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Bernd Dollinger (Hrsg.) Klassiker der Pädagogik

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Bernd Dollinger (Hrsg.)

Klassiker der Pädagogik

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Bernd Dollinger (Hrsg.)

Klassiker der PädagogikDie Bildung der modernen Gesellschaft

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Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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1. Auflage September 2006

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Stefanie Laux

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN-10 3-531-14873-7ISBN-13 978-3-531-14873-1

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Inhaltsverzeichnis

Klassiker der Pädagogik. Einleitende Anmerkungen zu einer eigentümlichen Spezies ............................................................................. 7 Bernd Dollinger

I. Die Konstitution der modernen Gesellschaft

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)....................................................... 27 Otto Hansmann

Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) ................................................ 53 Fritz Osterwalder

Friedrich Schleiermacher (1768-1834) ................................................... 75 Michael Winkler

Johann Friedrich Herbart (1776-1841).................................................. 101 Klaus Klattenhoff

II. Erziehung und Industrialisierung

Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg (1790-1866) ............................ 127 Gert Geißler

Karl Volkmar Stoy (1815-1885) und Otto Willmann (1839-1920) ...... 151 Rotraud Coriand

Paul Natorp (1854-1924)....................................................................... 179 Joachim Henseler

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III. Erziehung am Beginn des 20. Jahrhunderts

Reformpädagogik und Klassiker ........................................................... 199 Sabine Andresen

John Dewey (1859-1952) ...................................................................... 221 Stefan Neubert

Herrman Nohl (1879-1960)................................................................... 247 Bernd Dollinger

Siegfried Bernfeld (1892-1953) ............................................................ 265Christian Niemeyer und Marek Naumann

IV. Die „modernisierte“ Moderne

Michel Foucault (1926-1984)................................................................ 289 Astrid Messerschmidt

Niklas Luhmann (1927-1998) ............................................................... 311 Klaus Prange

Klaus Mollenhauer (1928-1998) ........................................................... 331 Christian Niemeyer und Michael Rautenberg

Pierre Bourdieu (1930-2002) ................................................................ 353 Eckart Liebau

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Klassiker der Pädagogik. Einleitende Anmerkungen zu einer eigentümlichen Spezies

Bernd Dollinger

1 Einleitung

Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, was „Klassiker“ sind und wie sie ihren Status zugesprochen bekommen. Als Überblick über die pädagogische Klassikerdiskussion seien im Folgenden drei idealtypische Deutungen unter-schieden, die Auskunft über die Wesensart dieser Spezies versprechen: Erstens die These der besonderen, zeitlosen Qualität, zweitens Annäherungen über Krite-rienkataloge und drittens die These der Qualifizierung. Zugrunde gelegt wird dabei eine Art gedanklichen Kontinuums. Auf der einen Seite dieses Kontinuums steht gemäß einer traditionellen Sichtweise der Klassiker dekontextualisiert für sich. Er ist ein Klassiker auf der Grundlage des klassischen Werkes, das er ge-schaffen hat und das Werke anderer Autoren überstrahlt. Am anderen Ende steht der Klassiker als Konstrukt, das von einer Rezeptionsgemeinde etabliert und am Leben erhalten wird. Der Klassiker ist vollständig kontextualisiert; als isoliertes Wesen, ohne Menschen, die an ihn „glauben“, würde er nicht existieren. Zwi-schen diesen Extrempolen bewegen sich derzeit die „Klassiker der Pädagogik“.

a) Der zeitlose Klassiker

Zunächst zur ersten These, die einen zeitlosen, durch herausragende Qualität ausgezeichneten Klassiker unterstellt. Er wird in Anspruch genommen, um a-historisch gültige Antworten auf immer wieder aufkommende Fragen oder um zumindest überdauernde Perspektiven zu erfahren, an denen sich der Einsteiger in ein Fachgebiet schulen und der Experte sich seines Wissens versichern kann. Wer sich mit dem Klassiker auseinandersetzt steht, um ein von Robert K. Merton (1980) popularisiertes Bild zu verwenden, „auf den Schultern von Riesen“ und kann nur wegen ihrer Größe weiter sehen als sie selbst. Das Klassische symboli-siert in diesem Sinne überzeitliches Wissen von herausragender Güte, an dem

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sich der zeitgenössische Mensch mit Vertrauen orientieren kann. So heißt es im „Lexikon der Pädagogik“ von Roloff und Willmann zum Einsatz von klassischen Werken zum Zwecke der Volksbildung: „die Lektüre der Klassiker hebt (…) über das Alltägliche hinaus und veredelt Gemüt und Willen. Ihre Heldengestal-ten nehmen unwillkürlich gefangen und spornen zur Nacheiferung an“ (Schiel 1913, 1299). Klassische Werke fungierten als „Denkmäler der Vergangenheit“ (ebd.), und wer an diesen Bildungsmonumenten rührt, kann sich auch heute noch eines empörten Aufschreis sicher sein (vgl. Wilczek 2004).

Was hier für die Erziehung der Volksschüler empfohlen wurde und wird, gilt auch für die Wissenschaft der Erziehung: Klassiker verkörpern unstrittig erscheinende Wissensgehalte, die zwar anspruchsvoll und etwas angestaubt sein mögen. Aber die Auseinandersetzung mit ihnen lohnt sich, da sie über ihren (kulturellen, politischen, sozialen, biographischen, pädagogischen) Kontext hin-aus von Bestand sind. Sie repräsentieren Wissen, das nicht zu leugnen ist. Es mag in Einzelheiten überholt sein und hinter dem aktuellen Stand der Forschung zurück stehen und ist dennoch gemäß seiner basalen Perspektive und der durch sie aufgeworfenen Fragen von grundlegender Relevanz und deshalb längst nicht „überholt“. Als Basis aktueller Wissensentwicklung dient das klassische Wissen dazu, die Gegenwart neu zu verstehen, um mit anderen Mitteln und neuartigen Antworten auf das klassische Wissen aufzubauen. Klassiker sind in diesem Sinne „die Vorbildung des geistigen Lebens der Welt“ (L.v. Stein, zit.n. Roeder 1968, 239).

Auf einen ersten Blick mag es scheinen, dieses Verständnis des Klassischen sei für Disziplinen wie die Pädagogik nicht besonders attraktiv, da angesichts der Heterogenität ihrer Perspektiven und Orientierungen nicht von einem kontinuier-lich wachsenden unstrittigen Wissensbestand auszugehen ist. Die Zersplitterung pädagogischer Strömungen, die in jüngerer Vergangenheit zu immer vielfältige-ren Mischformen (quasi-)paradigmatischer Sichtweisen führte (vgl. Raithel u.a. 2005, 153ff), steht einem Kanon klassischen Wissens entgegen und delegitimiert seine Existenzberechtigung. Gleichwohl kann gerade vor diesem Hintergrund „das“ Klassische Anziehungskraft entfalten, da es Sicherheit verspricht und die „großen Namen“ gegen die fundamentale Beunruhigung gelesen werden können, die der Ausdifferenzierung pädagogischer Sichtweisen immanent ist, nämlich die, es handle sich um eine Ansammlung von Wissensoptionen, die auf kontin-gentem Boden gebaut sind. So warnte Spranger (1924, 312) angesichts des Ver-lustes unstrittiger normativer Referenzen in der Pädagogik, es sei um „die innere Gewißheit unseres Erziehungswillens schlecht bestellt“, solange das „alte Ge-sicht des Relativismus“ nicht überwunden sei. Sein Hinweis, Klassiker verkör-perten zeitlose Wahrheit und Werthaftigkeit, da sie den Test der nur historischen Gültigkeit bestanden hätten und „als dauernde Vorbilder in dem geistigen-

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geschichtlichen Lebensstrom“ wirkten (ebd., 314), ist angesichts einer grundle-genden Infragestellung von Erziehungsmöglichkeiten auch als Selbstberuhi-gungsversuch zu deuten.

Systematischer Zweifel ist dieser Klassikerposition allerdings durchaus ein-geschrieben. Wegen ihrer ahistorischen Qualität müssen Klassiker sorgsam aus-gewählt und bewusst eingesetzt werden. Irrtümer können aufgrund der Macht, die man dem Klassiker zuschreibt, fatale Folgen haben. Wer sich am Falschen orientiert, generiert möglicherweise fehlgeleitete und irrige Perspektiven und stattet sie auch noch mit dem Anspruch ahistorischer Wahrheit aus. Begründet durch die schlichte Tatsache, dass im Zeitverlauf eine wachsende Gruppe an Kandidaten zur Verfügung steht, die man mit dem Prädikat „Klassiker“ ausges-tattet werden können – und ein Ende dieses Wachstums gemäß der enormen Expansionstendenz des Wissenschaftsbetriebes (vgl. Weingart 2003) nicht abzu-sehen ist –, wird die Strittigkeit der Auszeichnung deutlich. Klassiker werden um so legitimationspflichtiger, je divergenter in Frage kommende Orientierungs-möglichkeiten sind und je mehr Personen potentiell in Frage kommen, um in den Kreis der Klassiker aufzusteigen. Deshalb sind Klassiker sorgsam auszuwählen und die Wahl zu begründen, während der Zweifel an ihnen bereits gesät ist.

