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5 KERSTIN GESSNER STADT, RECHT UND WELTENORDNUNG Zur Geometrie von Rechtsritual und Stadttopographie am Beispiel der frühneuzeitlichen Strafjustiz in Berlin-Cölln Mensch, Stadt und Kosmos Ein Kerngedanke der neuplatonisch-christlichen Kosmologie gründete in der Vorstel- lung von der besonderen Beziehung zwischen Mensch und Universum, von Mikro- kosmos und Makrokosmos. 1 Nach Platons Timaeus, der noch im hohen Mittelalter zu den am stärksten rezipierten Werken der griechischen Philosophie zählte, waren am Anfang der Zeit Kosmos und Mensch vom δημιουργός, dem Weltenbaumeis- ter, nach einem bestimmten Verhältnis aus den vier Elementen geschaffen worden. 2 Daraus ergab sich die Ableitung einer Proportionsanalogie, die einen ontologischen Seinszusammenhang zwischen den beiden Entitäten entstehen ließ: 3 Ebenso wie der Mensch, dessen Körper und Seele die Struktur des Kosmos widerspiegeln, ein Mikro- kosmos ist 4 , ist der Kosmos ein Makroanthropos 5 (vgl. Abb. 1 – 3). Ikonographisches Sinnbild der menschlichen Sonderstellung im kosmischen Gefüge war der homo quadratus et circularis, der als viergeteilter Kreis Gestalt und Ordnung des Univer- sums abbildet. 6 Während der Kreis für die menschliche Seele und die höhere, himm- 1 Die aus der Antike stammende Vorstellung vom Menschen als Mikrokosmos (Demokrit, Fr. 34) war noch im Mittelalter ein verbreiteter Topos: »In der kleineren Welt, dem Menschen, meinte Physis nicht zu irren, wenn sie sich die größere Welt zum Vorbild nähme.« (Bernardus Silvestris, De Mundi Univ., II. Buch, XIII); »Die besondere [Natur] aber, die der göttlichen am nächsten ist, findet sich beim Menschen, der darum eine ›kleine Welt‹ genannt wird.« (Thomas v. Aquin, De re- gimine principum, I. Buch, 12. Kap.); »Gott erschuf den Menschen (…), dass sein Wesen und seine Körperglieder nach der Art der ganzen Welt gebildet sind. (…) Deshalb heißt er in griechischer Sprache Mikrokosmos, das bedeutet so viel wie kleine Welt. Deshalb sagen die gebildeten Leute: Ich sah die ganze Welt in einem Rock« (Konrad v. Megenberg, Das Buch der Natur I). 2 Vgl. Plat., Tim. 42e. Analog zu den vier Elementen, aus denen der kosmische Leib geschaffen wur- de, finden sich im menschlichen Körper die vier Säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, die nach der antiken Temperamentenlehre den Wesensarten sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch zugrunde liegen (Edson et al. 2011, 41). 3 von Korvin-Krasinski 1960, 88. 4 Vgl. von Korvin-Krasinski 1960, 87; Duby 1979, 131; Edson et al. 2011, 41. 5 Edson et al. 2011, 41. 6 Die Darstellung des vitruvianischen Menschen fußt auf der folgenden Textstelle: »Ferner ist natür- licherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehen- spitzen berührt. Ebenso wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind« (Vitr., De arch. III, 1, 3).

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    KERSTIN GESSNER

    STADT, RECHT UND WELTENORDNUNG

    Zur Geometrie von Rechtsritual und Stadttopographie am Beispiel der frühneuzeitlichen Strafjustiz in Berlin-Cölln

    Mensch, Stadt und Kosmos

    Ein Kerngedanke der neuplatonisch-christlichen Kosmologie gründete in der Vorstel-lung von der besonderen Beziehung zwischen Mensch und Universum, von Mikro-kosmos und Makrokosmos.1 Nach Platons Timaeus, der noch im hohen Mittelalter zu den am stärksten rezipierten Werken der griechischen Philosophie zählte, waren am Anfang der Zeit Kosmos und Mensch vom δημιουργός, dem Weltenbaumeis-ter, nach einem bestimmten Verhältnis aus den vier Elementen geschaffen worden.2 Daraus ergab sich die Ableitung einer Proportionsanalogie, die einen ontologischen Seins zusam men hang zwischen den beiden Entitäten entstehen ließ:3 Ebenso wie der Mensch, dessen Körper und Seele die Struktur des Kosmos widerspiegeln, ein Mikrokosmos ist4, ist der Kosmos ein Makroanthropos 5 (vgl. Abb. 1 – 3). Ikonographisches Sinnbild der menschlichen Sonderstellung im kosmischen Gefüge war der homo quadratus et circularis, der als viergeteilter Kreis Gestalt und Ordnung des Univer-sums abbildet.6 Während der Kreis für die menschliche Seele und die höhere, himm-

