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Erschienen in f+h 1-2/2016 KRANE UND HEBEZEUGE Performante Steuerungen, Antriebe und eine Pendelregelung sind das elektronische Rückgrat des vollautomatisch arbeitenden Krans einer der modernsten und kompaktesten Haubenglühanlagen der Welt. Seit mehr als zwei Jahren sorgen diese für einen präzisen, sicheren und kosteneffizienten Betrieb. D ie international agierende Bilstein Group betreibt als einer der bedeu- tendsten Hersteller von Kaltband weltweit am Standort Hagen-Hohenlimburg eine der modernsten Haubenglühanlagen der Welt. In einer neuen Halle wurden in der ersten Ausbaustufe zwölf Glühsockel mit jeweils sechs Heiz- und Kühlhauben und energie- effizienter Bypass-Kühlung realisiert (Bild 01). Auch nach mehr als zwei Jahren vollautomatischem Kranbetrieb für die produ- zierten Schwergewichte wurden alle denk- baren Arbeitsschritte fehlerfrei absolviert. Aufgabe der Anlage ist das Entspan- nungsglühen warm- und kaltgewalzter Stahlband-Coils mit Bundgewichten von bis zu 30 Tonnen, Außendurchmessern bis zu 2 000 mm und Bundbreiten von 150 bis 1 350 mm. Die aus dem eigenen Walzwerk angelieferten Coils werden an der Glüh- anlage identifiziert und im Kranbetrieb halbautomatisch vorchargiert, d. h. sorten- rein aufgestapelt. Alle weiteren Arbeits- schritte übernimmt der inzwischen mit Steuerungen, Antrieben und einer Pendel- regelung ausgerüstete Brückenkran auto- matisch. Dieser stammt von der Kranbau Köthen GmbH und ist für das Auf- und Ent- stapeln der Coils auf den Glühsockeln bzw. Übernahmeplätzen, das Zwischenlegen und Entnehmen von Konvektorscheiben (für eine optimale Gaszirkulation unter den Hauben) sowie das Auf- und Absetzen der Schutz-, Glüh- und Kühlhauben über den Coilstapeln bzw. auf einem der freien Abstellplätze zuständig. All dies geschieht weg- und somit zeitoptimiert. Dabei weiß das vom Kranautomatisierer in der Steue- rung angelegte Lagerverwaltungssystem (SQL-Datenbank) zu jeder Zeit, wo sich welche Coils und Hauben bzw. alle Konvek- torscheiben befinden. Automatisch „glühen“ Hersteller kaltgewalzter Metallbänder automatisiert Kranbetrieb

Automatisch „glühen“ - industry.siemens.com · zu 2 000 mm und Bundbreiten von 150 bis 1 350 mm. Die aus dem eigenen Walzwerk angelieferten Coils werden an der Glüh-anlage identifiziert

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Erschienen in f+h 1-2/2016

KRANE UND HEBEZEUGE

Performante Steuerungen, Antriebe

und eine Pendelregelung sind das

elektronische Rückgrat des

vollautomatisch arbeitenden Krans

einer der modernsten und

kompaktesten Haubenglühanlagen

der Welt. Seit mehr als zwei Jahren

sorgen diese für einen präzisen,

sicheren und kosteneffizienten

Betrieb.

Die international agierende Bilstein Group betreibt als einer der bedeu-

tendsten Hersteller von Kaltband weltweit am Standort Hagen-Hohenlimburg eine der modernsten Haubenglühanlagen der Welt. In einer neuen Halle wurden in der ersten Ausbaustufe zwölf Glühsockel mit jeweils sechs Heiz- und Kühlhauben und energie-effizienter Bypass-Kühlung realisiert (Bild 01). Auch nach mehr als zwei Jahren vollautomatischem Kranbetrieb für die produ-zierten Schwergewichte wurden alle denk-baren Arbeitsschritte fehlerfrei absolviert.

Aufgabe der Anlage ist das Entspan-nungsglühen warm- und kaltgewalzter Stahlband-Coils mit Bundgewichten von bis zu 30 Tonnen, Außendurchmessern bis zu 2 000 mm und Bundbreiten von 150 bis 1 350 mm. Die aus dem eigenen Walzwerk angelieferten Coils werden an der Glüh-anlage identifiziert und im Kranbetrieb

halbautomatisch vorchargiert, d. h. sorten-rein aufgestapelt. Alle weiteren Arbeits-schritte übernimmt der inzwischen mit Steuerungen, Antrieben und einer Pendel-regelung ausgerüstete Brückenkran auto-matisch. Dieser stammt von der Kranbau Köthen GmbH und ist für das Auf- und Ent-stapeln der Coils auf den Glühsockeln bzw. Übernahmeplätzen, das Zwischenlegen und Entnehmen von Konvektorscheiben (für eine optimale Gaszirkulation unter den Hauben) sowie das Auf- und Absetzen der Schutz-, Glüh- und Kühlhauben über den Coilstapeln bzw. auf einem der freien Abstellplätze zuständig. All dies geschieht weg- und somit zeitoptimiert. Dabei weiß das vom Kranautomatisierer in der Steue-rung angelegte Lagerverwaltungssystem (SQL-Datenbank) zu jeder Zeit, wo sich welche Coils und Hauben bzw. alle Konvek-torscheiben befinden.

