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30 | Phys. Unserer Zeit | 35. Jahrgang 2004 | Nr. 1 DOI:10.1002/piuz.200401026 © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ob sich ein Material unter Krafteinwirkung duktil verformt oder spröde bricht, hängt davon ab, wie sich Defekte im Material ausbreiten. Mit Simulationen, die bis zu eine Milliarde Atome umfassen, lassen sich diese Mechanismen auf Super- computern untersuchen. Materialwissenschaftler bezeichnen ein Computermodell, das Materialien bis hinunter zu einzelnen Atome auflöst, als atomistische Simulation. Solche Simulationen haben sich in den vergangen Jahren zu einem unerwartet hilfreichen Werkzeug der Materialwissenschaften entwickelt – nicht zuletzt wegen der rasanten Entwicklung der Supercompu- ter [1, 2]. Die Längen- und Zeitskalen, die wir durch solche „Computerexperimente“ studieren können, bleiben bei Mi- krostrukturen dem realen Laborexperiment noch weitge- hend verschlossen. Das gilt auch für die klassische Lehre von der Verformung von Festkörpern. Diese basiert auf der Kontinuumstheorie, berücksichtigt also nicht ein- zelne Atome und die Bindungen und Kräfte zwischen ihnen. Klassische Modelle besitzen somit keine internen Längen- skalen, die bei Mikrostrukturen jedoch eine wichtige Rolle spielen können: Sie haben Einfluss darauf, wie das Material bei zu großen mechanischen Spannungen durch Brechen oder Verformen nachgibt. Deshalb sind atomistische Simu- lationen in solchen Fällen der einzige Weg, ein Phänomen des Materialverhaltens grundlegend zu verstehen. Sie er- lauben einen fundamentalen Einblick in das Materialver- halten, wie keine andere numerische Methode in der Ma- terialwissenschaft. Spröde oder duktil? Das Verhalten von festen, kristallinen Stoffen unter Belas- tung lässt sich in zwei große Gruppen einteilen. Zum einen gibt es Materialien, die äußeren Kräften elastisch reversibel nachgeben, jedoch ab einer gewissen Krafteinwirkung wie Glas in Tausende kleiner Stücke zerbrechen. Solche Stoffe D ie Kulturgeschichte der Menschheit ist von einem wachsenden Verständnis für Materialien und deren Ei- genschaften geprägt. Unsere Vorfahren lernten, aus Stein Faustkeile herzustellen und verbesserten mit diesem neuen Werkzeug ihre Lebensbedingungen entscheidend. Heute ist kaum eine neue technische Errungenschaft ohne moderne Materialwissenschaften möglich. Die Entwicklung der mo- dernen Metallurgie zum Beispiel eröffnete den Weg zu Ma- terialien, die zugleich fest und zäh sind, wie zum Beispiel viele Stahllegierungen. Viele technische Systeme enthalten immer kleinere Strukturen, aus der Mikrotechnologie der Halbleiterbranche entwickelt sich allmählich eine Nano- technologie. Das wirft die Frage auf, wie solche winzigen Strukturen auf mechanischen Stress reagieren. Wir untersuchen das Materialversagen kleiner Nanokristalle unter extremer Be- lastung mit Simulationen auf Supercomputern, die sogar einzelne Atome berücksichtigen. Bei dem hier vorgestellten Materialversagen kann man sich den grundlegenden Me- chanismus als Ausbreitung von vielen kleinen Defekten,von Versetzungen, im perfekten Kristallgitter vorstellen (Abbil- dung 1). Duktile Verformungen und spröde Brüche von Kristallen Biegen und Brechen im Supercomputer MARKUS J. B UEHLER | HUAJIAN G AO

Biegen und Brechen im Supercomputer: Duktile Verformungen und spröde Brüche von Kristallen

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30 | Phys. Unserer Zeit | 35. Jahrgang 2004 | Nr. 1 DOI:10.1002/piuz.200401026 © 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Ob sich ein Material unter Krafteinwirkung duktil verformtoder spröde bricht, hängt davon ab, wie sich Defekte im Material ausbreiten. Mit Simulationen, die bis zu eine MilliardeAtome umfassen, lassen sich diese Mechanismen auf Super-computern untersuchen.

Materialwissenschaftler bezeichnen ein Computermodell,das Materialien bis hinunter zu einzelnen Atome auflöst, alsatomistische Simulation. Solche Simulationen haben sich inden vergangen Jahren zu einem unerwartet hilfreichenWerkzeug der Materialwissenschaften entwickelt – nichtzuletzt wegen der rasanten Entwicklung der Supercompu-ter [1, 2]. Die Längen- und Zeitskalen, die wir durch solche„Computerexperimente“ studieren können,bleiben bei Mi-krostrukturen dem realen Laborexperiment noch weitge-hend verschlossen. Das gilt auch für die klassische Lehre von der Verformung von Festkörpern. Diese basiertauf der Kontinuumstheorie, berücksichtigt also nicht ein-zelne Atome und die Bindungen und Kräfte zwischen ihnen.Klassische Modelle besitzen somit keine internen Längen-skalen, die bei Mikrostrukturen jedoch eine wichtige Rollespielen können: Sie haben Einfluss darauf, wie das Materialbei zu großen mechanischen Spannungen durch Brechenoder Verformen nachgibt. Deshalb sind atomistische Simu-lationen in solchen Fällen der einzige Weg, ein Phänomendes Materialverhaltens grundlegend zu verstehen. Sie er-lauben einen fundamentalen Einblick in das Materialver-halten, wie keine andere numerische Methode in der Ma-terialwissenschaft.

