

ten Literatur behandelten Kriege beziehen sich, abgesehen von Claude

Simon, alle auf zeitlich lange zurückliegende Ereignisse. Aber sie sind nicht

Ausdruck einer historischen Rekonstruktion, eines geschichtlichen Fak-

tengedächtnisses. Die Fakten sind vielmehr einer subjektiven, oft idio-

synkratischen Vergegenwärtigung anverwandelt, in der sich die Evoka-

tion des Imaginären unterschiedlich vollzieht.

1. Die Intensität der Hassrede: Shakespeare

Shakespeares Königsdramen wurden auch in der Absicht geschrieben,

die Geschichte Englands zu einem Zeitpunkt zu evozieren, an dem das

Land einen ersten politischen und kulturellen Höhepunkt erreichte. Be-

sonders die Behandlung der Rosenkriege der letzten Plantagenets und

der Auftritt des ersten Tudor-Königs verraten Rücksicht auf die Inte-

ressen von Queen Elizabeth I., der Enkelin jenes ersten Tudors. Shake-

speare hat zur Vorbereitung seiner Darstellung die Chroniken von Hall

und Holinshed gelesen, die wiederum Aufzeichnungen von Thomas Morus

benutzt hatten. Aber die historisch-politische Motivation bildet nur den

materiellen Hintergrund für eine sublime Sprache, die aus der charakte-

ristischen Grausamkeit des Tötens ihre darstellerischen Effekte zieht.

Beispielhaft hierfür die Szene aus Henry VI, in welcher Richard, Herzog

von York, der Chef der Partei der weißen Rose, in die Hände seiner Fein-

de fällt, verhöhnt und getötet wird. Die Sprache der den Gefangenen

ansprechenden Königin Margaret, der Gemahlin des noch regierenden

Henry VI, besteht aus einer Folge gesuchter sadistischer Motive, deren

Bilder unser Vorstellungsvermögen fast überschreiten und die uns des-

halb in eine imaginative Bewegung versetzen können.

Die Royal Shakespeare Company hat diese Sprachqualität der Dar-

stellung mörderischer Handlungen in Anlehnung an Antonin Artauds

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Konzept des »Theaters der Grausamkeit« seinerzeit besonders drastisch

und aggressiv inszeniert. Shakespeare ist durch die Theatralik von Sene-

cas Schreckensthematik angeregt worden. Die Unheimlichkeit der Todes-

drohung, die Abgefeimtheit, dem Todeskandidaten, bevor er erstochen

wird, das blutbefleckte Tuch seines kurz zuvor ermordeten jüngsten Soh-

nes zu zeigen, das symbolische Wortspiel mit der Krone und dem abge-

schlagenen Kopf, der diese Krone nicht mehr tragen wird, all das kommt

aus der Seneca-Rhetorik. Diese dramatischen Reden sind jedoch in eine

Wörtlichkeit erhoben, in der eine Intensität des Vorstellbaren die bloße

psychologische Prädikation überschreitet. Die imaginative Überlegen-

heit des Wortes gegenüber der Handlung wird später von Shakespeare

durch einen Kommentar Richards, des Herzogs von Gloucester und spä-

teren Richard III., zur Nachricht von der Ermordung seines Vaters so-

zusagen poetologisch-selbstreferentiell ausgedrückt: »If we should re-

count / Our baleful news, and each word’s deliverance / Stab poniards

in our flesh till all were told, / The words would add more anguish than

the wounds […]«.6

Shakespeares Bewusstsein von der Macht der Wörter ist in vielen sei-

ner Tragödien und Komödien reflektiert. Aber die Darstellung des Ge-

metzels des englischen Feudaladels zu Ende des 15. Jahrhunderts gab

diesem Sprachvermögen eine besondere Gelegenheit, aus der bloßen Ge-

schichtsdarstellung herauszutreten und in ihr eine imaginäre Substanz

zu finden.

