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Zusammenfassung: Es ist Gegenstand der Diskussion, ob der chronisch erlebte Schmerz mit einer mehr nach Innen oder nach Außen gerichteten Aggression einhergeht. In der vorliegenden Studie sollten Patientinnen mit Migräne und Patientinnen mit chronischem Rückenschmerz hinsichtlich ihres Aggressionspoten- tials untersucht werden. Die Ergebnisse von stationären Patient- innen mit Migräne (N=40) und chronischem Rückenschmerz (N=40) wurden mit den Ergebnissen einer gesunden Kontroll- gruppe (N=40) verglichen. Die Untersuchung erfolgte mit zwei standardisierten Fragebögen, der Symptom Checkliste (SCL-90-R) und dem State-Trait-Ärgerausdrucksinventar (STAXI), sowie mit einem projektiven Verfahren, dem Rosenzweig Picture Frustration Test (PFT). Sowohl Patientinnen mit Migräne als auch jene mit Rückenschmerzen zeigten signifikant höhere Aggressivität/Feind- seligkeit (SCL-90-R) Werte als die Kontrollgruppe. Beide Patien- tengruppen wiesen in der Anger-In Skala (STAXI) und im Aggres- sionsäußerungsindex (PFT) signifikant höhere Scores als die Kon- trollgruppe auf, was jedoch in der PFT-Skala Intropunitivität nicht repliziert werden konnte. Das Über Ich-Muster E-E des PFT, als Maß für die Richtung der Aggression nach Außen ergab nur zwi- schen Migränepatientinnen und der Kontrollgruppe einen signi- fikanten Unterschied. Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass sowohl Patientinnen mit Migräne, als auch Patientinnen mit chronischem Rückenschmerz starke Aggressivitätsempfindungen aufweisen. Diese Empfindungen sind möglicherweise deutlich nach innen gerichtet. Die Eindeutigkeit dieser Aussage wird jedoch durch die sehr spezifische Stichprobe und die nicht bestä- tigende PFT-Messung eingeschränkt. Aggression in migraine and chronic low back pain patients – cross sectional study Abstract: Whether chronic pain is associated more with inwardly or outwardly directed aggression is a matter of discussion. In the present investigation, female patients with migraines, as well as female patients with chronic back pain, were studied with respect to their potential for aggression. The results from female inpa- tients with migraines (N=40) and chronic back pain (N=40) were compared with the results from a healthy control group (N=40). The study was carried out with two standardized questionnaires, the Symptom Checklist (SCL-90-R) and the State-Trait Anger Ex- pression Inventory (STAXI), as well as with a projective prospec- tive procedure, the Rosenzweig Picture Frustration Test (PFT). Female patients with migraines, as well as those with back pain, showed significantly higher values for aggression/hostility (SCL- 90-R) than the control group. Both groups of patients had signifi- cantly higher scores on the Anger-In scale (STAXI), and on the Aggression-Expression-Index (PFT) than the control group, which, however, could not be replicated on the PFT scale for intropuni- tiveness. The superego pattern E-E of the PFT, as a measure of out- ward aggression, resulted in a significant difference only between the migraine patients and control group. The results of this study suggest that female patients with migraines, as well as female patients with chronic back pain, have strong perceptions of aggression. These perceptions might be clearly directed inwardly. The unambiguousness of this statement is, however, limited by the very specific random sample and the non-validated PFT mea- surement. EINLEITUNG Kopfschmerzen und Rückenschmerzen sind die häufigsten Schmerzsyndrome, die aufgrund von medizinischen, sozia- len und psychischen Faktoren zu Langzeitbehinderungen führen können (Göbel 2001). Bei der Migräne treten in typischer Weise anfallsartige, bevorzugt halbseitige Kopfschmerzen (Hemikranie) auf, 2. Jahrgang Heft 3 Dezember 2006 77 Aggression bei Migräne und chronischem Rückenschmerz – eine Querschnittsstudie BETTINA TRAUNER 1 , MARIUS NICKEL 2,3 , FERDINAND MITTERLEHNER 4 , CHRISTOPH KETTLER 2 , RAINER RICHTER 5 , HILDEGARD WALTER 1 , PETRA KNEIDINGER 1,2 Originalarbeit Psychiatrie & Psychotherapie (2006) 2/3: 77– 82 © Springer-Verlag 2006 Printed in Austria 1 Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck, Österreich 2 Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie Bad Aussee, Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich 3 Universitätsklinik für Psychiatrie 1, PMU, Salzburg, Österreich 4 Inntalklinik, Simbach am Inn, Deutschland 5 Universitätsklinik für Psychiatrie, Hamburg-Eppendorf, Deutschland Mag. Bettina Trauner, Lerchenweg 27, 4310 Mauthausen, Österreich, E-Mail: [email protected]