Dass der Kreis an sich begrenzt sein muss, ist dabei vorauszusetzen, denn eine unüberschaubare Vielzahl an Klassikern, die je unterschiedliche Pädagogi-ken vertreten, zieht den Sinn des Klassischen in Zweifel. So komplex und vor-aussetzungsvoll ein klassisches Werk sein mag, der Rahmen des Klassischen muss begrenzt und geordnet sein, ansonsten wird es sinnlos. Aus diesem Grund besteht zwischen dem Klassischen und dem Kanonischen ein enger Zusammen-hang, wie Scheuerl (1979, 10) zurecht festhält.

Dieser Anschein des Kanonisierten kommt den pädagogischen Klassikern aber heute nicht mehr zu bzw. nur noch in beschränktem Maße und nur wenigen von ihnen. So eruiert Winkler (1994, 152) auf der empirischen Basis des Sonder-sammelgebietes Pädagogik der Universitätsbibliothek Erlangen, dass es im Sinne eines unstrittigen Konsenses „keine pädagogischen Klassiker gibt. Weder lässt sich ein eindeutig fixierter, verbindlicher Kanon an Texten, noch aber eine Gruppe von Autoren identifizieren, die für die Pädagogik als Disziplin oder Pro-fession zum unhintergehbaren Standardwissen gehören“.

In Beachtung dieses Befundes gerät die Annahme eines zeitlosen Klassikers in Erklärungsnöte, und ein pragmatisch gemeinter Hinweis Scheuerls zur Lösung des Auswahlproblems von Klassikern verliert gleichzeitig an Plausibilität. Scheuerl (1995, 158) schlägt vor, man könne Klassiker diagnostizieren, indem man aus der „Gesamtmenge historisch vorgefundener pädagogischer Literatur“ ausgeht, um in diesem Gesamtpool „die Höhepunkte, die Gipfel zu suchen und en détail zu erkunden, in Auseinandersetzung, Streit und Konsensversuch aus-

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zuwählen und sozusagen in ein imaginäres Gespräch miteinander zu bringen“. Klassiker sind diesem Verständnis nach diejenigen, die „eine pädagogische Posi-tion oder Idee möglichst präzise und prägnant“ darstellen, während realiter aller-dings nicht letztbegründend angegeben werden kann, warum bestimmte Positio-nen und Ideen ausgewählt und aus diesen wiederum bestimmte Vertreter als herausragend anerkannt werden. Selbst im Rahmen noch relativ – aber keines-wegs in sich – homogener geschichtlicher Strömungen erscheint dies aussichts-los, da plausibel zu machen wäre, wer beispielsweise ein „besserer“ oder „präzi-serer“ Herbartianer war: Ziller oder Stoy, Rein oder Lindner, Strümpell oder Sallwürk? Wäre derjenige dann ein Klassiker der Pädagogik? Von welcher War-te aus betrachtet, nur von der herbartianischen aus oder von welcher „modernen“ Richtung aus ließe sich dies legitimieren? Dissens also, wo Konsens herrschen sollte, um Klassiker auszumachen.

b) Der klassifizierte Klassiker

Angesichts des fehlenden Konsenses liegt es nahe, formale Bedingungen an-zugeben, unter welchen Voraussetzungen jemand zum Klassiker werden kann, d.h. die besondere Qualität eines pädagogischen Werkes muss bestimmten Re-geln gehorchen, um Anerkennung zu finden. Diese Tendenz liegt bereits im Begriff des „Klassischen“, das zunächst eine steuerliche Klassifizierung benann-te. Der „classicus“ verweist im Lateinischen auf einen Angehörigen der Bürger-klasse mit dem höchsten Steueraufkommen, daneben war teilweise dessen mili-tärischer Rang angesprochen (vgl. Winkler 1994, 154; Scheuerl 1995, 157). Eine Klassifizierung war dem Klassischen damit von Beginn an eingeschrieben.

Mit der Strittigkeit von Klassikern wurde offensichtlich, dass man sie in Abhängigkeit von normativen Vorbestimmungen definiert, und Klassifikations-versuche wurden (wieder) attraktiv. Es liegt nahe, nach dem Verlust der unhin-terfragten Auszeichnung einiger weniger Pädagogen als „Klassiker“ die Kriterien zu explizieren, die dieser Bestimmung zugrunde gelegt werden. In dieser Hin-sicht nennt beispielsweise Ulrich Herrmann (1995, 165) Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein pädagogischer Autor bzw. ein Pädagoge den Status des Klassikers erhalten kann. Dabei unterscheidet Herrmann grundlegend zwischen einem pädagogischen Klassiker, einem Klassiker der Pädagogik, einem Klassi-ker der Erziehungswissenschaft und einem Klassiker für die Pädagogik. Den hier relevanten „Klassikern der Pädagogik“ komme mindestens die besondere Eigen-schaft der Ordnung des pädagogischen Sehens und Denkens, der Präzisierung pädagogischer Begriffe und Konzepte und der Anregung relevanter Reflexions-prozesse zu. Gilt dies als Grundvoraussetzung, um in den Kreis der Klassiker-

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kandidaten zu gelangen, so werde zu einem Klassiker der Pädagogik nur derjeni-ge, der drei Kriterien erfüllt: Er müsse erstens eine besondere praktische Wirk-samkeit entfaltet, zweitens neue Denkmodelle aufgestellt und drittens konkrete und originäre Maximen von Erziehung bzw. Bildung formuliert haben.

Diese und ähnliche Kriterienkataloge, die in der Pädagogik und in anderen Disziplinen Anwendung finden, um Klassiker zu konturieren, erscheinen ange-sichts des Plausibilitätsverlustes von Vorgaben, die nur auf die besondere Quali-tät klassischer Werke Wert legen, sinnvoll und sie sind pragmatisch unverzicht-bar, wenn Klassiker vorgestellt werden. Dennoch verlängern sie nur die oben geschilderten Probleme. Solange Uneinigkeit besteht über einen paradigmati-schen Kern dessen, was „Pädagogik“ ausmacht und kennzeichnet, simulieren die Kriterienkataloge eine Scheinsicherheit, die über die normative Bestimmung von Klassikern nicht hinwegzutäuschen vermag. Nur durch einen Konsens darüber, was eine originäre Maxime der Erziehung respektive Pädagogik ist, was zurecht als neues pädagogisches Denkmodell gelten kann und welche Traditionen aus dem breiten Fundus historischer pädagogischer Denksysteme zu selektieren sind, wäre eine „objektive“ Bestimmung von Klassikern zu leisten. Dies hätte zur Vorsaussetzung, dass in der Pädagogik ein hegemoniales Paradigma über Erzie-hung und Bildung und ihr Verständnis vorherrschte, was nicht der Fall ist. Somit werden nicht nur auf Klassiker bezogene Klassifikationsversuche, sondern über-haupt Klassifikationen pädagogischen Wissens legitimationsbedürftig (vgl. Horn/Wigger 1994).

c) Der qualifizierte Klassiker

In jüngerer Vergangenheit wurde vor dem Hintergrund des Legitimitäts-schwunds von Klassikern ein anderes Verständnis wirkmächtig, das hier als „der qualifizierte Klassiker“ bezeichnet werden soll. Damit ist gemeint, dass Klassi-ker sukzessive kontextualisiert wurden, wobei mit Kontextualisierung nicht die geisteswissenschaftliche pädagogische Haltung angesprochen ist, die Klassiker in der Erziehungswirklichkeit als Träger eines spezifischen Impulses der Wirk-lichkeitserfahrung verortet und sie (nur noch) als Personen deutet, die eine Epo-che oder eine geschichtliche Strömung mehr als andere kennzeichnen. Ebenso wenig ist damit eine sozialgeschichtliche Kontextualisierung gemeint, die han-delnde Personen in gesellschaftlichen Strukturbezügen reflektiert. Es geht viel-mehr um die sukzessive ernster genommene Bedeutung der Rezeptionsgemein-schaft, die einen Klassiker erst als solchen auszeichnet.

