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Anatomie und Biomechanik des Unterkiefers B. Kummer, K61n Anatomisches Institut der Universit~t zu KOln Die Gestalt des menschlichen Unterkiefers ist nur aus seiner Entwicklung und aus seiner Funktion richtig zu verstehen -- und beide sind eng miteinander verkniXpft. Phylogenetisch wie auch in der Ontogenese des Menschen und aller 0brigen S~iu- getiere besteht der bewegliche Kieferbogen, tier erste Viszeralbogen, aus dem Mandi- bulare (Cartilago Meckeli), dem proximal das Articulare angeschlossen ist, das mit dem Quadrature m~'tikuliert. Dieses Quadratoartikulargelenk ist beim Menschen noch im dritten Embryonalmonat als prim~tres Kiefergelenk nachweisbar (Abb. 1), zugleich lagern sich rostral davon die Deckknochen Squamosum und Dentale zur Bildung eines sekund~ren -- und far den Menschen definitiven -- Kiefergelenks an- einander. Bei den Reptilien ist das zahntragende Os dentale noch einer unter ver- schiedenen Deckknochen, die sich an der Bildung des kompliziert zusammengesetz- ten Unterkiefcrs beteiligen (Abb. 2a und 2b). Wfihrend einige von ihnen beim S~tuger vollkommen verschwunden sind, werden andere, wie die Ersatzknochen des prim~tren Kiefergelenks, in die Konstruktion des Mittelohrs einbezogen. Trotz der in letzter Zeit ge~iuBerten, z. T. ~tugerst polemischen Kritik I91 hat sich diese Reichert- Gauppsche Theorie bis heute zur Erkl~trung der entwicklungsgeschichtlichen Um- konstruktiOnen im Unterkiefer-Mittelohr-Bereich in ihren prinzipiellen Aussagen durchaus bew~hrt. Die Bildung unseres Squamosodentalgelenks ist ein Paradebeispiel ftir eine funk- tionelle Gelenkbi!dung iiberhaupt: Zwei Deckknochen n~ihern sich einander, in dem zwischengelagerten Mesenchym entstehen -- in unmittelbarer Nahe beider Skelett- I~brtschr. Kieferorthop. 46 (1985), 335--342 (Nr. 5) Abb. 1. Leicht schematisierte ldbersicht fiber die Elemente des prim~tren urtd sekund~tren Kiefer- gelenks bei einem menschlichen Embryo yon etwa 50 mm Scheitel- Steil3-L~nge (nach eigenem Pr~- parat und in Anlehnung an Srarck [15]), ( D = Dentale, I = Incus, M = Malleus [in Fortset- zung des Meckelschen Knorpels~, S = Squamosmn, St - Stapes, T = '~}'m panicmn.) 335

Anatomie und Biomechanik des Unterkiefers

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Anatomie und Biomechanik des Unterkiefers

B. Kummer, K61n

Anatomisches Institut der Universit~t zu KOln

Die Gestalt des menschlichen Unterkiefers ist nur aus seiner Entwicklung und aus seiner Funkt ion richtig zu verstehen - - und beide sind eng miteinander verkniXpft.

Phylogenetisch wie auch in der Ontogenese des Menschen und aller 0br igen S~iu-

getiere besteht der bewegliche Kieferbogen, tier erste Viszeralbogen, aus dem Mandi- bulare (Carti lago Meckeli), dem proximal das Articulare angeschlossen ist, das mit

dem Quadra ture m~'tikuliert. Dieses Quadratoar t ikulargelenk ist beim Menschen noch im dritten Embryona lmona t als prim~tres Kiefergelenk nachweisbar (Abb. 1),

zugleich lagern sich rostral davon die Deckknochen Squamosum und Dentale zur Bildung eines sekund~ren - - und far den Menschen definitiven - - Kiefergelenks an-

einander. Bei den Reptilien ist das zahntragende Os dentale noch einer unter ver- schiedenen Deckknochen, die sich an der Bildung des kompliziert zusammengesetz-

ten Unterkiefcrs beteiligen (Abb. 2a und 2b). Wfihrend einige von ihnen beim S~tuger vol lkommen verschwunden sind, werden andere, wie die Ersa tzknochen des prim~tren Kiefergelenks, in die Konstrukt ion des Mittelohrs einbezogen. Trotz der in letzter

