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Behinderung, Bildung, PartizipationEnzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik
Herausgegeben von Iris Beck, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen, Peter Wachtel
Gesamtherausgeber:Wolfgang Jantzen
Band 8
Otto Braun & Ulrike Lüdtke (Hrsg.)
Sprache und Kommunikation
Verlag W. Kohlhammer
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme.
Alle Rechte vorbehalten© 2012 W. Kohlhammer GmbH StuttgartUmschlag: Gestaltungskonzept Peter HorlacherGesamtherstellung:W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, StuttgartPrinted in Germany
ISBN 9783170196377
Vorwort der Gesamtherausgeber
Das Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik „Behinderung, Bildung, Partizipation“ ist ein Lexikon in Stichwörtern, die jedoch nicht alphabetisch, sondern thematisch in 10 Bänden strukturiert wurden. Insgesamt wurden ca. 20 Haupt, 100 mittlere und 300 kleine Stichwörter erarbeitet. Sie suchen zum einen in ihrer Gesamtheit einen Zusammenhang des Fachwissens herzustellen, in dem jedes Stichwort und zugleich jeder Band verortet ist. Zum anderen aber bilden die Einzelbände aufeinander bezogene thematische Einheiten. Somit ist das Gesamtwerk in zwei Richtungen lesbar und muss zugleich auch so gelesen werden: als Bestand aufeinander verweisender zentraler Begriffe des Fachs zum einen und als thematischer Zusammenhang in den Einzelbänden zum anderen, der aber jeweils auf die weiteren Bände verweist und mit ihnen in engstem Zusammenhang steht. Dementsprechend wurden Verweise sowohl innerhalb der Einzelbände als auch zwischen den Bänden vorgenommen, wobei einzelne Überschneidungen unvermeidbar waren.
Der Anspruch, das Gesamtgebiet der Behindertenpädagogik darzustellen, kann angesichts der Differenzierung und Spezialisierung der Einzelgebiete und ihrer schon je komplexen Wissensbestände nicht ohne Einschränkung vorgenommen werden. So ging es uns nicht darum, diese Komplexität aller Theorien, Methoden, Handlungsansätze und Einzelprobleme in Theorie und Praxis einzufangen, sondern den Wirklichkeits als Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Behindertenpädagogik hinsichtlich seiner konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Problemstellungen zu erfassen. Dabei sollte der grundlegende, auf aktuellen Wissensbeständen beruhende und der zugleich erwartbar zukunftsträchtige nationale und internationale Forschungs und Entwicklungstand im Sinne einer synthetischen Human und So
zialwissenschaft berücksichtigt werden. Reflexives Wissen bereit zu stellen ist also die wesentliche Intention. Dies gelingt nur, wenn aus anderen Wissenschaften resultierende Forschungsstände und Erkenntnisse möglichst breit und grundlegend verfügbar gemacht werden. Aufgrund der komplexen biopsychosozialen Zusammenhänge sowohl von Behinderung als auch von Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation müssen das gesamte humanwissenschaftliche Spektrum Berücksichtigung finden und insbesondere Philosophie, Psychologie und Soziologie, aber auch Medizin und Neurowissenschaften einbezogen werden. Gerade der neurowissenschaftliche Bezug, der selbstverständlich äußerst kritisch betrachtet wird, ist notwendig, um gegen neue Formen der Biologisierung die entsprechenden Argumente für Vielfalt und Differenz auf jeder Wissenschaftsebene, also auch auf der neurowissenschaftlichen, in die Debatte führen zu können. Vorrangig mit Blick auf die disziplinäre Verortung ist jedoch die Erziehungswissenschaft, Behindertenpädagogik ist eines ihrer Teilgebiete.
Für die Konzeption ist ein Bildungsverständnis tragend, das Bildung als Möglichkeit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet; mit Wolfgang Klafki: Entwicklung der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, entwicklungspsychologisch mit Wolfgang Stegemann als Entwicklung auf höheres und auf höherem Niveau. Die erziehungswissenschaftliche Begründung von Bildungs und Erziehungszielen muss über gesellschaftliche Erwartungen, wie sie sich in Forderungen nach einem Wissenskanon als Zurüstung auf die berufliche Eingliederung niederschlagen können, notwendigerweise hinausreichen und die Lebensbewältigung insgesamt umfassen. Bildung
6 Vorwort der Gesamtherausgeber
und Erziehung eröffnen Optionen für die Lebensgestaltung, und das bedeutet, die eigene Identität nicht nur schicksalhaft oder einzig von außen determiniert zu erleben, sondern auch über Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, Zwänge und Grenzen ebenso wie Handlungs und Veränderungsmöglichkeiten erkennen und nutzen zu können. Nicht in jedem Fall, in dem diese Möglichkeiten nicht per se aufscheinen, ist diese Problematik begrifflich quasi automatisch mit Behinderung zu fassen. Umgekehrt heißt Bildung aber auch, solche Strukturen und Prozesse zu gestalten, die „Bildung für alle, im Medium des Allgemeinen“, unabhängig von Kriterien, ermöglichen. Behinderungen im pädagogischen Sinn liegen dort vor, wo die Teilhabe an Bildung und Erziehung gefährdet oder erschwert ist oder wo Ausgrenzungsprozesse drohen oder erfolgt sind, und zwar aufgrund eines Wechselspiels individueller, sozialer und ökonomischer Bedingungen. Hier tritt die Frage der Ermöglichung von Partizipation in den Vordergrund. „Wo Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen herausgestoßen werden, da wird lernender und wissender Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zur Lebensfrage“ (Oskar Negt) und ebenso die Ermöglichung von Lebenschancen. Damit werden zugleich eine Abgrenzung zu sozial oder bildungsrechtlichen Definitionen und eine weite Begriffsbestimmung von Behinderung vorgenommen, im Bewusstsein der Problematik, die diese mit sich bringt. Doch fasst auch der schulrechtliche Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der wiederum nur partiell deckungsgleich mit dem sozialrechtlichen Behinderungsbegriff ist, äußerst heterogene, darunter auch rein sozial bedingte Benachteiligungsprozesse zusammen. Pädagogik heißt für uns somit auch nicht einseitige und ständige Förderung. Emil E. Kobi hat dies in der Gegenüberstellung einer ,Pädagogik des Bewerkstelligens‘, der es immer um den Fortschritt geht, die sich nur auf den Defekt richtet und das SoSein nicht anzuerkennen in der Lage ist, und einer ‚Pä
dagogik der Daseinsgestaltung‘ beschrieben, die anerkannte Lebensbedingungen zwischen gleichberechtigten und als gleichwertig anerkannten Subjekten und eine befriedigende Lebensführung auch bei fortbestehenden Beeinträchtigungen zu schaffen vermag. In diesem pädagogischen Verständnis von Behinderung liegt eine Begründung für die Beibehaltung des Begriffes der Behindertenpädagogik. Wir respektieren Benennungen wie Förder, Rehabilitations, Sonder, Heil, Integrations und Inklusionspädagogik; der Begriff der Behinderung hebt jedoch wie kein anderer nicht nur die intransitive Sicht des behindert Seins, sondern auch die transitive Sicht des behindert Werdens hervor und lässt sich pädagogisch sinnvoll begründen. Ebenso entgeht er Verengungen mit Blick auf den Gegenstandsbereich; behindertenpädagogisches Handeln greift weit über den Bereich der institutionalisierten Erziehung und Bildung hinaus und findet lebensphasen und lebensbereichsübergreifend statt; auch innerhalb des schulischen Bereiches ist das Handeln weitaus vielfältiger als allein unterrichtsbezogene Tätigkeiten; gleichwohl bleiben diese prominente Aufgaben. Behindertenpädagogik, in diesem weiten Sinne intransitiv verstanden, ist zwar einerseits Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, andererseits trägt sie in transitiver Hinsicht zu deren Grundlagen bei. Denn behindert werden und eingeschränkt zu sein sind alltäglich und schlagen sich keineswegs nur in der sozialen Zuschreibung von Behinderung nieder. Entgegen der noch vorfindbaren Gliederung nach Arten von Beeinträchtigungen bzw. schulischen Förderschwerpunkten und einer institutionellen Orientierung ist für uns ein an den Lebenslagen und an der Lebenswirklichkeit der Adressaten von Bildungs und Erziehungsangeboten orientiertes Verständnis pädagogischen Handelns leitend. Diese Perspektive auf den individuellen Bedarf an Unterstützung für eine möglichst selbst bestimmte Lebensführung ist der Bezugspunkt der personalen Orientierung, aber dieser Bedarf impliziert immer auch den Bedarf an Überwindung der sozialen Folgen,
Vorwort der Gesamtherausgeber 7
also der behindernden Bedingungen des Umfeldes. Traditionell wird der Lebenslauf und Lebenslagenbezug der Pädagogik durch die Gegenstandsbezeichnungen der einzelnen Teildisziplinen angezeigt (Pädagogik, Andragogik, Geragogik einerseits; Sozial, Berufs, Freizeitpädagogik usw. andererseits). Hiermit können aber auch Abgrenzungen und Abschottungen einhergehen, so dass der Bezug zur Lebenslage als Ganzer und zum Lebenslauf in seiner biographischen Gewordenheit verloren geht. Lebenslagen und Lebenslauforientierung stellen demgegenüber die notwendige Gesamtsicht her, die allerdings in ihrer Bezugnahme auf die Chancen und Grenzen selbstbestimmter Lebensführung einer Pädagogisierung im Sinne der andauernden intentionalen Erziehung entgehen muss. Sie hebt die spezifischen Gegenstandsbestimmungen und Handlungskonzepte der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen nicht auf, sondern wird als konzeptionelle und methodische Leitperspektive tragend. Ebenso hat jedes Verständnis von individueller Teilhabe und Bildungsplanung die Deutungshoheit der auf Unterstützung und pädagogisches Handeln angewiesenen Menschen zu respektieren und zentral von politischer Mitwirkung und der Gewährleistung der Menschen und Bürgerrechte auszugehen. Dies verlangt die Demokratisierung und Humanisierung der Handlungsprozesse und Strukturen in Theorie und Praxis sowie die Auseinandersetzung mit Ethik, Moral und Professionalität.
