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Noch Ende der 1960er Jahre war selbst Bauin- genieure und -fachleu- ten der Begriff Bauphy- sik nicht geläufig. Mitt- lerweile leistet diese Disziplin einen nicht mehr wegzudenkenden Beitrag bei der Planung, Nutzung und Umnut- zung sowie dem Um- und Rückbau von Ge- bäuden. Als wissenschaftliches Sprachrohr dieser Disziplin hat die Zeitschrift BAUPHYSIK seit 1978/79 hierbei einen er- heblichen Beitrag geleistet, der mittlerweile auch beleg- und quantifizierbar ist. Durch ihre Akkreditierung beim Institute for Scientific Information wird die Erfüllung der Basic Standards als zentrale Kriterien für die wissen- schaftliche Charakterisierung einer Zeitschrift bestätigt. Diese Standards umfassen eine regelmäßige Erscheinung, das Einhalten gewisser Konventionen, das Vorhandensein englischer Aufsatztitel mit Abstracts und Keywords sowie ein Peer Review-Verfahren. Der Journal Impact Factor IF, der die durchschnittliche Anzahl der Artikel der Zeitschrift der letzten zwei Jahre beinhaltet, die im laufenden Jahr zitiert wurden, beträgt mittlerweile 0,20 — ein Wert, der im Vergleich zu anderen Zeitschriften respektabel ist und bei sorgfältigerer Zitier- weise in den wissenschaftlichen Aufsätzen, insbesondere aber auch in der projektorientierten Berichten aus der Bauphysikpraxis, gesteigert werden könnte! Inhaltlich haben sich die Schwerpunkte der Bauphy- sik verlagert. Während früher verstärkt Einzelphänomene behandelt wurden, stehen heute komplexere Fragestellun- gen im Vordergrund, so z. B. die Wirkung des Gebäudes auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit seiner Nutzer so- wie die zahlreichen Interaktionen mit der Nachhaltigkeit von Gebäuden. Das aktuelle „Megathema“ ist die Sicherstellung der Energieversorgung angesichts schwindender fossiler Ener- gieträger in Verbindung mit einem wirksamen Klimaschutz. Eine ganz wesentliche Frage, die es in diesem Zusammen- hang zu beantworten gilt, ist, wie unsere Gebäude in Zu- kunft zu gestalten sind, um sie wie gewünscht thermisch zu konditionieren, denn allein für die Wärmeversorgung 1 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bauphysik 33 (2011), Heft 1 Bauphysik im Wandel der Zeit Editorial DOI: 10.1002/bapi.201110000 von Gebäuden (Raumwärme und Warmwasser) wird der- zeit in Deutschland etwa ein Drittel des Endenergiever- brauchs aufgewendet. Maßnahmen zur Energieeinsparung und die Einbindung erneuerbarer Energieträger müssen daher möglichst schnell eine weitestgehende Unabhängig- keit insbesondere dieses Verbrauchssegmentes vom Ein- satz der für das Klima schädlichen fossilen Energieträger herbeiführen, da die Bedingungen hier günstiger sind als in den Verbrauchssegmenten Industrie und Verkehr. Die- ses Ziel lässt sich umso leichter und umso vollständiger er- reichen, je besser Energieverbrauch und erneuerbares En- ergieangebot aufeinander abgestimmt werden. Dabei hat die Reduktion des Nutzenergiebedarfs nicht nur aus wirt- schaftlichen Gründen oberste Priorität, sondern auch, weil Gebäude mit geringem Bedarf Vorteile für den Ein- satz erneuerbarer Energieträger aufweisen, indem sie z. B. niedrigere Systemtemperaturen der Heizungsanlage erlau- ben. Die Entwicklung unserer Gebäude in diese Richtung wurde bereits in den 1970–1980er Jahren eingeläutet und durch Begriffe, wie Solarhäuser, Niedrigenergiehäuser, 3-Liter-Häuser, Passivhäuser und energieautarke Häuser, beschrieben. Die maximal mögliche Integration von Kom- ponenten zur Energiegewinnung ergänzt nun diesen Weg der Energieeffizienzsteigerung. Gebäude der Zukunft weisen deshalb ein Höchstmaß an Energieeffizienz und Aufnahmefähigkeit erneuerbarer Energien auf, so dass sie im Jahresdurchschnitt mehr Ener- gie gewinnen als verbrauchen (Minikraftwerke). Der Ener- gieüberschuss tritt in Form elektrischer Energie auf, die entweder ins öffentliche Netz eingespeist oder in anderer Form gespeichert wird. Besonders interessant erscheinen in diesem Zusammenhang die mittels erneuerbarem Strom gedeckte Elektrolyse von Wasser, bei der der gewonnene Wasserstoff mit Kohlendioxid zu Methan verwandelt wird und als chemischer Speicher genutzt werden kann, oder die Nutzung durch den Gebäudenutzer für die Bedarfs- deckung des Individualverkehrs in Form der Elektro-Mo- bilität. In allen Fällen ergeben sich neue Fragestellungen, die kurzfristig gelöst werden müssen um die notwendigen rich- tigen infrastrukturellen Weichenstellungen vornehmen zu können. Es entsteht ein Paradigmenwechsel – von der ge- nerell verbrauchsabhängigen Erzeugung zum teilweise er- zeugungsabhängigen Verbrauch: Das Energieangebot ent- scheidet über den Verbrauch!