Zeit ge~iuBerten, z. T. ~tugerst polemischen Kritik I91 hat sich diese Reichert-

Gauppsche Theorie bis heute zur Erkl~trung der entwicklungsgeschichtlichen Um- konstruktiOnen im Unterkiefer-Mittelohr-Bereich in ihren prinzipiellen Aussagen

durchaus bew~hrt. Die Bildung unseres Squamosodentalgelenks ist ein Paradebeispiel ftir eine f u n k -

tionelle Gelenkbi!dung iiberhaupt: Zwei Deckknochen n~ihern sich einander, in dem zwischengelagerten Mesenchym entstehen - - in unmittelbarer Nahe beider Skelett-

I~brtschr. Kieferorthop. 46 (1985), 335--342 (Nr. 5)

Abb. 1. Leicht schematisierte ldbersicht fiber die Elemente des prim~tren urtd sekund~tren Kiefer- gelenks bei einem menschlichen Embryo yon etwa 50 mm Scheitel-

�9 Steil3-L~nge (nach eigenem Pr~- parat und in Anlehnung an Srarck [15]), ( D = Dentale, I = Incus, M = Malleus [in Fortset- zung des Meckelschen Knorpels~, S = Squamosmn, St - Stapes, T = '~}'m panicmn.)

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Squ

Abb. 2a und 2b. Homologie der Elemente des pJimtiren und sckundtiren Kief,::rgelenks. a) Reptil, b) Sgu- get (menschlicher Embryo). (A = Angulare IT~,mpanicum], C = Coronoid, Co -= Columella, D = Den- tale [Mandibnlal, G - Goniale iPraearticularel, Me = Mecketscher Knorpel iMandibulare',, Qu = Qua- dratum, RE = Reichertscher Knorpel [Hyalbogen], S = Supraangulare, St = Stapes.)(Umgezeichnet nach Starck [15].)

elemente - - Dehiszenzspalten, die bald den Charakter yon Schleimbeuteln anneh- men; das zwischen ihnen liegende Bindegewebe verdichtet sich zu einer derben Platte, in der sich auch Knorpelgewebe differenzieren kann, und indem der gesamte Bereich durch eine immer deutlicher zutage tretende Bindegewebskapsel umgrenzt wird, nimmt die gesamte Struktur das Aussehen einer Junctura synovialis, eines echten Ge- lenks mit eingelagertem Discus an.

Die wtihrend dieser Zeit an der Mandibula (Dentale) ablaufenden Differenzierun- gen werden kontrovers diskutiert und sind sicher nicht bei allen S~iugetieren einheit- lich (vgl. [ t5 ] ) . Gesichert ist allerdings die Beobachtung der Entstehung von ,,Sekundtirknorpel" in dem ansonsten auf rein desmaler Basis ossifizierenden Deckknochen Dentale. Beim embryonalen Kaninchensch~idel beschreiben t~?ick u .

H e c k m a n n t2] Sek~ndtirknorpeI im Ramus ascendens mandibulae sowohl im Bereich von Processus articularis und Processus coronoideus als auch am Angulus, also 0berall dort, wo besonders starker Zuwachs beobachtet wird. Auch am Kranium ei- nes menschtichen Embryos yon 93 mm Scheitel-SteiB-Ltinge beobachtet Reinbach

[13] in der Mandibula ,,einen starken Sekund~irknorpel, der sich in den Processus condylaris fortsetzt und oben als Gelenkknorpel frei zutage tritt". Der Processus co- ronoideus enthtilt in seinem oberen Abschnitt ebenfalls Sekund~irknorpel. Es unter- liegt keinem Zweifel, dab an allen diesen Stellen auch Knochenbildung dutch chon-

drale Ossifikation stattfindet. Schliel31ich persistiert nur mehr ein donner Knorpel- tiberzug des KieferkOpfchens, der hier letztendlich als Gelenkknorpel fungiert.