    1 Die aus der Antike stammende Vorstellung vom Menschen als Mikrokosmos (Demokrit, Fr. 34) war noch im Mittelalter ein verbreiteter Topos: »In der kleineren Welt, dem Menschen, meinte Physis nicht zu irren, wenn sie sich die größere Welt zum Vorbild nähme.« (Bernardus Silvestris, De Mundi Univ., II. Buch, XIII); »Die besondere [Natur] aber, die der göttlichen am nächsten ist, findet sich beim Menschen, der darum eine ›kleine Welt‹ genannt wird.« (Thomas v. Aquin, De re-gimine principum, I. Buch, 12. Kap.); »Gott erschuf den Menschen (…), dass sein Wesen und seine Körperglieder nach der Art der ganzen Welt gebildet sind. (…) Deshalb heißt er in griechischer Sprache Mikrokosmos, das bedeutet so viel wie kleine Welt. Deshalb sagen die gebildeten Leute: Ich sah die ganze Welt in einem Rock« (Konrad v. Megenberg, Das Buch der Natur I).

    2 Vgl. Plat., Tim. 42e. Analog zu den vier Elementen, aus denen der kosmische Leib geschaffen wur-de, finden sich im menschlichen Körper die vier Säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, die nach der antiken Temperamentenlehre den Wesensarten sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch zugrunde liegen (Edson et al. 2011, 41).

    3 von Korvin-Krasinski 1960, 88. 4 Vgl. von Korvin-Krasinski 1960, 87; Duby 1979, 131; Edson et al. 2011, 41. 5 Edson et al. 2011, 41. 6 Die Darstellung des vitruvianischen Menschen fußt auf der folgenden Textstelle: »Ferner ist natür-

    licher weise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehen-spitzen berührt. Ebenso wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind« (Vitr., De arch. III, 1, 3).

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    Abb. 1: Der viergeteilte Kosmos (Holz-schnitt aus Konrad Heinfogels Sphaera materialis, 1516)

    Abb. 2: Der viergeteilte Mensch (Holz-schnitt aus Cesare Cesarianos Vitruv-über setzung, 1521)

    Abb. 3: Die Stadt im Zentrum des Kos-mos als Makroanthropos (Holzschnitt, Anfang 16. Jh.)

    Abb. 4: Die Stadt als viergeteilter Kreis (Relief aus einem assyrischen Palast, um 900 v. Chr.)

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    lische Sphäre steht, symbolisiert die durch das Quadrat konstituierte Vierteilung den menschlichen Körper, den irdischen Bereich, der durch die vier Himmelsrichtungen, die vier Elemente und die vier Winde geordnet wird.7

    Das platonische Gewebe aus Analogien, das Mensch und Kosmos verband, durch-drang auch das Prinzip Stadt, wobei noch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Kongruenz von Stadt und Kosmos als Selbstverständlichkeit galt (vgl. Abb. 3).8

    Als ikonographische Abbreviatur des Himmlischen Jerusalems und der Gesamtwelt spiegelte der städtische Grundriss daher immer auch die Weltenordnung.9 Ebenso wie jede Stadt als imago mundi, als Weltenbild, aufgefasst wurde, galt sie auch als Abbild des menschlichen Körpers: In der römischen Stadt markierte eine mit Opfergaben gefüllte Grube das Zentrum des urbanen Organismus. An diesem Ort, an dem sich die Hauptstraßenachsen cardo und decumanus kreuzten, waren Mikro- und Makro-kosmos in Deckung gebracht worden. Der städtische Mittelpunkt wurde nicht nur als mundus – lateinisches Äquivalent des griechischen κόσμος (Welt) – , sondern auch als umbilicus, als Nabel der Stadt, verstanden.10 Als Symbol der städtischen Ordnung fungierte wieder der viergeteilte Kreis, der bereits im vorrömischen Kontext weit-verbreitet war (vgl. Abb. 4 und 5). Über die römische Stadttradition ins lateinische

    7 Die Gliedmaßen des homo quadratus et circularis, die den menschlichen Leib zusammenhalten, ent spre chen ihrer Gestalt nach dem griechischen Buchstaben X (chi), was als Verbindung mit dem Kosmos gedeutet wird: Nach dem Timaios (Plat., Tim. 36b) besitzt die Weltenseele, die das konzentrische Sphärenmodell des Kosmos zusammenhält, die Gestalt eines X, das im christlichen Kontext mit der Initiale Christi (griech. Χριστός) und der Kreuzform besondere Bedeutung erhält (Kurdziałek 1971, 38 und 50).

    8 Vgl. Müller 1961, 197; Lilley 2009, 62. 9 Vgl. Bandmann 1969, 31; Cassirer 2010, 121. 10 Plutarch, Romulus 11, 1 – 2. Vgl. von Korvin-Krasinski 1960, 90.

    Abb. 5: Die Stadt als viergeteilter Kreis (mittelägyptische Hieroglyphe des Be-griffs Stadt, 2. Jt. v. Chr.)

