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vuphuc
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Amenity Migration und ethno-linguistische Minderheiten in den
italienischen AlpenEin Zwischenbericht1
von Michael Beismann, Roland Lffler, Judith Walder und Ernst Steinicke
1 Vorbemerkung und Entwicklung der Fragestellungber viele Jahrzehnte hinweg und bis weit in die
1970er Jahre hinein war die berwiegende Zahl der Tal-schaften in den italienischen Alpen (auerhalb Sdtirols und des Trentino) mit ausgeprgter Abwanderung und dementsprechenden Einwohnerverlusten konfrontiert. Die Grnde fr diese Bergentvlkerung lagen im All-gemeinen in den ungnstigen agrarsozialen Strukturen sowie in den fehlenden Arbeitspltzen im sekundren und tertiren Sektor (Penz 1984, Steinicke 1991). Seit den 1980er Jahren hat sich jedoch die Bevlkerungsabnahme verlangsamt bzw. ist zum Stillstand gekommen (Lffler und Steinicke 2007a). Dennoch werden in der einschl-gigen Literatur immer noch Probleme behandelt, die mit dem Themenkreis Abwanderung in Verbindung stehen (z.B. Perlik 1999, 2006, Varotto und Psenner 2003 oder Btzing 2005). In der Tat sind z.B. die Ortswstungen in Nordfriaul oder die Verfallserscheinungen in den italieni-schen Westalpen lohnenswerte Forschungsobjekte (ede und Steinicke 2007). Folgende berlegungen fhrten nun dazu, die demographischen Prozesse in den italienischen Alpen neu zu untersuchen:
In den franzsischen Sdalpen, wo noch 1980 eine hnliche demographische Ausgangssituation wie
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1 Im vorangegangenen IGG-Band Alpine Kulturlandschaft im Wandel - Hugo Penz zum 65. Geburtstag skizzierten Lffler und Steinicke (2007a) ein Forschungsvorhaben ber die gegen-wrtigen demographischen Vernderungen im italienischen Alpenraum. Inzwischen hat der FWF dieses Projekt, The Impact of Current Demographic Transformation on Ethno-Lin-guistic Minorities in the Italian Alps, genehmigt. Erste Er-gebnisse liegen bereits vor und sollen hier vorgestellt werden.
Mag. Michael Beismann, Mag. Judith Walder, Mag. Roland Lffler und a.Univ.-Prof. Ernst Steinicke untersuchen in den italienischen Alpen den sozio- und ethnokultu-rellen Wandel durch neue Zuwanderung. Vor dem Hintergrund der zuvor in Kalifornien erstmals beob-achteten Amenity Migra-tion zeichnen sich im sd-lichen Alpenbogen bisher unbekannte Entwicklungen ab, in den vielfach bekann-ten Abwanderungsgebieten kommt es zur demogra-phischen Trendwende.
Beitrge Innsbrucker Bericht 2008-10
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in den italienischen Alpen bestand, ist seit den 1990er Jahren ein deutliches Bevlkerungswachstum feststellbar (Coy und Steinicke 2006). Viele kulturrum-liche Parallelen wiesen darauf hin, dass die italienischen Alpen dieser neuen Entwicklung phasenverzgert folgen wrden.
berdies sprachen einzelne Beobachtungen dafr, dass sich die bergwrts gerichtete Freizeitwanderung in Italien verstrkt hat, v.a. aber, dass sich Frei-zeitwohnsitze immer mehr zu Zweitwohnsitzen entwickeln, was mit Zuzgen ins Gebirge einherschreitet (Lffler und Steinicke 2007a). Eine vergleichbare neuartige Zuwanderung wurde bereits in einem FWF-Forschungsprojekt von Lffler und Steinicke (2007b) in der kalifornischen Sierra Nevada untersucht und nachgewiesen. Hierbei legten sie auch ein Augenmerk auf das relativ neue Phnomen der Amenity Migration (Moss 2003).