Spröde oder duktil?Das Verhalten von festen, kristallinen Stoffen unter Belas-tung lässt sich in zwei große Gruppen einteilen. Zum einengibt es Materialien, die äußeren Kräften elastisch reversibelnachgeben, jedoch ab einer gewissen Krafteinwirkung wieGlas in Tausende kleiner Stücke zerbrechen. Solche Stoffe

Die Kulturgeschichte der Menschheit ist von einemwachsenden Verständnis für Materialien und deren Ei-

genschaften geprägt. Unsere Vorfahren lernten, aus SteinFaustkeile herzustellen und verbesserten mit diesem neuenWerkzeug ihre Lebensbedingungen entscheidend. Heute istkaum eine neue technische Errungenschaft ohne moderneMaterialwissenschaften möglich. Die Entwicklung der mo-dernen Metallurgie zum Beispiel eröffnete den Weg zu Ma-terialien, die zugleich fest und zäh sind, wie zum Beispielviele Stahllegierungen. Viele technische Systeme enthaltenimmer kleinere Strukturen, aus der Mikrotechnologie derHalbleiterbranche entwickelt sich allmählich eine Nano-technologie.

Das wirft die Frage auf, wie solche winzigen Strukturenauf mechanischen Stress reagieren. Wir untersuchen dasMaterialversagen kleiner Nanokristalle unter extremer Be-lastung mit Simulationen auf Supercomputern, die sogareinzelne Atome berücksichtigen. Bei dem hier vorgestelltenMaterialversagen kann man sich den grundlegenden Me-chanismus als Ausbreitung von vielen kleinen Defekten,vonVersetzungen, im perfekten Kristallgitter vorstellen (Abbil-dung 1).

Duktile Verformungen und spröde Brüche von Kristallen

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werden als spröde bezeichnet. Gäbe es allein diesen Me-chanismus, dann wäre unsere Welt ziemlich zerbrechlich.Zum Glück gibt es eine zweite Art des Materialversagens:die plastische Deformation, die an das Verhalten von Knet-masse erinnert. Zu diesen duktilen Festkörpern gehörendie Metalle, zum Beispiel das weiche Kupfer.

Der Grund für solch ein dramatisch unterschiedlichesVerhalten liegt natürlich im atomaren Aufbau der Materie.Wenn spröde Materialien zersplittern, dann brechen im Be-reich der Risse die Bindungen zwischen den Atomen auf.Duktile Materialien bauen dagegen äußere mechanischeKräfte durch nicht reversible Verformung ab. Dabei bewe-gen sich im Kristallgitter ganze Reihen von Atomen anein-ander vorbei, und zwar auf bevorzugten Gleitebenen.

Innerhalb dieses einfachen Bildes ist schon sehr gut zuverstehen, warum Gläser spröde sind: Sie besitzen keinregelmäßiges Kristallgitter und damit auch keine Gleit-ebenen, die Kräfte durch Versetzungen, also durch duktilesVerformen, abbauen können. Generell lässt sich sagen,dasskubisch-flächenzentrierte Kristallgitter sich eher duktil ver-halten als kubisch-raumzentrierte, denn in solchen Kristall-geometrien gleiten Atomebenen leichter übereinander ab.Wie aber beginnt ein Material, spröde oder duktil zu ver-sagen?

Der Blick durch ein Elektronenmikroskop offenbart dieQuelle beider Mechanismen: Mikrorisse, die auch schein-bar homogene Materialien in Form vieler kleiner Fehlerdurchziehen. Diese Mikrorisse sind der Schlüssel zum Ver-ständnis des duktilen und spröden Verhaltens. An der Spitze dieser Risse spielt sich eine Art Wettbewerb zwi-schen spröden und duktilen Versagen ab (Abbildung 2, [3]).

Beim spröden Versagen werden die Atombindungenschon in Regionen vor dem Riss gekappt, und der Risswächst durch diese geschwächte Zone weiter. Wenn einsehr hartes, sprödes Material bricht,breiten sich so in Bruch-teilen von Sekunden Millionen kleiner Risse aus – das Ma-terialversagen trägt die Züge einer Katastrophe. Beim duk-tilen Versagen wird hingegen das Material an den Stellen derMikrorisse abgeschert: Hier beginnen die Versetzungen,die das Material dauerhaft verformen. Welche der beiden Arten des Materialversagens am Ende dominiert, ist von denatomaren Wechselwirkungen abhängig.