Bauphysik im Wandel der Zeit

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Page 1: Bauphysik im Wandel der Zeit

Noch Ende der 1960erJahre war selbst Bauin-genieure und -fachleu-ten der Begriff Bauphy-sik nicht geläufig. Mitt-lerweile leistet dieseDisziplin einen nichtmehr wegzudenkendenBeitrag bei der Planung,Nutzung und Umnut-zung sowie dem Um-und Rückbau von Ge-bäuden.

Als wissenschaftliches Sprachrohr dieser Disziplin hatdie Zeitschrift BAUPHYSIK seit 1978/79 hierbei einen er-heblichen Beitrag geleistet, der mittlerweile auch beleg-und quantifizierbar ist. Durch ihre Akkreditierung beimInstitute for Scientific Information wird die Erfüllung derBasic Standards als zentrale Kriterien für die wissen-schaftliche Charakterisierung einer Zeitschrift bestätigt.Diese Standards umfassen eine regelmäßige Erscheinung,das Einhalten gewisser Konventionen, das Vorhandenseinenglischer Aufsatztitel mit Abstracts und Keywords sowieein Peer Review-Verfahren.

Der Journal Impact Factor IF, der die durchschnittlicheAnzahl der Artikel der Zeitschrift der letzten zwei Jahrebeinhaltet, die im laufenden Jahr zitiert wurden, beträgtmittlerweile 0,20 — ein Wert, der im Vergleich zu anderenZeitschriften respektabel ist und bei sorgfältigerer Zitier-weise in den wissenschaftlichen Aufsätzen, insbesondereaber auch in der projektorientierten Berichten aus derBauphysikpraxis, gesteigert werden könnte!

Inhaltlich haben sich die Schwerpunkte der Bauphy-sik verlagert. Während früher verstärkt Einzelphänomenebehandelt wurden, stehen heute komplexere Fragestellun-gen im Vordergrund, so z. B. die Wirkung des Gebäudes aufdie Gesundheit und Leistungsfähigkeit seiner Nutzer so-wie die zahlreichen Interaktionen mit der Nachhaltigkeitvon Gebäuden.

Das aktuelle „Megathema“ ist die Sicherstellung derEnergieversorgung angesichts schwindender fossiler Ener-gieträger in Verbindung mit einem wirksamen Klimaschutz.Eine ganz wesentliche Frage, die es in diesem Zusammen-hang zu beantworten gilt, ist, wie unsere Gebäude in Zu-kunft zu gestalten sind, um sie wie gewünscht thermischzu konditionieren, denn allein für die Wärmeversorgung

1© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bauphysik 33 (2011), Heft 1