Die Frage, wie denn vor allem in der Phylogenese der funktionelle Ubergang vom prim~iren zum sekund~iren Kiefergelenk zu denken sei, hat die Gemtiter lange Zeit erregt. Eine gleichzeitige Funktion beider Gelenke (und dies war in der {)bergangs- zeit far eine viele Generationen wtihrende Zeitspanne zu fordern) schien unm0glich, wenn nicht beide Gelenke eine gemeinsame Achse bes~tBen. Crompton [1] konnte je- doch bei einem Saurier aus der oberen Trias Siidafrikas (Diarthrognathus broomi) beweisen, dab wtihrend des Reptil-Stiuger-Clbergangs beide Gelenke gleichzeitig hmktioniert haben. Zwar wird Diarthrognathus heute nicht als tatstichlicher Vorlau- fer der Sgugetiere angesehen, docb land R o m e r [14! eine hierher geh0rige Form aus der unteren Trias Argentiniens (Probainognathus) mit funktionierendem Quadrato-

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artikulargelenk und eben beginnendem Gelenkkontakt zwischen Squamosum und Dentale.

Die funktionelle Lbsung des Problems liegt offenbar darin, dab die Mandibula auch for das feste Zubeil3en nicht uater allen Umst~inden am Schfidel abgesttitzt zu werden braucht. Abgesehen davon, dab bereits tiltere klinische Beobachtungen bei re- seziertem MandibulakOpfchen deutliche Hinweise liefertenl erbrachte Molitor [71 den theoretischen und experimentellen Beweis daftir, dab bei entsprechender Konstella- tion der Muskelkrtifte das Kiefergelenk auch bei festem Zubilt vOllig lastfrei sein kann.

In einem stark verein~achten Modell kann man den Unterkiefer mit einem Waage- balken vergleichen (Abb. 3a und 3b). Die Aufh~ngung entspreche der angreifenden Muskelkraft, wfihrend die im Gleichgewicht zu haltenden Gewichte durch Aufbif3- kraft und Gelenkdruck repr~isentiert werden. Diese mechanische Grundsituation wird durch spezifisehe Formeigenttimlichkeiten des Unterkiefers und die Komplexi- tat der ansetzenden Muskeln erheblich modifiziert.

Nach Pauwels [10] wird die Proliferation von Knochengewebe sowohl durch Druck- als auch durch Zugkrgfte stimuliert (s. auch [5]). Unter diesem Aspekt sind die Ausbildungen sowohl des Processus coronoideus als aiach des Angulus mandibu- lae durchaus versttindlich (Abb. 4). Auch die Entwicklung des Processus alveolaris l~tl3t sich aus der Wirkung der dutch den Zahnhalteapparat iibertragenen Kr~ifte plausibel erkttiren (Abb. 5). Das wird durch seine u. U. extreme Reduktion bei Zahn- verlust ganz besonders deutlich (Abb. 6). Die postnatale Aufrichtung des Ramus as- cendens mafldibulae mag sich aus der biegenden Wirkung insbesondere der aus den Mm. masseter und pterygoideus internus gebildeten Muskelschlinge erklfiren, die nach Pauwels [11] im Zuge der funktioneUen Anpassung durch eine entgegengesetzte Krfimmung des Skelettelements beantwortet wird.

a

b

~M

' h A hp

-M=A+P -A.hA = P'hp

I J

Abb. 3a und 3b. In einer ersten N~iherung kann der Unterkiefer zur Analyse seiner Beanspru- chung mit einem Waagebalken verglichen wet- den. a) Schematische Skizze des Kraflangriffs, b) Waagemodelt mit ungleich langen Hebelar- men im Gleichgewicht. Die linke Gleichung zeigt die Entsprechungen der Krfifte (gilt nut, weil in diesem Modell alle KrMte zueinander parallel und rechtwinklig zu ihren Hebelarmen verlaufen!), die rechte Gleichung beschreibt das Momentengleichgewicht. (A = Auftager- kraft [am Gelenk], h A = Hebelarm der Kraft A, hp = Hebelarm der Kraft P, P = Last [Bigdruck! .)

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Abb. 4

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Abb. 5 Abb.6

Abb. 4. Muskelzug und Kaudruck (Pfeile) stimulieren das Knochenwachstum und f'ahren dadurch zur Ausbildung des Aagulus mandibulae, des Processus coronoideus und Processus atveolaris. - - Abb. 5. Auf die Strukturen des Processus alveolaris (hier eine Interatveolarwand) wird der auf die Z{ihne wirkende Druck durch die Kollagenstrukturen des Zahnhalteapparates tibertragen. - - Abb. 6. Skizze des stark redu- zierten Unterkiefers einer etwa 80jfihrigen Frau. Der Processus alveolaris ist fast vollst~.ndig geschwunden; auch der Angulus ist weniger prominent, weswegen der Winkel zwisehen Corpus und Ramus gestreckter erscheint.

