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Aktuelle Entwicklungen in der Psychosomatik Fortbildung LUPS, St. Urban, 30.11.2017
Prof. Dr. med. Stefan Büchi Ärztlicher Direktor Privatklinik Hohenegg, Meilen
20.12.2017 1
Inhalt
Die Faszination der Körpersprache
Stress und Körpersymptome
Neue Diagnostik
Angehörige – „we-disease“
Placebo – offenes Placebo
Therapeutische Zugänge
20.12.2017 2
Körperstörungen – Patientenbeispiele 1. Fr. A.M., 1978
-In einem Regionalspital zugewiesen aufgrund einer Ganzkörper-Lähmung
-Untersuchungen im Universitätsspital Zürich ergeben keine körperliche Ursache der Lähmung
-Situation: Mit 16 Jahren in der Türkei gegen eigenen Willen verheiratet. 3 Kinder. Nun sehr unglücklich. Bei Scheidung droht Bruder sie umzubringen oder „zu entstellen“.
20.12.2017 4
Körperstörungen – Patientenbeispiele 1.Fr. A.M., 1978
-In einem Regionalspital zugewiesen aufgrund einer Ganzkörper-Lähmung
-Untersuchungen im Universitätsspital Zürich ergeben keine körperliche Ursache der Lähmung
-Situation: Mit 16 Jahren in der Türkei gegen eigenen Willen verheiratet. 3 Kinder. Nun sehr unglücklich. Bei Scheidung droht Bruder sie umzubringen oder „zu entstellen“.
-Therapie: 4 Jahre Begleitung. Entschied sich zur Scheidung. In Belastung kam immer wieder extreme Müdigkeit auf. Kann ihr Leben wieder selbstständig meistern.
20.12.2017 5
2 „Giftattacke“ auf Postzentrum Mülligen am 5. September 2012
20.12.2017 7
- Es handelt sich um eine sog. Nocebo Reaktion
Epidemiologische Zusammenhang zw. psychischen und körperlichen Problemen in der Schweiz (2007)(n=11‘843)
20.12.2017 9
18.2
48.4
75.1 37.0
36.6
19.6
44.9
15.0
5.3
0%
20%
40%
60%
80%
100%
keine/gering mittel stark
Psychische Belastung
keine/kaum
einige
starke
Körperliche
Beschwerden
Psychosomatik geschieht zuallererst und überwiegend in der Grundversorgung u. beim somatischen Facharzt
30-50% der Patienten, die den Hausarzt aufsuchen haben
*medizinisch nicht erklärbare körperliche Symptome.
Nach 1 Jahr sind 1/3 geheilt und 1/2 zeigt eine Verbesserung. Ein
Viertel persistiert.
* MUPS: „Medically unexplained physical symptoms“: keine organische Pathologie (z.B. struktureller Gewebeschaden) und nicht aufgrund eines anerkannten physiologischen Prozesses (z.B. Entzündung)
Stress
Emotionaler Distress
Kognitive Störungen
Angst Depression
Versch.
Gedächnis Konzentration
Etc.
Veg. NS Erregung & HPA Achse
Hypervigillianz
Körper-Distress
1.Schwitzen (kalt und heiss) 2.Zittern 3.Trockener Mund 4.Herzjagen 5.Schmetterlinge im Magen 6.Erröten 7.Präkardiale Beschwerden 8.Atemlosigkeit 9.Hyperventilation
1.Schmerz in Extremitäten 2.Muskelschmerzen 3.Gelenkschmerzen 4.Umschreibene Muskeschwäche 5.Rückenschmerzen 6.Bewegungsschmerz 7.Taubheitsgefühl, Kribbeln
1. Darm Überaktivität 2. Abdominale Schmerzen 3. Durchfall 4. Verstopfung 5. Regurgitation 6. Übelkeit 7. Erbrechen 8. Brennen im Epigastrium 9. Blähungen
KardiopulmonaleSymptome
GI Symptome
Muskuloskeletale Symtpome
Funktionelle somatische Symptome in den Spezialdisziplinen
Gastroenterologie
Gynäkologie
Rheumatologie
Kardiologie
Pneumologie
Infektiologie
Neurologie
Zahnmedizin
HNO
Anästhesiologie
Psychiatrie
IBS, Reizdarm
Prämenstruelles Syndrom, chron. Becken-Sz
Fibromyalgie, chron. Rückenschmerzen
Atypische Herzschmerzen, da Costa Syndrom
Hyperventilationssyndrom
Chronisches Müdigkeitssyndrom
Spannungskopfschmerz, nicht-epileptische Krämpfe
Atypische Gesichtsschmerzen
Globus Syndrom
Chron. Benignes Schmerzsyndrom
Somatoforme Störung
20.12.2017 12
Diagnostik Änderungen im DSM-5:
„Somatic Symptom Disorders“ (SSD) Änderungen für ICD-11:
„Bodily Distress Disorders“ (BDD) Konsensusdefinitonen:
„Functional Somatic Syndromes“(FSS)
http://www.dsm5.org
Dimsdale & Creed, J Psychosom Res 2009
Fink & Schröder J Psychosom Res 2010