    Abb. 6: Das Himmlische Jerusalem als viergeteilter Kreis (Illumination um 900 n. Chr.)

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    Mittelalter vermittelt, verschmolz die Vierteilung der urbs quadrata, der viergeteil-ten Stadt, mit dem Kreuz, dem christlichen Symbol der neuen Weltenordnung, dem Himmlischen Jerusalem (vgl. Abb. 6).11

    Nach platonischer Auffassung dient die Geometrie als vermittelnde Instanz zwi-schen der transzendenten Welt der Ideen und der diesseitigen Welt der Erscheinungen, indem sie als räumliche Zahl- und Proportionsauffassung arithmetischen Abstrakta zwei- oder dreidimensionale Gestalt verleiht, so dass diese in der Welt der Erschei-nungen wahrgenommen werden können.12 Vor diesem Hintergrund avanciert die Geometrie nicht nur zur Grundlage der mittelalterlichen Sakralarchitektur13, sondern auch der urbanen Topographie.

    Das mittelalterliche Gottesbild vom Schöpfer als geometer, als Vermesser, der durch Zirkelschlag den Kosmos erschuf, ist im Kern ein christliches Amalgam aus plato-nischem Demiurgen-Konzept und alttestamentlichem Gott, der die Welt nach Maß, Zahl und Gewicht ordnete (vgl. Abb. 7).14 Bei jeder Stadtgründung wiederholte der Mensch beim Ausstecken des städtischen Grundrisses mit Messstab und Seil diesen primordialen göttlichen Schöpfungsakt, durch die auf Geometrie basierende Ver-messung entstand als Abbild des Makrokosmos ein geometrisch geordneter Mikro-kosmos.15 Der Mensch wurde so zum Weltenschöpfer, die Stadt zum Kosmos.16 Der Akt der imitatio dei, der Nachahmung Gottes, galt dabei nicht als blasphemische An-maßung, sondern als Medium, eine Verbindung zwischen der himmlischen und irdi-schen Sphäre herzustellen.17 Indem aus der Position bestimmter stadtkonstituierender Elemente, wie Gerichtslaube, Tore und Brücken, ein Beziehungsgeflecht aus urbanem Zentrum und Peripherie entstand, wurde die geometrische Ordnung der städtischen Topographie zum Symbol der geordneten Welt.18

    Stadt, Recht und Raum

    Ebenso wie die göttliche Weltenordnung den Makrokosmos regiert, ordnete das Stadt-recht den urbanen Mikrokosmos: Basierend auf der Vorstellung, der Weltenrichter selbst habe der städtischen Obrigkeit Feuer und Schwert in die Hand gegeben, um die bestehende Ordnung gegen Angriffe zu verteidigen, gewann nicht nur das Gerichts-urteil sakrale Legitimation, die öffentlich praktizierte Strafjustiz erfuhr als legitimes Mittel der Wiederherstellung der durch das Verbrechen gestörten Weltenordnung eine göttliche Sanktionierung – Grundlagen der Sonderstellung des Scharfrichteramtes im

    11 Der Archetyp der viergeteilten Stadt hallt noch heute in den Bezeichnungen Stadtviertel und Quar-tier nach.

    12 Arist., Metaphysik 987b; vgl. Burkert 1962, 29; Gaiser 1963, 95; Sladek 1984, 23; Münsch 2000, 7 ff. 13 Vgl. von Simson 1982, 50; Münsch 2000, 8. 14 Sap., 11, 21; vgl. Zahlten 1995, 51; Leinkauf 2005, IX; Lilley 2009, 80 ff. 15 Vgl. Eliade 1956, 77; de Champeaux/Sterckx 1990, 116; Möbius 1995, 109; Lilley 2009, 94. 16 de Champeaux/Sterckx 1990, 91. 17 Vgl. Cohen 2000, 195. 18 Der griechische Begriff κόσμος trägt bereits die Doppelbedeutung Welt und Ordnung in sich (Wild-

    berg 2011, 85).

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    Abb. 7: Der Schöpfergott als geometer (Bible moralisée, 13. Jh.)

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    städtischen Organismus.19 So entstand ein bis in die Gegenwart wirkender Justiz kanon mit einer festen Rechtsikonographie, der dazu diente, die souveräne Gewalt der Stadt öffentlich zu manifestieren.20 Eigenes Recht und Gerichtsbarkeit bildeten die Grund-feste des Selbstverständnisses jeder mittelalterlichen Stadt.