Automatisch „glühen“Hersteller kaltgewalzter Metallbänder automatisiert Kranbetrieb

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KRANE UND HEBEZEUGE

135-Tonnen-Kran millimeter-genau bewegen

Der dafür maßgeschneiderte Zweiträger-Brückenkran überspannt die komplette Hallenbreite von rd. 33 m und hat ein Gesamtgewicht von 135 Tonnen. Zwei Hub-werke auf einer Katze ermöglichen ab-wechselnd den Transport von Lasten mit 28 bzw. 50 Tonnen. Letzteres für den Trans-port von Breitband-Coils in der bereits ge-planten zweiten Ausbaustufe. Jedes dieser Hubwerke ist mit zwei Antrieben ausgerüs-tet, die so dimensioniert sind, dass sich bei Ausfall eines Antriebs bei halber Geschwin-digkeit immer noch die volle Last umschla-gen lässt. Mit einem universellen Lastauf-nahmemittel können im ständigen Wech-sel Coils, Konvektorscheiben und die bis zu 18 Tonnen schweren Glüh- bzw. Kühlhau-ben transportiert werden (Bild 02).

Realisiert wurden Verfahrgeschwindig-keiten von 80 m/min in Längsrichtung, 50 m/min in Querrichtung und rd. 15 m/min beim Heben und Senken der Lasten über einen Hubweg von 22 m. Für einen präzisen automatischen Betrieb wurde die geforderte

Gleichlaufgenauigkeit zwischen linker und rechter Tragseite von ±15 mm und eine Positioniergenauigkeit von ±20 mm über den Zentrierdornen an den Glühsockeln er-reicht. Dies alles unter erhöhten Sicher-heitsanforderungen, da die Lasten nur unter definierten Voraussetzungen und nur in bestimmten Bereichen mannlos bewegt werden dürfen, um Personen und gasfüh-rende Leitungen zu schützen. Damit der Betreiber immer auf dem laufenden Stand der Glühprozesse bleibt, waren Schnittstellen zum überlagerten BDE-System und zur Glühanlagensteuerung zu schaffen.

Verteilte Automatisierung

In stressigen Zeiten greift Heiner Witke, Projektmanager, Kransachverständiger und Handlungsbevollmächtigter der Kranbau Köthen GmbH, auf externe Spezialisten zu-rück, z. B. auf die Bormann + Reinhold Elek-tro-Steuerungstechnik GmbH aus Ibbenbüren. Das Unternehmen ist „Siemens Solution Partner“ der Division Digital Factory (DF) und hat mit Steuerungen und Antrieben des Ausrüsters schon diverse

01 Eine der weltweit ersten von einem Automatikkran ver- und entsorgten Hauben-glühanlagen mit je sechs Heizhauben (silber) und Kühlhauben (schwarz)

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KRANE UND HEBEZEUGE

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Kran- und andere Industrieanlagen auto-matisiert.

Für die spezifischen Anforderungen des mannlosen Kranbetriebs in der Bilstein-Glühe hat Manfred Bode, Teamleiter Auto-mation bei Bormann + Reinhold, ein verteiltes Automatisierungskonzept, basierend auf zwei Siemens-Steuerungen vom Typ Simatic S7-300F (CPU S7 317F 2 PN/DP) erstellt. Ein F-Controller ist im zentralen Schaltschrank am Hallenboden installiert und verarbeitet über Standard- und fehlersichere Peripherie-baugruppen sowohl die üblichen Ablauf- als auch die sicherheitsgerichteten Signale von Schutztüren, Lichtschranken und Not-Halt-Tastern. Außerdem ist daran die Funkfern-steuerung für den Handbetrieb des Krans angebunden. Über einen Ethernet-Kommu-nikationsprozessor vom Typ CP 343 1 ist der Datenaustausch mit der Scada-Ebene – Simatic-WinCC-Server im zentralen Server-raum sowie WinCC-Clients in der Halle und der Leitwarte – sowie mit dem BDE-System und der Glühsteuerung realisiert (Bild 03). Darüber hinaus fungiert die stationäre Steue-rung als Schnittstelle für den Fernzugriff auf die Anlage über VPN (Virtual Private Network).

Bindeglied zwischen den fehlersicheren Steuerungen am Hallenboden und auf dem Kran sind ein IWLAN-Access-Point vom Typ Scalance W788 1 Pro und ein IWLAN- Client-Modul vom Typ Scalance W746 1 Pro von Siemens. Über die drahtlose Verbin-dung werden ablauf- und sicherheitsrele-vante Signale fehlersicher übertragen und der Kran bei Störungen in einen sicheren Zustand gebracht, womit der Performance

Level PL d nach EN  ISO 13849 1 erreicht wird.