Die aus diesem Verständnis von Bildung, Behinderung und Partizipation resultierenden Fragen lassen sich zusammenfassen in die nach dem Verhältnis von Ausschluss und Anerkennung, Vielfalt und Differenz, Individuum und Gesellschaft, Entwicklung und Sozialisation, System und Lebenswelt, Institution und Organisation, über die Lebensspanne hinweg und immer bezogen auf die Grundfrage nach Bildung und Partizipation angesichts behindernder Bedingungen.
Von diesen Grundgedanken ausgehend wurde die Konzeption und Anlage der Stich
wörter von Iris Beck und Wolfgang Jantzen erarbeitet und dann durch das Team der Bandherausgeber kritisch überprüft und ergänzt. Es ergibt sich folgende Gesamtanlage: die Bände 1 und 2 dienen der wissenschaftlichen Konstitutionsproblematik mit Blick auf die wissenschaftstheoretische Begründung des Fachs einschließlich der erziehungswissenschaftlichen Verortung und dem Verhältnis von Behinderung und Anerkennung. Die Bände 3 bis 6 repräsentieren Aufgaben und Probleme der Bildung und Erziehung im Lebenslauf mit den Kernfragen nach Bildung, Erziehung, Didaktik und Unterricht zum einen, Lebensbewältigung und gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gemeinde zum anderen. Die Bände 7 bis 10 behandeln Entwicklung und Lernen, Sprache und Kommunikation, Sinne, Körper und Bewegung sowie Emotion und Persönlichkeit. Sie stellen grundlegende pädagogische Auseinandersetzungen über Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation angesichts behindernder und benachteiligender Bedingungen dar, und zwar in übergreifender Sicht, die zugleich die notwendigen speziellen und spezifischen Aspekte zur Geltung bringt. Allgemeines und Besonderes sind insgesamt, über alle Bände hinweg, vielfach aufeinander bezogen und haben gleichsam ihre Bewegung aneinander. Dort, wo sich gemeinsame Probleme quer zu speziellen Gebieten stellen, sind diese auch allgemein und mit der Absicht der Grundlegung behandelt, auch um Redundanzen zu vermeiden. Dort, wo ohne Spezifizierung zu grobe Verallgemeinerungen und damit unzulässige Reduktionen erfolgt wären, sind die Besonderheiten aufgenommen. Angesichts der zahlreichen Publikationen, die spezielle und spezifische Fragen en detail und mit Blick auf Einzelprobleme behandeln, ist diese Entscheidung auch vor dem Hintergrund einer ansonsten nicht zu gewährleistenden Systematik getroffen worden.
Wir sind uns bewusst, dass dieser Versuch der Systematik nicht ohne Lücken, Widersprüche und Redundanzen auskommt. Die
8 Vorwort der Gesamtherausgeber
allfällige Kritik hieran verstehen wir im Sinne des „Runden Tisches“, als den wir die Zusammenarbeit unter den Herausgebern und Autoren verstehen, als Motivation zu neuen Fragen und neuer Forschung.
Wir danken allen Bandherausgebern und Autoren für ihre konstruktive Arbeit, die in Zeiten der Arbeitsverdichtung und Effizienzsteigerung nicht mehr selbstverständlich erwartet werden kann.
Iris Beck Georg Feuser
Wolfgang Jantzen Peter Wachtel
Inhaltsverzeichnis
Einleitung und Fachsystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Geschichte (Otto Braun) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
I Relationen der Sprache
Behinderung und Vulnerabilität (Julia Kristeva & Charles Gardou) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Norm und Differenz (Jürgen Jaspers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49Person und Sprache (Ulrike Lüdtke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Intersubjektivität und Kommunikation (Colwyn Trevarthen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
II Sprachwissenschaftliche Gegenstandsdimensionen
Zeichen und Semiose (Winfried Nöth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161Sprache und Wahrnehmung (Horst Ruthrof) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177Sprache und Sprechen (Edda Weigand) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202Kognition und Emotion (Ad Foolen, Ulrike Lüdtke & Monika Schwarz-Friesel) . . . . . . . . 213Sprache und Gehirn (Eckart Rupp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230Spracherwerb und Sprachverlust (Christina Kauschke, Walter Huber & Frank Dohmas) . 246Hören und Sprechen (Anja Fiori, Dirk Deuster & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen) . 277Lesen und Schreiben (Claudia Osburg & Renate Valtin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290Sehen und Gebärden (Horst Ebbinghaus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
III Beeinträchtigungen der Sprache
Klassifikation (Roswitha Romonath) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321Entwicklungsbedingte Sprachstörungen (Iris Füssenich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331Psychoreaktive Redestörungen (Katja Subellok & Nitza Katz-Bernstein) . . . . . . . . . . . . . . 338Aussprachestörungen (Anja Fiori & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen) . . . . . . . . . . . . 347Hörstörungen (Anja Fiori & Antoinette G. am Zehnhoff-Dinnesen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364Stimmstörungen (Anja Fiori & Dirk Deuster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378Neurologische Sprach und Sprechstörungen (Ernst G. de Langen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390Schluckstörungen (Eva Ojeda) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397Beeinträchtigungen der Lesefähigkeit (Barbara Bental) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
IV Fachpraktische Reflexionsebenen
Professionalisierung (Alfons Welling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427Unterrichts und Therapieforschung (Christian W. Glück) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433Qualitätsentwicklung (Barbara Giel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
10 Inhaltsverzeichnis
V Zentrale Kategorien der Sprachdidaktik
Sprachdidaktiktheorie (Ulrike Lüdtke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449Bildung und Erziehung (Ulrich von Knebel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492Lehren und Lernen (Reiner Bahr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497Frühe Kommunikation (Erwin Breitenbach). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503Prävention (Waldemar von Suchodeletz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507Frühdiagnostik (Hildegard Heidtmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515Interdisziplinäre Diagnostik (Ulrich von Knebel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523Unterricht (Heiko Seiffert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529Sprachtherapie (Nitza Katz-Bernstein & Katja Subellok) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536Medien (Gregor Dupuis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542Beratung (Claudia Iven & Bernd Hansen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550Unterstützte Kommunikation (Gregor Dupuis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556Institutionen (Gerhard Homburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564
VI Unterricht, Therapie und Förderung
Interkulturalität und Mehrsprachigkeit (Annette Kracht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577Deutsch (Brigitte Ernst, Angela Cornelissen & Anke Thummes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582Deutsch als Zweitsprache (Karla Röhner-Münch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588Frühenglisch (Anja Blume & Karla Röhner-Münch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596Sachunterricht (Hildegard Mönter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603Ästhetische Kommunikation (Elfi Quieram-Jurkiewicz & Christel Rittmeyer) . . . . . . . . . . 608Musiktherapie (Benjamin Schögler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623Psychomotorik (Birgit Lütje-Klose) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
VII Übergänge zwischen den Förderschwerpunkten
Förderschwerpunkt Hören (Klaus-B. Günther) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639Förderschwerpunkt Lernen (Birgit Lütje-Klose) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung (Clemens Hillenbrand) . . . . . . 653Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (Bodo Frank & Ulrike Lüdtke) . . . . . . . . . . . . . 658Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung (Helen Marwick) . . . . . . . 680
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
Einleitung und Fachsystematik
Einleitung und Fachsystematik
pädagogik“ – sowie dem „Lehrbuch der Logopädie“ (1971) von KlausPeter Becker und Miloŝ Sovák. In Anbindung, Würdigung und Fortführung dieser Fachsystematiken der ehemaligen BRD und DDR werden die theoretischen, konzeptuellen, terminologischen und anwendungsbezogenen Veränderungen, Reformen, Neuerungen und Weiterentwicklungen reflektiert, welche die Sonderpädagogik und ihre wissenschaftstheoretischen Bezugsgrößen insgesamt, aber auch speziell die Sprachbehindertenpädagogik und ihre Nachbar und Bezugsdisziplinen seitdem durchlaufen haben.