Aggression bei Migräne und chronischem Rückenschmerz – eine Querschnittsstudie

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Zusammenfassung: Es ist Gegenstand der Diskussion, ob derchronisch erlebte Schmerz mit einer mehr nach Innen oder nachAußen gerichteten Aggression einhergeht. In der vorliegendenStudie sollten Patientinnen mit Migräne und Patientinnen mitchronischem Rückenschmerz hinsichtlich ihres Aggressionspoten-tials untersucht werden. Die Ergebnisse von stationären Patient-innen mit Migräne (N=40) und chronischem Rückenschmerz(N=40) wurden mit den Ergebnissen einer gesunden Kontroll-gruppe (N=40) verglichen. Die Untersuchung erfolgte mit zweistandardisierten Fragebögen, der Symptom Checkliste (SCL-90-R)und dem State-Trait-Ärgerausdrucksinventar (STAXI), sowie miteinem projektiven Verfahren, dem Rosenzweig Picture FrustrationTest (PFT). Sowohl Patientinnen mit Migräne als auch jene mitRückenschmerzen zeigten signifikant höhere Aggressivität/Feind-seligkeit (SCL-90-R) Werte als die Kontrollgruppe. Beide Patien-tengruppen wiesen in der Anger-In Skala (STAXI) und im Aggres-sionsäußerungsindex (PFT) signifikant höhere Scores als die Kon-trollgruppe auf, was jedoch in der PFT-Skala Intropunitivität nichtrepliziert werden konnte. Das Über Ich-Muster E-E des PFT, alsMaß für die Richtung der Aggression nach Außen ergab nur zwi-schen Migränepatientinnen und der Kontrollgruppe einen signi-fikanten Unterschied. Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe,dass sowohl Patientinnen mit Migräne, als auch Patientinnen mitchronischem Rückenschmerz starke Aggressivitätsempfindungenaufweisen. Diese Empfindungen sind möglicherweise deutlichnach innen gerichtet. Die Eindeutigkeit dieser Aussage wirdjedoch durch die sehr spezifische Stichprobe und die nicht bestä-tigende PFT-Messung eingeschränkt.

Aggression in migraine and chronic low back pain patients –

cross sectional study

Abstract: Whether chronic pain is associated more with inwardlyor outwardly directed aggression is a matter of discussion. In thepresent investigation, female patients with migraines, as well asfemale patients with chronic back pain, were studied with respectto their potential for aggression. The results from female inpa-tients with migraines (N=40) and chronic back pain (N=40) werecompared with the results from a healthy control group (N=40).The study was carried out with two standardized questionnaires,the Symptom Checklist (SCL-90-R) and the State-Trait Anger Ex-pression Inventory (STAXI), as well as with a projective prospec-tive procedure, the Rosenzweig Picture Frustration Test (PFT).Female patients with migraines, as well as those with back pain,showed significantly higher values for aggression/hostility (SCL-90-R) than the control group. Both groups of patients had signifi-cantly higher scores on the Anger-In scale (STAXI), and on theAggression-Expression-Index (PFT) than the control group, which,however, could not be replicated on the PFT scale for intropuni-tiveness.The superego pattern E-E of the PFT, as a measure of out-ward aggression, resulted in a significant difference only betweenthe migraine patients and control group. The results of this studysuggest that female patients with migraines, as well as femalepatients with chronic back pain, have strong perceptions ofaggression. These perceptions might be clearly directed inwardly.The unambiguousness of this statement is, however, limited bythe very specific random sample and the non-validated PFT mea-surement.