Weil über den Glühsockeln Temperaturen von bis zu 75 °C herrschen, ist das Gros der Automatisierungstechnik in einem klima-tisierten Schaltraum in einem der beiden Brückenträger untergebracht (Bild 04). So auch das Motion-Control-System Simotion vom Typ D435 in der Aufbautechnik des modularen Antriebssystems Sinamics vom Typ S120. Dieses ist über Profibus an die Kransteuerung angebunden und koordi-niert die Verfahrbewegungen in den drei Hauptachsen und die nur zur Wartung genutzten Drehachsen der Hubwerke. Um Schrägstellungen auf der Kranbahn und

daraus resultierende Ungenauigkeiten zu verhindern, ist auf beiden Tragseiten ein Absolutwert-Wegmesssystem vorhanden und die Antriebe der linken und der rech-ten Seite werden in Master-Slave-Regelung betrieben. Dieser Gleichlaufregelung überlagert ist ein virtueller Master, der die Fahrbewegung im Motion Controller koor-diniert. Katze und Hubwerke sind als Posi-tionierachsen mit externen Gebern ausge-führt. Damit werden die eingangs genann-ten Toleranzen sicher eingehalten.

Umgesetzt werden die Verfahrbewegun-gen über robuste Standardmotoren Simotics SD vom Typ 1LG6, vier davon am Fahrwerk, zwei an der Katze, je zwei an den Hubwerken und je einer an den Dreh-werken. Die Absolutwert-Motorgeber sind über den digitalen Systembus DriveCliq und Sensormodule vom Typ SMC20 mit den Regelungsbaugruppen (Control Units) des Motion-Control-Systems verbunden. An Katze und Hubwerken geschieht dies über einen Lichtwellenleiterumsetzer. Darüber hinaus bestehen zusätzliche Sicherheits-Dreh- und Positionsgeber zur fehlersicheren Überwachung der program-mierten Schutzbereiche (Verfahrwege) im Automatikbetrieb. Diese sind über Profibus und das Profisafe-Protokoll an die fehler-sichere Kransteuerung angebunden. Vereinfacht wird das sicherheitsgerichtete Abschalten im Fehlerfall durch Nutzung der Sicherheitsfunktion STO (Safe Torque Off ) im Antriebssystem. Mit den Software- Endschaltern im SPS-Programm sind somit drei Überwachungsebenen realisiert, um Schutzverletzungen und Kollisionen zu verhindern.

02 Die auf minimale Ausschläge ausgelegte Pendelregelung Simocrane Cesar beschleunigt das Aufnehmen und Absetzen der unterschiedlichen Lasten

03 In der Leitwarte laufen alle Informationen von der Glühe und dem voll automatisierten Kran zusammen und werden visualisiert

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KRANE UND HEBEZEUGE

Erschienen in f+h 1-2/2016

04 Im klimatisierten Schaltraum in einem der Brückenträger: Simotion-Control-Einheiten und Motor-Module (Leistungsteile) aus dem Antriebsverband Sinamics S120 zur Versorgung der Standardmotoren Simotics SD der Doppelhubwerke

Schneller positionieren

Minimale Pendelbewegungen beim Be-schleunigen und Abbremsen stellt ein Pen-delregelungssystem (Pendeldämpfung) für die drei Hauptachsen sicher. Das ermög-licht ein schnelleres Aufnehmen und Abset-zen der Lasten und damit eine optimierte Umschlagrate. Bormann + Reinhold hat sich für das Pendelregelungssystem Simo-crane Cesar standalone von Siemens ent-schieden, das über Kameras an der Katze und Reflektoren an der Oberseite der Hub-werke Schwingungen erfasst und ausregelt.

Eine der größten Herausforderungen des Projekts waren die unterschiedlichen Las-ten und Lastformen, woraus unterschied-liche Lastschwerpunkte resultieren, die sich maßgeblich auf das Verhalten der Pendel-regelung auswirken. Gelöst wurde sie mit separat ermittelten, aus dem Programm heraus umschaltbaren Parametersätzen, die einen Wechsel der Einstellung für die unterschiedlichen Lasten (Hauben, Coils, Konvektoren) erlauben – einstellbar für das jeweils genutzte Hubwerk. Bode: „Die Pen-delregelung ist das entscheidende Glied in der durchgängigen Automatisierungskette.

Ohne diese ist ein automatisierter Betrieb mit unterschiedlichen Lasten und Lastfor-men bei derart hohen Verfahrgeschwindig-keiten praktisch unmöglich.“

Die Präzision des Automatikkrans hat zu einer vollständigen Eliminierung von Schäden an den Hauben geführt: In bislang zwei Jahren kam es zu keinen Kollisionen, die im manuellen Betrieb nie vollständig auszuschließen sind.

Fotos: Siemens

www.siemens.com