Die heutige Zeit ist geprägt von Postmoderne und Globalisierung, von PISASchock und Ökonomisierung von Bildung und Gesundheit, von Phasen des intensives Strebens nach gesellschaftlicher Integration und Partizipation behinderter oder beeinträchtigter Menschen, in denen zugleich eine Desintegration des klassischen institutionellen Gefüges sonderschulischer und klinischer Versorgung um sich greift. Dieser Heterogenität und den damit verbundenen fachlichen Herausforderungen muss Rechnung getragen werden, indem spezifische Schwerpunktsetzungen auf pädagogische oder medizinischrehabilitative Zugangsweisen überwunden und integriert werden.
Eine dem entsprechende zeitgemäße und nachhaltige Perspektive sehen wir zum einen in einer stärkeren Fokussierung des inhaltlichen Kerns unseres Faches: dem zentralen Gegenstand „Sprache und Kommunikation“, der deshalb im ersten Teil dieses Bandes umfassend und interdisziplinär beleuchtet wird. Zum anderen plädieren wir aus dieser Verankerung heraus für eine disziplinäre Öffnung, so dass sich die bisherigen fachlichen Grenzen ausweiten und überschritten werden können.
Ziel dieser Herausgabe, die sich an Studierende, Praktiker und Wissenschaftler zu
Als Herausgeber freuen wir uns, mit „Sprache und Kommunikation“ den achten Band des „Enzyklopädischen Handbuches der Behindertenpädagogik“ vorlegen zu können. Zum ersten Male im deutschen Sprachraum wird hier übergeordnet zu klassischen sonderpädagogischen Fachrichtungen eine umfassende Gesamtdarstellung zentraler Theorien, Konzeptansätze und Inhalte der Bereiche Sprache und Kommunikation mitsamt ihren anwendungsorientierten Fragestellungen präsentiert. Diese reichen vom Laut und Schriftspracherwerb über Gebärdensprache und Unterstützte Kommunikation bis hin zu Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zweitsprache (DaZ).
Dank der gemeinsamen Bemühungen von mehr als 50 nationalen und internationalen Fachexperten der Semiotik, Linguistik, Neurowissenschaften, Entwicklungspsychologie, Phoniatrie und Pädaudiologie sowie Fachvertretern der Allgemeinen Schulpädagogik, Sprachdidaktik, der spezifischen Sprachheilpädagogik sowie Diagnostik und Sprachtherapie, einen komprimierten Überblick über den aktuellen Stand des Wissens, der Forschung und wegweisender Innovationen zu geben, repräsentiert dieses Buch die Breite, Tiefe und Pluralität, die unserem fachlichen Gegenstand und vor allem den beteiligten Personen in den vielfältigen pädagogischtherapeutischen Aufgabenbereichen gebührt.
Einordnung in Fachgeschichte
Dieser Band „Sprache und Kommunikation“ erscheint ca. drei Jahrzehnte nach den lange Zeit wegweisenden Publikationen „Pädagogik der Sprachbehinderten“ (1980) von Gerda Knura und Berthold Neumann – dem siebten Band des damaligen „Handbuchs der Sonder
14 Einleitung und Fachsystematik
gleich wendet, ist daher, eine möglichst um fassende, aktuelle und fachrichtungsübergreifende Darstellung des Kenntnisstandes von Sprache und Kommunikation zu geben, die gegenwärtigen Möglichkeiten der damit verbundenen pädagogischtherapeutischen Aufgabenstellungen zu umreißen und zu weiterführenden, konstruktiven und zukunftsfähigen Überlegungen, Forschungen, Konzeptbildungen und Praxisideen anzuregen.
Entstehungsgeschichte
Die Generierung der Schlüsselbegriffe, die Klärung kontroverser terminologischer Grundsatzfragen und die allmähliche Entwicklung einer Fachsystematik war ein langer und konstruktiver wissenschaftlicher Werdeprozess, der sich über mehrere Jahre erstreckte und auf einer anregenden Gesamtkonferenz in der Universität Hamburg im Februar 2007 mit den Herausgebern und den Autorinnen und Autoren der anderen neun Bände des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik abschließend diskutiert wurde.
Grundlage bildete zunächst eine Stichwortrecherche in klassischen und aktuellen Standardwerken wie z. B. dem „Lehrbuch der Logopädie“ (Becker & Sovák 1979), der „Pädagogik der Sprachbehinderten“ (Knura & Neumann 1982), „Language – the Unknown: An Initiation into Linguistics“ (Kristeva 1989), den „Grundlagen der Soziolinguistik“ (Dittmar 1997), „The Cambridge Encyclopaedia of Language“ (Crystal 1997), dem „Handbuch der Semiotik“ (Nöth 2000), „An Introduction to Language“ (Fromkin et al. 2003), dem „Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie“ (Grohnfeldt 2000–2005), der „Encyclopedia of Language and Linguistics“ (Brown 2006) und dem „Lexikon der Sprachtherapie“ (Grohnfeldt 2007). Um größtmögliche Aktualität zu gewährleisten, wurde parallel nach innovativen Termini, Themen und Trends
in den aktuellen Auflagen u. a. von „Sprachheilarbeit“, „SpracheStimmeGehör“, „Neurolinguistik“, „L.O.G.O.S Interdisziplinär“, der „Zeitschrift für Heilpädagogik“ und den Zeitschriften der ASHA (American Speech and Hearing Association), wie z. B. „Journal of Speech, Language, and Hearing Research“ und „Language, Speech, and Hearing Services in Schools“, recherchiert und mit dem gewonnenen StichwortPool eine ThemenClusterung durchgeführt.
Anschließend wurde versucht, auch die vielfach impliziten Kriterien der jeweiligen Autoren bzw. Herausgeber retrospektiv nachzuvollziehen und aus unserer Perspektive einzuordnen. In Crystals „Cambridge Encyclopaedia of Language“ überzeugte beispielsweise die Darstellung des Phänomens Sprache in Form von komplementären Dimensionen – z. B. „signing and seeing“ oder „speaking and listening“ – und die daraus resultierende interdisziplinärdeskriptive Gesamtanlage. Und in Knura & Neumanns „Pädagogik der Sprachbehinderten“ beeindruckte die konsequente Subjektorientierung am damaligen „Sprachbehinderten“ sowie die Gewichtung der Fachdidaktiken für die unterrichtliche Sprachförderung und die offene Einbeziehung der Perspektiven der anderen sonderpädagogischen Fachrichtungen, wie z. B. der klassischen Lernbehinderten, Geistigbehinderten, Schwerhörigen und Verhaltensgestörtenpädagogik. Beide Vorbilder wurden neben vielen Anregungen aus anderen Werken übernommen. Diese Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denkweisen und Fachsystematiken unterstützte die Reflexion und Erarbeitung eigener Kriterien und Intentionen, die letztlich zur vorgenommenen StichwortFormulierung und Hierarchisierung geführt hat.
Das breite Spektrum der Autorinnen und Autoren, die hier ihr Wissen, ihren Erfahrungsschatz, ihr Engagement, auch ihre Ziele, Überzeugungen und Visionen unterbreiten, entspricht dabei der pluralen, interdisziplinären Gesamtkonzeption: Es war unsere Absicht, international renommierte Forscher,
Struktur der Fachsystematik 15
innovative Nachwuchswissenschaftler und Fachexperten aus den Führungsebenen von Schulverwaltung, Studienseminaren und Berufsverbänden um den gemeinsamen fachlichen Gegenstand zu versammeln und nach Möglichkeit gedanklich zu vernetzen.
Struktur der Fachsystematik
Dieses Handbuch repräsentiert nicht nur vielfältigste Fachinformationen in verdichteter Form, sondern spiegelt auch durch Auswahl der mehr als 50 Schwerpunktthemen und deren Systematik eine Reihe von wesentlichen Positionen und Überzeugungen der Herausgeber und Mitarbeiter wider.
Ganz bewusst wurde auf die breite und explizite Darstellung von Störungsbildern sowie ihrer Diagnostik und Therapie verzichtet, da zu allen drei Themenbereichen bereits eine Reihe hervorragender Lehrbücher und Lexika existieren. Der hier verfolgte implizite, quer liegende Zugang hat dafür die Möglichkeit gegeben, den theoretischen Grundlagen von Sprache und Kommunikation den Raum einzuräumen, der für ein detailliertes und tiefes Verständnis der pädagogischtherapeutischen Anwendungsbezüge unverzichtbar ist und zugleich neben der derzeitigen zunehmenden Fokussierung der individuellen Sprachtherapie in hochspezifischen, zeitlich begrenzten Einzel und Kleingruppensettings auch der Bedeutsamkeit des sprachtherapeutischen Unterrichts und damit der kommunikativandauernden Gruppen und Lebenssituationen wieder Gewicht zu geben.