EINLEITUNG

Kopfschmerzen und Rückenschmerzen sind die häufigstenSchmerzsyndrome, die aufgrund von medizinischen, sozia-len und psychischen Faktoren zu Langzeitbehinderungenführen können (Göbel 2001).

Bei der Migräne treten in typischer Weise anfallsartige,bevorzugt halbseitige Kopfschmerzen (Hemikranie) auf,

2. Jahrgang Heft 3 Dezember 2006 77

Aggression bei Migräne und chronischemRückenschmerz – eine Querschnittsstudie

BETTINA TRAUNER1, MARIUS NICKEL2,3, FERDINAND MITTERLEHNER4, CHRISTOPH KETTLER2, RAINER RICHTER5,

HILDEGARD WALTER1, PETRA KNEIDINGER1,2

OriginalarbeitPsychiatrie & Psychotherapie(2006) 2/3: 77–82

© Springer-Verlag 2006Printed in Austria

1 Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck,Österreich

2 Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie Bad Aussee, MedizinischeUniversität Graz, Graz, Österreich

3 Universitätsklinik für Psychiatrie 1, PMU, Salzburg, Österreich4 Inntalklinik, Simbach am Inn, Deutschland5 Universitätsklinik für Psychiatrie, Hamburg-Eppendorf, Deutschland

Mag. Bettina Trauner, Lerchenweg 27, 4310 Mauthausen, Österreich,E-Mail: [email protected]

begleitet von Übelkeit bis hin zu Erbrechen, Lärm- undLichtempfindlichkeit. Darüber hinaus kann es zu Nerven-und Sehstörungen kommen. Fast regelmäßig wird dieSchmerzqualität als pulsierend, pochend und hämmerndangegeben. Es werden hauptsächlich zwei Migränegrup-pen unterschieden: Migräne mit Aura und Migräne ohneAura. Als typische Anfangssymptome einer Migräne (Mi-gräneaura) gelten Sehstörungen, (halbseitige) sensible undmotorische Störungen sowie Dysphasie. Die Krankheits-zeichen entwickeln sich in diesem Rahmen. über einenZeitraum von fünf bis 30 Minuten und klingen häufiginnerhalb einer Stunde wieder völlig ab. Ein derartigerMigräneanfall kann jedoch auch mehrere Stunden bis Tageandauern (Bräutigam et al. 1992).

Rückenschmerzen stehen synonym für Schmerzen inder Region des Kreuzbeines. In der englischen Literaturwerden sie als „low back pain“ bezeichnet (Vallfors 1985).Sie können unterschiedlichen Ursprungs sein, was im Rah-men der Untersuchung differentialdiagnostisch abgeklärtwerden muss. Beschwerden, deren Ursache im Wirbelsäu-len- und Halsbereich zu finden sind, werden als Symptom-komplexe mit regional begrenzten Schmerzen und unter-schiedlich stark ausgeprägten Funktionsstörungen imBereich der Wirbelsäule beschrieben. Da für diese Artenvon Schmerzen wiederholtes Auftreten typisch ist, sprichtman hierbei häufig auch von einer chronischen Schmerz-krankheit. In der Regel besteht hierbei keine neurologischeSymptomatik. Bei den in dieser Untersuchung behandeltenunspezifischen Rückenschmerzen handelt es sich um Be-schwerdesyndrome, die ohne identifizierbare adäquateanatomische und/oder neurophysiologische Faktoren auf-getreten sind (Göbel 2001).

