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Bemerkungen Uber Raum und Zoit Raumsinn - Zeitsinn Von Sanit~itsrat Dr. lax Wi~komann, Marburg a. d. Lahn Jeder KOrper ist als Gegenstand gegeben, der eine ihm zu- kommende Ausdehnung besitzt. Wenn wir einen KOrper aus unserm Gesiehtskreis enffernen, so persistiert derselbe in unserer Vorstellung in der Regel zugleich als ,,Raum", den er erfOllte, eine Doppelvorstellung, die un- bewut]t aueh bei Betrachtung eines an Ort und Stelle belassenen Gegenstandes sofort zugegen ist. Die gleichzeitig mit dem Betraehten eines Gegenstandes er- folgende Obertragung desselben in sein Negativ, d.h. in die demselben angepai3te Hohlform, zeigt uns den ,,Raum", der naeh Enffernung des Gegenstandes zurtiekbleibt. Diese Obersetzung des Objekts in den eingenommenen ,, Raum" geht so unbewuBt und so unmittelbar vor sieh, dab wir das r~ium- liehe sieh Darstellen der Dinge als a priori gegeben empfinden, eine Tatsaehe, welehe das Vorhandensein eines vorgebildeten, zentral angeordneten ,,Raumsinnes" voraussetzt, dessen Zu- fahrtslinien tiberwiegend im Nervus opticus verlaufen. Der Raumsinn bezieht sieh aber nicht nur auf begrenzte Ob- jekte, erfai]t den Raum vielmehr zugleieh als etwas allgemein Vorhandenes und sehafft hiermit die Grundlage zu dessen mathe- matiseher Allgemeinbetraehtung: Die eigene Person steht im Mittelpunkt des Raumes; dieser besitzt die Gestalt einer his ins Unendliche ausdehnbaren Kugel, in weleher die dreifaehe Dimensio- nalit~it des Raumes durch drei im Mittelpunkt der Kugel sieh reehtwinklig sehneidende Durehmesser ihre Darstellung erf~art. Mit diesen Linien ist das denkbar einfaehste symmetrisehe Geriist gegeben, auf welches bezogen jeder Punkt im Raume bestimmt ist.

Bemerkungen über raum und zeit. raumsinn — zeitsinn

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Bemerkungen Uber Raum und Zoit Raumsinn - Zeitsinn

Von

Sanit~itsrat Dr. l a x Wi~komann, Marburg a. d. Lahn

Jeder KOrper ist als Gegenstand gegeben, der eine ihm zu- kommende Ausdehnung besitzt.

Wenn wir einen KOrper aus unserm Gesiehtskreis enffernen, so persistiert derselbe in unserer Vorstellung in der Regel zugleich als , , R a u m " , den er erfOllte, eine Doppelvorstellung, die un- bewut]t aueh bei Betrachtung eines an Ort und Stelle belassenen Gegenstandes sofort zugegen ist.

Die gleichzeitig mit dem Betraehten eines Gegenstandes er- folgende Obertragung desselben in sein N e g a t i v , d .h . in die demselben angepai3te Hohlform, zeigt uns den , , R a u m " , der naeh Enffernung des Gegenstandes zurtiekbleibt.

Diese Obersetzung des Objekts in den eingenommenen ,, R a u m " geht so unbewuBt und so unmittelbar vor sieh, dab wir das r~ium- l iehe s i eh D a r s t e l l e n der Dinge als a priori gegeben empfinden, eine Tatsaehe, welehe das Vorhandensein eines vorgebildeten, zentral angeordneten , , R a u m s i n n e s " voraussetzt, dessen Zu- fahrtslinien tiberwiegend im Nervus opticus verlaufen.

Der Raumsinn bezieht sieh aber nicht nur auf begrenzte Ob- jekte, erfai]t den Raum vielmehr zugleieh als etwas allgemein Vorhandenes und sehafft hiermit die Grundlage zu dessen mathe- matiseher Allgemeinbetraehtung: Die eigene Person steht im Mittelpunkt des Raumes; dieser besitzt die Gestalt einer his ins Unendliche ausdehnbaren Kugel, in weleher die dreifaehe Dimensio- nalit~it des Raumes durch drei im Mittelpunkt der Kugel sieh reehtwinklig sehneidende Durehmesser ihre Darstellung erf~art. Mit diesen Linien ist das denkbar einfaehste symmetrisehe Geriist gegeben, auf welches bezogen jeder Punkt im Raume bestimmt ist.

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336 Max Wiskemann

In bezug auf die in den Mittelpunkt der Raumkugel gedachte Person ist die eine der drei Gertistlinien frontal, die andere sagittal, die dritte vertikal gerichtet.

Der Raumsinn erfaflt das Aneinandergrenzen oder voneinander Getrenntsein zweier oder vieler Riiume, das relative Vor, Hinter, 0her oder Unter eines Raumes, seine Ruhe oder Bewegung, seine spezielle Form, seine Gr6t3e, seine einzelnen Dimensionen, seine Entfernung ,con anderen R~iumen osw. Ausgemessen wird der yon parallelen Fl~ichen begrenzte Raum nach L~inge, Breite und H6he.

Das r~iumliehe Eingef t ig tse in eines Dinges verb t i rg t seine Wirk l i chke i t ; Dinge, die keinen Raum einnehmen, gibt es nieht. Darum ist das r/iumliche, yon dem Raumsinn eingegebene Denken keine willkfirliche Form des Denkens, sondern eine real begriindete Denknotwendigkeit, die Fes t s t e l lung eines all- gemeinen Tatbes tandes . Jedes Ding ist insoweit wirklieh, als es Raum einnimmt.