Oberstes Ziel bestand darin, im Sinne der gesamten Enzyklopädie eine Fachsystema-tik Sprache und Kommunikation mit einer grundsätzlich humanwissenschaftlichen Orientierung vorzulegen (vgl. Abb. 1). Vor dem Hintergrund der Reflexion der fachlichen Ge-schichte belegen die beiden umfangreichen Leitbegriffe die Intention, vom ganzheitlichen kommunikativen Gesamtphänomen
ausgehend die einzelnen fachlichen Facetten nach und nach aufzufächern, und dementsprechend zuallererst in den vier Hauptstichwörtern die Innen wie die Außendimension der Relationen der Sprache (I) wie z. B. das Verhältnis von „Person und Sprache“, „Intersubjektivität und Kommunikation“, „Behinderung und Vulnerabilität“ oder „Norm und Differenz“ als fachliche Ursprungskategorien zu beleuchten.
Darauf basierend werden in den neun mittleren Stichwörtern wesentliche komplementäre und sich ergänzende Sprachwissen-schaftliche Gegenstandsdimensionen (II) des Phänomens Sprache wie z. B. „Zeichen und Semiose“, „Sprache und Gehirn“, „Kognition und Emotion“, „Sprachentwicklung und Sprachabbau“ oder „Sehen und Gebärden“ entwickelt. Die theoretischen Übersichten zeugen je von einem wertfreideskriptiven fachwissenschaftlichen Zugang und zeigen unsere Betonung eines zutiefst interdisziplinären Zugangs und eines pluralen Diskurses ohne ideologische Ausgrenzungen oder schulbildende Einseitigkeit.
Die sich in den kleinen Stichwörtern anschließende Darstellung Beeinträchtigungen der Sprache (III) wie z. B. „Entwicklungsbedingte Sprachstörungen“, „Psychoreaktive Redestörungen“, „Stimm, Schluck und Aussprachestörungen“, aber auch „Hörstörungen“ und „Beeinträchtigungen der Lesefähigkeit“ erfolgt dabei anhand einer Orientierung der SyndromKlassifikation an der internationalen Einteilung der WHO in körperliche „Strukturen und Funktionen“, „Aktivität“ und „Partizipation“.
Vor dem Hintergrund der drei wesentlichen Fachpraktischen Reflexionsebenen (IV) „Professionalisierung“, „Unterrichts und Therapieforschung“ sowie „Qualitätsentwicklung“ erfolgt anschließend eine Darstellung Zentraler Kategorien der Sprachdidaktik (V) wie beispielsweise „Bildung und Erziehung“, „Lehren und Lernen“, wobei hier neben den klassischen Feldern „Sprachtherapie“, „Unterricht“, „Medien“ und „Beratung“ dem vorschulischen Arbeitsbereich mit „Prä
16 Einleitung und Fachsystematik
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Abb. 1: Fachsystematik ‚Sprache und Kommunikation‘
Dank 17
vention“ und „Frühdiagnostik“ besonderes Gewicht zukommt.
Alle diese bisherigen fachsystematischen Darstellungsebenen fließen abschließend in zahlreiche Ausführungen zu praxisorientierten Konzepten und Methoden in Unter-richt, Therapie und Förderung (VI) speziell „Deutsch“, „DaZ“, „Frühenglisch“, „Ästhetische Kommunikation“, „Musiktherapie“ und „Psychomotorik“ mit besonderer Berücksichtigung des alle Bereiche durchdringenden Phänomens der „Interkulturalität und Mehrsprachigkeit“. Sämtliche darin enthaltenen Ausführungen zum Förderschwerpunkt Sprache werden zum Schluss in dessen Über-gängen zu anderen Förderschwerpunkten (FS) (VII) wie dem Förderschwerpunkt „Lernen“, „Hören“, „geistige“ oder „körperlichmotorische Entwicklung“ illustriert (Abb. 1).
Zu jeder Fachsystematik gibt es sicherlich ebenso sinnvolle Alternativen. Wir denken jedoch, dass die ausgewählten Schlüsselbegriffe leitende Kategorien und den aktuellen Diskurs des Faches repräsentieren, zu ihrer ständigen Überprüfung auffordern und – wie damals Gerda Knura und Berthold Neumann schrieben – als „Bestandsaufnahme eines Durchgangsstadiums“ verstanden werden, die „zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten und notwendigkeiten aufweist und durchschaubar macht“ (1980, VI).
Zur leichteren Erschließung der inneren Vernetzung der vielfältigen Inhalte wurde der Band mit zahlreichen Querverweisen (→), illustrierenden oder zusammenfassenden Abbildungen und Hervorhebungen sowie in einigen Haupt und Mittelstichwörtern mit glossarähnlichen Endnoten versehen. Ein Sachregister und ein Personenregister unterstützen die schnelle Themensuche. Platzökonomische Gründe führten bei den Literaturangaben zu einem gewissen Minimalismus. Alle Autorinnen und Autoren haben aber eine Bibliographie erstellt, die auf leicht zugängliche, vertiefende Quellen verweist sowie durch Berücksichtigung angloamerikanischer Referenzen Anschluss an die internationale Debatte herstellt.
Dank
Viele haben zur erfolgreichen Fertigstellung dieser Publikation beigetragen: Die vielen geschätzten Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, deren Rat stets willkommen war und die ausnahmslos unterstützend auf Anmerkungen und Vorschläge eingingen; die Autorinnen und Autoren aus dem internationalen Kontext, die mit uns aus Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Schottland bis hin nach Is rael und Australien im regen EMailKontakt standen und großzügig über kleinere und größere Fehler in der englischen und französischen Fachkorrespondenz hinweg sahen; die wissenschaftlichen Fachübersetzer Andrea Modder (Niederländisch), Annette Orphal, Martin Bannert und Christel Meissner (Französisch) sowie Bodo Frank und MarieNoelle Leuer (Englisch), die mit Akribie und Fingerspitzengefühl immer genau den richtigen Ton trafen; die Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (dgs) mit ihrer spontanen und großzügigen Finanzierung der Übersetzungsarbeiten; die JuniorUniversität Bergisches Land und C. Rudorff mit ihrem inspirierenden wissenschaftlichen Bildmaterial; Fausto Giaccone und die Agentur Anzenberger für die großzügige Abdruckgenehmigung des Fotos von Jacques Lacan; Sarah Effenberger mit ihren kreativen Grafikarbeiten und nicht zuletzt die unermüdliche, engagierte wissenschaftliche Redaktion der Manuskripte durch Katharina Schmidt und Maike Kersten und schließlich Dr. KlausPeter Burkarth vom Kohlhammer Verlag, der uns mit Zuversicht, Geduld und Hilfsbereitschaft unterstützt hat.
Die Betreuung der Herausgabe des vorliegenden Bandes „Sprache und Kommunikation“ war ein immer wieder herausfordernder Prozess: Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurden deutlich, neue Themenstellungen oder auch neue Verknüpfungen entstanden, und regelmäßig tauchte die Frage auf, wie und wo der einzelne Forschungsbeitrag in einem größeren Ganzen zu verorten ist. Wir hoffen,
18 Einleitung und Fachsystematik
dass letztlich jeder Beitrag seinen angemessenen Platz gefunden hat, und dass die gemeinsamen Bemühungen zur Bestandsaufnahme und Zukunft des Faches beitragen und bei
den Leserinnen und Lesern eine gewinnbringende Aufnahme finden werden.
Juni 2012 Otto Braun & Ulrike Lüdtke
GeschichteOtto Braun
1 Sprache und Kommunikation im geschichtlichen Wandel der Sprachheilpädagogik als angewandte Wissenschaft
Auf dem Hintergrund der Kuhnschen Theorie der wissenschaftlichen Entwicklung und der implizierten Theoriendynamik (Kuhn 1967) soll im Folgenden versucht werden, den Wandel des Verständnisses von Sprache und Kommunikation in der Geschichte der Theorie der sprachheilpädagogischen Förderung und Therapie von Menschen mit Sprachstörungen und Sprachbehinderungen in seinen wesentlichen Wendepunkten zu rekonstruieren.
2 Konzept der wissenschaftlichen Entwicklung
Kuhn unterscheidet in der Entwicklung von Wissenschaften zwei Wissenschaftsformen, die „Normalwissenschaft“ und die „revolutionäre Wissenschaft“, die gleichsam periodisch aufeinander folgen, so dass sich ein sequenzielles Grundschema ergibt (siehe unten).
Kernpunkt des wissenschaftlichen Wandels ist der so genannte „Paradigmenwechsel“, der sich aus einer Krise in der normalwissenschaftlichen Periode als wissenschaftliche Revolution ergibt.