Somit erschien es reizvoll, einen Blick in die neue demographische Statistik der italienischen Alpen zu werfen und sie zu analysieren. Einen ersten Schritt dazu hat Beismann (2009) in seiner Diplomarbeit vorgenommen.
Die Forschungsidee des Projektes ist es also, die Existenz und Verbreitung der neu-en Zuwanderung samt soziokonomischer und siedlungsgeographischer Folgen in den italienischen Alpen zu analysieren und die Konsequenzen am Beispiel von Minderhei-tengemeinden aufzuzeigen. Unter Bercksichtigung des bisherigen Forschungsstandes lieen sich dabei drei Leitthesen entwickeln:
These 1: Seit den 1990er Jahren erfahren Teile der italienischen Alpen einen neuen demographischen Trend: Wohlhabende Stadtbewohner errichten verstrkt Zweit-wohnsitze in abgelegene Gebirgslagen, die vor kurzer Zeit noch ausgesprochene Entvlkerungsgebiete bildeten.
These 2: Diese Amenity Migration erreicht aber nicht die Gesamtheit der peripher gelegenen Hochgebirgsteile. In den kommenden 20 Jahren ergibt sich deshalb eine fragmentierte Entwicklung, die sich zwischen den Extrempositionen stark wach-sende Amenity-Siedlungen einerseits und Ghosttowns andererseits bewegt.
These 3: Der soziokonomische und siedlungsgeographische Wandel, der durch die Amenity Migration hervorgerufen wird, bildet ein Konfliktpotential zwischen (seit langem) ansssigen und neu zugewanderten Bewohnern. Die ethno-linguisti-schen Minderheiten (auerhalb Sdtirols) - in ihrer Anzahl und Verbreitung u.a. aufgrund der jahrzehntelangen Gebirgsentvlkerung stark geschwcht - werden durch die neue Zuwanderung in ihrem eigenen Territorium minorisiert.
Drei PhD-Studierende, Judith Walder, Roland Lffler und Michael Beismann, allesamt Absolventen des Innsbrucker Geographischen Institutes, arbeiten unter der Leitung von Ernst Steinicke an den unterschiedlichen Themenkreisen, die sich aus den genannten Thesen ergeben. Im vorliegenden Artikel sollen die ersten Erkenntnisse dargestellt werden.
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Amenity Migration und ethno-linguistische Minderheiten
2 Amenity Migration
In den italienischen Alpen zeichnet sich seit den 1990er Jahren ein demographi-scher Wandel ab: Es lassen sich Zuwanderungen sowohl in Haupttler und tourismus-intensive Gebiete als auch in periphere, ehemals stark entvlkerte Hochgebirgslagen feststellen (Steinicke 2008). Das Forschungsfeld der Amenity Migration (Moss 2003) beschreibt in diesem Fall die Verschiebung der Wohnsitzprferenz vom urbanen Raum in abgelegene, aber attraktive lndliche Regionen. Dieses Phnomen ist die treibende Kraft der gegenwrtigen Siedlungserweiterung und des aktuellen Bevlkerungszuwachses in verschiedenen italienischen Alpenregionen. Wesentliche Pullfaktoren fr diese Amenity Migration sind die naturrumlichen Vorzge, eine hhere Lebensqualitt, ein greres Freizeitangebot, der gnstige Wohnungsmarkt im italienischen Gebirge sowie die Unab-hngigkeit vom Arbeitsplatz dank der neuen Kommunikationsinfrastruktur. Es kommt so vermehrt zu einer Verlagerung der zirkulren Wochenend- und Freizeitmobilitt hin zum saisonalen bis permanenten Wohnsitz, wodurch die Aufenthaltsdauer im Zielgebiet deutlich erhht wird. Da immer mehr Personen arbeitsplatzungebunden sind, steigt die Motivation und das Verlangen, auch berufliche Aspekte in den neuen Wohnort zu verlagern. Diese beiden Charakteristika lngere Verweildauer und Erwerbsttigkeit (ausgenommen Pensionisten) im Zielgebiet sind die entscheidenden Unterschiede zwischen Amenity Migranten und Touristen. hnliches gilt fr Freizeitwohnsitze und Zweitwohnsitze. Erstere sind vornehmlich auf den Fremdenverkehr ausgerichtet, Zweitere betreffen zu einem groen Teil die Amenity Migration. Ausgehend von diesem Trend der Wiederbesiedlung peripherer lndlicher (hochalpiner) Gebiete stellt sich die Frage, welchen Stellenwert dieses Phnomen in den italienischen Alpen einnimmt und welche Auswirkungen damit zusammenhngen.