Mit dem Bezug auf diese Gemeinschaft gelangt man zum anderen Ende des eingangs angesprochenen Kontinuums: Der Klassiker wird nicht mehr aus sich

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heraus und auch nicht auf der Basis spezifischer, von ihm erfüllter Kriterien als Klassiker identifiziert, sondern vorrangig auf der Basis von Merkmalen derjeni-gen, die ihn als Klassiker qualifizieren. Man geht von der Qualität zur Qualifizie-rung über und versteht als Klassiker den Autor, der erfolgreich – und meist ge-gen Widerstand – als Orientierungsgröße definiert werden konnte. Merkmale eines klassischen Werkes gelten nicht mehr als materiale Begründungen, die zur Konstitution des Klassikers führten, da sie als kontingente Auszeichnung ver-standen wird. Ein potentieller Klassiker legt ein Werk vor, aber ob dieses in der Folgezeit den Status des Klassischen erhält, ist nicht zu prognostizieren. In die-sem Sinne geht Treml (1997), dessen Ausführungen zur Klassikerkonstruktion trotz ihrer spezifischen theoretischen Begründung hier prototypisch für dieses Verständnis betrachtet werden, gemäß seiner evolutionstheoretischen Argumen-tation von einer (nahezu) unbegrenzten Optionsvielfalt („Variation“) aus. Ihr zufolge werden aus einem breiten Spektrum an Möglichkeiten durch „Selektion“ bestimmte Autoren gewählt. Durch wiederholte und zahlreiche Anschlüsse („Stabilisierung“) an ein Werk komme es zu dessen Kanonisierung und zur In-auguration des betreffenden Autors als Klassiker. Das Werk zeichnet sich nicht durch eine überragende Qualität aus, sondern durch formale Eigenschaften, die positiv auf die Rezipierbarkeit einwirken. Wer z.B. eine hohe Publikationsmenge aufweist, in Differenz zur Tradition argumentiert, deshalb auffällt und noch dazu mit breiten Sinnverweisungsoptionen operiert, vergrößert seine Chance, zu ei-nem Klassiker zu werden. Ob er dies faktisch wird oder nicht, liegt allerdings nicht vorrangig und inhaltlich begründet in seinem Werk. Der maßgebliche Ein-fluss liegt beim Publikum, bei den Rezipienten. Sie entscheiden über den Autor, der in ihrer Öffentlichkeit wahrgenommen und geschätzt wird, wobei Rezeption nicht gleichbedeutend ist mit fehlender Kritik. Im Gegenteil kann Kritik Interes-se an einem Autor hervorrufen und zu einer Stilisierung beitragen (vgl. Treml 1997) – eine These, die durch einen Blick in die Geschichte der Pädagogik ohne Zweifel als bestätigt gelten kann.

2 Von der Qualität zur Qualifizierung – und zurück?

Pointiert ausgedrückt lautet die grundlegende Frage: Produzieren Klassiker pä-dagogische Geschichte oder produziert die pädagogische Geschichte mit ihren je spezifischen Rezeptionskreisen Klassiker? Die These, einem klassischen Werk käme per se eine exzeptionelle Qualität zu, ist zu hinterfragen, so dass man einen Schritt weiter kommen mag, wenn die andere Seite reflektiert wird, die der Qua-lifizierung. Folgt man Tremls Klassikertheorie, dann wird die Qualität beinahe ausschließlich von den Rezipienten bestimmt. Insofern damit der genaue Gegen-

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pol zu der Annahme einer per se gegebenen Qualität eingenommen wird, ist zu fragen, ob die Qualität tatsächlich kaum ein Rolle spielt bei der Qualifizierung einer Klassikers.

Am Konzept der „Variation“ kann veranschaulicht werden, dass diese The-se zu bezweifeln ist. Treml geht von einer sehr breiten Variation möglicher An-schlussoptionen aus, d.h. es gibt zahlreiche Möglichkeiten, einzelne Autoren zu Klassikern zu erklären. Es ist aber in Rechnung zu stellen, dass die Variation nur unzureichend als solche bezeichnet werden kann, denn die Texte und Autoren, die in der Pädagogik wahrgenommen werden, zeigen stets besondere Kennzei-chen. Nicht jeder Text oder jede Aussage hat eine Option, wahrgenommen zu werden, da wissenschaftliche Aussagen Regeln gehorchen müssen, um auftreten zu können, und so ist das, was gesagt wird, regelhaft geordnet: Das Wissen einer Gesellschaft wird stets „gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen“ (Foucault 1991, 15). Wer Aussagen über Erziehung trifft und über Erziehung nachdenkt, muss beachten, wie er bestimmte Sachverhalte darstellt und wie sie bezeichnet werden. Er muss sich als Autor präsentierten und im zeitgenössischen Kontext Lösungen für Fragen des systematischen und zielbezogenen Einwirkens auf Menschen bereit halten, die anerkennungsfähig sind, sonst wird das von ihm Geschriebene entweder gar nicht erst veröffentlicht oder zumindest nicht rele-vant. Wer beispielsweise in einer Gesellschaft, die von Industrialisierung und sozialer Frage fundamental durchdrungen ist und um entsprechende Lösungen bemüht ist, zu Erziehungsfragen publiziert, der wird es schwer haben, auf Gehör zu stoßen, wenn er diese Themen ignoriert oder eine Pädagogik formuliert, die sich den Themenkreisen gegenüber sperrt. Er muss innerhalb des relevanten Problemkreises auftreten können und seinem Werk kommen spezifische Qualitä-ten zu – was nicht heißt, dass es früh eine herausragende Position einnehmen muss, um klassisch zu werden. Im Gegenteil waren viele der heutigen Klassiker der Pädagogik zu ihrer Zeit Außenseiter und sie wurden erst später als Klassiker gedeutet. Pestalozzis Scheitern ist legendär, ebenso stieß Herbart zunächst auf wenig Gehör, was auch für Schleiermacher zutrifft, und Wilhelm von Humboldt war zwar für kurze Zeit Quasi-Kultusminister in Preußen, aber sein Fragment über eine Theorie der Bildung und andere Publikationen schienen ihn keines-wegs als Klassiker der Pädagogik zu prädestinieren. Diesterweg war in seiner Zeit zwar im Kontext der liberalen Pädagogik anerkannt, auf das Ganze bemes-sen aber stand seine Pädagogik insbesondere dem politischen Zeitgeist entgegen. Und Comenius’ – um nur noch ein Beispiel zu nennen – Ausführungen zu Erzie-hung und Didaktik sind tief in einer spezifischen theologischen Haltung verwur-zelt und durch sie begründet, so dass es ihn voraussichtlich überrascht hätte, wäre ihm mitgeteilt worden, er würde eines Tages – und noch dazu relativ un-strittig – als Klassiker der Pädagogik gedeutet.

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Dennoch legten die Genannten in Auseinandersetzung mit Problemen ihrer Ge-genwart Stellungnahmen zu Erziehungsfragen vor und positionierten sich ent-sprechend. Diese Autoren und spezifische Eigenschaften ihrer Werke wurden später aufgegriffen, indem zu diesen Vorgaben in aller Regel selektiv vor dem Hintergrund wiederum spezifischer Problemlagen Verbindungen hergestellt wurden. Etwa Pestalozzis Scheitern und sein unermüdlicher Neuanfang wurden zum Symbol pädagogischer Professionalität, während seine Methode im Zeitver-lauf an Relevanz verlor und die pietistischen und sozial-ständischen Anteile seiner Pädagogik meist ignoriert wurden; Herbarts Pädagogik wurde ihrer Schul-kritik entkleidet und spiegelbildlich zur Pestalozzi-Rezeption v.a. dem Bedürfnis einer Nachfrage nach Methodenkompetenz eingepasst. Schleiermacher konnte „klassisch“ werden, da gegen Ende des 19. Jahrhunderts Interesse an einer Päda-gogik bestand, die vor kontingenten anthropologischen und ethischen Orientie-rungen im Erziehungskontext nicht zurückschreckte, sondern sie konstruktiv aufnahm, und die gleichzeitig Raum ließ für historisch aufgeklärte, die „Dignität der Praxis“ respektierende pädagogische Reflexionsarbeit usw.

Somit ist es zwar richtig, dass Klassiker durch die Rezeption entstehen, aber weder ist die Variation zufällig, die entsprechenden Auszeichnungen zugrunde liegt, noch der spätere selektive Anschluss an die Vorgaben einzelner Autoren. Klassikerkonstruktionen gehorchen Regeln, Interessen und ungleich verteilter Definitionsmacht, in deren Rahmen die Qualität eines Werkes zum Tragen kommt – man kann sogar sagen: in deren Rahmen sie erst als solche geschaffen wird. Unwichtig ist sie deshalb aber nicht.

Die Etablierung von Klassikern erscheint in ihren grundlegenden Bedin-gungen folglich weniger rätselhaft, als es auf den ersten Eindruck erscheint, wenngleich die Nachzeichnung dieses Prozesses vielschichtig zu führen ist und komplexe Variablen zu bedenken sind. Fasst man sich kurz, so ist zu konstatie-ren, dass Klassiker sowohl „in der Rezeption“ leben, als auch von einer besonde-ren „Anregungskraft des Themas“ (Tenorth 2003, 12) auszugehen ist, „das sie verkörpern“.