Unter „Paradigma“ versteht Kuhn im Großen und Ganzen einen Kanon aus hauptsächlich vier Komponenten: 1. allgemein akzeptierte grundlegende Defi-
nitionen,
2. generelle Hypothesen bzw. Hypothesensysteme oder Theorien über die Wirklichkeit,
3. Kriterien für die Wertigkeit und Reichweite der wissenschaftlichen Untersuchungen und Theoriebildung sowie
4. einschlägige mustergültige Beispiele gelungener Anwendung des Paradigmas für praktische Problemlösungen.
Zum Paradigmenwechsel kommt es – in der Sprachheilpädagogik –, wenn
• die grundlegenden Definitionen der Schlüs-selbegriffe „Sprachstörung“, „Sprachbehinderung“, „Sprachbeeinträchtigung“, „Kom munikationsbehinderung“, „Sonderpädagogischer Förderbedarf“, „Sprachtherapie“, „Sprachtherapeutischer Unterricht“ usw. angezweifelt werden und in die Kritik geraten und neue andere Begriffe zu allgemein akzeptierten Schlüsselbegriffen des Faches werden;
• die generellen Annahmen, Einschätzungen und Erklärungen der Lebenssituation von Menschen mit Sprach und Kommunikationsstörungen bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes in Frage gestellt werden und durch neue Sichtweisen, Erklärungskonzepte und Lösungsvorschläge verdrängt werden;
• die Gütekriterien, Beweis und Argumentationskriterien für die Beurteilung der wissenschaftlichen Untersuchungen beispielsweise zum Lernverhalten von Schülern mit Migrationshintergrund und sonderpädagogischem Förderbedarf in Sprache und Kommunikation in der Grundschule hinsichtlich ihrer Geltung und wissenschaftsmethodologischen Begründung un-
vorwissenschaftliche Periode ➝ normalwissenschaftliche Periode ➝ Krise ➝ wissenschaftliche Revolution ➝ neue normalwissenschaftliche Periode ➝ neue Krise usw.
20 Geschichte
zulänglich geklärt erscheinen und somit zur wissenschaftstheoretischen Disposition stehen;
• die bisherigen Lösungsversuche zur Umsetzung der Konsequenzen aus den grundlegenden Definitionen, generellen Annahmen und Theorien über die reale Situation der betroffenen Menschen und die gewonnenen empirischen Untersuchungsbefunde sowie theoretischen Erkenntnisse und Einsichten als nicht mustergültig und wenig nachhaltig angesehen werden müssen.
Jedes Paradigma bildet sozusagen seine eigene Weltsicht und Begriffsbildung und ist folglich mit anderen Paradigmen nicht vergleichbar, letztlich nicht streng begründet und somit auch nicht endgültig (→ Professionalisierung).
3 Die vorwissenschaftliche Periode der Sprachheilpädagogik
Altertum
Vorläufer der sprachpathologischen Begriffsbildung und terminologischen Fixierung lassen sich bis ins Altertum zurückverfolgen (→ Person und Sprache). Als wohl ältester schriftlicher Bericht über eine Sprachstörung gilt bislang ein hethitisches Zitat (Lehmann 1986, 239–240), in dem eine Sprachstörung des Hethiterkönigs Murschili II. (um 1300 v. Chr.) beschrieben und in heutiger Sicht als Stottern und eine Art Dysarthrie in Verbindung mit einer Motorischen Aphasie interpretiert wird. Weiterhin viel zitierte erste historiographische Quellen sind zwei biographische Geschichten, die Herodot (490–430 v. Chr.) vom stotternden Bathos und vom stummen Sohn des Königs Krösus erzählt. Nahezu alle bekannten sprachlichen Störungsbilder kommen im „Corpus hippocraticum“ (400–200 v. Chr.) vor. Eine erste klassifikatorische Unterscheidung von Störungen der Aussprache in „Lallen“, „Stammeln“ und „Stottern“
nimmt Aristoteles (384–322 v. Chr.) vor. Aus gleicher Zeit wird (später) von Plutarch (46–125 n. Chr.) die älteste rhetorische Behandlungsmethode des Stotterns berichtet, die dem berühmten griechischen Volksredner Demos-thenes (384–322 v. Chr.) zugeschrieben wird und als „Kieselsteinmethode“ bzw. bis in die heutige Zeit als „Theatermethode Korkensprechen“ Anwendung findet.
Antike
Was die therapeutische Behandlung von Sprachstörungen insgesamt angeht, werden aus der Antike supranaturalistische Heilungs-vorstellungen (Wirkung übersinnlicher Kräfte) neben naturalistischen Behandlungsansät-zen überliefert, wobei letztere auf natürliche Zusammenhänge zwischen morphologischen Strukturen und physiologischen Funktionen einwirken wollen, sei es diaetetisch, pharmazeutisch, chirurgisch oder rhetorisch mehr oder weniger diagnostisch begründet.
Mittelalter
Die Überlieferung des antiken sprachpathologischen und therapeutischen Wissens in das Mittelalter erfolgt auf drei Wegen: über die byzantinische Medizin durch Oreibasios (326–403), Aetius Amidenus (527–565) und Paulos von Aigina (625–690), über die arabische Medizin durch Avicenna (980–1037) und schließlich über die klerikale Medizin durch Mönchsärzte.
Renaissance
Während die mittelalterliche Literatur die tradierten allgemein humoralpathologisch orientierten hippokratischgalenischen Krankheitsvorstellungen und Therapiemethoden übernimmt und unter Berufung auf die uneingeschränkte Autorität der prominenten Ärzte der Antike auch auf Sprachstörungen überträgt, beginnt mit der Renaissance eine Entwicklung, in der störungsspezifische pathologische und therapeutische Konzepte ent
Die normalwissenschaftliche Periode der Sprachheil pädagogik 21
stehen – scheinbar ohne „wissenschaftliche Revolution“!
Die erste theoretische Gesamtdarstellung der Sprachstörungen bei Kindern legt Hiero-nymus Mercurialis (1530–1606) in seiner Abhandlung „De puerorum morbis“ (1583) vor, der man eine gewisse Vorläuferfunktion für moderne multifaktorielle Erklärungskonzepte und mehrdimensionale Therapiekonzeptionen zusprechen kann (→ Sprachtherapie).
Infolge der Trennung der antiken Einheit von Medizin und Chirurgie seit dem Mittelalter, die eine Degradierung der Chirurgie zur handwerklichen Subprofession zur Folge hat, führt die selbstverständlich gewordene Überschätzung der Zungenfunktion für Sprechen und Sprache zur Herausbildung von zwei kontroversen therapeutischen Entwicklungslinien: einer medizinischchirurgischen Linie und einer didaktischphonetischen Linie. Beide Therapierichtungen, die chirurgische Therapie (vorwiegend Frenulotomie) und die didaktische Therapie (Sprechübungstherapie), basieren zum einen auf organpathologischen Störungsvorstellungen (muskuläre, mechanische oder nervale Verursachung), zum anderen auf funktionspathologischen Konzepten (Schwäche, Krampf, falscher Gebrauch der Sprechorgane). Zentrale Bedeutung hat die Beweglichkeit der Zunge. Unabhängig von der Ursachenhypothese wird pragmatisch vorgegangen und entweder operativ und/oder didaktisch verfahren. Durch die häufiger werdenden verhängnisvollen Fehlschläge der operativen Eingriffe im Mund bzw. Zungenbereich erkennen die Taubstummen und Sprachärzte zunehmend den „funktionellen“ Charakter der Sprech/Sprachstörungen und verweisen schließlich auf die erfolgreicheren Möglichkeiten der didaktischphonetischen Therapiemethoden.
4 Die normalwissenschaftliche Periode der Sprachheilpädagogik
18. und 19. Jahrhundert
Frühe Organisationsformen der didaktischen Sprachtherapie sind Privatunterricht durch Taubstummen bzw. Sprachlehrer und andere praktizierende Sprachtherapeuten, die gemeinsame Unterrichtung der „sprachgebrechlichen“/„sprachkranken“ Kinder in Taubstummenanstalten bzw. Taubstummenschulen (→ FS Hören) oder in privaten Sprachheilanstalten bzw. Sprachheilinstituten bis zur Gründung der ersten öffentlichen Sprachheilkurse (in Braunschweig 1883, Potsdam 1886, Elberfeld 1888) und der ersten Sprachheilklassen (in Barmen 1901/02, Königsberg 1902, Meißen 1909/1910, Halle a. S. 1910, Hamburg 1912, Wien 1913/14).
Die wissenschaftliche Begründung der didaktischen Heilverfahren beginnt mit der „Abhandlung „Grammatica Linguae Anglicanae“ von John Wallis (1653) und der „Dissertatio de loquela“ von Johann Conrad Am-man (1700) – beides Grundlagenwerke der wissenschaftlichen Phonetik (→ Hören und Sprechen). Der Sprachheilunterricht erfolgt nach der so genannten „Deutschen Lautsprachmethode“, in der die Artikulationsbewegungen, vor allem bei der Vokalbildung, die Hauptangriffspunkte der Behandlung sind. Eine besondere Artikulationshilfe ist eine „lederne Zunge“. Eine stürmische Entwicklung der didaktischphonetischen Therapie, nämlich artikulations, stimm und atemtherapeutischer Methoden sowie sprechrhythmisierender und sprechkoordinierender Verfahren, vollzieht sich am Anfang des 19. Jahrhunderts. Entsprechend der phonetischen Unterscheidung der drei Funktionseinheiten des Sprechvorgangs werden Artikulation, Phonation und Respiration entweder isoliert oder synthetisch aufbauend angegangen und trainiert (→ Aussprachestörungen), so dass sich die Vielfalt der bekannt gewor
22 Geschichte
denen didaktischen Verfahren in elementaris-tische und synthetische sprechtherapeutische Methoden einteilen lässt.