Nunmehr sind, dem Vorgehen yon Molitor [7] fotgend, die funktionellen Auswir- kungen dieser Gestaltungseigentf~mlichkeit zu untersuchen.

Zunfichst ist zu bert~cksichtigen, dab die Muskelkr~tfte nicht rechtwinklig zum Un- terkieferk6rper angreifen, sondern mehr oder weniger stark nach rostral geneigt sind. Daraus resultiert am Gelenk eine schrgg nach aufwfirts-vorw~rts gerichtete Auflager- kraft, die in eine vertikale und eine horizontale Komponente zerlegt werden kann (Abb. 7a). Mit zunehmender L~nge eines Ramus ascendens wird die Vertikalkompo-

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~,H' A - . . . . . . . . T . . . . . . . 1 7 ;

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Abb. 7a bis 7c. Einfluf3 der L~inge des Ramus ascendens auf Richtung und Grbf3e der Aufla- gerkraft, a) Der Ramus fehlt fast vollst~ndig. Die Auflagerkraft A und ihrc Gegenkompo- nente A' lassen sich in eine Horizontalkompo- nente H und eine Vertikalkomponente V zerte- gem b) Mittlere L~tnge des Ramus. gei gleich- bleibendem Bigdruck P ist die Muskelkraft M kleiner geworden, desgteichen die Auflager- kraft A. Die vertikale Gegenkomponente V' hat erheblich abgenommen, die Horizontal- komponente H' ist anteilmN~ig grOBer gewor- den, abet im Absolutbetrag reduziert, c) Der Drehpunkt des Gelenks hat die gleiche H6hen- lage wie der Schnittpunkt der Wirkungslinie dcr Muskelkraft M mit der Wirkungslinie yon P. Die Vertikalkomponente ist verschwunden, A und M erreichen ihren Minimatwert. (Ver~n- dert nach Molilor 17! 3

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,-"7, Rmla/

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Abb. 8. Kombination der Musketkrgff- te zu einer Muskelresulfierenden, die mit dem Kaudruck gemeinsam die gleiche Wirkungslinie hat. Das Ge- lenk ist vOllig lastfrei. (MP m = ge- meinsame Kraft der Mm. masseter und pterygoideus medialis, M r = Ge- samtresuttierende der Kaumuskel- krtifte, P1 = M. pterygoideus tatem- tis, Rmp =- Resultierende aus den Krtiften der Mm. masseter, pterygoi- deus medialis und pterygoideus late- ralis, T = M. temporalis.--Aus 3doli- ,'o~ !vii.)

nente dieser Auflagerkraft kleiner, wahrend die Horizontalkomponente zunimmt (Abb. 7b u. 7c).

Molitor [7] hat in verschiedenen graphischen Krfifteanalysen mehrere denkbare Muskelkombinationen untersucht und dabei auch eine Konstellation gefunden, bei der die Auflagerreaktion des Kiefergelenks null wird (Abb. 8). Dies wurde durch ei- nen entsprechenden spannungsoptischen Versuch bestatigt. Die MOglichkeit einer ~olchen totalen Entlastung des Gelenks liegt darin begrt'mdet, dal3 der gesamte Man- dibularapparat durch eine vielfache Musketbesetzung statisch Oberbestimmt ist. Das bedeutet, dab es f6r eine gegebene Lastsituation (ZubiB) mehr als nu t eine (strengge- nommen sogar unendlich vide) LOsung der Gleichgewichtsbedingung gibt. Damit besteht ein sehr groBer individuetler Spielraum for die LOsung der mechanischen Aufgaben beim Zubeigen und Kauen. PersOnlichc Gewohnheiten, anerzogenes Ver- halten und verschiedene psychologische Faktoren spielen hier eine groBe Rolle.

Analog zu den yon Pauwels [11,121 am postkranialen Skelett erhobenen Befunden ist auch fiir die Mandibula zu vermuten, dab sie in Gestalt, Struktur und Material- verteilung an die spezifische mechanische Beanspruchung angepal3t sei.