    Nach vormoderner Auffassung bestand zudem zwischen Schuld und Strafe ein innerer Zusammenhang, sie mussten einander spiegeln.21 Eine Person, die sich der Störung der Weltenordnung – des beim Schöpfungsakt hergestellten Gleichgewichts der Elemente – schuldig gemacht hatte, musste daher als Sühne ihrer Tat durch eines der vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft umkommen, rechtsikonographisch umgesetzt im Akt des Verbrennens, Vergrabens, Ertränkens und Hängens.22 Kreuz und Kreis als althergebrachte Zeichen der Welten- und Stadtordnung wurden durch Richtschwert und Rad versinnbildlicht, so dass bei der Enthauptung und dem Rädern das Delikt gleichsam von der Weltenordnung selbst gesühnt wurde23 (vgl. Abb. 8). Bei besonderer Schwere eines Verbrechens, aufgefasst als Versündigung gegen alle Ele-mente, konnten die Todesstrafen summiert werden.24 Ihrem Selbstverständnis nach basierte die mittelalterliche und frühneuzeitliche Strafjustiz also nicht auf Willkür; man nutzte die Strafordnung vielmehr wie eine feste juristische Formel, die auf einer genauen Kalkulation beruht.25

    19 Vgl. Wilbertz 1979, 139; Piech 2008, 237. Obwohl die Scharfrichterei bis in das 19. Jahrhundert zu den wichtigsten Ämtern einer Stadt gehörte, zählte sie zu den unehrlichen Berufen. Die Tabui-sie rung des Amtes des Vollstreckers geht vermutlich auf römisches Recht zurück, nach dem auch der carnifex (wörtlich der Fleischmacher), der die Leibesstrafen vollzog, als unrein galt (vgl. Hiltl/Meyer 1877, 178; Wilbertz 1979, 139; Nowosadtko 1994, 22).

    20 Vgl. Foucault 2013, 47 und 64. 21 Foucault 2013, 74. 22 Die Formulierung spätmittelalterlicher Gerichtsurteile aus dem oberdeutsch-schweizerischen

    Rechts kreis bezieht sich ausdrücklich auf eines der vier Elemente: »Urthel über Ketzer, Hexen und Bränner: dass man alda ein Feuer mache und diese armen Person gebunden auf einen Leitheren also lebendig in das Feuer stosse und sein ganzer Leib mit Fleisch und Bein, Haut und Haar zue bulffer und aschen verbrönth werde.«; »Urthel über Kindsverderberin, Mörderin oder Vergifterin: Die soll man ausführen und auf die gewonliche Gerichtstatt, allda soll gemacht werden ein tiefe Gruo ben, darin soll man legen ein Burdi Dörn auf sie und soll man ihr in den Mund geben ein Luft rören und sie mit Erden bedecken und die Gruoben zufüllen, damit sie weder Sonn noch Mond bescheinen thüge noch dieselben sehen möge, alda sie lassen sterben und verderben, damit weder Kind noch ge-wachsene Lüthen von ihr kein Schaden empfangen.«; «Urthel über Weiber und Meineid, Diebstäl, Gottslästern und böse und schnöde Sachen: Denselben soll man Händ und Füss zusammenbinden und also gebunden in ein Sack stossen, denselbigen verbinden und also verbunden in ein tiefe Wag des Wassers werfen, versenken und ertränken und also von dem Leben zum Tode richten.«; »Er soll ihn dem Erdreich entflöhen, den Vögeln in der Luft erlauben und mit einem Strick am liechten Galgen am Leben zum Tode erhenken« (Alam. Strafrecht; zit. nach Osenbrüggen 1868, 290 f.).

    23 In der Hierarchie der Strafen wurden Schwert und Rad als Antagonismen aufgefasst: Während das Rädern zu den schändlichsten Todesarten gehörte, galt die Enthauptung als ehrenhafte Hinrich-tung, die den Verurteilten und ihren Familien keine Schande brachte. Deshalb konnten Verurteilte auch zum Schwert »begnadigt« werden (vgl. E. Fidicin: Die Wendland’sche Chronik von 1648 bis 1701. In: Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin. Heft I, 1865, 48; vgl. Wojtucki 2008, 366).

    24 Vgl. Foucault 2013, 46 mit Beispielen aus der französischen Rechtspraxis des Ancien Régime. 25 Foucault 2013, 46.

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    Die urbane Geometrie der Richtstätten in Berlin-Cölln

    Der Glaube an die sakrale Legitimation der städtischen Rechtsordnung implizierte auch, dass die Lokalität der Richtstätte als Ort der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung betrachtet wurde. Vor diesem Hintergrund entstand an dem Ort, an dem sich Scheiterhaufen, Rabenstein oder Galgen befanden, ein liminaler Raum, an dem sich irdische und göttliche Sphäre treffen.26 Extramurale Richtstätten lagen daher vorzugs-weise auf Anhöhen, da Berge und Gipfel nicht nur in der jüdisch-christlichen Kultur als Orte galten, an denen sich die göttliche Weltenordnung manifestieren konnte.27

    26 Vgl. van Gennep 2005, 25 ff.; Piech 2008, 238. 27 Während im Alten Testament Moses auf dem Gipfel des Berges Sinai die jüdische Gesetzesord-