Eine Rückkehr zur oben kritisierten Annahme einer werkimmanenten Qua-lität, die für die Definition eines Klassikers verantwortlich zu machen wäre, ist damit nicht angesprochen. Ein Klassiker wird zu einem solchen nur durch die Interessen einer Rezeptionsgemeinschaft und durch ihre Diskursregeln. Sie er-klärt ihn zu einem Klassiker aufgrund ihres spezifischen Verständnisses von Erziehung und Bildung bzw. Pädagogik, aufgrund ihrer Artikulationsfähigkeit und Definitionsmacht sowie auf der Basis der Interessen, für die sie ihn in An-spruch nimmt. In diesem Kontext stehen die Qualität eines Werkes und seine besonderen Eigenschaften.

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Klassiker symbolisieren damit Beziehungen, die zwischen einer rezipierenden Gemeinde mit ihren Bedarfslagen und Besonderheiten auf der einen, und einem Werk, das spezifische Anschlussoptionen beinhaltet, auf der anderen Seite auf-gebaut werden. So betrachtet sind Klassiker nichts anderes als in der Zeit geron-nene Kristallisationen und Rückprojektionen des pädagogischen Diskurses,durch die er sich selbst fortschreibt und sich personalisierte „Denkmäler“ setzt. Der pädagogische Diskurs konstituiert in den Klassikern Problemlagen und Lö-sungsperspektiven, die für relevant und charakteristisch gehalten werden und an denen künftige Generationen nicht vorübergehen können (und sollen).

Klassiker resultieren aus der Kontinuität thematischer Auseinandersetzun-gen (vgl. Schröer/Zilleßen 1989, 5). Von einem Klassiker als „Klassiker“ zu sprechen, bedeutet deshalb, nicht nur von einem pädagogischen Autor und sei-nem Werk zu sprechen, sondern von einer Relation von Werk, Person des Klas-sikers und rezipierender (Fach-)Öffentlichkeit. Von dem – in der Regel nicht homogenen – Standpunkt der Rezipienten aus betrachtet, ist der Klassiker „tat-sächlich“ mit einer besonderen Qualität ausgestattet. Sein Werk kann als unver-zichtbares Mittel verstanden werden, um sich „der“ Pädagogik zu nähern, wäh-rend es faktisch ein Mittel ist, mit dem die Rezipienten sich ihres Verständnisses von Pädagogik (bzw. Erziehung, Bildung und der Reflexion über sie) versichern. Gelingt es, wiederholt und mehr oder weniger kontinuierlich einen Autor zu einem Klassiker zu erklären, so wird er kanonisiert und ihn bei einer Erörterung der pädagogischen Geschichte außer acht zu lassen, wird immer schwieriger, weil man dann die Gefahr auf sich nähme, nicht als kompetent zu gelten. Dies kann bis zu der Konstitution von „Überklassikern“ (Euchner 1991, 13) führen, wie sie Euchner am Beispiel von Klassikern der Sozialismus in Marx und Engels erkennt. Für die Pädagogik wäre zunächst etwa an Pestalozzi und Rousseau als gleichsam „klassische Klassiker“ zu denken. Auf sie hat man sich in der Ge-schichte pädagogischer Klassikerkonstruktionen in hohem Maße geeinigt, da sie Problemstellungen thematisierten, die in der Pädagogik immer wieder als rele-vant und aufschlussreich anerkannt wurden.

Durch derartige Kanonisierungen kann einer Ausdifferenzierung pädagogi-scher Sichtweisen und Strömungen entgegen gewirkt werden und gegen sie ein Mindestmaß an disziplinärer Selbstvergewisserung demonstriert und gewonnen werden. In diesem Sinne sind Klassiker, wie Winkler (1994; 2001) postuliert, auf den disziplinären Diskurs und auf Funktionen, die sie in ihm wahrnehmen, zu referenzieren. So werden Klassiker in der aktuellen Unübersichtlichkeit der Pä-dagogik zwar unwahrscheinlicher, da eine Einigung auf einen Konsens „des“ Pädagogischen und zentraler pädagogischer Fragestellungen mit wachsender Wissensdivergenz undenkbarer wird. Gleichwohl generieren Klassiker vor einem derartigen Hintergrund Sicherheit; sich an ihnen zu orientieren, kann angesichts

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einer unübersichtlichen Optionenvielfalt Komplexität reduzieren im Sinne einer Selbstvergewisserung des pädagogischen Diskurses und im Sinne von Hinweisen auf Positionen und Sachverhalte, die mit einiger Sicherheit in der Pädagogik als relevant erachtet werden (und wurden). Da dieser aktuelle Diskurs nie abge-schlossen ist, müssen Klassiker immer neu bearbeitet und erschlossen werden. Über sie und über mögliche Klassikerkandidaten werden Konflikte über alterna-tive und neue Denkmöglichkeiten des Pädagogischen ausgetragen, durchaus zuweilen auch in subversiver Absicht. So muss der Gehalt des Klassischen in steten Neuanläufen bestimmt werden; mit einer Änderung des pädagogischen Selbst- und Bildungsverhältnisses muss auch „der legitime Ort des Klassischen“ (Döring 1934, 130) auf veränderte Weise konturiert werden.

3 Die Person des Klassikers

Warum operiert diese Konturierung durch personalisierte Askriptionen? Weshalb kam in der Geschichte der Pädagogik überhaupt Interesse an Klassikern auf, wenn im Grunde von differenten Problemkomplexen auszugehen ist, an denen sich der pädagogische Diskurs abarbeitet? Denn Klassiker erscheinen trotz ihres mitunter zu bemerkenden Scheiterns zuallererst als „herausragende Persönlich-keiten“ oder als „vorbildliche Menschen“ (März 1988, 9), die von ihrem Werk nicht zu trennen sind. Man kann sogar sagen: Einige Texte werden nur relevant, weil sie einem bestimmten Klassiker als Autor zugeordnet werden können, und nicht aufgrund eines besonderen, aufschlussreichen Inhalts. Dies ist leicht an einer fiktiven Situation zu exemplifizieren: Nehmen wir an, ein historischer Bildungsforscher findet einen bislang unbekannten Brief des pädagogischen „Urklassikers“ Pestalozzi. Was ist das Besondere an dem Brief? Sein Inhalt oder die Tatsache, dass er von Pestalozzi stammt? Es dürfte kein übertriebener Speku-lationsaufwand sein zu behaupten, dass der Brief vorrangig deshalb bedeutsam wäre, weil er von Pestalozzi stammte, selbst wenn sein Inhalt ohne größeren Belang wäre. Die Pestalozziforschung müsste ihn von nun an bedenken, künftige Werkausgaben hätten den Brief zu berücksichtigen und sein Entdecker wäre mit dem Ruhm ausgestattet, ein Schriftstück aufgespürt zu haben, das Generationen von Pestalozziforschern entgangen war. In anderen Worten überstrahlte der ü-bermächtige Autor bei weitem die Relevanz des brieflichen Inhalts. Warum also werden nicht nur Fragestellungen, Texte, Aufgaben und (un-)geklärte Probleme tradiert, sondern eben Klassiker als Personen?

Hierzu sind Befunde des Wissenssoziologen Ludwik Fleck zu bedenken. Er bemerkte, dass wissenschaftliche Entdeckungen, die er im Bereich der Medizin näher analysierte, in der Regel von Forschungsgemeinschaften gemacht werden,

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er sprach von „Denkkollektiven“ (Fleck 1980). Dennoch herrsche, wie Fleck ironisierte, eine Art von „veni-vidi-vici-Erkenntnistheorie“ (ebd., 114) vor, der-zufolge ein einzelner Forscher auf der Basis seiner individuellen Anstrengung und Reflexion eine Entdeckung mache. Im Bereich der Klassikerdiskussion ist diese Deutung alles andere als abgelegt, da der Klassiker aufgrund der besonde-ren Persönlichkeit, die ihm zugesprochen wird, eine personale Mystifizierung plausibel macht. Sie steht der Tatsache entgegen, dass sich oftmals nachweisen lässt, dass ein Klassiker mit Problemen befasst war, die für seine Zeit charakte-ristisch waren, und er ohne den Gedankenaustausch mit Personen, die ebenfalls an diesen Problemen arbeiteten, „seine“ Lösung nicht hätte finden können. Die Originalität eines Klassikers verschwindet teilweise hinter einer kollektiven Leistung und Denkbewegung und in diesem Sinne kratzen Kontextualisierungen eigentümlich am Bild des Klassikers. Er verliert den Nimbus des Zeitlosen, wenn er in „seiner“ (Erziehungs-)Wirklichkeit verortet wird.