In der Literatur findet sich die Annahme, dass ein we-sentlicher Dispositionsfaktor für die Genese und Aufrecht-erhaltung psychosomatischer Störungen eine nicht ausrei-chend ausgebildete Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmenund ausdrücken zu können, sei (Fichten 1992). Nicht aus-gedrückter Ärger kann demnach zu psychosomatischenBeschwerden führen und kognitive Funktionen beein-trächtigen (Fichten 1992). Es wird weiters angeführt, dasssich Ärger und andere negative Gefühle ungünstig auf denGesundheitszustand auswirken oder dass nicht nur dieUnterdrückung von Ärger, sondern schon Ärger selbstkrankmachend sei (Fichten 1992). Folgernd herrscht heutetrotz einiger Kritik die Meinung vor, dass eine Reihe von Er-krankungen, wie Herzkranzgefäßerkrankungen, chronischeRücken- und Kopfschmerzen oder rheumatische Arthritis,von Persönlichkeitsmerkmalen und Ärger-Copingstilen be-einflusst werden (Fichten 1992). Dabei werden Ärger, aberauch Wut und Zorn als Gefühle verstanden, die häufig imunmittelbaren Umfeld von Aggressionen festgestellt wer-den können, wobei man von Aggressions-Affin spricht(Selg et al. 1997). Ärger kann als eine Klasse von unterein-

ander ähnlichen, unlustbetonten emotionalen Reaktionenaufgefasst werden, die bei aversiven Erlebnissen auftreten,d. h. auf Frustrationen, Enttäuschungen, Belästigungen undDemütigungen hin (Selg et al. 1997).

In der Literatur sind unterschiedliche Meinungen dazuzu finden, ob Patienten mit chronischen Schmerzen ihrenÄrger eher nach Innen oder nach Außen richten (Fernan-dez, Turk 1995; Gerhards 1992; Okifugi et al. 1999; Bruehl etal. 2002, 2003; Burns et al. 2003; Muehlbacher et al. 1995).Das Ziel der vorliegenden Untersuchung bestand darinfestzustellen, ob sich Migränepatientinnen bzw. Patient-innen mit chronischem Rückenschmerz von den gesun-den Probandinnen der Kontrollgruppe hinsichtlich ihresAggressionspotentials unterscheiden, und ob die Haupt-ausrichtung des Ärgers nach Außen vs. nach Innen defi-nierbar ist.

METHODE

StichprobeDie Untersuchung wurde zwischen Juni 2004 und Januar2005 durchgeführt. Die Daten wurden in drei Unter-suchungsgruppen mit je 40 Probandinnen erhoben.

Die erste und zweite Untersuchungsgruppe setzen sichaus Patientinnen mit Migräne (N=40) und Patientinnen mitchronischem Rückenschmerz (N=40) der Inntalklinik, Fach-klinik für Psychosomatik in Simbach am Inn, Deutschlandzusammen. Ausschlusskriterien waren Psychose, aktuelleSuchterkrankung und schlechte Deutschkenntnisse.

Die Kontrollgruppe (N=40) bestand aus Frauen, die ankeiner chronischen Erkrankung leiden. Zur Rekrutierungder Kontrollgruppe wurden unterschiedliche Stellen kon-taktiert: 12 Frauen befanden sich zum Zeitpunkt der Unter-suchung in einer Ausbildung zur Tagesmutter, 20 Frauenwaren zum Untersuchungszeitpunkt ehrenamtlich beimÖsterreichischen Roten Kreuz tätig (Ortsstellen Hartkir-chen, St. Martin i./M. und Bad Zell), fünf Frauen wurden beider Institution Prophylaktische Gesundheitsarbeit (PGA) inLinz, zwei beim Frauengesundheitszentrum in Linz kontak-tiert und eine Dame wurde vom Haus der Frau in Linzübermittelt. Ausschlusskriterien waren Psychose, aktuelleSuchterkrankung, ernste chronische Erkrankungen undschlechte Deutschkenntnisse.

Keine der Gruppen wurde nach dem Zufallsprinzipzusammengestellt. Die medizinische Diagnostik erfolgtenach ICD-10-Kriterien.

MethodikDie Testbatterie bestand aus soziodemographischen Anga-ben, der Symptom-Checkliste (SCL-90-R) (Franke 1995),dem State-Trait-Ärgerausdrucksinventar (STAXI) (Schwenk-mezger et al. 1992) und dem Rosenzweig Picture-Frustra-tion Test (PFT) (Rauchfleisch 1979).