Viele dieser Newcomer haben den neu gewhlten (zweiten) Wohnsitz auf Grund von Urlaubsreisen kennen gelernt. Andere zhlen zu dem groen Teil ehemaliger Abwanderer, die sich auf der Arbeitssuche in die aueralpinen Stdte bzw. Industrie-gebiete begeben haben und nun wieder in ihre Heimatdrfer zurckkehren. Wieder andere verfgen seit Generationen ber ein Haus in den neuen Zuwanderungsgebie-ten, welches sie nach wie vor als Zweitwohnsitz fr sich (und Freunde) nutzen oder aber auch schon in ihren Hauptwohnsitz umgewandelt haben. Dazu zhlen ebenso Pensionisten, die ihren Zweitwohnsitz nun als Alterswohnsitz nutzen. Einen nicht zu unterschtzenden Teil machen zudem die Telecommuter aus, die beruflich flexibel und wenig Arbeitsplatz-gebunden sind.
Einer aktuellen Studie von Di Simine und Mercuri (2009, S. 8) zufolge umfasst der Anteil an Zweitwohnsitzen in 260 ausgewhlten italienischen Alpengemeinden rund 60 % des Gesamtwohnraumes und wird, sofern sich der aktuelle Trend fortsetzt, weiter ansteigen. In einigen Gemeinden westlich von Turin liegt der Prozentsatz an Zweitwohnungen sogar bei ber 90 %. Diese Extremwerte machen deutlich, dass sich auf Grund dieses neuen demographischen Trends unweigerlich Probleme fr die
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betroffenen Gebiete ergeben. ber kurz oder lang wird es auf Grund des Zuzugs und der damit verbundenen Nachfrage nach Gebuden und Grundstcken zu einem Immo-bilienpreisanstieg kommen. Dies wiederum kann zu einer Abwanderung ortsansssiger Bevlkerungsteile fhren, da diese sich entsprechenden Wohnraum nicht mehr leisten knnen. Auerdem begnstigen Zweitwohnsitze Zersiedelungsprozesse mit all ihren unerwnschten Konsequenzen im raumplanerischen Sinn. Die Minderheitensprachen, welche sich in vielen der betroffenen Gebiete erhalten konnten, sind durch die Zu-wanderung stark gefhrdet, da sie vom Italienischen berlagert und immer weniger gesprochen werden (Walder et al. 2010).
Zum anderen darf nicht unbercksichtigt bleiben, dass auch positive Akzente gesetzt werden, wie etwa die Revitalisierung verlassener Gebude (oder sogar ganzer Drfer) und damit einhergehend die Verhinderung der Entstehung von Geisterdr-fern. Kurzfristig profitiert in erster Linie das Bau- und Handwerksgewerbe von der Instandsetzung bzw. -haltung der Gebude, und lokale Versorgungs- und Dienstleis-tungsstrukturen knnen weiter bestehen. Da in vielen Gemeinden von den vergangenen Abwanderungswellen ungnstige bio-demographische Strukturen nachwirken, kann die neue Zuwanderung (ber-)Alterung und Geburtendefizite verndern.
In Bezug auf das Phnomen der Amenity Migration im Alpenraum gibt es bis dato noch wenige Untersuchungen. Ansatzweise hat sich Perlik (1999, 2008) damit beschftig