Angesichts der besonderen Bedeutung von Personalisierungen hat man in ihnen weniger eine Randerscheinung als eine zentrale Funktion von Klassikern zu sehen. Klassikerkonstruktionen stellen Personen und Personalisierungen be-reit, mit denen bestimmte Funktionen verbunden sind. Die folgenden Funktionen scheinen von besonderer Bedeutung zu sein, wenn Klassiker als Menschen be-dacht werden:

1. Klassiker erleichtern den didaktischen Zugang zu mitunter komplexen Prob-lemen. Sie ermöglichen Interpunktionen und stellen klar umrissene Bezugs-punkte her wie die Lebensspanne einer Person, ihre Interessen, Verschie-bungen thematischer Auseinandersetzungen usw.

2. Eine ideengeschichtliche Historiographie tendierte zu einer dekontextuali-sierten, hagiographischen Wahrnehmung von Personen, die sich einem Problem mit besonderer Intelligenz und Schöpfungskraft anzunehmen scheinen. Es ist der Mensch, der denkt, und wer unter den Denkern seiner Zeit herausragt, wird zum „Fall“ der Ideengeschichte. Epochen wurden auf diese Weise durch „herausragende Geister, in denen das neue Denken auf den Begriff gebracht und verkörpert erscheint“ (Böhme 1990, 59), be-stimmt. Klassiker konstituieren damit pädagogische Zeit.

3. Klassiker markieren als Personen Grenzpunkte disziplinärer und professio-neller Zuständigkeit. Sie können, sofern sie bekannt genug sind, im kultu-rellen Diskurs leicht erkannt und verortet werden, während sie dem Einge-weihten schon durch die Nennung des betreffenden Namens als Zuord-nungskriterium dienen, mit dem man sich zu erkennen gibt. Ein Zitat von Luhmann, Pestalozzi, Rogers oder anderen dient als Hinweisreiz, bei dem schnell und z.T. ohne näheren Reflexionsaufwand Zustimmung oder Ableh-

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nung mobilisiert wird. Klassikernennungen sind in diesem Sinne strategi-sche Markierungen.

4. Für die Pädagogik besonders wichtig ist, dass Personen stets Einheiten resp. einheitliche „Systeme“ symbolisieren. Eine Person erscheint als etwas Ge-schlossenes, Ganzheitliches, als eine logische und in sich mehr oder weni-ger stimmige Ganzheit, sie weist eine Haltung und Gesinnung auf. Es geht um den ganzen Menschen, mit seinen rationalen und irrationalen Anteilen, und so kann selbst der Nachweis eines Irrtums den Klassiker nicht beschä-digen, da er sich „als Mensch“ auch zu irren vermag.

5. Klassiker bieten den Vorteil einer Legitimierung des Rezipienten und seiner Haltung: Klassikerkonstruktionen statten vordergründig den Rezipierten mit Anerkennung aus, während faktisch eine spezifische Position ausgewiesen wird. Der für die Klassikerauszeichnung verantwortliche Kreis an Rezipien-ten verschwindet gleichsam hinter dem Klassiker, denn es sind scheinbar nur dessen Erkenntnisse, die präsentiert werden, während die Frage, warum ausgerechnet er und seine spezifischen Wissensbestände mitgeteilt und dis-kutiert werden und nicht etwa konkurrierende, ausgeblendet werden kann. Erst die jüngere Forschung nimmt die reflexive Frage der Klassikerkon-struktion systematischer auf.

6. Es ist der wissenschaftssoziologische Befund in Rechnung zu stellen, dass es in der Wissenschaft kaum Vabanquespiele gibt. Ein Klassiker erlaubt es, die Neuartigkeit von Positionsbestimmungen im disziplinären Diskurs zu balancieren. Durch seine Autorität belegt er, dass etwas „sicher“ gewusst werden kann, und sich an ihm zu orientieren macht es Erfolg versprechend, nach Expansionsmöglichkeiten des Wissens zu forschen, das von sicherem Boden aus erreicht werden kann (vgl. Dollinger 2006, 275ff). So macht blo-ße Originalität kaum berühmt. Im Gegenteil: Sie dürfte es erschweren, an-erkannt zu werden, solange sie nicht wohldosiert und überzeugend mit Wis-sen kombiniert ist, das an anerkannte ältere Wissensbestände anschließt. Der Klassiker symbolisiert mit der Wucht seiner personalen Autorität die Legitimität des Wissens, an das man sich wendet und auf dem man aufbaut.

4 Der thematische Fokus des Bandes

Die vorausgehenden Ausführungen sollen genügen, um ein kritisches Klassiker-verständnis anzudeuten. Es soll nicht die Bedeutung von Klassikern anzweifeln, aber an ihrem Nimbus des Ahistorischen ein wenig kratzen. Das Klassikerprinzip zu Fall zu bringen wäre übertrieben, und nach den notwendigen historiographi-schen Kontextualisierungsbemühungen der Vergangenheit nicht mehr von Klas-

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sikern zu sprechen, wäre überzogen, denn an ihrer Relevanz für den und im pä-dagogischen Diskurs besteht kein Zweifel.

Zu bedenken ist allerdings, dass „der“ pädagogische Diskurs aus einzelnen Sichtweisen und Strömungen faktisch heterogen aufgebaut ist, im Sinne Flecks ist von konkurrierenden oder mehr oder weniger kooperierenden Denkkollekti-ven zu sprechen. Klassiker der Pädagogik benennen Schnittstellen dieser Kollek-tive bzw. Strömungen, indem sie markieren, was gewusst oder besser: gefragt werden muss, sie streben folglich nach Generalisierung. Spezifische Klassiker, die auf einen Teilbereich der Pädagogik und des pädagogischen Wissens bezo-gen werden, stehen dem in einem relativierten Geltungsdrang entgegen. Ihr An-spruch ist bescheidener, aber der Vorteil liegt darin, die Auswahl von Klassikern überzeugender begründen und einen Konsens auf höherem Niveau anstreben zu können. Dem wird hier insofern zu entsprechen gesucht, als Klassiker ausge-wählt wurden, in deren Werk die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel und dem Phänomen der Modernisierung eine herausragende Stellung einnahm.

Es wird damit eine Schwerpunktsetzung verfolgt, die der besonderen Auf-gabe nachgeht, die für die Pädagogik aus dem Prozess des schrittweisen „allge-meinen Fraglichwerdens gesellschaftlicher Normen und Konventionen“ (Benner 2001, 15) resultierte. Schleiermacher bezeugt im Besonderen die hohen Anforde-rungen an pädagogische (Selbst-)Reflexion, die mit diesem Vorgang verbunden waren. Zugleich deutet er in Hinweisen auf Platons „Staat“ an, welche Fragen sich aus pädagogischer Sicht nun vehement zu stellen begannen. Ein Staat, so warf er Platon vor, könne nicht als isoliertes, statisches Gebilde gedacht werden (vgl. Schleiermacher 2000, 35). Ungleichheiten zwischen den Mächtigen und den Gehorchenden ferner in der Art und Weise festzuschreiben, wie es im „Staat“ geschehe, sei zeitgenössisch unbefriedigend. Ein Staat sei nicht mehr als das bestimmende Gebilde im Leben der Menschen zu denken, und auch ethische und anthropologische Vorgaben, wie sie Platon unterstelle, seien zu hinterfragen, da weder in der Ethik noch in der Anthropologie zweifelsfreie Erkenntnisse zur Verfügung stünden. In anderen Worten war man mit grundlegender Unsicherheit konfrontiert: Das System politischer und sozialer Ungleichheit war im Wandel begriffen; die Gesellschaft differenzierte sich in einzelne Teilbereiche; Staaten standen in Wechselwirkung und auf unumstößliches Wissen aus Anthropologie und Ethik war nicht ohne weiteres zurückzugreifen. Wegen dieser Schwierigkei-ten war Erziehung neu zu denken und sie stand im Mittelpunkt der Bearbeitung der neuen gesellschaftlichen Situation, denn, wie Schleiermacher (2000, 36) annahm, „es ist die Theorie der Erziehung das Prinzip, wovon die Realisierung aller sittlichen Vervollkommnung ausgehen muß“.

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Dies liefert nicht nur eine Begründung, warum Schleiermacher aus dem Kreis der nachfolgend beschriebenen Klassiker nicht wegzudenken ist, sondern es ist angesprochen, dass mit der Konstitution der modernen Gesellschaft spezifische pädagogische Aufgaben assoziiert waren. Dies zu betonen liegt im Interesse des vorliegenden Bandes. Es wird gezeigt, dass die Pädagogik zentrale Frage- und Problemstellungen durch die Auseinandersetzung mit entsprechenden Krisener-fahrungen gewann (vgl. Benner 1994). Hierauf ist die Doppelbedeutung des Untertitels des vorliegenden Sammelbandes bezogen: Bildung nahm in der mo-dernen Gesellschaft eine bestimmte Qualität an und sie ist vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels zu verstehen als Bildung in der modernen Gesell-schaft. Zugleich wurde der Wandel selbst durch Bildungsprozesse (mit-) geprägt und fundiert, so dass die modernen Lebenszusammenhänge durch Bildungspro-zesse im Sinne einer Bildung der modernen Gesellschaft verändert wurden.