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B.TRAUNER ET AL. Aggression bei Migräne und chronischem Rückenschmerz – eine Querschnittsstudie

Die SCL-90-R zeigt mit T-Werten subjektiv empfundeneBeeinträchtigung durch körperliche und psychische Symp-tome. Die insgesamt 90 Items der neun Skalen beschreibendie Bereiche Somatisierung, Zwanghaftigkeit, Unsicherheitim Sozialkontakt, Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressivi-tät/Feindseligkeit, Phobische Angst, Paranoides Denken undPsychotizismus (Cronbach-Alpha zwischen 0,75 und 0,87).

Das STAXI besteht aus fünf Skalen: State-Anger (aktuellesubjektive Ärgerstärke), Trait-Anger (Bereitschaft mit Ärgerzu reagieren, Normwert =18,1±5,34), Anger-Out (nachaußen gerichteter Ärger, Normwert =13,0± 4,02), Anger-In(nach innen gerichteter Ärger, Normwert =16,0± 4,04) undAnger-Control (Ärger-Kontrolle, Normwert = 22,4 ± 5,29)(Cronbach-Alpha = 0,75). Die 44 Items werden auf einerVier-Punkte-Rating-Skala beantwortet und o. g. fünf Skalenzugeordnet.

Im PFT geht es um die Frage, wie ein Proband mitFrustrationssituationen umgeht, und in welchem Maße erfähig ist, derartige Belastungssituationen zu ertragen, ohnesich inadäquater Reaktionsformen zu bedienen (Cronbach-Alpha zwischen 0,50 und 0,90). Der PFT besteht aus 24 skiz-zenartig gezeichneten Situationen. In diesen Situationenrichtet eine Person frustrierende Äußerungen an eine zweite,wobei der Proband die Antwort dieser zweiten Person asso-ziativ ergänzen soll. Rosenzweig unterscheidet im PFT drei Aggressionsrichtungen. Der Begriff der Extrapunitivitätkennzeichnet dabei, dass der Proband mit Aggression gegendie Außenwelt reagiert. Durch die Kategorie der Intropuniti-vität soll ausgedrückt werden, dass die aggressiven Impulsegegen die eigene Person gewendet werden. Schließlich be-zeichnet die Impunitivität den Versuch eines Menschen dieAggression völlig zu umgehen. Rosenzweig unterteilt diesedrei Richtungen wiederum in drei Reaktionstypen (Obstacle-Dominance, Ego-Defense und Need-Persistence), die in einerjeweiligen Richtung zum Ausdruck kommen. Bei der Kombi-nation dieser sechs Kategorien erhält man neun Auswer-tungsfaktoren, zu denen noch zwei Varianten dazukommen,weshalb schließlich 11 Signierungszeichen zur Verschlüsse-lung der Testantworten zur Verfügung stehen. Bei derAuswertung der Untersuchungsergebnisse stellten sich desWeiteren der Faktor E-E (vorgeschlagen als Maß für die reineAggression gegen die Außenwelt), die Über-Ich-Reaktion(Super-Ego Pattern), sowie der Aggressionsäußerungsindexals beachtenswert heraus. Der Aggressionsäußerungsindexgibt Auskunft darüber, inwieweit ein Proband Verdrängungs-mechanismen seinen aggressiven Impulsen gegenüber ein-setzt, also gegen sich selbst wendet.

Statistische AuswertungDie Auswertung der Daten wurde vom statistischen Pro-gramm SPSS, Version 11 (SPSS Inc. Chicago, Illinois, USA)unterstützt.

Um die Vergleichbarkeit der Gruppen zu prüfen wurdefür den Parameter „Alter“ eine einfaktorielle Varianzanalysedurchgeführt. Für die kategorialen Parameter wurde einChi-Quadrat Unabhängigkeitstest durchgeführt (Muellner2002).

Die Daten wurden mit dem Shapiro-Wilk Test auf Nor-malverteilung überprüft. Es wurde eine einfaktorielleVarianzanalyse, mit anschließenden multiplen paarweisenVergleichen nach Tukey durchgeführt. Die Resultate wur-den durch Mittelwert und Standardabweichung sowie derFehlerwahrscheinlichkeit (p) dargestellt. Kategoriale Varia-ble wurden mit Hilfe des Chi²-Unabhängigkeitstests aufAbhängigkeiten untersucht (Muellner 2002).