Nach mehreren vorausgegangene1~ Versuchen~ die Bezieh~.mgen zwischen Funktion und Struktur des Unterkiefers aufzukl~ren (sie basieren im wesentlichen auf den klassischen Untersuchungen yon Walkhoff i17, 18, 19] und Levin [6]), wandte zu- n~tchst Molsch [8] die Spannungsoptik zur LOsung dieses Problems an. Fast gleicb- zeitig unternahm es Kiippers f3[ in einer breit angelegten Studie, die funktionelle An- passung der Mandibel auf der Grundlage der Pauwelsschen Vorstellungen zu analy- sieren. Er wies im spannungsoptischen Versuch an Plexiglasmodellen {iberzeugend nach, dab die Mandibula einer Biegebeanspruchung ausgesetzt ist (Abb. 9a und 9b) und dab die Architektur ihrer spongiOsen Substanz dem zugehOrigen Trajektorien- muster entsprieht. Bedeutsam ist an diesen Untersuchungen, die sowohl am stark vereinfachten, unbezahnten Unterkiefermodell als auch an Modellen mit Simulation der Bezahnung durchgeft'lhrt wurden, dab auch bei der Annahme unterschiedlich ge- legener Belastungsorte (Frontzahnbereich, Pramolaren, Molaren) stets ein sebr ahn- Iiches Trajektorienmuster resultierte. Durch photographische Summation de rnu r in

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Abb. 9a und 9b. Die Beanspruchung des Unterkiefers im spannungsoptische~ Modellversuch. a) Trajekto- rienbild in einem Plexiglasmodell. Die Muskelkr~ifte sind mit ihren jeweitigen Anteilen in Prozent des ge- samten Kraftbedarfs angegeben, b) Isochromaten (Zonen gleicher BeanspruchungsgrOBe) in einem Kunsl- harzmodell. Die Ziffern bedeuten die Ordnungszah!en der ]sochromaten. Sie sind den relativen Beanspru- chungsgrOgen propm-tional. - - Aus Kf/ppers 131.

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D

C

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Abb. lOa .,~ Abb. lOt.~

2 &bb. 10a und 10b. Vergleich zwischen der iria span- nungsoptJschen Moddlversuch ermittelten Bean; spructmngsverteilung und der Verleilung der Ab- sorptionsdicbte im ROntgenbild des Unterkiefers, a) Modell mit lsochromatenmnster (vgl. Abb, 9b) und eingezeichneten Megstrecken. b) Vergleich der RiSntgendichte des Unterkiefers (horizontal schral- fiert) und der Beanspruchungsverteilung ,(= Iso- chromatenordnungen; dunkelgrau) auf den Mel31i- nien A bis G (vgl. Figur a). - - ,&us K~ppers [3].

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Details verschiedenen Trajektorienbilder machte K@pers [3! schlieglich plausibel, daf] auch die innere Struktur des Unterkiefers durch Summation der in den Grund- zagen ~tul3erst ~ihnlichen, zu Einzelfunktionen geh~Srenden Spannungsmuster kausal zustande gekommen sein kann.

Unter Zuhilfenahme des technisch ~iul3erst schwierigen dreidimensionalen span- nungsoptischen Modellversuchs dehnte Kfippers' !3] diese Analyse auch auf Quer- schnitte der Mandibula aus. Seitdem kann die dreidimensif~nale spanmmgstrajekto- rielle Struktur des menschlichen Unterkiefers nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezo- gen werden.

Schliel31ich bestimmte K~ippers [31 an Kunsts~offmodelien unbezahmer und be- zahnter Unterkiefer mit der Isochromatenmethode im spannungsoptischen Versuch (vgl. ]4j) die relative Beanspruchungsverteilung und verglich sie mit der im ROntgen- bild gemessenen Dichteverteilung. Auch hier zeigte sich eine so weitgehende grund- satzliche Ubereinstimmung (Abb. 10a und 10b), daf3 der Schluf3 erlaubt ist, dab auch die Materialverteilung an die ~3rtliche BeanspruchungsgrOl3e angepal3t isto

In jtingster Zeit haben Tillmann et al. [16] das gleiche Problem mit modernen Me- thoden (computergest{itzte Densitometrie der ROntgenbilder yon Unterkieferquer- schnitten) differenzierter untersucht. Sie best~itigen mit weiteren Argumenten die bis ins Detail gehende funktionelle Anpassung der menschlichen Mandibula.