Die Klassiker wurden mit Blick auf diesen thematischen Fokus ausgewählt. Dies ist eine zwingend normative Selektion, die mit Klassikervorstellungen stets verbunden ist, wenn man diesen Begriff nicht ad absurdum führen und eine his-torische pädagogische Gesamtschau rekonstruieren will. Es ist zu hoffen, durch das oben Gesagte und durch die Erhellung des thematischen Bezugs die Auswahl nachvollziehbar zu gestalten, zumal angesichts des begrenzten Umfangs des Bandes durchaus schmerzliche Selektionen unvermeidlich waren. Man könnte gute Argumente finden, um das Fehlen des/der einen oder anderen zu monieren. Etwa Comenius, Locke, Dilthey, W.v. Humboldt, Owen, Montessori, Makarenko und andere werden möglicherweise vermisst und sie hätten durchaus wichtige Aspekte in dem Band zur Sprache gebracht. Dennoch wurden sie nicht bedacht, um der geschilderten Schwerpunktsetzung gerecht zu werden und um innerhalb dieses Rahmens möglichst kontrastierende Positionen erschließen zu können. Dieses der qualitativen Sozialforschung entstammende Prinzip (vgl. Kluge/Kelle 1999; Lamnek 2005; Mertens 2003) kann dazu beitragen, Erkenntnisse und Re-flexionen gerade durch die Heterogenität der vorgestellten Sichtweisen anzure-gen. (Mögliche) Kontinuitäten pädagogischen Denkens werden so nicht voraus-gesetzt, sondern als (denkbare) Ergebnisse des Studiums einzelner Annäherun-gen rekonstruierbar.

Aus didaktischen Gründen und um den Prozesscharakter der Entwicklung pädagogischer Fragestellungen im gesellschaftlichen Kontext zu betonen, wur-den die Klassiker in vier Zeitabschnitte gruppiert. Der erste Teil geht den Erfah-rungen nach, die mit der Herausbildung der modernen Pädagogik verbunden waren und die entsprechende Grundlagenarbeit betrieben. Dies gilt im Besonde-ren für Jean- Jacques Rousseaus provokative Vorgaben, die nach wie vor konträr diskutiert werden. Rousseaus Auslassungen zum „contrat social“ verdeutlichen unmittelbar, zumal sie direkt dem Erziehungsroman „Emile“ eingeschrieben

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sind, die Frage der Optionen von Erziehung außerhalb ständischer Bindungen und politischer Bevormundung. An Johann Heinrich Pestalozzi wird man diese moderne Problemstellung so nicht ganz wieder finden, und doch gilt der „Über-klassiker“ Pestalozzi als derjenige, der die Nebenfolgen der Modernisierung erst nachhaltig im pädagogischen Bewusstsein verankerte. Neben dem bereits er-wähnten Friedrich Schleiermacher ist ferner Johann Friedrich Herbart zu be-rücksichtigen, dessen über Fragen (und Kritiken) schulischer Unterrichtung deut-lich hinausgreifendes Interesse an systematischer Pädagogik nur zu verstehen ist, wenn seine Sensibilität für die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen bedacht wird, die er schon als junger Gymnasiast besorgt artikulierte.

Die elementaren Fragen, mit denen die Genannten die Pädagogik beauftrag-ten, fanden in der Folgezeit eine Erweiterung, denn erst nach ihnen kam es in Deutschland zum vollen Einsatz der Industrialisierung. Hiervon ist im zweiten Teil des Buches die Rede. Das besondere pädagogische Interesse für Industriali-sierungsfolgen und für eine Reflexion von Erziehungsprozessen im Kontext sozialer Reformbemühungen symbolisiert eindringlich Adolph Diesterweg. Die anschließende Vorstellung „des“ Herbartianismus, dessen Relevanz in der Ge-schichte der Pädagogik in den letzten Jahren wieder in Erinnerung gerufen wur-de, wählt zur personalisierten Darstellung Karl Volkmar Stoy und Otto Will-mann. Es wird gezeigt, dass „der“ Herbartianismus zum einen eine heterogene Strömung war und zudem keineswegs nur auf Schulerziehung fixiert war, wie zuweilen unterstellt wird. Paul Natorp steht für den Versuch, eine soziale Päda-gogik auf gemeinschaftlicher Basis zu konzipieren und die Pädagogik im Rück-griff auf pädagogische Leitfiguren neu auszurichten.

Im dritten Teil werden Klassiker vorgestellt, die nach einem Jahrhundert der Expansion des öffentlichen Erziehungssystems auf pädagogischen Reformbedarf drangen. „Die“ Reformpädagogik machte dies zu ihrem Kernanliegen; angesichts der ihr zugeschriebenen besonderen Bedeutung wird sie als Epoche diskutiert und auf ihren Klassikerstatus hin befragt. John Dewey als Vertreter einer prag-matisch-philosophischen Richtung stellte sich im Besonderen den demokratie-theoretischen Herausforderungen der Moderne. Herman Nohl galt lange Zeit als herausragender Interpret reformpädagogischer Strömungen; er suchte durch das Mittel der Erziehung neue Orientierungsmöglichkeiten angesichts kultureller Fragmentierungs- und Krisenerfahrungen zu erschließen. Den Provokateur Sieg-fried Bernfeld mit seiner eigenständigen pädagogischen Position kann man in-nerhalb des vorliegenden Bandes als Übergang betrachten: So wie Bernfeld selbst dem pädagogischen „Mainstream“ gegenüber distanziert blieb und zu dessen wichtigem Kritiker wurde, auf den in der Folgezeit in kritischer Absicht immer wieder Bezug genommen wurde, so waren Klassiker insgesamt oftmals

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Außenseiter, die erst zu späteren Zeitpunkten „entdeckt“ und nach ihrem Anre-gungspotential befragt wurden.

Der vierte Teil sucht dem gerecht zu werden, indem er das erwartete Terrain verlässt. Während sich bei Klaus Mollenhauer Tendenzen abzeichnen, ihn als Klassiker der Pädagogik wahrzunehmen (für die Sozialpädagogik vgl. Niemeyer 2005), ist dies bei Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann noch nicht im gleichen Maße abzusehen, auch wenn Foucault und Bourdieu internati-onal immerhin zu den 50 „most significant contributors of modern times to the debate on education“ gezählt werden (Palmer 2001, Umschlagtext). Ausgehend von den Hauptströmungen pädagogischen Wissens waren sie alle drei Querden-ker, da sie originäre Deutungen von Erziehung und Bildung vorlegten, die kein geringes Provokationspotential besitzen. Sie als Klassiker der Pädagogik zu bezeichnen, muss um so mehr gewagt erscheinen, als keiner der drei Pädagoge im formalen Sinne war, sondern ein Philosoph neben zwei Soziologen steht. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass Klassiker zu ihrer Zeit dies stets auch waren: Provokateure, die durch ihren ungewöhnlichen und Denkgewohnheiten durcheinander bringenden Blick neue Perspektiven ermöglichten. Hiervon be-richtet nicht zufällig die Technikforschung: „Pioniererfindungen“ stammen in der Regel nicht von eingefahrenen Traditionen, sondern von „Außenseitern“ (Dierkes 1993, 272). Wer nur den herrschenden Strömungen nachfolgt, legt kaum bahnbrechende Neuerungen vor und seine Chance, später zu einem Klassi-ker ernannt zu werden, ist restringiert. Somit sind die Autoren, die im vierten Teil des Buches genannt werden, am besten als Angebote für Klassikerkonstruk-tionen zu verstehen und noch nicht als Klassiker im engeren Sinne. Sie vermö-gen in besonderem Maße zu zeigen, dass die Beschäftigung mit Klassikern alles andere ist als Reflexionsarbeit in konservierender Absicht, sondern mitunter überraschende Einsichten bietet und zu neuen Erkenntnissen zu verhelfen ver-mag. Die Auseinandersetzung lohnt sich also.

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I. Die Konstitution der modernen Gesellschaft

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Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) Über die Kunst der Erziehung zur moralischen Freiheit in der entfremdeten Welt

Otto Hansmann

1 Einleitung

Mit Recht gilt Jean-Jacques Rousseau als einer der herausragenden Vertreter neuzeitlicher Pädagogik an der Schwelle zur Moderne. In beispielloser Weise zieht er Gesellschaft und Kultur des 18. Jahrhunderts vor den Richterstuhl kriti-scher Vernunft. Die Berechtigung dazu nimmt er aus der unmittelbaren Erleuch-tung eines ursprünglichen Naturzustands des Menschen – eines Menschen ohne soziale Bindung, ohne Sprache, ohne Kultur, aber eben auch ohne Eitelkeit, ohne Neid, ohne Falsch, kurzum: ohne Widerspruch zwischen Sein und Schein.