2. Die geträumte Unendlichkeit: Kleist

Die Kriegsthematik ist in ihrem Potential des Imaginären nicht auf

unmittelbare Darstellung der Gewalt angewiesen. Kleists Drama PrinzFriedrich von Homburg zeigt eine andere Form des Imaginären, das gleich-

wohl mit der Kriegsthematik einhergeht. Der historische Stoff, die Ge-

schichte der Schlacht von Fehrbellin, in der die Reiterei des Kurfürsten

von Brandenburg 1675 das schwedische Heer schlug und den Aufstieg

Brandenburgs zur europäischen Größe Preußens vorbereitete, dieser ge-

schichtliche Hintergrund eines »vaterländischen Schauspiels« (Brief an

Fouqué vom 15. August 1811) wird in der romantischen Rede des Hel-

den – die Wörter »Traum«, »Nacht«, »Tod« und »Unsterblichkeit« sind pro-

minent – überschritten. Eine Inszenierung, die auf die Rekonstruktion

historischer Fakten aus wäre, käme nicht auf ihre Kosten. Die imagina-

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tiven Wörter sind auch nicht bloß dem Missverständnis des Prinzen, sei-

ner Fehldeutung dessen, was als Kriegsereignis vor sich geht, geschuldet.

Die dramatische Thematisierung von militärischem Ungehorsam, dra-

konischem Kriegsrecht und heroisch-stoischer Todesbereitschaft könnte

die imaginäre Dimension verdecken oder sie missverstehen lassen. Zwei-

fellos haben viele traditionelle Aufführungen in der Todesbereitschaft

aus aristokratischer Ehre den theatralischen Höhepunkt des Stücks ge-

sehen.

Aber die Kriegsthematik löst abgründigere Bewusstseinszustände aus,

in denen vor allem das Verschwinden von »etwas« im buchstäblichen Sin-

ne in spezifisch poetischen Bildern emphatisiert wird: sei es das Bild der

ersehnten Prinzessin zu Beginn des Stücks oder das Bild des eigenen Le-

bens am Ende des Stücks. Die Strahlkraft des Auges wird einbezogen in

diese Bewegungsmetaphorik des Verschwindens, Versinkens, Vergehens.

Die Hinrichtung durch ein Erschießungskommando erwartend, spricht

der Prinz die Sätze: »Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist; /

Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt, / Die muntre Hafen-

stadt versinken sieht, / So geht mir dämmernd alles Leben unter: / Jetzt

unterscheid’ ich Farben noch und Formen, / Und jetzt liegt Nebel alles

unter mir.«7 Eher die Sprache des Entsetzens vor dem Tod denn die Spra-

che einer soldatischen Ethik gehört zur imaginären Schicht, die Kleist

aus dem Thema des brandenburgisch-schwedischen Krieges zieht. Nicht

die dramaturgisch-psychologischen Bedingungen des Handlungsverlaufs

sind entscheidend. Entscheidend für das Imaginäre der Rede ist die Über-

schreitung des Psychologischen, die romantische, spezifisch Kleist’sche

Perspektive der Unendlichkeit. Des Prinzen abschließende Worte »Nun,

o Unsterblichkeit, bist du ganz mein« verwandeln ein Motiv des spiritu-

ellen Pietismus zu Bildern des Emporsteigens, Versinkens, Verschwin-

dens, zu Bewegungszuständen, in denen sich die Selbstgewissheit und ih-

re diskursiven Inhalte auflösen. Die Figur des Prinzen von Homburg ist

zwar eine repräsentative Figur des romantischen Bewusstseins, deren

Sprache sogar an die Sprache von Brentanos Schauspiel Ponce de Leon er-

innert. Dennoch trägt die Kriegsthematik zum Ausdruck der imaginären

Zeit erheblich bei: Die vom Kriegsthema gelieferten Zustände des Hel-

den erlauben diesem permanent, die historisch-politische Zeit zu über-

schreiten. In diesem Sinne wurden in der ersten französischen Inszenie-

rung des Stücks nach dem Zweiten Weltkrieg (mit Gérard Philipe in

der Hauptrolle) die letzten Worte des Dramas gesprochen: Der Ruf »In

Staub mit allen Feinden Brandenburgs!« drückte keinen Triumph mehr

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aus, sondern die ironische Rückkehr zur Normalität, nachdem das Nicht-

normale, eben die imaginäre Sprache, vorgeherrscht hatte.