Hier diskutieren wir atomistische Studien beider Arten desMaterialversagens. Unser virtueller Versuchsaufbau beimspröden Versagen simuliert Risse an Grenzflächen in hauch-dünnen, nano-dimensionierten Schichten, für die wir uns interessieren. Übrigens umfassen komplexe Materialversa-gensprozesse oft mehrere Längen- und Zeitskalen. Abbil-dung 3 zeigt dies am Beispiel der spröden Rissausbreitung.Unsere atomistischen Simulationen sind in der Lage, allediese Skalen in einer einzigen Simulation abzubilden.

Als Beispiel für die atomistische Simulation von dukti-lem Materialversagen stellen wir im zweiten Teil dieses Ar-tikels die Untersuchung des Phänomens der Kaltverfesti-gung vor. Diese Simulation zeigt erstmals wie in einem Filmdie mikroskopischen Vorgänge, die zu einer weithin be-kannten Materialermüdung führt: Wenn man einen Draht,etwa aus weichem Kupfer, einige Male hin und her biegt,dann bricht er irgendwann spröde.

Vor unserer Arbeit galt es unter Materialforschern alsnotwendig, dass in ein gutes Simulationsmodell eine „me-soskopische Brücke“ eingebaut werden muss: Sie verbin-det die atomare mit der makroskopischen Skala, in der dieKontinuumstheorie anwendbar ist. Dank hoher Rechen-leistung konnten wir dieses Problem nun umgehen. Unser

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Abb. 1 Zwei ato-mistische Simula-tionen einer Kalt-verfestigung. Die zwei kleinenKerben oben undunten im Kristall-würfeln emittie-ren in kurzer ZeitTausende vonVersetzungen indas ungestörteGitter hinein [2].

In allen festen Ma-terialien gibt esviele Mikrorisse.An der Spitze die-ser Mikrorisse lie-gen zwei Mecha-nismen im Wett-bewerb: sprödeRissausbreitung(Rissfortschritt,links) und Absche-rung durch Verset-zungsemission(Rissaufweitung,rechts).

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Modellkristall beinhaltet schon so viele Atome, dass er alsGesamtes in guter Näherung ein Kontinuum darstellt: Durchdie riesige Zahl der betrachteten Teilchen erreichen wirGrößenordnungen, in denen das einzelne Atom an Bedeu-tung für das Gesamtphänomen verliert. So wird die klassi-sche Kontinuumstheorie anwendbar.

Für unsere Simulation der Kaltverfestigung verwendetenwir einen würfelförmigen virtuellen Kristall mit über einerMilliarde Atomen. Sie lief 2001 auf dem damals schnellstenComputer der Welt,ASCI White (Accelerated Strategic Com-puting Initiative) am Lawrence Livermore National Labo-ratory in Kalifornien, unter der Leitung unseres Kollabora-tionspartners [1, 2].

Unser Werkzeug sind Molekulardynamik-Rechnungen.Sie basieren auf einem einfachen Prinzip. Die molekularen

Systeme werden als Gruppen von Massepunkten betrach-tet, für die klassische Newtonsche Bewegungsgleichungenaufgestellt und gelöst werden. Die Wechselwirkungen imMolekül oder in einem Atomgitter werden dabei als Poten-tial eingeführt, in denen sich diese Massepunke bewegen[4].

Um die generischen Eigenschaften einer ganzen Grup-pe von Materialien zu modellieren, benutzen wir dazu pas-sende Modellpotentiale – zum Beispiel das des harmoni-schen Oszillators [5]. Mit diesen möglichst einfach gehal-tenen Wechselwirkungspotentialen simulieren wir dannkomplexere Phänomene.

Sprödes MaterialversagenBei Rissen unterscheiden wir verschiedene Belastungsar-ten: Diese „Modes“ zeigt Abbildung 4a [6]. Bei Mode I istdie Belastung orthogonal zur Rissrichtung ausgerichtet. BeiMode II zeigt die Belastung in Richtung des Risses, dabei dominiert die Verscherung, wie die Abbildung zeigt. Rissekönnen sich nicht beliebig schnell ausbreiten. Nach derklassischen Lehre auf Basis der Kontinuumsmechanik ist ih-re Maximalgrenzgeschwindigkeit mit den Ausbreitungs-geschwindigkeiten von Wellen im Material verknüpft [6].Die in der Kontinuumsmechanik betrachteten Wellen sindPhononen mit sehr kleinen Wellenzahlen: Ihre Wellenlängeist also viel größer als die Gitterkonstante der Atome imKristall. Für solche Wellen kann man eine eindeutige Ge-schwindigkeit berechnen. Das gilt für alle folgenden Be-trachtungen.