Bauphysik im Wandel der Zeit

Editorial

DOI: 10.1002/bapi.201110000

von Gebäuden (Raumwärme und Warmwasser) wird der-zeit in Deutschland etwa ein Drittel des Endenergiever-brauchs aufgewendet. Maßnahmen zur Energieeinsparungund die Einbindung erneuerbarer Energieträger müssendaher möglichst schnell eine weitestgehende Unabhängig-keit insbesondere dieses Verbrauchssegmentes vom Ein-satz der für das Klima schädlichen fossilen Energieträgerherbeiführen, da die Bedingungen hier günstiger sind alsin den Verbrauchssegmenten Industrie und Verkehr. Die-ses Ziel lässt sich umso leichter und umso vollständiger er-reichen, je besser Energieverbrauch und erneuerbares En-ergieangebot aufeinander abgestimmt werden. Dabei hatdie Reduktion des Nutzenergiebedarfs nicht nur aus wirt-schaftlichen Gründen oberste Priorität, sondern auch,weil Gebäude mit geringem Bedarf Vorteile für den Ein-satz erneuerbarer Energieträger aufweisen, indem sie z. B.niedrigere System temperaturen der Heizungsanlage erlau-ben.

Die Entwicklung unserer Gebäude in diese Richtungwurde bereits in den 1970–1980er Jahren eingeläutet unddurch Begriffe, wie Solarhäuser, Niedrigenergiehäuser, 3-Liter-Häuser, Passivhäuser und energieautarke Häuser,beschrieben. Die maximal mögliche Integration von Kom-ponenten zur Energiegewinnung ergänzt nun diesen Wegder Energieeffizienzsteigerung.

Gebäude der Zukunft weisen deshalb ein Höchstmaßan Energieeffizienz und Aufnahmefähigkeit erneuerbarerEnergien auf, so dass sie im Jahresdurchschnitt mehr Ener-gie gewinnen als verbrauchen (Minikraftwerke). Der Ener-gieüberschuss tritt in Form elektrischer Energie auf, dieentweder ins öffentliche Netz eingespeist oder in andererForm gespeichert wird. Besonders interessant erscheinenin diesem Zusammenhang die mittels erneuerbarem Stromgedeckte Elektrolyse von Wasser, bei der der gewonneneWasserstoff mit Kohlendioxid zu Methan verwandelt wirdund als chemischer Speicher genutzt werden kann, oderdie Nutzung durch den Gebäudenutzer für die Bedarfs-deckung des Individualverkehrs in Form der Elektro-Mo-bilität.

In allen Fällen ergeben sich neue Fragestellungen, diekurzfristig gelöst werden müssen um die notwendigen rich-tigen infrastrukturellen Weichenstellungen vornehmen zukönnen. Es entsteht ein Paradigmenwechsel – von der ge-nerell verbrauchsabhängigen Erzeugung zum teilweise er-zeugungsabhängigen Verbrauch: Das Energieangebot ent-scheidet über den Verbrauch!

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Die Sektoren Gebäude und Verkehr rücken aus ener-getischer Sicht enger zusammen, da sich Synergien aus denSingulärproblemlösungen ergeben. Naheliegende Lösung istdie Nutzung des Elektro-Fuhrparks als Stromspeicher umdie Anforderungen an das Netz zu mindern. Eine weitereMöglichkeit besteht in der Nutzung der Speicherfähigkeitder Baukonstruktion für Wärme, die über elektrisch be-triebene Wärmepumpen unter Nutzung von Umweltwärmeaktiviert (aufgeheizt und abgekühlt) wird. Gebäude derZukunft sind dann Systeme zur Energiegewinnung undEnergiespeicherung.

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Editorial

Bauphysik 33 (2011), Heft 1

Dabei ist stets zu bedenken, dass Gebäude nicht inerster Linie zur Energieerzeugung entstehen und dass derMensch als Nutzer mit seinen Wünschen an z. B. thermi-schen, akustischen oder optischen Komfort im Mittelpunktsteht und dass nicht nur der Energieverbrauch während desBetriebes Berücksichtigung findet, sondern der gesamteLebenszyklus – die Nachhaltigkeit des Gesamtsystems rücktin den Vordergrund. Hierbei kann und wird die Bauphysikeinen wesentlichen Beitrag leisten.

Ihr Gerd Hauser