4.1 Das Paradigma der „Berliner Schule“
19. und 20. Jahrhundert: Berlin
Ihren Höhepunkt erreicht die didaktischphonetische Sprachtherapie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die „Berliner Schule“, auch „GutzmannSchule“ genannt, die von Albert Gutzmann (1837–1910, Direktor der Berliner Taubstummenschule; vgl. Abb. 1) begründet (→ FS Hören) und von seinem Sohn Hermann Gutzmann (1865–1922, Begründer der wissenschaftlichen Sprachheilkunde; vgl. Abb. 2) und seinem Enkel Hermann Gutzmann (1892–1972, Initiator der Ausbildung von Logopäden und Begründer der ersten Lehranstalt für Logopäden in Berlin; vgl. Abb. 3) wissenschaftstheoretisch und therapiepraktisch derart weiterentwickelt wird, dass sie bis in die jüngste Vergangenheit internationale Anerkennung erlangt hat. Albert Gutzmann wird vielfach die Begründung der eigenständigen wissenschaftlichen Sprachheilpädagogik zugeschrieben. Seine Verdienste sind sein „methodisch geordnetes und prak
tisch erprobtes Verfahren zur Stottertherapie“ (1879), seine „Lehrkurse über Sprachstörungen für Ärzte und Lehrer“ und die Mitbegründung der „Medizinischpädagogischen Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde“ (1891). Kaum bekannt ist, dass er ein entschiedener Verfechter einer sprachlichen Frühpädagogik und einer allgemeinen Lautspracherziehung in der Volksschule war.
Am Beispiel der Stottertheorie und Stottertherapie der „GutzmannSchule“ (→ Psychoreaktive Redestörungen) lässt sich verdeutlichen, dass sich im Verlaufe der gleichsam ersten normalwissenschaftlichen Periode der Sprachheilpädagogik als angewandte Wissenschaft aus den vorwissenschaftlichen Begriffsbildungen und praktischen Problemlösungsansätzen ein grundlegendes sprachheilpädagogisches Paradigma herausentwickelt hat, das in der Folgezeit weitere Ausdifferenzierungen und Schwerpunktbildungen erfahren und zu einer komplexen Beziehungsstruktur der „Berliner Schule“ geführt hat (vgl. Abb. 4). Diese Beziehungsstruktur zeigt den hohen Grad an Anerkennung des Paradigmas seitens der Fachkollegen. Die wesentlichen Komponenten des ParadigmaBegriffs (vgl. 2):
1. profilieren sich durch die neurophysiologisch begründete Definition des Stotterns als spastische Koordinationsneurose,
Abb. 1: Albert Gutzmann (aus: Emmerig 1927)
Abb. 2: Hermann Gutzmann sen. (aus: Wendler 1979, 10)
Abb. 3: Hermann Gutzmann jun. (aus: Tagesspiegel vom 20. 01. 1962)
Die normalwissenschaftliche Periode der Sprachheil pädagogik 23
2. erklärt durch die Krampftheorie der Stotterbewegungen
3 und die generellen Annahmen über die Auswirkungen auf die ganze psychische Persönlichkeit des Betroffenen
4 sowie die mustergültige Umsetzung des theoretisch begründeten physiologischen Therapiekonzepts zur praktischen Problemlösung in der Form einer systematisch aufgebauten phonetischen Übungstherapie.
4.2 Das Paradigma der „Wiener Schule“
19. und 20. Jahrhundert: Wien
Besonders interessant ist, dass sich nahezu parallel zum physiologischpsychologisch
begründeten Paradigma der „Berliner Schule“ – der Organiker – ein konkurrierendes psychophysiologisch begründetes Paradigma der „Wiener Schule“ – der Psychiker – entwickelt hat. Hauptvertreter der „Wiener Schule“ sind neben Rudolf Denhardt (1845–1908; vgl. Abb. 5) und Albert Liebmann (1865–1934; vgl. Abb. 6) der in Wien geborene Nestor der internationalen Sprach und Stimmheilkunde, der Hals, Nasen, Ohren und Spracharzt Emil Fröschels (1884–1972; vgl. Abb. 7) und der Wiener Volksschullehrer Karl Corne-lius Rothe (1879–1932; vgl. Abb. 8). Mit seinem wegweisenden Buch „Die Umerziehung“ (1929) gehört Rothe zu den Protagonisten der ganzheitlichen Erfassung und Förderung des sprachbehinderten Kindes (→ Sprachdidaktiktheorie). Die Überwindung der Sprach
Abb. 4: Beziehungssystem der „Berliner Schule“
24 Geschichte
störungen und ihrer Folgen ist nicht nur eine therapeutische Aufgabe, sondern auch und in erster Linie eine Aufgabe der Erziehung, der Sondererziehung des ganzen Menschen.
Wie beim Paradigma der „Berliner Schule“ kann ebenso unter Zugrundelegung der vier Kuhnschen Komponenten das Paradigma der „Wiener Schule“ am Beispiel der Stottertheorie und Stottertherapie folgendermaßen gekennzeichnet werden (vgl. 4.1):
1. Stottern wird aus psychopathologischer Sicht als Psychoneurose definiert und als sprachneurotischer Prozess mit Hilfe eines entwicklungstheoretischen Stufenschemas beschrieben, das Theodor Hoepfner (1911, 1912) aufgrund von Beobachtungen seines eigenen Stotterns und in Weiterführung der Gedanken seines Lehrers Rudolf Den-hardt (1845–1908) entwickelt hat. Hauptform ist das Entwicklungsstottern, dessen Angelpunkt nach Emil Fröschels das „Bewusstsein einer gestörten Sprache“ darstellt.
2. Zur Erklärung werden individualpsycho-logische Theorien herangezogen, die das Stotterverhalten vor allem auf zwei grundlegende Determinanten zurückführen: auf ein organbedingtes Minderwertigkeitsgefühl und den Versuch, dieses Minderwertigkeitsgefühl durch Streben nach Geltung und Überlegenheit zu kompensieren.
3. Generelle Annahme ist, dass Stottern in der Regel die gesamte Persönlichkeit beeinflusst, indem Angst, Resignation, Hoffnung auf Misserfolg und mangelndes Selbstvertrauen resultieren.
4. Problemlösungskonzept ist die ganzheitliche „Umerziehung“ des Stotternden in Formen integrierter Psycho und Sprachtherapie.
Dass das Paradigma der „Wiener Schule“ nicht weniger auf nachhaltige Anerkennung gestoßen ist, zeigt das rekonstruierte Beziehungssystem (vgl. Abb. 9).
Als unübersehbare bedeutsame „Anomalie“, die den sich vollziehenden Paradigmenwechsel verdeutlicht, kann die „DenhardtGutzmannKontroverse“ gelten, die sich zwischen Rudolf Denhardt (1890, 1892, 1893) einerseits und Albert und Hermann Gutzmann (1892) andererseits abspielt. Im Gegensatz zur physiologischen Therapie des Stotterns, deren Originalität Albert Gutzmann für sich beansprucht, lehnt Rudolf Denhardt ein systematisches Training der Sprechorgane ab, da Stotternde über die physiologischen Sprachelemente und ihre Verbindungsmöglichkeiten grundsätzlich verfügen. Stottern beruht nicht auf hirnorganisch bedingten Funktionsstörungen der Muskelsysteme für Respiration, Phonation und Artikulation, wie dies Albert und Hermann Gutzmann mit ih
Abb. 5: Rudolf Denhardt (aus: Eos. Zeitschrift für Heilpädagogik 18, 1926, 69)
Abb. 6: Albert Liebmann (Foto aus persönlichem Nachlass)
Abb. 7: Emil Fröschels (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Judith F. Duchan, University of Buffalo)
Abb. 8: Karl Cornelius Rothe (aus: Rothe 1932, 2)
Die normalwissenschaftliche Periode der Sprachheil pädagogik 25
rer neurophysiologischen „Krampftheorie“ annehmen, sondern auf psychischen Ursachen.
Nun stellt sich die Frage nach den sprachtheoretischen Implikationen beider Paradigmen einschließlich ihrer Konsequenzen: Welche – letztlich nicht weiter begründeten – prinzipiellen Sichtweisen von Sprache und Kommunikation liegen den beiden sprachheilpädagogischen „Schulen“ zugrunde?