Was bringen diese Unterscheidungen? Sie lassen sich ausschärfen auf der Grundlinie eines gedanklichen Experiments, welches Rousseau mit der Frage einleitete: «Was hätte aus dem Menschen werden können, wenn er isoliert von seinesgleichen unter der Ordnung der Natur gelebt hätte?» Dieses gedankliche Experiment befähigt dazu, die Prinzipien der Unabhängigkeit und der Freiheit inmitten einer entfremdeten Welt nicht nur begrifflich fassen sondern zugleich auch fühlen zu können. Damit hat Rousseau zwei Anhalte für eine folgenreiche Reflexion gefunden: „Kritik und Krise“ (Koselleck 1973). Beide Anhalte brach-ten Rousseau in die Position eines Skeptikers der neuzeitlichen Aufklärung.

Für die soziale Erziehung zeichnet sich auf dieser Grundlinie ein Weg der Bildung des theoretischen, des praktisch-moralischen und des religiösen Urteilsab, der nicht in der affirmativen Aneignung kultureller Überlieferung endet, sondern Prinzipien moralischer Freiheit anvisiert, welche geeignet sind, die überlieferte Kultur zu erneuern. Und moralische Freiheit grundiert die Reflexivi-tät menschlichen Handelns, eine unausweichliche Voraussetzung für die Bildung moderner Gesellschaft.

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2 Lebensverlauf

Am 28. Juni 1712 erblickte Jean Jacques (JJ) als zweiter Sohn des Uhrmachers Isaac Rousseau und seiner Ehefrau Suzanne Bernard in Genf das Licht der Welt. Wenige Tage darauf, am 7. Juli, verstarb seine Mutter. Obgleich JJ ohne Mutter aufwuchs – in seinen „Bekenntnissen“ bezeichnete Rousseau diesen Verlust als „mein erstes Unglück“ (OCP, I, 7) – erlebte er eine glückliche Kindheit im Kreis seiner Verwandten, der Freunde der Familie und der Nachbarn (vgl. BEK, 14). „Ich fühlte, ehe ich dachte.“ (BEK, 12)

1722, im Oktober wurde JJ zusammen mit dem gleichaltrigen Sohn seines Onkels Bernard beim Prediger Lambercier, dessen Schwester den Haushalt führ-te, in Bossey, einem Dorf vor den Toren Genfs, zur Erziehung in Kost und Woh-nung gegeben.

Von 1724 – 1728 unterzog sich JJ handwerklichen Lehren, die er nicht ab-geschlossen hat. Danach schlug er sich mit der Empfehlung eines katholischen Geistlichen nach Annecy durch, wo ihn Mme de Warens aufnahm.

1728, am 21. April trat JJ mehr aus Verlegenheit denn aus tiefster Überzeu-gung – „Ich war zwar nicht gerade fest entschlossen, katholisch zu werden, aber da ich den Zeitpunkt noch fern sah, hatte ich eine Frist, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen…“ (BEK, 67) – in Turin zum Katholizismus über, wodurch er die Bürgerschaft Genfs verlor. JJ kämpfte sich ein Jahr lang als Hausdiener durch und kehrte danach zu Mme de Warens zurück, die er liebte und wie seine schmerzlich vermisste Mutter verehrte.

1740 nahm JJ die Stelle eines Hauslehrers bei der Familie de Mably in Lyon an. Er hatte zwei Zöglinge von sehr verschiedenem Charakter zu erziehen. „Ich hatte ungefähr die für einen Erzieher nötigen Kenntnisse und glaubte, auch das Talent dazu zu haben.“ (BEK, 264) Doch es ging schief:.„Ich sah alle meine Fehler, ich fühlte sie; (…) Aber was nutzte es mir, das Übel zu sehen, ohne das Mittel anwenden zu können? Während ich alles durchschaute, verhinderte ich nichts, ich hatte in nichts Erfolg, und alles, was ich tat, war gerade das, was ich nicht hätte tun sollen.“ (ebd.) Er entwickelte einen Erziehungsplan. Nach etwa zwei Jahren warf er das Handtuch.

JJ, mit 30 Jahren mittlerweile der zweiten Kindheit, also der Jugend, ent-wachsen – fortan nicht mehr mit JJ sondern mit Rousseau (R) markiert – machte sich nach Paris auf, suchte und fand Anschluss an die gesellschaftliche Kommu-nikation, die zunehmend von der Idee der Aufklärung erfasst wurde, die sich in unterschiedlichen Erscheinungsformen zu einem „kollektiven Bewusstseinspro-zess von gesellschaftlich relevanten Ausmaßen“ (Gumbrecht 1981, 4) ausschärf-te. R verkehrte in den sozialen Kreisen der Aufklärung. Er entwickelte ein neues Notensystem, das er der Akademie der Wissenschaften unterbreitete. Auf skepti-

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sche Einlassungen zu seiner Erfindung reagierte er mit der Ausarbeitung einer „Dissertation sur la musique moderne“ (Abhandlung über die moderne Musik), wofür er einen Verleger fand. Damit galt er zwar nicht mehr als ein Nobody in den literarischen Zirkeln, aber sein Bedürfnis nach sozialem Ansehen war noch nicht gestillt. Schließlich konnte er mit seiner Herkunft aus dem Handwerkermi-lieu keinen Glanz verbreiten, denn wer seinen Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit bestreiten musste, dem fiel in der ständischen Gesellschaftsordnung des Ancien Régime geringstes Ansehen zu (Mager 1980, 74/75).

Ab 1745 ist seine Verbindung mit der damals 23 Jahre alten Wäscherin Thérèse de Vasseur belegt, die er 1768 heiratete. Aus dieser Verbindung gingen ab 1746 fünf Kinder hervor, die er ins Waisenhaus brachte, was ihn sein Leben lang belastete und nicht zuletzt auf Grund von Vorhaltungen zu verschiedenen Rechtfertigungen veranlasste, die er in seinen Bekenntnissen niederschrieb: „Ich schauderte, sie (die Kinder, O.H.) dieser schlecht erzogenen Familie (die Fami-lie, aus der seine Frau hervorging, O.H.) zu überlassen, damit sie noch schlechter erzogen würden. Die Gefahren der Erziehung, denen Findlinge ausgesetzt sind, waren weit geringer.“ (BEK, 410)

1747 starb sein Vater Isaac. Ein Jahr später machte R die Bekanntschaft mit Mme d’Epinay, seiner zukünftigen Mäzenin.

1749 stieß R im Mercure de France auf die Ausschreibung einer Preisfrage der Provinz-Académie von Dijon: »Ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis oder zur Veredelung der Sitten beigetragen hat« Der Mercure de France galt unter Aufklärern, insbesondere im Kreis des aufgeklär-ten Pfarrklerus, als ein verbreitetes und angesehenes Journal. Es lag daher auf der Hand, dass sich die zunehmende Zahl der neu gegründeten Akademien in den französischen Provinzen dieses Verbreitungsmediums bedienten.

R antwortete auf diese Preisfrage in seinem Discours sur les sciences et les arts (Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste) mit einer scharfen Kultur- und Gesellschaftskritik. Er bekam den ersten Preis zugesprochen, was ihn überraschte und freute zugleich, und wurde über Nacht berühmt.

Im gleichen Jahr 1749 wurde R von D’Alembert beauftragt, die Artikel über Musik für die „Enzyklopädie“ zu schreiben.

1754 antwortete R wiederum auf eine Preisfrage der Provinzakademie zu Dijon – «Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ob sie im natürlichen Gesetz begründet ist» – mit dem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Diskurs über die Ungleichheit, genauer: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen). Er bekam dieses Mal keinen Preis zugesprochen. R hatte in dieser Abhandlung die Kultur- und Gesellschaftskritik wissenschaftlich unter-legt und erheblich zugespitzt, indem er von einem Gedankenexperiment ausging

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und sinngemäß die Frage stellte: Was wäre aus dem Menschen geworden, wenn er sich nicht mit seinesgleichen zusammengeschlossen, sondern allein, mit sich und seiner nichtmenschlichen Umwelt in Übereinstimmung gelebt hätte? Die Antwort, die er gefunden und zu begründen versucht hatte, traf überwiegend auf Unverständnis und vor allem auf harsche Ablehnung der Hauptvertreter der neu-zeitlichen Aufklärung. Denn „trotz aller auflösenden Kritik der religiösen und politischen Verhältnisse, (hatten sich diese aufgeklärten Freunde; O.H.) keines-wegs von den Banden der Nationalität, Konfession und Gesellschaft losgemacht“ (Mahrenholtz 1971, 154).