Mit dem Aufstellen des ,,Raumes" wird die allgemeinste, yon allen sonstigen Eigensehaften der K6rper sieh abhebende, mathe- matisch erfaflbare n~iehstl iegende Wi rk l i chke i t des sich Verha l t ens der Dinge -- ihr E i n n e h m e n yon Raum -- gewonnen.

Allgemein ausgedrtiekt, kann man sagen: Der Raumsinn er- faflt ,,das seharf begrenz te Wo" der Dinge und des Erlebens, m6gen die Dinge sieh in Ruhe oder Bewegung befinden.

Der ,, Z eit si nn", die Spezifit~it der Empfindung nieht minder deutlieh auspr~igend als der Raumsinn, ersehlieflt unmittelbar das ze i t l iehe , ,Naehe inander" versehiedener Ereignisse oder die sich folgenden Phasen eines Begebnisses, und seMitzt zugleieh die dazwischen gelegenen Ze i t spannen: Jeder Arbeiter kennt die Zeitspannen zwischen den einzelnen Absehnitten seiner Arbeit. Seh~irfer noch erweist sieh der Zeitsinn in den beiden folgenden F~illen: Kameraden erwachen fast genau zur verab- redeten, ungewOhnlieh frtihen Morgenstunde und lassen sieh durch falsehe Zeitangaben selten gr6ber t~iusehen. Sodann: Einen er- staunliehen Zeitsinn zeigen die Bienen. Forel beobaehtete, daB Bienen, die jedesmal zuvor eine gr6Bere Wegstrecke durchfliegen muBten, zu bestimmter Stunde an seinem Gartentiseh ersehienen, um an dem pfinktlieh aufgetragenen Friihsttick teilzunehmen. Als er dann die Zeit ver~iffderte, fanden sich seine Kostg~inger naeh kurzer Verlegenheit wieder ptinktlich zur neuen Friihstfiekszeit ein.

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Bemerkungen iiber Raum und Zeit. Raumsinn ~ Z e i t s i n n 337

Zur Messung der Zeit dient gemeinhin die Uhr. Dieser Zeit- messer setzt voraus, dab der Zeiger unter g l e i chb le ibendem Ant r i eb zum Durchlaufen der bezeichneten Stunden- und Minuten- strecken die gleiche Z-eit gebraucht.

Die jetzt folgenden Andeutungen weisen auf noch bestehende Liicken der Erkenntnis:

Es ist sehr wohl denkbar -- und es wird sich voraussichtlich noch erweisen --, dab vom Licht tier Sonne (Tageslicht) fortlaufend erzeugt, mit Energien gen~hrt und kraft dieses Ursprungs in die Harmonie der Gestirne (des Kosmos) eingeordnet, ein feinster, eigenartiger Stoff im Korper kreist.

Dieser auf jede, auch die ldeinste Lebens~iul3erung des mensch- lichen Organismus als regulierender Arrreiz einwirkende, seinerseits yon der u n r a u m h a f t e n ,,Entelechie" (Driesch, H a r t m a n n , Descar tes) beherrschte Strom tibt einen dauernden sinngemiiflen, d.h. auf zeitliche Ordnung abzielenden Reiz auf den zentral lokalisierten Zeitsinn aus; wir werden dauernd unter das Allgemein- gdiihl der verrirmenden Zeit gesteUt, ein Empfinden, welches bei konzentriert auf dasselbe gerichteter Empf/inglichkeit zur F/ihig- keit des Zeitabsch~itzens sich steigert, selbstverst~indlich aber erst durch den konkreten (r~iumlich-zeitlichen) Vorgang seinen be- stimmten Inhalt, seine Intensit~t und Form erlangt.

Dem Empfinden der Zeit und somit der Zeit als solcher wird also tier eigenartigste, aUes Leben beherrschende biologische Vor- gang zugrunde gelegt und damit die Zeit , das R innen der Zeit, zu e iner l ebendigen mit dem I nd iv iduum v e r b u n d e n e n Wirk l i chke i t , analog dem Raum, der u n m i t t e l b a r er- s chau t wird: es gibt kein Ding, keine Lebens/~uBerung aullerhalb der Zeit; der Zei t s inn erschl ief l t und bezeug.t ebenso wie der R a u m s i n n und in unl6sbarer Wechselbeziehung zu diesem die W i r k l i c h k e i t der Dinge und des Lebens.

Der Ze i t s inn o f f enba r t , a l lgemein gesagt , das f l ie t lende ,,Wann" des Behar rens , des sich Verl inderns, des Erlebens.

An Stelle der yon E ins t e in aufgestellten Relativitiit der Masse yon Raum und Zeit setze ich die Relativit~it des Gegenpols, die- jenige des Beobachters, d. h. seines Auffassens, seines Erkennens. 1)

1) Zur R e l a t i v i t ~ t s t h e o r i e - - e ine G r u n d f r a g e , yon Sanit~tsrat Dr. W i s k e m a n n , Marburg a. d. Lahn. Annalen der Philosophie I927. Heft 8. - - Hans Driesch, Relativit~tstheorie und Philosophie, bei G. Braun, Karlstuhe x924, $. 47. Ssmmlung: ,Wissen und Wirken"~