Diagnostik – neuer Ansatz
1. Neu ist „medizinisch nicht erklärbar“ nicht mehr relevant
2. Fokus auf Ausmass des Leidensdruckes durch körperliche Symptome - Emotionen - Gedanken - Verhalten - soziale Partizipation
20.12.2017 14
DSM-5 300.82: «Somatic Symptom Disorder» bzw. «Somatische Belastungsstörung»
Kriterien A, B (mind. 1) und C müssen erfüllt sein
A. Somatische(s) Symptom(e): sind besorgniserregend (distressing) oder resultieren in signifikanten Einschränkungen im Alltag
B. Exzessive gedankliche, emotionale u. verhaltensrelevante Beschäftigung mit Symptomen od. mit ihnen assoziierte Sorgen über die Gesundheit:
- Unverhältnismässige Gedanken über die Ernsthaftigkeit der Symptome
- Hoher Grad an Angst bezogen auf Gesundheit oder Symptome
- Den Symptomen oder Sorgen um die Gesundheit wird exzessiv Zeit und Energie gewidmet
C. Mindestens 6 Monate Dauer
Ersetzt: Somatisierungsstörung, somatoforme Störungen, Hypochondrie, Schmerzstörung
„Übersetzungsversuch“ nach DSM-5, American Psychiatric Association, 2013
Einschätzung der B-Kriterien der SSD durch Kliniker
0 = überhaupt nicht
1 = ein klein wenig
2 = etwas
3 = ziemlich viel
4 = sehr viel
Korrelation des Schweregrads durch Einschätzung der B-Kriterien durch Kliniker mit derjenigen der Patienten (mit PHQ-15) ist sehr hoch: r=0.95
SSD wurde von Klinikern als zweckdienlich und sinnvoll eingeschätzt, da einfacher und ungezwungener Gebrauch.
Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013
SSD: Zusammenfügen und differenzieren zugleich
Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013
20%
IAD: Illness Anxiety Disorder
ICD 11- Bodily distress syndrome (BDS)
Kardiopulmonale Symptome
Gastrointestinale Symptome
Muskuloskelettale Symptome
Allgemein Symptome Konzentration, Gedächnis, Müdigkeit, Kopfschmerz, Schwindel
20.12.2017 19
Zusammenfassung Diagnostik
• Radikal neuer Ansatz- organische Ursache ist nicht mehr im Zentrum
• Potential: umfassendere Sichtweise des Problems mit stärkerer Gewichtung auf subjektive Perspektive des Patienten Leidensdruck
• Zukunft – weniger Organfokussierung, mehr Fokus auf Partizipation.
20.12.2017 21
Körperlicher und sozialer Schmerz (Eisenberger et al. 2012)
20.12.2017 24
Figure 1 . A conceptual model depicting the overlapping neural regions activated by physical pain and social pain as well as the consequences of this overlap for trait differences in sensitivity to pain (individual differences in physical pain sensitivity should correlate positively with individual differences in social pain sensitivity) and for state differences in sensitivity to pain (factors that increase or decrease one kind of pain should alter the other kind of pain in a congruent manner). dACC = dorsal portion of the anterior cingulate cortex; AI = anterior insula.
43.9
26.8
39.5
94.1
48.2
47.3
47.3
56.0
60.0
60.0
0 20 40 60 80 100
Partner
Ärzte und Pflegende
Familienmitglieder
Freunde
Kinder
Patienten
Ehepartnern
*
*
*
*
%
Ab
Hilfreichste Unterstützung für Patienten mit Krebs und deren Angehörige (N=448)
Veränderung der Ehebeziehung bei Krebskrankheit (n = 224 Paare)
0% 10% 20% 30% 40%
beide Partner positiv
beide Partner negativ
37%
4%
Büchi et al. 2009
Dyadisches Coping
Paare verbindet ein gemeinsamer sozialer Kontext
• Gegenseitige Inter-Dependenz (mental, materiell)
• Gemeinsame Sorgen
• Gemeinsame Ziele
20.12.2017 30
Mitleiden: Angst bei Krebs Patienten und Angehörigen (N=741) (Büchi et al. 2008)
70%
62%
22%
34%
0
20
40
60
80
100
kaum belastet mittel/stark
belastet
Patienten
Angehörige
Zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung als Teil der Placebo-Wirkung
Components of placebo effect: randomised controlled trial in patients with irritable bowel
syndrome Kaptchuk, T. J et al. BMJ 2008;336:999-1003
Copyright ©2008 BMJ Publishing Group Ltd.