Die Sprachauffassung der „Berliner Schule“ ist dezidiert neurophysiologisch ausgelegt und zunächst in einem vereinfachten Lokali-sationsmodell der Sprachzentren (→ Sprache und Gehirn), sodann in einem komplexen
Schema zum „inneren Aufbau“ der Lautsprache dokumentiert, das die Assoziationsstruktur des „Kreislaufs der Sprache“ nachzeichnet; sinngemäß nach Hermann Gutzmann, „dem Älteren“ (1912, 62): „Steigt man in den Kreislauf der Station „Verstehen gehörter Wörter“ ein, beginnt die akustische Bahn mit Nervus Acusticus und führt zum Wortklangzentrum, in dem sich die Bildung der Begriffe durch Assoziationen von Teilvorstellungen aus den verschiedenen Sinnesbereichen vollzieht. Sollen Wörter ausgesprochen werden, müssen zunächst die Begriffe der Wörter auftauchen und das motorische Sprachzentrum aktivieren. In ihm werden die Sprechbewe
Abb. 9: Beziehungssystem der „Wiener Schule“
26 Geschichte
gungsvorstellungen entworfen und die Impulse an die expressiven Bahnen und Kerne gegeben. Es ist die Koordinationsstelle für die Abstimmung des Zusammenwirkens von Atmung, Stimme und Artikulation.“
Demgegenüber setzt die Sprachauffassung der „Wiener Schule“ psychophysiologisch an und akzentuiert am komplexen und diffizilen Sprachgeschehen den Sprechvorgang (→ Sprache und Sprechen). Die Sprechbewegungen sind nicht als physiologische Vorgänge, sondern primär als Ausdrucksbewegungen zu sehen, die begrifflich kontrolliert werden. Die Wortklangbilder besitzen komplexe Bedeutungen und sind in ihren „sekundären Sprachcharakteren“ (Tempo, Rhythmus, Betonung) unmittelbar Folgen der Kognitionen und Emotionen des Sprechenden (→ Kognition und Emotion). Wenn das Sprechen die begriffliche Bedeutung verliert, kann durch Störfaktoren, welcher Art auch immer, das sprachliche Selbstbewusstsein zum Störungsbewusstsein werden und sich bis zum Umsturzwert des „Ich kann nicht“ verbilden. Damit gerät das persönliche psychophysische sprachliche Gesamtgeschehen, das sich aus sensorischen, motorischen und psychischen Komponenten zusammensetzt, in die Gefahr, sich als „gestört“ zu fixieren.
Beide konkurrierenden wissenschaftstheoretischen Grundorientierungen der „Berliner Schule“ einerseits und der „Wiener Schule“ andererseits dominieren die Entwicklung der Sprachheilpädagogik bis in die 1960er Jahre mit nur wenigen strittigen Auseinandersetzungen, die weder zu gegenseitiger Überwindung oder Ablösung führen konnten.
5 Paradigmenwechsel
Paradigmenwechsel bedeutet „Neuaufbau des Gebietes auf neuen Grundlagen, ein Neuaufbau, der einige der elementarsten theoretischen Verallgemeinerungen des Gebietes wie auch viele seiner Paradigmenmethoden und
anwendungen verändert“ (Kuhn 1967, 103): eine „wissenschaftliche Revolution“. So stellt sich die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des Faches einmal mehr und angesichts der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach 1945 in den beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), in bemerkenswerter Weise fast gleichzeitig mit demselben Anspruch nach neuer wissenschaftstheoretischer Grund orien tie rung und neuen systematischen Forschungs und Praxisansätzen.
5.1 Das analytische Paradigma
Nach 1945: BRD
Im „Westen“ versucht die Sprachheilpädagogik die damalige „realistische Wendung“ (Roth 1964) der Erziehungswissenschaft in den 1960er Jahren mit zu vollziehen. Dazu lehnt sie sich sehr stark an die empiristische Forschungsmethodologie an und übernimmt deren Konzepte (Operationalisierung, Falsifikation) und Methoden (→ Unterrichts und Therapieforschung). Im Kontext der Vorgabe des Forschungskonzepts „Lebensbedeutsamkeit der Sprachstörung“ von Werner Orth-mann (1969) initiiert Gerda Knura (1971) mit einer Reihe von empirischen Arbeiten über Besonderheiten des schulischen Verhaltens sprachbehinderter Kinder eine Phase systematischer empirischer Untersuchungen zu Lern und Verhaltensauffälligkeiten, zu besonderen Persönlichkeitsmerkmalen bei sprachgestörten Kindern und Jugendlichen mit der Intention, eine verlässliche Datenbasis für gezielte diagnostischtherapeutische und unterrichtliche Maßnahmen zu erhalten. Die ermittelten empirischen Befunde werden vor allem zur Grundlegung der didaktischen Konzeptbildung herangezogen, um sich an den besonderen Förderbedürfnissen der sprachbehinderten Schüler orientieren zu können (→ Sprachdidaktiktheorie). Es kommt zu mehreren lern und lehrtheoretisch anset
Paradigmenwechsel 27
zenden didaktischen Konzeptentwürfen (u. a. Lothar Werner 1972, Gerhard Homburg 1978, Otto Braun 1980). Das Forschungsprinzip erscheint zunächst rein empiristisch in Form des Induktivismus, sodann in Anwendung der „raffinierten“ Falsifikationsmethode sensu Karl Popper.
Nach 1945: DDR
Im „Osten“ entwickelt sich die wissenschaftstheoretische Fundierung der Logopädie gleich Sprachheilpädagogik von einer „Auswertung der Lehre Pawlows“ in den 1950er Jahren über erste empirische Untersuchungen zur motorischen Entwicklung von Vorschulkindern von Ruth Becker (1957) als Einleitung einer ganzen Reihe weiterer empirischer Arbeiten zu diagnostischen, therapeutischen und unterrichtlichen Fragestellungen bis hin zu einer systematischen und differenzierten Konzeptbildung auf der Grundlage eines systemtheoretischen Kommunikationsmodells. Die Theoriebildung und Untersuchungsergebnisse mit ihren konsequenten Ableitungen für Klassifikation und Beschreibung der verbalen Kommunikationsstörungen, für eine gezielte logopädische Diagnostik und die rehabilitativen Wirkungsbereiche des erzieherischen und unterrichtlichen Handelns dokumentieren Klaus-Peter Becker und Miloš Sovák zusammenfassend im „Lehrbuch der Logopädie“ (1971).
Linguistische Wende
Die Weiterentwicklung des empiristisch zu kennzeichnenden Paradigmas vollzieht sich als Überwindung der methodologischbehavioristischen Perspektive durch die kognitionstheoretische Forschung und die Bildung kognitiver Theorien in der Psychologie und Linguistik, vor allem in der Psycholinguistik und Sprachentwicklungspsychologie (→ Sprachentwicklung und Sprachabbau). Fokussiert werden nun die verbalkognitiven Prozesse, das heißt die inneren verbalen Be und Verarbeitungsprozesse und die verbalkognitiven Strukturen. Beispiele für die kogniti-
ve Neuorientierung der Sprachheilpädagogik in ihrer Theoriebildung und Praxisgestaltung sind die Übernahme kognitiver Interventionsmethoden in die Stottertherapie, Ansätze zum psycholinguistischen Verständnis von LeseRechtschreibschwierigkeiten und die Rezeption der Phonologie zur Analyse und Therapie kindlicher → Aussprachestörungen. Nicht nur mit seinen ersten Arbeiten „Zur Phonologie gestammelter Sprache“ (1969), sondern auch mit weiteren Beiträgen zu Störungen im Bereich der Grammatik und zu Aphasien leitet Hans-Joachim Scholz eine in ihren künftigen Auswirkungen fundamentale Wende in der Auffassung von Sprache, Sprechen und Kommunikation ein. Es beginnt die so genannte „Linguistisierung“ der Sprachheilpädagogik bis in die 1980er Jahre. Eine konzentrierte vertiefende Weiterführung der systematischen empirischen Erforschung beeinträchtigter Sprachfähigkeiten unternimmt Roswitha Ro-monath (1991) mit ihrer Untersuchung der phonetischen und phonologischen Kompetenzen sprachauffälliger Vorschulkinder, an die sie weitere Untersuchungen zu metaphonologischen Fähigkeiten und metaphonologischer Erfahrung (1998a/b) anschließt.