    Abb. 8: Enthauptung und Rädern als Sinnbild der Wiederherstellung der Weltenord-nung (Holzschnitt aus der Bambergischen Peinlichen Halsgerichtsordnung, 1507)

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    Auch im Terminus Hochgericht hallt die Vorstellung von einem erhöhten, liminalen Raum nach. Im intramuralen Bereich entwickelte sich eine spezifische Richtstätte-nikonographie, indem innerstädtische Galgen und Rabensteine durch künstliche Podeste erhöht wurden.28 Mit der Vorstellung von den Richtstätten als Orten des Übergangs hing wohl auch der Glaube zusammen, dass ein reuiger »armer Sünder«, der bereitwillig in den Tod gehe, unmittelbar in den Himmel gelange.29

    Gerichtet wurde daher nicht an einem beliebigen Ort, die Lokalität der Richtstätte wurde von allerhöchster Stelle im Rahmen des Gerichtsurteils festgelegt.30 Die Lage der intramuralen Richtstätten innerhalb eines Stadtorganismus folgte einem topogra-phischen Bezugssystem, in dem sich die städtische Rechtsikonographie manifestierte. Im Fall der Doppelstadt Berlin-Cölln ist die frühneuzeitliche Rechtspraxis in der Wend land’schen Chronik, die im Zeitraum 1648 bis 1701 die Gerichtsurteile mit der zugehörigen Richtstätte verzeichnet, gut dokumentiert.31 Die zentrale Richtstätte der Doppelstadt lag bei der Gerichtslaube vor dem Berliner Rathaus32, außerdem werden Tore (Georgentor 33, Spandauer Tor 34 und Köpenicker Tor 35), Brücken (Lange Brü-cke36, Spandauer Brücke37 und Stralauer Brücke38), öffentliche Plätze (Neuer Markt

    nung in Form der Zehn Gebote aus göttlicher Hand erhält (2. Buch Mose, 19 – 23), findet nach dem Neuen Testament die Kreuzigung Jesu, verstanden als Beginn der neuen, christlichen Weltordnung, auf dem Schädelberg Golgatha statt (Mk. 15, 22; Mt. 27, 33; Joh. 19, 17).

    28 Vgl. Wojtucki 2008, 395 ff. 29 Vgl. Piech 2008, 238. Diese Vorstellung steht vermutlich mit den Worten in Zusammenhang, die

    Jesus während der Kreuzigung an den Mann richtete, der mit ihm hingerichtet wurde: »Wahrlich ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein« (Lk. 23, 42 – 43). Zu den christlichen Myste-rien gehört der Glauben an einen zu Tode gemarteten Gottessohn, der durch sein Selbstopfer die Voraussetzung für die Wiederauferstehung aller Menschen schuf: »Aber Jesus schrie abermals laut und verschied. Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von obenan bis unten-aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, die Gräber taten sich auf, und standen auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen« (Mt. 27, 50 – 53).

    30 Schumann 2006, 335. 31 Die Chronik steht in der Tradition des spätmittelalterlichen Berliner Stadtbuchs, das in Form des so

    genannten Buchs der Übertretungen Aufzeichnungen über die Strafen enthält, die in dem Zeitraum von 1399 bis 1448 vollstreckt wurden, allerdings ohne die Lokalität der Richtstätte zu erwähnen (Berlinisches Stadtbuch, Bd. 4: Buyk der Overtredungen).

    32 Wie in der Wendland’schen Chronik dokumentiert, fanden die meisten innerstädtischen Hinrich-tungen im 17. Jahrhundert vor dem Berliner Rathaus statt, meist in Form von Enthauptungen (vgl. Wendland’sche Chronik, 51, 55, 57, 59, 66, 67, 68, 69, 72, 73, 77, 79, 83, 84, 88).

    33 Das Georgentor, vor dem sich Galgen und Rabenstein befanden, diente auch als Gefängnis (vgl. Wendland’sche Chronik, 97, 99; Hiltl/Meyer 1877, 178).

    34 Beim so genannten Stäupen, einer Prügelstrafe, wurden Delinquenten bis zum Spandauer Tor aus-gestrichen (vgl. Wendland’sche Chronik, 82).

    35 Das Köpenicker Tor, in dem sich ein Gefängnis befand, war auch ein Endpunkt beim Stäupen (Wendland’sche Chronik, 83, 89; Hiltl/Meyer 1877, 178).