Wir unterscheiden nun zwischen Klassen von Wellen,die sich verschieden schnell ausbreiten. Die langsamstenWellen sind Oberflächenwellen, so genannte Rayleigh-Wel-len: Sie breiten sich mit der Geschwindigkeit cR aus, undman kann sie sich ähnlich Wasserwellen vorstellen. Dane-ben gibt es noch longitudinale Wellen. Sie breiten sich amschnellsten von allen Wellenarten aus, wir bezeichnen ihreGeschwindigkeit mit cl. Bei Longitudinalwellen stimmt dieSchwingungsrichtung der Teilchen (oder des Schwin-gungsvektors) mit der Ausbreitungsrichtung überein. Umbeim Bild des Wassers zu bleiben, kann man sich diese alsSchallwellen vorstellen. Anders als Wasser hat ein Festkör-per jedoch auch eine Scherfestigkeit. Sie ist übrigens einewichtige Werkstoffkenngröße, die angibt, welche Kraft er-forderlich ist, um ein Stück Material mit einer bestimmtenQuerschnittsfläche abzuscheren. Daher gibt es in Festkör-pern auch transversale Wellen. Im Gegensatz zu den Lon-gitudinalwellen schwingen Transversalwellen senkrecht zurAusbreitungsrichtung. Sie wandern mit einer Geschwin-digkeit cs, die zwischen der Geschwindigkeit der longitu-dinalen Wellen und derjenigen Oberflächenwellen liegt.

Die Rayleigh-Geschwindigkeit cR erreicht dabei un-gefähr 93% der Transversalwellengeschwindigkeit cs. DieWellengeschwindigkeiten können nach der klassischenKontinuumstheorie direkt aus den elastischen Eigenschaf-ten berechnet werden [6]. In elastisch weichen Materialienbreiten sich Wellen langsam, in elastisch steifen Materialien

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Rissausbreitung als Multi-Skalen-Phänomen, das Längenskalen von 0,1 nm bis zuMikrometern umfasst.

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Belastungsmodi und erlaubte Geschwindigkeitsbereiche fürRisse.

a)

b) cR cs cl

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hingegen schnell aus. Abhängig von dieser Eigenschaft kön-nen Risse mit einigen Kilometern pro Sekunde durch dasMaterial rasen.

Für die Berechnung der maximalen Geschwindigkeitvon Rissen muss zwischen den verschiedenen Belastungs-arten in Abbildung 4a unterschieden werden. Mode-I-Rissewachsen maximal mit der Rayleigh-Geschwindigkeit, undzwar unabhängig davon,wie hoch die äußere mechanischeSpannung ist [6]. Würde der Riss schneller wachsen, dannmüsste er elastische Energie an die Umgebnung abgeben,anstatt eine Senke für elastische Energie zu sein. Das wäreaber physikalisch unmöglich, weil das Aufbrechen der ato-maren Bindungen im Riss Energie verbraucht und nicht frei-setzt.

Bei Mode-II-Rissen ist die Situation komplizierter. Hiersind mehrere Geschwindigkeitsbereiche möglich. Wie beiMode I sind zunächst alle Geschwindigkeiten unterhalb derRayleigh-Geschwindigkeit möglich,also v < cR. Darüber hin-aus sind auch intersonische Geschwindigkeiten „erlaubt“:Das sind Rissausbreitungsgeschwindigkeiten zwischen derTransversalwellengeschwindigkeit und der longitudinalenWellengeschwindigkeit, also cs < v < cl [6]. Der Bereich zwischen der Rayleigh-Geschwindigkeit und der Transver-salwellengeschwindigkeit, also cR < v < cl, wird aber für ei-nen Mode-II-Riss nach der klassischen Theorie zu einer eine unüberwindbaren Zone. Die erlaubten Geschwindig-keitsbereiche sind in Abbildung 4b durch die blauen Balkendargestellt, jeweils für Mode-I- und Mode-II-Risse. Nach diesem Modell ist daher für beide, Mode I und Mode II, dieRayleigh-Geschwindigkeit das obere Limit [6].

Allerdings wurde ein Mechanismus beobachtet, der eserlaubt, dass ein Mode-II-Riss die longitudinale Wellen-geschwindigkeit erreichen kann [7,8]. Während sich der„eigentliche“ Riss als so genannter Mutterriss mit der Ray-leigh-Geschwindigkeit ausbreitet, wird ein Stück davor einzweiter Riss geboren. Dieser Tochterriss breitet sich gleichzu Beginn mit einer Geschwindigkeit jenseits der verbote-nen Zone aus, also schneller als die Transversalwellenge-schwindigkeit. Dieser Riss kann dann,wenn genügend äuße-re Spannung anliegt, bis zur Longitudinalwellengeschwin-digkeit „beschleunigt“ werden. Die Grenzgeschwindigkeitfür Mode-II-Risse ist damit die longitudinale Wellenge-schwindigkeit.

Der Grund für das Entstehen des Tochterrisses ist einelokale Scherspannungsüberhöhung vor dem Mutterriss:Wenn sie hoch genug wird, entsteht ein kleiner Riss, derzum Tochterriss heranwächst. Mode-II-Risse haben also die besondere Eigenschaft, mit Hilfe eines Mutter-Tochter-Mechanismus verbotene Geschwindigkeitsbereiche zu über-springen.