3. Die Kontingenz der Stimmung: Tolstoi

Man würde vermuten, dass die Gattung des realistischen Romans im Un-

terschied zum Drama das historische Gedächtnis privilegiert. Es war in-

des Jules Michelet, der Autor des Werks Histoire de la Révolution française(1847/55), der Historiker mit der »glücklichen Einbildungskraft«, der ge-

rade den Roman in einen Gegensatz zum geschichtlichen Denken gestellt

hat. Der Roman lenke von der »Gerechtigkeit« ab, die der Historiker in

der Geschichte erkennen müsse, der Roman sei vielmehr die Manifesta-

tion der Illusion, der Phantasmagorie, des Schlafes. Was Michelet Mitte

des 19. Jahrhunderts polemisch feststellte, das hat der Kulturtheoretiker

Georges Bataille in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts affirmiert:

dass nämlich der Roman – Bataille bezieht sich auf den romantischen

Roman des 19. Jahrhunderts – kein Interesse an der historischen Zeit ha-

be, sondern nur an einem imaginären Präsens.

Angesichts solcher Urteile stellt sich indes die Frage, ob nicht Tolstois

Roman Krieg und Frieden von 1868/69 ein grandioses Beispiel gerade für

die Darstellung einer historischen Epoche auf dem Höhepunkt des his-

torischen Denkens ist. Tolstoi selbst hat Krieg und Frieden nicht einen

Roman genannt. Was wären aber die nuancierten Bilder von Napoleons

Debattenstil, die detaillierten Angaben über zeitliche Entscheidungspha-

sen, die komplexe Reflexion über die Gründe für den Kriegsausbruch

von 1812, die präzisen Angaben über Details der Schlacht bei Borodino,

nicht zu reden von den malerischen Entfaltungen von Sankt Petersbur-

ger und Moskauer Gesellschaftsabenden – was wäre diese ganze Fauna

geschichtlich belegter Ereignisse anderes als das Denkmal eines histori-

schen Gedächtnisses? Gibt es überhaupt eine historische Darstellung

von 1812 und den Jahren, die dahin führten, die Tolstois Roman an ge-

schichtlichem Sinn überböte? Wenn man nun aber die literarische Dar-

stellungsform, die Reflexion des Erzählers, die Reden vor allem der

hauptsächlich beteiligten Figuren Pierre und Prinz Andrej, die Bilder,

die sich uns dabei einprägen, schließlich auch die Darstellung der Schlacht

näher betrachtet, dann verwandelt sich das, was sich als historisches

Denkmal anbietet, zur poetischen Erinnerung. Tolstoi gibt in den ersten

Sätzen seines Epilogs dem Epos eine scheinbar historische Signatur. Bei

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genauem Hinsehen enthüllt sich jedoch eine spekulativ-philosophische

Kosmologie: »Das aufgewühlte Meer der europäischen Geschichte hatte

sich wieder in seine Ufer zurückgezogen« – »Obgleich das Meer der Ge-

schichte an seiner Oberfläche ohne Bewegung schien, bewegte sich die

Menschheit doch weiter, ununterbrochen wie die Bewegung der Zeit«.8

Diese Sätze verweisen nicht auf das verzeitlichte historische Gedächtnis,

sondern auf ein buchstäblich »ozeanisches« Verhältnis zur Vergangenheit,

das auch in dem Titel Krieg und Frieden ausgesprochen wird: Die Dar-

stellung eines Festes oder einer Schlacht wird Teil eines grandiosen kos-

mischen Geschehens – kraft Tolstois spezifischer Erzählweise. Hans Blu-

menbergs Einsicht, der scheinbare Realismus der Gattung Roman habe

nichts mit der Nachahmung der Wirklichkeit zu tun, sondern komme

aus der dem Roman »eigenen ästhetischen Illusion von Welthaftigkeit«9,

einer »Fiktion der Realität von Realitäten«, erhärtet sich an Tolstois je-

weiliger Verwandlung des bloß historischen Datums in eine unser Denken

anregende, weiterdenkende Phantasiebewegung. Sie ist darin begründet,

dass die Ereignisse und Figuren einen ambivalenten, widersprüchlichen

Ausdruck bekommen, wie es selbst bei einer psychologisch interessierten

geschichtlichen Darstellung nicht möglich wäre. Der Verlauf der Erzäh-

lung kennt keinen teleologischen Impuls, sondern zeigt einen autonomen

Detaillismus, der als Detail fasziniert, ohne dass man ein historisches Ur-

teil brauchte.