Kaptchuk, T. J et al. BMJ 2008;336:999-1003
Components of placebo effect: randomised controlled trial in patients with irritable bowel syndrome
Copyright ©2008 BMJ Publishing Group Ltd.
Kaptchuk, T. J et al. BMJ 2008;336:999-1003
Outcomes at six week follow-up
Methoden.
36
Placebo-Intervention
Baseline
Subjektiv: Skala 0-100
Objektiv: Temperatur
Unannehmlichkeit Intensität
Toleranz
3x
Post
Subjektiv: Skala 0-100
Objektiv: Temperatur
Unannehmlichkeit Intensität
Toleranz
3x
Placebo-Intervention
1.Keine Behandlung (KG; N = 40)
2.Offenes Placebo ohne Narrativ (OP-;
N = 40)
• „Sie erhalten eine Placebo-Creme“
3.Offenes Placebo mit Narrativ (OP+;
N = 40)
• „Sie erhalten eine Placebo-Creme“
+ Diskussionspunkte
4.Getäuschte Placebo-Vergabe (GP; N
= 40)
• „Sie erhalten eine schmerzlindernde
Creme“
Objektiver Outcome: Toleranz zum Post-Zeitpunkt.
To
lera
nz
Post-
Ze
itpu
nkt [S
E]
35
40
45
50
55
KG OP- OP+ GPKG vs. (OP-, OP+, GP): t(146) = 0.35, p = .724 OP- vs. (OP+, GP): t(146) = 1.15, p = .254 OP+ vs. GP: t(146) = 0.37, p = .711
Narrativ bei offenem Placebo (Kaptchuk et al. 2010)
• Placebos sind effektiv
• Klassische Konditionierung als möglicher Mechanismus
• Compliance entscheidend
• positive Erwartungen erhöhen den Placebo-Effekt, aber sind nicht notwendig
20.12.2017 39
Fazit Placebo
– Placebo-Wirkung auf ethische Weise nutzen: Offenheit
– Täuschungs-Aspekt möglicherweise nicht so relevant wie
angenommen
– Narrativ, welches der Arzt wählt, ist entscheidend
20.12.2017 40
Therapeutische Leitgedanken
Zentrales Ziel: Adaptation des Lebens mit möglichst grossem Vollzug von relevanten Lebensaspekten – ICF Partizipation
Unterscheidung: - assimilativer Ansatz (ändern der äusseren Umstände) - akkomodativer Ansatz (ändern der inneren Einstellung: z.B. gesunde Einstellung zu Krankheit) > beide zusammen führen zu «Adaptivität ans Leben»
20.12.2017 41
Wie wirkt Psychotherapie? Tripartite Modell von Wampold (Wampold, Budge 2012)
Echte Beziehung, Zugehörigkeit Soziale Verbindung
Bessere Lebens- qualität
Symptom- Reduktion
Entstehung von Erwartungen und Behandlungsformen
Aufgaben/ Ziele
Therapeut. Aktivitäten
Aufgaben/ Ziele
Vertrauen, Ver- ständnis, Expertise
Therapeut
Patient
Beziehung
Plausibilität
Expertise November 2015 © Privatklinik Hohenegg, Meilen
44
20.12.2017 45
PRISM (Pictorial Representation of Illness and Self Measure) (Büchi, Sensky (2002) Psychother Psychosom)
‘Krankheit’
‘Selbst’
Self- Illness Separation
(SIS)
www.prism-coop.ch
Leiden
Ist ein Zustand von schwerem Distress, der im Zusammenhang mit drohendem Verlust der Intaktheit der Person steht
Cassell EJ (1982) NEJM 306:639-645
20.12.2017
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Aspekte der “PERSON”
PERSON
Persönlichkeit/Charakter
Vergangenheit (Leistungen etc.)