Somit kann zusammenfassend gesagt werde'~, dal~ der Unterkiefer sowohl durch seine grobe Gestalt als auch dutch seine Struktur und die relative Verteilung des Kno- chenmaterials an seine mechanische Beanspruchung, die grundsfitzlich in einer Bie- gebeanspruchung besteht, angepafJt ist. Angreifende Muskelkrfifte und die yon der Bezahnung fibertragenen Krfifte haben auf3erdem einen wesentlichen modellierenden Ei~fflug. SchlieNich zeigt sich als gemeinsames F:.rgebnis aller referierten Untersu- chungen, dab der Canalis mandibulae recht genau in der neutralen Faser der Biege- beanspruchung liegt und daher keine erkennbare Festigkeitsminderung bedeutet.

~usammenl'aSSllng

Gestalt nnd Struktur der Mandibula sind aus ihrer Entwickhmg und funk[ionellen Beanspruchung zu versteben. W~ihrend der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung des sekund~iren Kieferge- leuks ist die Mandibula im wesentlichen mnsknta.r snspendiert. Auch beim erwachsenen Menschen mu3 das Kiefergelenk nicht unbedingt belastet werden. Selbst bei kr/.tftigem Kauen kann der Unterkiefer allein dutch Muskeln ohne Absttitzung am Gelenk im Gleichgewichl gehalten werden. Eingeleitete Muskelkrafte ;~ad der dtuch die Z~ihne tiberl.ragene Kaudruck bestimmen seine grobe Form. lnsgesamt resultiert eine Biegebeanspruchnng, an die die Strnktur als trajektorielles Fachwerk angepal3t ist. Spannungsoptische Modellversuche und die Densitometrie von R6ntgenaufnahmen beweisen ferner, dal~ das Knocl~enmate- rial emsprechend den lokale]J Beanspruchungsgr6f3en verteilt ist. Damit is~ die Mandibula festigkeitstheo- vetisch als KOrper gleicher Festigkeit anzusehen.

SUmmary

'I~he macroscopic shape and structure of the mandible can be nndersLood by analyzing its devetopment and ftlnctional stressing. In the periods of phylogeneticat and ontogenetical development of the secondary temporo-mandibular joint, the mandibuta is primarily suspended by muscles. Even in the adult, the remporo-mandibntar joint must not necessarily be under load. Even during vigorous ma:~tlcation, the mandible can be balanced by muscle forees alpine and withou~ any support ~ the joint: The' forces from the insertion of muscles and ~he masticatory pressure, transmitted by the teeth determine ~he gross shape of the lower jaw. From the action of these forces a bending stress results to which [he mandibtdar strt~cture

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is~adapted by forming a trajectorial framework, Furthermore, photoelastic experiments and the densito- merry of X-ray pictures reveal a distribution of the bone material, adapted to the local magnitudes of stresses. Thus, the mandible represents a "body of uni form strength" in tl~e technical sense.

R~sum~

La forme macroscopique et la structure de la mfichoire inferienre s'expliquent par l'6tude de son d & e - loppement et de sa sollicitation fonctionnelte. Au cours du ddvetoppement phylog~n&ique et ontogfin6ti- que de I'articulation temporo-mandibulaire, la m~choire inf6rieure est principalement suspendue par des muscles. Aussi ehez l ' homme adulte l 'articulation temporo-mandibulaire ne doit pas n6cessairement ~tre charg6e. Mg~me pendmlt une forte mastication, la mandibule peut 6tre bien 6quilibr6e uniquement par les muscles, sans s 'appuyer au niveau de l'articutation. Sa forme g~n6rale est d~termin6e par les forces des muscles qui y sont attachds et par la pression masticatoire, transmise par tes dents. I1 en r~sulte une soltici- tation flechissante, fi laquelle la structure s'est adaptde en formant une construction trajectorielle, tl est prouv6 par exp6rimentation photo6lastique et densitom6trie radiographique que te tissu osseux de la man- dibule se distribue d 'nne far correspondante 5. la sollicitation locale. Par suite, la mfichoire inf&ieure peut atre regard6e du point de rue de l'ingdnieur comme un <<corps/~ rdsistancc uniforme>>.

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Anschrift d. Verf.: Prof. Dr. 13. Kummer, Joseph-Stelzmann-Stral3e 9, D-5000 KOln 4I.

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