Besonders prägend für diese Perspektive gefühlter Kontingenz ist die

Darstellung der beiden Hauptfiguren des Romans, Pierre und Fürst An-

drej. Aus diesen Gestalten spricht eine Subjektivität, die als die Subjek-

tivität des Erzählers gewertet werden kann und die Tatsächlichkeit der

Ereignisse abfälscht zugunsten einer Stimmung ganz anderer Ordnung,

als sie das historische Bewusstsein zuließe. Sowohl die exzentrische Ge-

stalt Pierres als auch die ebenso idiosynkratische Gestalt Andrejs erlau-

ben dem Erzähler, ein uns jeweils überraschendes Denken darzustellen.

Die in beider Gespräche auftauchenden sozial- und gesellschaftspoliti-

schen Themen sind, wie in Anna Karenina, realhistorische Implemente

des Zeitgenossen Tolstoi, die den Phantasma-Charakter der seelischen

Stimmungen und intellektuellen Reflexionen beider Figuren nicht ver-

ändern.

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4. Detaillismus statt Universum: Faulkner

Das Detail in Faulkners Darstellung ist ein konkretes Stück Landschaft,

Kriegsgerät, Haus oder Individualität, das sich, in aller Sinnlichkeit aus-

führlichentfaltet, einemzusammenfassendenBürgerkriegsgedächtnis ent-

zieht, auch wenn das Bewusstsein, einer heroischen Machart des Men-

schen anzugehören, eine zwar militärisch, aber nicht psychisch besiegte

Kultur des Südens zu vertreten, ständig anwesend ist. Beispielhaft für

diese Rolle des sinnlichen Details ist der Beginn des Romans The Unvan-quished.DerErzähler erinnert an ein Spiel, das derHeldmit seinem schwar-

zen Freund gespielt hat: Sie bauten aus Holzspänen und aus der geritzten

Erde eines Räucherraums eine Nachbildung der nahen Stadt Vicksburg

in Mississippi und ihrer Landschaft. Die Aufzählung der Mühen, ein ver-

kleinertes Abbild der Wirklichkeit zu erreichen, evoziert die Vorstellung

vom Krieg, dem »glänzendsten Sieg« und der »tragischsten Niederlage«,

gilt aber eigentlich dem Spiel der beiden Jungen. Der vergebliche Ver-

such,mit einemEimervollWasserausdemnahenBrunnendenFlussnach-

zubilden, ist als Versuch charakterisiert, einen »Schild zwischen uns und

der Wirklichkeit, zwischen uns und dem Geschehen und dem Verhäng-

nis« aufzustellen. Es ist keine Jahreszahl genannt, die Rede ist von »je-

nem Sommer«, und der Erzähler sagt, dass er damals zwölf Jahre alt ge-

wesen sei.

Die Charakterisierung des Spielplatzes bzw. der nachgeahmten Stadt

Vicksburg als »Schlachtfeld« verweist auf den zurückliegenden Kampf,

der eine entscheidende Niederlage des Südens war. Die Bilder, die ver-

wandt werden, verwandeln das Vergangene aber in eine Kette von Phan-

tasiebildern, in denen alle sinnlichen Einzelheiten – das sengende Sonnen-

licht, die Körper der Schwarzen, die Erscheinung der Großmutter – die

angeschnittene Thematik des Bürgerkriegs, also eine universale Idee, tran-

szendieren und eine Pluralität intensiver Wahrnehmungen evozieren. Auch

in ihrer Banalität sichtbar gemacht, sind sie Zeichen dafür, dass etwas

Wichtiges an ihnen ist. Gerade weil das Universale ausgespart ist, be-

kommt das Einzelne seine intensive Lakonie, erscheint uns durch den

Dunst des Schleiers subjektiven Sehens das etablierte Einzelne wichtig.

Das ist au fond Faulkners Verfahren, historisches Gedächtnis in poeti-

sche Erinnerung umzusetzen. Dieses Verfahren, das signifikante Ereig-

nis nicht direkt zu nennen, sondern vage anzudeuten, wird vielgestaltig

und thematisch vielfältig variiert. Vor allem in der Darstellung der zent-

ralen Figur des Vaters, John Sartoris, des nicht zuletzt durch Tötungs-

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