    36 An der Langen Brücke wurden Frauen wegen Kindsmord ertränkt (vgl. Wendland’sche Chronik, 49, 59).

    37 An der Spandauer Brücke wurden Frauen wegen Kindsmord ertränkt (vgl. Wendland’sche Chro-nik, 69, 92, 95, 99, 103).

    38 An der Stralauer Brücke wurden Frauen wegen Kindsmord ertränkt (vgl. Wendland’sche Chronik, 60, 61).

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    vor der Marienkirche39 und Molkenmarkt 40) und die Cöllner Gerichtslaube41 als Ge richts orte erwähnt. Projiziert man diese für den innerstädtischen Raum belegten Richtstätten auf einen zeitgenössischen Plan42, so fällt hinsichtlich ihrer topographi-schen Lage die geometrische Verteilung ins Auge: Sie formen ein viergeteiltes Kreis-system, dessen Zentrum die Berliner Gerichtslaube bildet (vgl. Abb. 9).43

    Während die Querachse des städtischen Kreuzes vom Georgentor zur Langen Brücke (BD) verläuft, erstreckt sich die Längsachse vom Spandauer Tor zur Stralauer Brücke (EC). Indem die Abstände von der Gerichtslaube vor dem Berliner Rathaus (A) sowohl zum Neuen Markt vor der Marienkirche (F) und zum Molkenmarkt (G), wie zur Cöllner Gerichtslaube (H), Mönchsturm (J) und der Spandauer Brücke (E), sowie zur Stralauer Brücke (C) und dem Köpenicker Tor (K) identisch sind, formen diese Stätten ein konzentrisches Kreissystem um den gemeinsamen Mittelpunkt, die zentrale Richtstätte der Hauptstadt der Mark Brandenburg.

    Mittelpunkt des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtskreises der Stadt Berlin war die Gerichtslaube vor dem Rathaus, die bis zu ihrem Abbruch im 19. Jahr-hundert direkt auf der zentralen Kreuzung der Hauptachsen Spandauer Straße und Königsstraße stand.44 Die Laube diente der öffentlichen Rechtsprechung:45 In ikono-graphischer Anlehnung an Christus als Weltenrichter saß der oberste Richter der Stadt im Erdgeschoss auf dem Richtstuhl und sprach Recht (vgl. Abb. 11).46 Der archi tek to-

    39 Auf dem Neuen Markt befanden sich Galgen, Esel und Pfahl, in der Regel wurde dort mit dem Schwert gerichtet (vgl. Wendland’sche Chronik, 70, 90, 93).

    40 Auf dem Molkenmarkt stand der so genannte Soldatengalgen, der vor allem der Hinrichtung von Militärangehörigen diente (vgl. Wendland’sche Chronik, 50, 53, 56, 59, 62, 64, 69).

    41 Vor dem Cöllner Rathaus befand sich an der Ecke Breite Straße und Gertraudenstraße eine Ge-richtslaube, vor der Hinrichtungen mit dem Schwert stattfanden (vgl. Wendland’sche Chronik, 89; Hiltl/Meyer 1877, 179).

    42 Die außerstädtischen Richtstätten wurden nicht miteinbezogen, da die exakte Lokalisierung z. T. strittig ist. Bei dem benutzten Plan handelt es sich um eine Darstellung des Ingenieurs La Vigne, der im Jahr 1685 in kurfürstlichem Auftrag die Doppelstadt Berlin-Cölln mit neuem Festungswerk darstellte. Der originale Plan wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, eine im 19. Jh. erstellte Kopie befindet sich heute im Landesarchiv Berlin.

    43 Es ist zu vermuten, dass die mittelalterlichen Richtstätten der Teilstadt Cölln eine ähnliche inner-städtische Topographie formten. Da das Berlinische Hochgericht ab dem 16. Jh. auch für Cölln zuständig war, werden in der Wendland’schen Chronik abgesehen von der Cöllner Gerichtslaube keine Cöllner Richtstätten mehr erwähnt (vgl. Hiltl/Meyer 1877, 179; Schumann 2006, 333).

    44 Das zwischen 1270 und 1290 errichtete Gebäude wurde im Jahre 1871 nach intensiv geführter Diskussion aus verkehrstechnischen Gründen in den Park des Schlosses Babelsberg in Potsdam transloziert (vgl. Berliner Gerichtslaube 1870, 169 ff.).

    45 Die Gerichtslaube als architektonische Umsetzung eines belaubten Gartenspaliers steht als Meta-pher für das Paradies, den Ort des »Ältesten Gerichts«, das Gott selbst über Adam und Eva hielt und in dessen Folge das erste Menschenpaar aus dem Garten Eden verbannt wurde. In der christli-chen Sakralarchitektur wird das Atrium der Kirche, in dem im Mittelalter Gericht gehalten wurde, auch Paradies genannt (vgl. Wagner 2005, 219).

    46 Vgl. Berliner Gerichtslaube 1870, 169. Auch in anderen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten befindet sich im städtischen Zentrum ein Galgen. Da Galgen und Kreuz auch als Symbol für den Lebensbaum stehen können, ist die zentrale Lage im Zusammenhang mit der apokalypti-schen Beschreibung der Himmelsstadt zu sehen, als deren Abbild die irdische Stadt gilt: »In der Mitte ihrer Straße stand des Lebens Holz« (Off. 22, 2).