Im Nachhinein lässt sich mit Beginn der 1960er Jahre nicht nur eine realistische und kognitive Wende erkennen, sondern ein grundlegender Wandel zu einem analytischen Paradigma, das wissenschaftstheoretisch im Wesentlichen durch einen kritischen Ratio-nalismus im Verständnis Poppers bestimmt wird. Der analytische Ansatz geht von logischbegrifflichen Analysen aus und klärt die Begriffe sowie Aussagen (Hypothesen, Definitionen, Theorien). Das Vorgehen besteht in der Präzisierung der Begriffe (logisch, empirisch), der Kennzeichnung der Definitionen, der logischen, präskriptiven und empirischen Sätze, der Charakterisierung der Hypothesen und der Klarstellung der Minimalforderungen und Gütekriterien für die Theorien. Da sich der kritischrationalistische Forschungs und Untersuchungsprozess als offener Prozess gestaltet, wird das Vorgehen auf die sprachheilpädagogische Dia
28 Geschichte
gnostik übertragbar, so dass bei bestimmten Problemstellungen nach den Grundsätzen der experimentellen Methodik verfahren werden kann (→ Interdisziplinäre Diagnostik). Der diagnostische Prozess vollzieht sich dabei in der Regel in drei Schritten:
1. exakte Beschreibung der beobachteten Sprachauffälligkeit, die untersucht und erklärt werden soll,
2. Bildung von Hypothesen bzw. eines Hypothesensystems zur Erklärung des sprachlichen Phänomens und
3. systematische Überprüfung der Hypothesen unter Anwendung experimenteller bzw. experimentnaher Methoden und Entscheidung über Beibehaltung oder Ablehnung der Hypothesen.
Die Vorzüge der systematischen Realisation der Operationalisierung und des Falsifikationsprinzips (Beibehaltung der Beobachtungs bzw. Untersuchungshypothesen bis zu ihrer Widerlegung) sind Wiederholbarkeit der Untersuchungsprozeduren, Willkürlichkeit in der Herleitung des zu Beobachtenden, systematische Variierbarkeit dieser Beobachtungsbedingungen und Kontrollierbarkeit der Veränderungen der Beobachtungsbedingungen. Kritische Einwände werden zur „laborhaften“ Situationsgestaltung gemacht, durch die ohnehin nicht alle möglichen Hypothesen überprüft und alle möglichen Störvariablen kontrolliert werden können.
5.2 Das hermeneutische Paradigma
Gleichsam parallel zur Entwicklung des analytischen Paradigmas gewinnt in den 1960er und 1970er Jahren ein Paradigma zunehmend an Profil, das auf eine erziehungstheoretische Orientierung zurückgeht, die zum einen an die geisteswissenschaftliche Pädagogik der Weimarer Zeit anknüpft, zum anderen auf die humanistische Sprachauffassung von Johann Georg Hamann (1730–1788), Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835) rekurriert. Nach dem
geisteswissenschaftlichen Theorieverständnis steht am Anfang der Reflexion die Erziehungswirklichkeit, die es zu verstehen gilt, um sich in ihr angemessen verhalten zu können. Dementsprechend ist die leitende Kategorie einer geisteswissenschaftlich orientierten Sprachheilpädagogik das rationale und einfühlende Sinnverständnis.
Die sprachheilpädagogische Praxis verlangt eine Theoriebildung, die auf dem Hintergrund allgemein akzeptierter wissenschaftlicher Kategorien und Kriterien Struktur und Bedingungen des sprachheilpädagogischen Handelns sowohl allgemein als auch situationsspezifisch analysieren und fundieren kann. Notwendig ist ein Ansatz, von der Praxis her für die Praxis zu denken, um den Sinn und die Bedeutung des menschlichen Handelns in der Erziehung und Bildung zu verstehen. Aus einer historischen und systematischen Analyse der Erziehungswirklichkeit sollen sich die Strukturmomente der Erziehung und Bildung ergeben (→ Bildung und Erziehung). Hier setzt Werner Orthmann (1969) an, indem er durch Verbindung der phänomenologischen Analyse der Lebenswirklichkeit mit der Hermeneutik als Arbeit an der Sprache die vielseitige Problematik der Kinder und Jugendlichen mit Sprachstörungen reflektiert, die aus der gestörten Sprache selbst und ihren pädagogischen Behandlungsmöglichkeiten resultiert (→ Sprachdidaktiktheorie). Gegenstand der sprachheilpädagogischen Überlegungen ist die gestörte Sprache, deren Lebensbedeutsamkeit aufzuklären ist. Aufgaben und Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts sind aus dem Wesen der Sprache und der Bedeutung ihrer Störungen für Entwicklung und Persönlichkeit in ihrer Lebenswelt abzuleiten (→ Person und Sprache, → Behinderung und Vulnerabilität).
Zur gleichen Zeit entwirft Edmund West-rich (1977, 1989) sprachphilosophisch ansetzend und hermeneutisch vorgehend das Konzept der „Sprachlichkeit des Menschen“ bzw. „des in seiner Sprachlichkeit beeinträchtigten Menschen“. Als Schlussfolgerung seiner phänomenologischen Analyse der gestörten
Das pragmatische Paradigma und die Konstruktivismen 29
Sprachlichkeit und damit der beeinträchtigten Subjektivität und dialogischen Handlungsfähigkeit ergibt sich, dass nur durch eine Erziehung zur Sprachlichkeit behinderungsadäquat geholfen werden kann.
Da der Begriff „Hermeneutik“ vielfältige Bedeutungszuschreibungen erfahren hat, ist der Hinweis erforderlich, dass der hermeneutische Ansatz in der Sprachheilpädagogik im Sinne des Verständnisses von HansGeorg Gadamer (1960) rezipiert wurde – mit Akzentuierung des hermeneutischen Zirkels. Gängige Verdeutlichung des Zirkels ist die Definition, dass das Einzelne (die konkrete Teilauslegung) in dem Ganzen (im Sinnhorizont) und das Ganze aus dem Einzelnen verstanden wird. Des Weiteren setzt jedes echte Verstehen immer schon ein gewisses Vorverständnis voraus. Und hermeneutisches Vorgehen vollzieht sich stets als Wechselspiel von Information und Deutung. Für die Wissenschaftsentwicklung liegt der wissenschaftliche Wert des hermeneutischen Vorgehens (des Verstehens) in der Hypothesengenerierung. Verstehen wird gleichsam als heuristisches Mittel eingesetzt. Und genau dieser Punkt verbindet in der Sprachheilpädagogik beide prinzipiell miteinander konkurrierenden Paradigmen: analytisches vs. hermeneutisches Paradigma (vgl. Abb. 9).
6 Das pragmatische Paradigma und die Konstruktivismen
6.1 Das pragmatische Paradigma
Unter dem Einfluss der linguistischen Pragma-tik (SchliebenLange 1975) und der Kommu-nikationstheorie (Baumgärtner & Steger 1973, Gutknecht 1977) findet in den 1980er Jahren die Erkenntnis, dass Sprache nicht nur in ihrem Systemcharakter, sondern auch und vor allem in ihrer Funktionalität zu sehen ist, dass Sprache nicht nur ein logisches oder kognitives System ist, sondern auch Mittel und Weg
zur Kommunikation (→ Sprache und Sprechen), zunehmend Beachtung und Aufnahme in der sprachheilpädagogischen Theoriebildung und Praxisgestaltung der Sprachtherapie und des sprachtherapeutischen Unterrichts. Es kommt zu einer pragmatischen Umorien-tierung der Sprachheilpädagogik insgesamt, die sich vor allem in elaborierten dialog und interaktionsorientierten Konzeptbildungen, in der Berücksichtigung der nonverbalen Kommunikation und der Kommunikationspartner sowie des Situationsansatzes in der Sprachtherapie zeigt (→ Sprachdidaktiktheorie). Einige (erste) theoretischpraktische Umsetzungsbeispiele sind u. a. die sprach therapeutische Übungsbehandlung von Nitza Katz-Bern-stein (1986) (→ Sprachtherapie), die pragmatische Therapie von Iris Füssenich (1987, 1999) und Hildegard Heidtmann (1990) (→ Entwicklungs bedingte Sprachstörungen), das Konzept der „SprachHandlungsSpielräume“ nach Heiner Nondorf und Reiner Bahr (1993) (→ Lehren und Lernen) und die Kommunikationstherapie von Reimund Bongartz (1998).
In der didaktischen Theoriebildung werden neben der Konzeptentwicklung zum „Sprachtherapeutischen Unterricht“ von Otto Braun (1980, 1983) handlungsorientierte und kommunikationstheoretisch begründete allgemeindidaktische Ausgangspositionen aufgenommen und sprachtherapeutisch akzentuiert (→ Sprachdidaktiktheorie). Beispielsweise erstellt Gerhard Homburg (1978) unter dem Gesichtspunkt der Sprachhandlung einen differenzierten Katalog von Lernzielen und Lerninhalten zur Didaktik der Sprachbehinderten (→ Unterricht); Axel Holtz (1981) konzipiert ein individualpsychologisch orientiertes handlungstheoretisches Modell einer behinderungsspezifischen Didaktik; Arno Deuse (1975), Peter Keller (1975) und Helmut Carstens (1981) entwerfen zur Förderung des funktionalen Gebrauchs der Sprache in natürlichen und inszenierten kommunikativen Situationen kommunikationstheoretisch angelegte Didaktikkonzepte. Manfred Grohn-feldt zeigt (1981) „handlungstheoretische Aspekte in der Sprachbehindertenpädagogik“