Atomistische ModellierungUm diesen Mechanismus zu untersuchen, erzeugen wir imComputer zwei perfekte Kristalle, die miteinander „ver-klebt“ werden (Abbildung 5a). Die Klebestelle funktioniertals vorbestimmter Pfad für den wachsenden Riss [5, 7]. Die

Atombindungen entlang des Risspfades brechen leichter alsim Inneren des Kristalls. Dadurch können wir uns bei derSimulation auf die Grenzgeschwindigkeit der Risse kon-zentrieren,ohne dass der Riss seine Richtung wechselt odersich in viele kleine Risse aufspaltet, was oft bei hohen Riss-geschwindigkeiten beobachtet wird. Ein vorbereiteter Rissdient dabei als Startpunkt und Quelle für weitere Rissaus-breitung.

Wir nehmen nun an, dass die Atome in harmonischenPotentialtöpfen sitzen, als wären sie durch ideale Federnmiteinander verbunden. Die Variation der Federkonstante(beziehungsweise des Potentialverlaufs) erlaubt es,die elas-tischen Eigenschaften zu ändern. Durch Drehen an diesemParameter erhalten wir ein sprödes, linear-elastisches Mo-dellmaterial. Für unsere Riss-Simulationen verwenden wirModelle mit bis zu 70 Millionen Atomen, das entspricht Kristallen mit rund einem Mikrometer Größe.

Risse an GrenzflächenGrenzflächen findet man in vielen technischen Anwen-dungen, zum Beispiel bei modernen Kompositmaterialien,Verbund- oder Strukturwerkstoffen. Theoretische Modelleder Bruchmechanik solcher Strukturen sind wichtig,um dasVerhalten dieser Materialien unter extremen Bedingungenzu verstehen.

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Geometrie für die Simulation eines Risses mit vorgegebenem Risspfad. a) zeigt denModellkristall unter einer Mode-I-Belastung, b) zeigt die Ausbreitung von Rissenentlang der Grenzflächen und c) die Rissausbreitung in dünnen Schichten der imModell variierbaren Ausdehnung d. In unseren Simulationen umfasst lx etwa 1000bis 4000 Atome, und ly = 3 lx .

I N T E R N E T |Videos von Simulationen auf ASCI Whitewww.almaden.ibm.com/st/Simulate/

Homepage der Arbeitsgruppe von Huajian Gaoshasta.mpi-stuttgart.mpg.de

Die schnellsten Supercomputer der Weltwww.top500.org

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Hier betrachten wir das Wachsen eines Mode-II-Rissesentlang einer Grenzfläche zwischen zwei verschiedenenMaterialien. Eines ist elastisch weich mit niedriger Schall-geschwindigkeit,das andere elastisch steif mit hoher Schall-geschwindigkeit (Abbildung 5b). Nun stellen wir uns dieFrage, wie hoch die Grenzgeschwindigkeit für die Ausbrei-tung des Risses an der Grenzfläche ist. Bei dieser Material-kombination versagt das klassische Modell, und es kann da-mit keine eindeutige Grenzgeschwindigkeit mehr errechnetwerden.

Unsere Simulation kann jedoch zeigen,was passiert. Ab-bildung 6a macht die Verteilung der potentiellen Energie imModellkristall farbig erkennbar: Zunächst breitet sich derRiss A mit Rayleigh-Geschwindigkeit des elastisch weiche-ren Materials von links nach rechts aus. Mode-II-Risse kön-nen ja über Mutter-Tochter-Mechanismen verbotene Zonenüberspringen – und das passiert nun: Ein Stück vor dem RissA wird ein zweiter Riss B geboren, der sich mit der Ge-schwindigkeit der Longitudinalwellen im weichen Mate-rial nach rechts ausbreitet. Völlig unerwartet tritt nun ein sekundärer Mutter-Tochter-Mechanismus (oder Tochter-Enkel-Mechanismus) auf: Noch ein weiteres Stück vor demsekundären Riss B findet die Geburt eines dritten Risses C

statt. C wandert nun mit der Longitudinalwellen-Ge-schwindigkeit des elastisch steifen Materials, also noch vorA und B nach rechts. Dabei ist C schneller als B und dieserschneller als A. Im weichen Material (unten) erkennt manzwei Mach-Kegel, denn der Riss frisst sich nun mit Über-schallgeschwindigkeit, mit Mach 1,41, durch das Material.

Abbildung 6a zeigt die Verteilung der potentiellen Energie in der Nähe der Rissspitze. Ein ähnlicher Mutter-Tochter-Enkel-Mechanismus wurde auch in Simulationenmit anderen Materialien beobachtet [1]. Experimente deu-ten zudem auf die Existenz solcher Mechanismen an Grenz-flächen von Verbundmaterialien aus Aluminium (elastischsteif) mit PMMA (elastisch weich) hin. Auch wenn PMMAkein kristallines Material ist, entspricht dieses Verbundma-terial in seinen elastischen Eigenschaften genau dem hier simulierten Fall [9]. Die hier vorgestellte Simulation ist dererste direkte numerische Nachweis der Existenz dieses Mechanismus.