Erfahrungen
Familie/ Freunde
Kultureller Hintergrund
Rollen Beziehung zu sich selbt (z.B. Selbstwert)
Aktivitäten
Gewohnheiten
“Geheimnisse”
Zukunft
Transzendente Dimension
(Spiritualität)
Cassell EJ (2006) The Nature of Suffering and the Goals of Medicine
PRISM – Validierung 2002
INTRA- UND INTERRATER STABILITÄT P
KRITERIUMS-VALIDITÄT (Vergleich mit ‘Gold Standard’) O
KONVERGENTE VALIDITÄT (Korrelation mit Depression (-) and Sense of Coherence (+) ) P
DIVERGENTE VALIDITÄT (unterschiedl. Korrelationen mit SF-36 Subskalen bei unterschiedl. chron. Krankheiten)
P
SENSITIVITÄT FÜR VERÄNDERUNG P
Büchi S. et al. Psychother Psychosom 2002
PRISM-aktueller Forschungsstand
Bisher über 45‘000 wissenschaftlich evaluierte Studienpatienten Auf 4 Kontinenten regelmässig eingesetzt Einsatzgebiete: K+L-Psychiatrie, Palliative Care,
Kriseninterventionszentren, Rehabilitationskliniken, Physiotherapie, Ergotherapie, Pflegewissenschaften
Validiert für chronisch körperliche Krankheiten (Büchi et al. 2002) Vitiligo (Reimer et al. 2004 Alkohol-Krankheit (Reimer et al. 2005) Tod eines Kindes (Büchi et al. 2006) chronischer Schmerz (Kassajan. J Pain et al. in press) atypischer Gesichtsschmerz (Streffer et al. 2008) Suizidalität (Harbauer, Haas et al. 2012) Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) (Wittmann 2012)
Palliative Care (Krikorian 2013) Tinnitus (Meyer et al. 2014)
Schwindel (Weiss et al. 2014)
Krankheitsverarbeitung bei chronischer
Krankheit
Krankheit
Person
Überforderung Belastung
Krankheitsverarbeitung
Zentrale therapeutische Zugänge
• Akzeptanz = aktive Resignation
• Achtsamkeit
• Ressourcen-Orientierung
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SENSE OF COHERENCE (SOC)
VERSTEHBARKEIT Externe oder interne Stimuli sind verstehbar
KONTROLLIERBARKEIT Die Person hat Ressourcen um diese Stimuli zu beeinflussen
SINNHAFTIGKEIT Die Anforderungen werden als sinnvolle Herausforderungen erlebt
A Antonovsky: Unraveling the Mystery of Health: How People Manage Stress and Stay Well. San Francisco: Jossey-Bass, 1987
Person
Gesundheit Krankheit
Stressor
Vulnerabiltäts-
faktoren Protektive
Faktoren
Pathogenese vs. Salutogenese
Zur Wirkungsweise von Nocebo: Interactions between brain and spinal cord mediate value effects in nocebo hyperalgesia (2017) Tinnerman et. al. Science
20.12.2017 55
Interactions between brain and spinal cord mediate
value effects in nocebo hyperalgesia
by A. Tinnermann, S. Geuter, C. Sprenger, J. Finsterbusch, and C. Büchel
Science
Volume 358(6359):105-108
October 6, 2017
Published by AAAS
Fig. 1 Study design and behavioral results.
A. Tinnermann et al. Science 2017;358:105-108
Published by AAAS
Fig. 2 BOLD responses during nocebo hyperalgesia along the descending pain system.
A. Tinnermann et al. Science 2017;358:105-108
Published by AAAS
Fig. 3 Mediation analysis in the rACC.
A. Tinnermann et al. Science 2017;358:105-108
Published by AAAS
Fig. 4 Connectivity along the descending pain pathway.
A. Tinnermann et al. Science 2017;358:105-108
Published by AAAS
Psychische Entwicklungsprozesse bei RA Norton et. al. J Psychosom Res 2011
ca. 20-30% mit langfristig unbefriedigender Adaptation
Wichtigste Voraussetzung im Umgang mit chronischem Schmerz
Akzeptanz des Schmerzes! A. Interesse an positiven Alltagsaktivitäten B. Verzicht auf anhaltenden Kampf gegen Schmerz
Therapie und Prognose
Akzeptanz = Bereitschaft sich mit dem Schmerz zu beschäftigen = Bereitschaft sich trotz Schmerz mit anderen Lebensinhalten zu beschäftigen
Höhere Akzeptanz des Schmerzes führt zu…
geringerer Schmerzintensität geringerer körperliche Behinderung weniger Depression weniger Arztbesuche weniger Ängste geringerem Schmerzmittelkonsum
McCracken et al. (1999,2001,2002,2003,2004,2005)
Akzeptanz
• Zauberschwelle des gelingenden Umgangs mit chronischer Krankheit
• Wichtigster Prädiktor für Lebensqualität und – zufriedenheit bei chronischem Schmerz
• beinhaltet aktive Resignation – Aufgabe des Kampfes „gegen die Krankheit“
20.12.2017 65