1755 erschien der Diskurs über die Ungleichheit in Amsterdam. 1756 zog sich R in die ländliche Umgebung von Montmorency, die „Eremi-

tage“, zurück. 1757 verliebte sich R in Mme d’Houdetot, eine Erfahrung, die die Ausarbei-

tung des Briefromans Julie ou la Nouvelle Héloïse (Julie oder die Neue Héloïse) stark beflügelte, der 1761 in Paris erschien.

1762 publizierte R in Amsterdam die beiden Werke Du contrat social (Vom Gesellschaftsvertrag) und Emile ou de l’éducation (Emil oder über die Erzie-hung). Die Schrift über Erziehung enthielt das Glaubensbekenntnis des savoyi-schen Vikars: Profession de foi du vicaire savoyard. Der Gesellschaftsvertragwurde als Angriff auf die absolutistische Herrschaft, der Emile als Gegenmodell zur Standeserziehung und als Affront gegen die katholische Kirche im Ancien Régime aufgenommen und kommuniziert. Die Antwort der Herrschenden ließ nicht auf sich warten: Der Emile wurde verurteilt und auf den Index gesetzt. Die Zensurbehörde von Paris unter Malesherbes zog sämtliche Register, die dem Ancien Régime über ein striktes „refusé“ (Genehmigung abgelehnt) des Zensors hinaus zur Verfügung standen. So ist der Verfasser der inkriminierten Werke mit Haftbefehl belegt worden.

Die katholische Kirche Frankreichs reagierte mit einem Erlass des Erzbi-schofs von Paris, Christophe de Beaumont, auf die Erziehungstheorie des Emile.R antwortete 1763 mit seiner Lettre à Christophe de Beaumont (Brief an Chris-tophe de Beaumont). Auf Angriffe aus Genf seitens des Generalstaatsanwalts Tronchin reagierte er 1763 mit seinen Lettres écrites de la montagne (Briefe vom Berge) und mit dem Verzicht auf die Rechte eines Bürgers von Genf.

Ab 1770 lebte R in Ermenonville bei Paris zurückgezogen, ging botani-schen Studien nach und litt zunehmend an Verfolgungswahnvorstellungen. Bis 1778 arbeitete er noch an politischen und autobiographischen Schriften.

Am 2. Juli 1778 erlag R. eines plötzlichen Todes. Er wurde auf einer Insel im See des Parks von Ermenonville beigesetzt. Nach Rousseaus gesellschaftli-cher Rehabilitation im Zuge der Französischen Revolution wurden seine sterbli-chen Überreste 1794 in das Panthéon in Paris feierlich überführt.

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3 Zentrale pädagogische Aussagen

Der pädagogische Gehalt der Hauptschriften von Rousseau ist auf zehn Aussa-gen (A 1 bis A 10) verdichtet. Die elfte Aussage (A 11) bewegt sich auf einer Metaebene. Sie expliziert die methodische Grundkonstruktion seiner Anthropo-logie, Pädagogik und politischen Philosophie. Die Aussagen setzen sich zusam-men aus prägnanten Stichworten, treffenden Zitaten oder pointierten Darstellun-gen, die im biographischen und thematischen Zusammenhang erläutert sowie belegt werden. Dass diese Komprimierung der selektiven Wahrnehmung und Beobachtung des Autors geschuldet ist, bedürfte eigentlich keiner Erwähnung.

(A 1) Studium und Erfindung der Kindheit

Beobachtet die Kinder genau. Fangt an, eure Schüler besser zu studieren, bevor ihr euch anschickt, sie zu erziehen. Denn „was die Kindheit ist, darüber weiß man wirklich nichts“. (R(H), 152)

Mit dieser Aufforderung schließt Rousseau biographisch nicht nur an seine Erfahrungen als Hauslehrer 1740/41 in Lyon an. Er nimmt vielmehr eine neue soziale Wahrnehmung des Kindes auf, die man auch als eine bürgerliche Kon-struktion der Kindheit bezeichnen könnte, allerdings mit der nicht unwichtigen Einschränkung, dass die Erfinder vornehmlich in den anwachsenden Kreisen der stadtbürgerlichen Familien mit Erfolg versprechenden Zukunftsaussichten zu finden waren. Denn diese hatten nicht zuletzt handfeste materielle Gründe, mit allen verfügbaren Mitteln der Darstellung zu zeigen, dass die Überlieferung und Fortführung ihrer geschaffenen kulturellen Werte durch ihre Nachkommen gesi-chert ist. So konnte Philippe Ariès nachweisen, dass im Frankreich des 17. Jahr-hunderts die Anzahl der bildhaften Darstellungen von Kindern im Kreis der Familie oder im Format des Porträts im Vergleich zu früher signifikant zunahm. „Die Porträts zeigen das Kind getrennt von der Familie (…). Es wird von nun an allein und um seinetwillen dargestellt: das ist die große Neuerung des 17. Jahr-hunderts.“ (Ariès 1975, 103, 108). Neben diesen privaten Interessen beförderte dieses neue Sujet kultureller Ausdrucksformen die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Generation der Heranwachsenden, ihre Aufwachsensbedingungen, ihre familiäre, soziale und schulische Erziehung mit Blick auf ihre gesellschaftliche, aber zunehmend auch ihre noch unbestimmte individuelle Bestimmung. An diese für neue Wahrnehmungen von Kindheit und Erziehung aufnahmebereite Kom-munikation – „Über die Wichtigkeit einer guten Erziehung werde ich wenig sagen; ich werde auch nicht lange beweisen, dass die herkömmliche Erziehungs-art eine schlechte ist: das haben tausend andere vor mir getan… (R(H), 152) –

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konnte Rousseaus Erziehungslehre anschließen und der Kindheit einen erzie-hungstheoretisch begründbaren, spezifischen Wert zuschreiben, der in der Kind-heit als Kindheit zu situieren und gerade nicht auf das spätere Erwachsensein hin zu relativieren sei. Damit ist die Unterscheidung zwischen der neuen Wahrneh-mung der Heranwachsenden, der Erfindung der Kindheit als Form mit der Mög-lichkeit, diese individuell zu entwerfen, einerseits und andererseits der ständisch-sozialen Sicht auf Kindheit als ein Stadium der Unvollkommenheit, welches möglichst rasch und streng kontrolliert (vgl. Foucault 1976) zu durchlaufen sei, scharf gezogen.

(A 2) Kindheit erfinden heißt sie anthropologisch grundieren

Der Erzieher hat sein Beobachtungsschema daraufhin zu prüfen, ob es geeignet ist, den Gegenstand der Beobachtung – also den Zögling – in seiner Eigengesetz-lichkeit und Freiheit zu beschreiben und er muss entscheiden, ob er diesen Ge-genstand in der geschichtlichen Erfahrung situieren kann oder ob er ihn hypothe-tisch-experimentell konstruieren und in abstrakter Reinheit vorstellen sollte, um am artifiziellen den ursprünglichen Menschen unterscheiden zu können (vgl. R(H), 87ff.; E(S), 25; OCP, III, 123).

Rousseau hat sich für die Konstruktion der Kindheit entschieden, und zwar auf der Basis einer hypothetischen Anthropologie. Wie das geht? „Beginnen wir also damit, dass wir alle Tatsachen beiseite lassen, denn sie berühren die Frage nicht. Man darf die Untersuchungen, in die man über diesen Gegenstand eintre-ten kann, nicht für historische Wahrheiten nehmen, sondern für hypothetische und bedingungsweise geltende Überlegungen, mehr dazu geeignet, die Natur der Dinge zu erhellen, als deren wahrhaften Ursprung zu zeigen, und jenen ver-gleichbar, welche unsere Naturwissenschaftler alle Tage über die Entstehung der Welt anstellen.“ (R(H), 99; OCP, III, 132/3)

So hebt der Emile mit dem Paukenschlag einer provokativen These an: „Al-les ist gut, wie es hervorgeht aus den Händen des Urhebers der Dinge; alles ent-artet unter den Händen des Menschen.“ (R(H), 153) Mit anderen Worten: Die Natur – genauer: die lebendige, eigenständig bewegte, zur Selbstorganisation befähigte individuelle Natur – ist an und für sich wohlgeordnet, während der Mensch „nichts (…) so will, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen“ (R(H), 153). Denn er bekommt seine Form, die er ausbilden muss, um in der Gesellschaft unter seinesgleichen zu leben, durch soziale Erziehung. Wenn aber die „herkömmliche Erziehungsart eine schlechte ist“ (R(H), 152), was die obige These aus Rousseaus Sicht empirisch bekräftigt, welches ist dann das Ziel einer guten Erziehung? Welches sind dann ihre Prinzipien, Methoden