EthikDie Studie wurde konform mit der Deklaration von Helsinkiund mit ethischen Regeln für medizinische Berufe geplantund durchgeführt. Das Design wurde von der Ethikkom-mission der ROMED Kliniken KG geprüft und approbiert.Alle Probandinnen wurden vor Beginn der Studie über denAblauf, die Anonymität und Freiwilligkeit informiert undgaben ihr Einverständnis.

ERGEBNISSE

Die Gruppen wurden untereinander hinsichtlich ihrer so-ziodemographischen Daten überprüft. Dabei wurden dasAlter, der Familienstand und der Beruf aller drei Gruppenmiteinander verglichen (Tabelle 1). Es konnte von einerVergleichbarkeit der Gruppen ausgegangen werden.

Migränepatientinnen und Patientinnen mit chroni-schem Rückenschmerz zeigten im STAXI (Anger-In) und imAggerssionsäußerungsindex (PFT) eine signifikant stärkereNeigung, Ärger nach innen zu richten als die Probandinnender Kontrollgruppe (Tabelle 2, 3). Hingegen konnte bezüg-lich des physisch oder verbal nach außen gerichteten Är-gers (Anger-Out), wie auch bezüglich des Versuchs, Ärgerzu kontrollieren bzw. nicht aufkommen zu lassen (Anger-Control), kein signifikanter Unterschied zwischen denUntersuchungsgruppen festgestellt werden. Eine Berech-nung des Super-Ego patterns E-E ergab zwischen Migräne-patientinnen und der Kontrollgruppe einen signifikan-ten Unterschied (Migränepatientinnen: 3,9 ± 2,3; Kontroll-gruppe: 5,3 ± 3,2; p = 0,04), jedoch nicht zwischen den Pa-tientinnen mit Rückenschmerzen und der Kontrollgruppe(Patientinnen mit Rückenschmerzen: 4,1 ± 2,1; Kontroll-gruppe: 5,3 ± 3,2; p = 0,112).

In den STAXI-Skalen Anger-In, Anger-Out und Anger-Control wurden zwischen Migränikerinnen und Patien-tinnen mit chronischem Rückenschmerz keine signifikan-ten Unterschiede gefunden (AI: Migränepatientinnen:21,6 ± 5,2; Patientinnen mit Rückenschmerzen: 19,7 ± 6;p = 0,28; AO: Migränepatientinnen: 14,8 ± 4; Patientinnen

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B.TRAUNER ET AL. Aggression bei Migräne und chronischem Rückenschmerz – eine Querschnittsstudie

mit Rückenschmerzen: 13,8 ± 4,2; p = 0,501; AC: Migräne-patientinnen: 22 ± 5,2; Patientinnen mit Rückenschmerzen:22,7 ± 4,7; p = 0,758).

In der Skala Aggressivität/Feindseligkeit (SCL-90-R) er-zielten sowohl die Probandinnen mit Migräne, als auchProbandinnen mit chronischem Rückenschmerz signifikanthöhere Werte als die Kontrollgruppe (Tabelle 2, 3). Wei-ters wurden auch die Migränikerinnen mit chronischenRückenschmerzpatientinnen in Bezug auf diese Skala ver-glichen. Bei diesem Vergleich konnte ebenfalls ein signifi-kanter Unterschied gefunden werden (Migränepatient-innen: 65,6 ± 12,7; Patientinnen mit Rückenschmerzen:58,9 ±11; p = 0,013).

Migräne- und auch Rückenschmerzpatientinnen erziel-ten im PFT bezüglich des Aggressionsäußerungsindex deut-lich niedrigere Werte als die Kontrollgruppe (Tabelle 2, 3).