  • 14

    Abb. 9: Die topographische Verteilung der innerstädtischen Richtstätten der Doppel-stadt Berlin-Cölln im 17. Jahrhundert nach Angaben der Wendland’schen Chronik

  • 15

    nische Aufbau des zweigeschossigen gotischen Baus aus dem 13. Jahrhundert wieder-holt in den halbkreisförmigen Arkaden, die auf einem quadratischen Grundriss ruhen, den im Stadtgrundriss angelegten viergeteilten Kreis (vgl. Abb. 10).

    Topographie und Strafritual als Ausdruck der urbanen Rechtsikonographie

    Um den Akt des Richtens entfaltete sich im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ein komplexes ikonographisches System aus städtischer Topographie und Rechtsritual.47 Das Zentrum des kreuzgestaltigen Gerichtsortes war zugleich der bei der Gründung der Stadt festgelegte zentrale Messpunkt des städtischen Kosmos.48 Bereits das mittel-alterliche Stadtgründungsritual verband den urbanen Mittelpunkt mit dem Stadtrecht: Erst wenn am sechsten Tag am urbanen Zentrum das Stadtrecht vom Stadtherrn im Namen Gottes verkündet worden war, galt die Stadt als gegründet.49 In den Grund-rissen Berlins und Cöllns wurde das städtische Zentrum zwar wie in vielen anderen Gründungsstädten durch die Kreuzung der Hauptstraßenachsen betont,50 das orga-nisch anmutende Straßennetz der geschwungenen Nebenstraßen und die amorphe

    47 Bis heute haben Richter eine Sonderstellung inne, was durch bestimmte Rituale bei Gerichtsver-handlungen und ihren Habitus sinnfällig zum Ausdruck gebracht wird.

    48 Schulze 1994, 19. 49 Das Ritual ist in der Gründungsurkunde der südfranzösischen bastide Toulouzette aus dem Jahr

    1321 überliefert: Der Stadtherr hob eigenhändig das Loch aus, um das palum, das Marktkreuz, zu platzieren, anschließend verkündete er im Namen Gottes die Stadtrechte (vgl. Boerefijn 2010, 119). Diese Tradition wird bis heute im Gründungsritual öffentlicher Gebäude bewahrt, wie bei spiels-weise bei der Grundsteinlegung des neuen Berliner Schlosses im Jahr 2012, bei der die »Stadt herren«, verkörpert durch Bundespräsident und Berliner Bürgermeister, den ersten Spatenstich taten.

    50 Müller (1961, 59) sieht in der Vierteilung durch das Straßenkreuz sogar das Hauptmerkmal der gotischen Planstadt.

    Abb. 10: Grund- und Aufriss der Berli-ner Gerichtslaube

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    Abb. 11: Christus als Weltenrichter am Jüngsten Tag (Holzschnitt aus der Bambergi-schen Peinlichen Halsgerichtsordnung, 1507)

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    Parzellenstruktur machen dagegen die Geometrie, auf der der Entwurf der urbanen Topographie im Rahmen der Erstvermessung der im 13. Jh. gegründeten Doppelstadt basiert, weniger offensichtlich als die orthogonalen Straßennetze vergleichbarer mit-telalterlicher Gründungsstädte.51

    Das auf der Kreuzung der Hauptachsen liegende, meist durch Brunnen, Markt-kreuze oder Gerichtslinden markierte städtische Zentrum war auch in anderen Städten Gerichtsort.52 In der schweizerischen Stadt St. Gallen sprach der Richter an der zen tra-len Kreuzung, »an des Reichs Creuzstrasse«, die von einem Rund aus Sitz reihen umge-ben war, aufrecht stehend mit einem Schwert in der Hand Recht53 – eine augenfällige Inszenierung des viergeteilten Kreises als Abbild der irdischen und himmlischen Ord-nung. Die Gleichsetzung von städtischem Achsenkreuz und den vier Weltgegenden fand auch im Berner Rechtsritual einen Widerhall: Bei jedem Gerichtsurteil bildeten die Bürger einen Ring um das zentrale Straßenkreuz. Wurde ein Angeklagter verrufen, öffnete sich der Kreis aus Menschenleibern nach den vier Himmelsrichtungen.54 Einen buchstäblichen Bezug des städtischen Achsenkreuzes zu den vier Himmelsrichtun-gen stellten Bannformeln her, wie »wir weisen dich in die vier Strassen der Welt« 55. Auch die Vorstellung von einem Rechtskreis, dessen Sphären das Zentrum der Stadt konzentrisch umgeben, manifestierte sich in der mittelalterlichen und früh neu zeit-lichen Rechtspraxis: Das extramurale Stadtgebiet der schweizerischen Stadt St. Gallen, gleichzeitig Grenze der städtischen Gerichtsbarkeit, wurde durch einen Kreis konsti-tuiert, dessen Mittelpunkt durch die Kreuzung der städtischen Hauptachsen markiert wurde. Vier Kreuze, die so genannten Friedkreuze, bildeten den Bannkreis und damit den städtischen Rechtskreis.56