Risse in NanostreifenZunehmende Miniaturisierung der Technologie erfordertein immer besseres Verständnis des Materialverhaltens inNanostrukturen. Deshalb interessieren wir uns dafür, wiesich Mode-I-Risse in nanodimensionierten Materialstreifenausbreiten (Abbildung 5c). Solche Studien helfen zu ver-stehen, wie sich lokale elastische Eigenschaften auf die Dynamik der Risse auswirken. Wir haben dazu in unserenSimulationen den dünnen Streifen, in dem sich der Riss aus-breitet, elastisch steifer ausgelegt als das umgebende Me-dium. Wir interessierten uns für die Frage, welche Material-eigenschaften die Grenzgeschwindigkeit für den Riss be-stimmen: Kann der Riss sich mit Überschallgeschwindigkeitgegenüber dem außen liegenden, weichen Material aus-breiten?

Unsere Simulationen zeigen, dass sich mit wachsenderAusdehnung d des Nanostreifens die Geschwindigkeit derRisse kontinuierlich erhöht. Dabei haben schon kleineSprünge in den elastischen Eigenschaften sehr kleiner,lokaler Gebiete eine große Wirkung: Sind diese lokalen Bereiche steifer als die Umbebung, dann wächst die Riss-geschwindigkeit über den Wert, der für ganz homogenesMaterial gilt. Abbildung 7a zeigt die Verteilung der poten-tiellen Energie in der Nähe der Rissspitze,wenn sich der Rissmit Überschallgeschwindigkeit relativ zum äußeren MediumB ausbreitet – das ist etwa 15 % schneller als die Transver-salwellengeschwindigkeit. Der innere Streifen A ist dabei etwa 80 nm breit, eingebettet in B.

Abbildung 7b zeigt die Geschwindigkeit des Risses alsFunktion der Breite des inneren Streifens d,normiert auf dieRayleigh-Geschwindigkeit cR,B des äußeren Materials B. DerNanostreifen hat dabei eine Ausdehnung von bis zu etwa450 nm. Bei dieser maximalen Ausdehnung erreicht derRiss die Rayleigh-Geschwindigkeit des inneren Materials.Sie ist etwa 42 % größer ist als die des umgebenden Ma-terials. Die Materialeigenschaften des äußeren Materialsscheinen dann keine Rolle mehr zu spielen, und die Dyna-

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a) Modellkristall, das weichere Material sitzt unterhalb der Grenzfläche mit demRisspfad (Mitte). Der Enkelriss breitet sich mit Mach 1,41 aus und produziert zweiMach-Kegel als Schockwellen. Mutterriss: A, Tochterriss: B, Enkelriss: C.

Änderung der Geschwindigkeit eines Mode-I-Risses bei Variation der Schichtdicke.Abbildung a) zeigt die Verteilung der potentiellen Energie. Den inneren Streifen (A)kann man eingebettet im umgebenden Material (B) erkennen. Abbildung b) zeigt,wie sich die Geschwindigkeit des Risses ändert, wenn die Schichtdicke variiert.

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mand. Unsere Simulation öffne-te zum ersten Mal ein Fenster indiese Welt.

Wie schon erklärt,beruht ei-ne duktile Verformung auf derBewegung von Versetzungendurch den Kristall. Was dabeipassiert, kann man sich einfachanhand eines schweren Tep-pichs vorstellen: Will man die-sen verschieben, dann schlägtman am besten gezielt eine Wel-le, die durch den Teppich wan-dert. So kann man ihn mit ei-nem geringeren Energieaufwand versetzen, als wenn manihn komplett über den Boden ziehen würde.

Ganz ähnlich wandern unter äußeren Kräften atomareVersetzungen durch den Kristall (Abbildung 8). Dieser Wegist bei duktilen Materialien energetisch günstiger, als wennder gesamte Kristall auf einmal abgeschert würde. Im Kernder Versetzung haben Atome eine deutlich erhöhte poten-tielle Energie, in Abbildung 8 rechts ist das durch das rot ge-färbte Atom angedeutet (Versetzungskern). Diese erhöhteEnergie ermöglicht es, Versetzungen gut zu visualisieren:Der Computer macht allein diese Atome im Versetzungs-kern als einzelne Kugeln sichtbar, wie das Abbildung 1 und die nun folgenden Abbildungen zeigen. Nach diesemPrinzip arbeiten auch unsere Animationen (siehe „Internet“auf S. 33).

Wir haben die mikroskopischen Vorgänge in hoher Zeit-auflösung an einem einfachen, kubisch-flächenzentrierten Kristall untersucht, dessen Kantenlängen jeweils 1008 vir-tuelle Atome umfassen. Auch wenn der Supercomputer ASCI White eine enorme Rechenleistung von 12 Teraflopshat (1 Teraflop entspricht 1012 Fließkomma-Rechenopera-tionen pro Sekunde), mussten wir angesichts der gigan-tischen Zahl von über einer Milliarde Atomen ein möglichsteinfaches Modell verwenden,damit die Rechenzeiten nicht

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mik ist vollständig von den elastischen Eigenschaften des inneren Streifens dominiert.