DISKUSSION

Das Ziel der Studie war zu prüfen, ob Patientinnen mit Mi-gräne bzw. chronischem Rückenschmerz die Tendenz auf-weisen den erlebten Ärger vermehrt nach außen oder ehernach innen zu richten. Die Untersuchung mittel des STAXI(Anger-In) und PFT (Aggerssionsäußerungsindex) zeigte inbeiden Gruppen eine deutliche Wendung des Ärgers nachinnen. Diese Ergebnisse würden die Berichte stützen, dassdas Unterdrücken der Ärgerreaktion, bzw. die Wendungdes Ärgers nach innen charakteristisch für chronischeSchmerzpatienten sein könnte. Fernandez und Turk (1995)

äußerten nach Betrachtung ihrer eigenen Forschungs-ergebnisse die Vermutung, dass chronische Schmerzpa-tienten Schwierigkeiten mit dem passenden Ausdruck vonÄrger haben. Die Autoren nahmen an, dass diese Patientenihren Ärger verinnerlichen und ihn indirekt über Schmerzausdrücken. In einer Studie von Gerhards (1992) konntegezeigt werden, dass Migränekranke weniger Ausdruckeigenen Ärgers zeigten als gesunde Vergleichspersonen.Auf der Grundlage dieser Ergebnisse spricht Gerhards voneiner Ärgerausdrucks-Hemmung Migränekranker. Aucheine Studie von Nicholson et al. (2003) zeigte, dass dasUnterdrücken von Ärger bzw. das Nicht-Äußern von ärger-lichen Gefühlen bei Migränepatienten im Vergleich zu Per-sonen ohne Kopfschmerzen stark ausgeprägt ist. Huber(2003) kommt ebenfalls zu der Annahme, dass bei Migrä-nikern von einer erhöhten emotionalen Rigidität sowieeiner Tendenz, Ärger und Aggression zu unterdrückengesprochen werden kann. Man könnte davon sprechen,dass Schmerzpatientinnen expansiv-aggressive Strebun-gen weniger frei nach außen hin zeigen, sondern imGegenteil nur wenig durchsetzungsfähig sind und ihreAggressivität weitgehend negieren.

Die mit der STAXI (Anger-In) und mit dem PFT (Aggres-sionsäußerungsindex) gezeigte Ausrichtung des Ärgersnach innen konnte durch die Ergebnisse der Skala Intro-punitivität des PFT nicht repliziert werden. Eine möglicheErklärung für die festgestellten Unterschiede könnte derprojektive Charakter des PFT liefern. So konnten diese Er-

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Tabelle 1 Soziodemographische Daten

Gesamt Migräne Rückenschmerz Kontrollgruppe p-Wert

(N=120) Patientinnen Patientinnen (N=40)

(N=40) (N=40)

Alter 40± 8,47 41± 6,82 40,3± 9,72 38,7± 8,67 p = 0.620

Familienstand

Ledig 31 11 11 9 p = 0.840Verheiratet 68 21 20 27 p = 0.232Geschieden 17 8 6 3 p = 0.272Verwitwet 4 0 3 1 p = 0.164

Beruf

Arbeiterin 12 4 4 4 p = 1.000Angestellte 63 28 15 21 p = 0.014Selbständig 5 1 3 1 p = 0.434Hausfrau 25 4 10 11 p = 0.114Beamtin 2 0 1 1 p = 0.601Erziehungsurlaub 4 0 3 1 p = 0.164Arbeitslos 4 2 1 1 p = 0.772Schülerin 2 1 1 0 p = 0.601Rentnerin 2 0 2 0 p = 0.131

B.TRAUNER ET AL. Aggression bei Migräne und chronischem Rückenschmerz – eine Querschnittsstudie

gebnisse auch nicht die Meinung unterstützen, dass im Falldes chronischen Schmerzes, eine deutliche Expression desÄrgers statt finden würde (Bruehl et al. 2003).

Beim Vergleich der Patientinnen mit Migräne mit denPatientinnen mit chronischem Rückenschmerz konntenkeine signifikanten Unterschiede in ihrem Umgang mit Är-ger (Anger-Control Skala des STAXI) festgestellt werden.

Diese Untersuchung zeigt einige methodologischeSchwächen, die eine allgemeine Aussage bedeutend ein-schränken. Alle 80 Patienten mit Migräne bzw. chroni-schem Rückenschmerz, die an dieser Studie teilnahmen,waren weiblich, befanden sich zum Untersuchungszeit-

punkt in stationärer Behandlung und wurden nicht nachdem Zufallsprinzip ausgesucht. Zudem wurde auf eineErhebung der Schmerzparameter und des Chronifizie-rungsgrades bzw. der „Schmerzanamnese“ verzichtet. Dievorliegenden Ergebnisse gelten also nur für diese Teil-population. Weiters sollte berücksichtigt werden, dass essich bei dieser Untersuchung um eine Querschnittstudiehandelt. Das vernachlässigt die Periodizität von Migräne.Bei Migräne handelt es sich um eine anfallsartige, perio-dische Erkrankung, bei der der Zeitpunkt im Migränezyklusdie Ergebnisse der Untersuchung beeinflussen kann(Anders et al. 2001).

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Tabelle 2 Messung mit dem State-Trait-Ärgerausdrucksinventar (STAXI), der Symptom-Checkliste (SCL-90-R)

und dem Rosenzweig Picture-Frustration Test (PFT) – Ergebnisse zu Migränepatientinnen

Migräne- p-Wert

Patientinnen Kontrollgruppe Tukey Test

(N=40) (N=40)

Anger-In (STAXI) 21,6± 5,2 14,8± 4,7 p < 0,001

Anger-Out (STAXI) 14,8± 4,0 13,3± 4,0 p = 0,22

Anger-Control (STAXI) 22± 5,2 22,8± 5,0 p = 0,725

Intropunitivität (PFT) 6,2± 1,7 5,7± 1,9 p = 0,444

Extrapunitivität (PFT) 11± 2,7 11,4± 3,8 p = 0,831

Impunitivität (PFT) 6,2± 2,0 5,9± 3,0 p = 0,813

Aggressivität/Feindseligkeit (SCL-90-R) 65,6± 12,7 49,6± 7,0 p < 0,001

Aggressions-äußerungsindex (PFT) 2,8± 2,2 4,9± 5,5 p = 0,028

Tabelle 3 Messung mit dem State-Trait-Ärgerausdrucksinventar (STAXI), der Symptom-Checkliste (SCL-90-R)

und dem Rosenzweig Picture-Frustration Test (PFT) – Ergebnisse zu Rückenschmerzpatientinnen

Rückenschmerz- p-Wert

Patientinnen Kontrollgruppe Tukey Test

(N=40) (N=40)

Anger-In (STAXI) 19,7± 6,0 14,8± 4,7 p < 0,001

Anger-Out (STAXI) 13,8± 4,2 13,3± 4,0 p = 0,852

Anger-Control (STAXI) 22,7± 4,7 22,8± 5,0 p = 0,999

Intropunitivität (PFT) 6,3± 1,6 5,7± 1,9 p = 0,262

Extrapunitivität (PFT) 10,3± 2,6 11,4± 3,8 p = 0,311

Impunitivität (PFT) 6,4± 2,0 5,9± 3,0 p = 0,583

Aggressivität/Feindseligkeit (SCL-90-R) 58,9± 11,0 49,6± 7,0 p < 0,001

Aggressions-äußerungsindex (PFT) 2,9± 2,4 4,9± 5,5 p = 0,044

B.TRAUNER ET AL. Aggression bei Migräne und chronischem Rückenschmerz – eine Querschnittsstudie

Auch die Kontrollgruppe kann nur als mangelnd reprä-sentativ für die gesunden Frauen angesehen werden, dasich ein erheblicher Teil davon aus Frauen zusammensetzt,die sich intensiv und aktiv mit dem Thema Gesundheit/Krankheit auseinandersetzen.

Insgesamt liefert diese empirische Studie jedoch einenweiteren Beitrag zur Diskussion über die Ausrichtung des Ärgers bei Patienten mit chronischen Schmerzen undscheint die Annahme zu stützen, dass diese Patienten dazuneigen den Ärger deutlich nach innen zu richten. WeitereUntersuchungen sind jedoch nötig um dies zu prüfen.

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