Das wichtigste Ergebnis für uns ist, dass ein Riss, wenner sich in einer kleinen lokalen,elastisch steifen Umgebungausbreitet,die klassische „Schallgrenze“ durchdringen kann.Das ist möglich, weil das elastisch steifere Material den En-ergiefluss zum Riss deutlich erhöhen kann [5]. In solchenSituationen versagt also die klassische Lehre der Rissdyna-mik. Unsere Beobachtungen passen qualitativ gut zu den Resultaten theoretischer Arbeiten, die Modelle zur Ausbrei-tung von Rissen in dünnen Schichten entwickeln und schondie Existenz von Rissen vorhergesagt haben, die mit Über-schallgeschwindigkeit wachsen [10]. Allerdings haben dietheoretischen Arbeiten bislang nur die einfacheren Grenz-fälle extrem dünner oder extrem dicker Schichten unter-sucht. Unsere atomistischen Simulationen sind der erste direkte Beweis, dass sich Mode-I-Risse mit Geschwindig-keiten jenseits der Schallgrenze ausbreiten können.

Duktiles MaterialversagenBei der Kaltverformung bricht ein leicht verformbarer Drahtaus einem duktilen Metall plötzlich,nachdem man ihn mehr-fach hin und her gebogen hat. Beim Verbiegen hat sich dasMaterial zumindest im Bereich des Bruches so verfestigt,dass es spröde geworden ist. Auch wenn man diesen dyna-mischen Prozess schon länger in den Grundlagen versteht:Wirklich „anschauen“, was in einem Stück Metall auf der mikroskopischen Ebene passiert, konnte bislang noch nie-

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Links: Die Bewegung einer Versetzung durch den Kristall erin-nert an eine Welle, die durch einen Teppich läuft. Rechts: Ver-setzung im Atomgitter, das Atom mit höherer potentieller En-ergie im Kern der Versetzung ist rot eingefärbt.

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Geometrie der Simulation zur Kaltverfesti-gung. Zwei kleine Risse dienen als Quelle fürVersetzungen.

Detailansicht deroberen Kante desKristalls. Mankann die Ober-fläche und dieobere Kerbe er-kennen [2].

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den Rahmen sprengten. Trotzdem repräsentiert unser Kris-tall einen nur sehr kleinen Festkörper mit 0,3 µm Kanten-länge.

Ein guter Kompromiss,der zu einem relativ realistischenMaterialverhalten führt, ist die Modellierung der Wechsel-wirkungen zwischen den Atomen durch Lennard-Jones-Potentiale [4]. Ein solches LJ -Potential beschreibt eigent-lich das Wechselwirkungspotential U zwischen Atomen mitdem Abstand R in Edelgaskristallen. Die Formel kombiniertein anziehendes Potential aufgrund der van-der-Waals-Kräf-te zwischen den Atomen mit einem empirischen Ab-stoßungspotential, das oft proportional zu R–12 angenom-men wird:

(1)

wobei ε die Tiefe der Potentialmulde angibt und σ der Null-durchgang des Potentials ist. Ein solches 12:6-LJ-Potential ha-ben wir in unsere Simulation eingebaut.

Zur Untersuchung der Kaltverfestigung bringen wir anunserem virtuellen Kristallwürfel oben und unten jeweils ei-ne kleine Kerbe an,die 90 Atomlagen tief in den Kristall ein-schneidet. Abbildung 9 zeigt ihre Orientierung im Kristall-gitter. Da das Material sehr duktil ist, wird es unter eineräußeren Spannung abscheren, und es entsteht eine großeZahl von Versetzungen.

Wir empfehlen,zu der nun folgenden Beschreibung derGeschehnisse das Animationsvideo anzusehen,denn ein Bildsagt mehr als tausend Worte und ein Film sagt mehr als tau-send Bilder. Abbildung 1 zeigt, wie sich die Versetzungenim Kristall zeitlich entwickeln, die Abbildungen 10 und 11sind Detailansichten aus dem bereits fortgeschrittenen Pro-zess. Jede der grünen Linien korrespondiert zu einer ein-zelnen „Welle im Teppich“. Die komplette Simulation um-fasste 200000 Zeitschritte,die insgesamt rund vier Tage rei-ne Rechenzeit auf ASCI White beanspruchten. Bei einemrealen Kristall würde das Geschehen in weniger als einerNanosekunde ablaufen.

Einzelne Versetzungen können weitgehend ungehindertdurch einen Kristall gleiten: Das passiert hier auch den er-sten Versetzungen, die sich von den Spitzen der Kerben inden Kristall hinein schlängeln. Nähert sich nun eine Ver-setzung einer anderen, so wechselwirken sie miteinander.Sie können einander überlagern, sich gegenseitig verstär-ken, auslöschen oder gar verkeilen [11]. Wenn sie sich ver-keilen, stellen sie fest sitzende Hindernisse dar,die sich wei-teren Versetzungen in den Weg stellen und deren Bewe-gungsfreiheit einschränken. Je mehr solcher „sessiler“Versetzungen entstehen, desto stärker behindern sie dasWandern der anderen Versetzungen durch den Kristall.

Genau dies geschieht bei der Kaltverfestigung: Sehrschnell entsteht eine Art Dschungel, in dem sich die Ver-setzungen wie eine wachsende Zahl von „Lianen“ ausbrei-ten und immer mehr ineinander verkeilen. Das führt zu festsitzenden Reaktionsprodukten, die die Bewegungsfreiheitder Versetzungen zunehmend einschränkt (Abbildung 12)

U(R)R R

=

412 6

ε σ σ– ,

A B B . 1 2 | V E R S E T Z U N G S N E T Z W E R K E

A B B . 1 1 | D E TA I L A N S I C H T I I

Detailaufnahmen des Versetzungsdschungels. Man kann erkennen, wie komplexeVersetzungs-Netzwerke entstehen [2].

Beispiel für die Ausbildung eines komplexen Netzwerks durcheinige typische Versetzungsreaktionen, wie sie hier gezeigtwerden. Die roten Pfeile stellen Geschwindigkeitsvektorenzweier Versetzungslinien dar, die sich aufeinander zu bewe-gen und miteinander reagieren. Die rot eingekreisten Stellenbehindern die Bewegung anderer Versetzungen, was zur Kalt-verfestigung führt.

Page 8: Biegen und Brechen im Supercomputer: Duktile Verformungen und spröde Brüche von Kristallen

© 2004 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Nr. 1 | 35. Jahrgang. 2004 | Phys. Unserer Zeit | 37

V E R F O R M U N G U N D B R U C H | M AT E R I A LW I SS E N S C H A F T E N

[2]. Dadurch kann das Material der Spannung nicht mehrdurch Verformung ausweichen. Es wird fester und zugleichspröder. Im Wettbewerb zwischen spröden und duktilenProzessen unterliegt also mit fortschreitender Zeit das duk-tile Versagen. Unsere Analyse deutet darauf hin, dass fürden Mechanismus der Kaltverfestigung nicht einzelne Ver-setzungen verantwortlich sind, sondern das kollektive, dy-namische Verhalten vieler Versetzungen.

Die Beispiele zum spröden und duktilen Materialversa-gen,die wir hier vorgestellt haben,zeigen die Stärke von ato-mistischen Computersimulationen. Mit ihnen können wirkleine, kristalline Materialproben „beobachten“, währendsie sich unter Spannung biegen oder brechen. Mit wach-sender Leistungsfähigkeit von Computern könnten solcheSimulationen zu einem Werkzeug werden, das in der Erfor-schung der mechanischen Eigenschaften von Mikro- oderNanostrukturen eine wichtige Rolle spielt.

ZusammenfassungOb sich ein Material unter Krafteinwirkung duktil verformtoder spröde bricht, hängt davon ab, wie sich in ihm Defekteausbreiten. Um das zu untersuchen, „zerstören“ wir in Su-percomputer-Simulationen Nanokristalle, die bis zu einer Milliarde virtueller Atome enthalten. Die Simulationen zeigenzum Beispiel, wie sich Risse an der Grenzfläche zwischen einem härteren und einem weicheren Material ausbreiten. Sieerlauben auch nie zuvor gesehene Einblicke in die mikros-kopischen Prozesse während der duktilen Verformung einesMetalls: Das kollektive Verhalten von vielen tausend Verset-zungen führt zu einer Kaltverfestigung des Kristalls. Er wirdspröde und bricht.

StichworteDuktile Verformung, spröder Bruch, atomistische Simula-tion, Kontinuumsmechanik, Rissausbreitung, Versetzungs-dynamik, Kaltverfestigung.

Literatur[1] F. F. Abraham et al., PNAS 22000022, 99, 5777. [2] F. F. Abraham et al., PNAS 22000022, 99, 5784. [3] J. Rice, R. Thomson, Phil. Mag. 11997744, 29, 73.[4] M. Allen, D. Tildesley, Computer simulation of Liquids. Oxford

University Press, Oxford 1989. [5] M. J. Buehler et al., Nature 22000033, 426, 141. [6] L. B. Freund, Dynamic Fracture Mechanics, 2nd edition. Cambridge

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[10] K. B. Broberg, Int. J. Sol. Struct. 11999955, 32 (6-7), 883. [11] J. P. Hirth, J. Lothe, Theory of dislocations, 2nd edition.

Wiley-Interscience, John Wiley & Sons, New York 1982.

Die AutorenMarkus J. Buehler, Studium Verfahrenstechnik an derUniversität Stuttgart, und M.S. in EngineeringMechanics an der Michigan Technological Univer-sity, USA. Seit Ende 2001 Doktorand am Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart, AbteilungGao.

Huajian Gao, Studium Engineering Mechanics (EM)an der Xian Jiaotong Universität in China, M.S. undPh.D. in EM an der Harvard Universität, USA. Seit2000 Full Professor an der Stanford Universität inKalifornien, USA. Seit 2001 Direktor am Max-Planck-Institut für Metallforschung und Professor an derUniversität Stuttgart. Zahlreiche wissenschaftlicheAuszeichnungen.

AnschriftMarkus J. Buehler, Prof. Dr. Huajian Gao, Max-Planck-Institut für Metallforschung,Heisenbergstraße 3, 70569 [email protected], [email protected]