    In Anlehnung an die sakrale Liturgie entstanden spezifisch städtische Rituale, die ihren Ausdruck in einer urbanen Strafliturgie fanden, die vor allem den Aspekt der Stadt als Organismus, als politischer Körper betonte:57 Indem der an den Kreuzweg Christi angelehnte letzte Gang zur Richtstätte bestimmten Stationen folgte, zeichnete er das städtische Achsenkreuz als Symbol der Stadt- und Weltenordnung nach und

    51 Obwohl dies nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, basieren auch die organisch anmutenden Grundrisse so genannter »gewachsener« Städte gleichermaßen auf der Anwendung von Geometrie wie die orthogonale Topographie der französischen bastides oder der toskanischen terre murate des 13. und 14. Jahrhunderts (vgl. Humpert/Schenk 2001).

    52 Vgl. Müller 1961, 200 ff.; Schulze 1994, 20 ff. Die auf ein Zentrum bezogenen Kreuze erinnern an die fünf Kreuze des christlichen Altars, die für die fünf Wunden am Körper Jesu Christi stehen (Sauer 1902, 160). Die kreuzförmig angeordneten Richtstätten sind also gleichsam als Stigmata auf den urbanen Organismus gezeichnet worden.

    53 Vgl. Osenbrüggen 1868, 314 und 319. Aufrechte Haltung und Richtschwert erinnern an die Ro-landsfigur, ikonographisches Sinnbild des städtischen Rechts. Die aufrechte Haltung des Menschen, die ihn von den übrigen Kreaturen abhebt, wird in der mittelalterlichen Anthropologie als Zeichen der menschlichen Verbindung zur himmlischen Sphäre gewertet (Moltmann 1985, 226).

    54 Berner Gerichtssatzung III, 12, 3 (zit. nach Osenbrüggen 1868, 319). 55 J. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 1828, 40, 211 (zit. nach Osenbrüggen 1868, 319). 56 »inrunt der vier criucin« (Urkundenbuch der Abtei St. Gallen, III, 1000 von 1272, zit. nach Wey-

    muth 1967, 62). Beherbergte jemand einen »für die vier Crütz« Verbannten »inrent den kraissen, alz er ferruefft ist«, wurde er selbst verbannt (RS, 80, Nr. 173; zit. nach Weymuth 1967, 69 f.).

    57 Vgl. Foucault 2013, 40 f. und 63.

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    hob ebenso wie die im 13. Jahrhundert ins Leben gerufene Corpus-Christi-Pro zes-sion die innere Verbindung zwischen dem Leib Christi und dem urbanen Organismus hervor.58 Eine ähnliche Vorstellung manifestierte sich im so genannten Stäupen, einer Strafe, die auch in der Doppelstadt Berlin-Cölln im 17. Jahrhundert praktiziert wurde. Vom urbanen Zentrum, in der Regel vom Berliner Rathaus, bis an die durch die Tore bezeichnete Peripherie wurden Delinquenten unter Prügeln aus dem Stadtorganis-

    58 Vgl. Ashley 2001, 17; Lilley 2009, 163.

    Abb. 12: Der gekreuzigte Christus auf dem viergeteilten Kreis (Opicinus de Canistris, 14. Jh.)

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    mus entfernt.59 Bezogen sich Rechtsrituale auf die Stadt als Abbild des viergeteilten Kosmos, konnte die Analogie des städtischen Organismus mit dem viergliedrigen menschlichen Leib in der Strafjustiz noch drastischere Umsetzungen finden.60 Indem der Körper des Delinquenten gleichsam auf das Kreuz des urbanen Organismus gelegt wurde, fand eine augenfällige Inszenierung des Zusammenhangs zwischen menschli-chem und städtischem Torso statt: die Kreuzigung des menschlichen Leibs auf dem Achsenkreuz der Stadt.61

    Um die Vorstellung des Beziehungsgeflechtes Mensch, Stadt, Kosmos entfaltete sich also eine urbane Ikonographie, die bereits bei der Stadtgründung in der Topographie der Stadt angelegt worden war und sich in Form von Rechtsritualen bis in die Frühe Neuzeit und Neuzeit hinein manifestierte. Der viergeteilte Kreis – als Sinnbild der Stadt- und Weltenordnung – war nicht nur zentrales Motiv der Inszenierung des städ-tischen Rechtsrituals, sondern bildete auch die Grundlage der formalen Geometrie der urbanen Topographie, gleichsam als Band, den Mikrokosmos mit dem Makrokosmos zu verknüpfen.62

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    59 Wendland’sche Chronik, 52, 66, 67, 93. Bereits im Alten Testament wurde diese Vorstellung mehr-fach im Zusammenhang mit der Strafjustiz formuliert: »Du sollst das Böse aus deiner Mitte hin-wegschaffen« (5. Mose, 22, 21).

    60 »Den 28. January dieses Jares ist Leupolt (…) mit gluenden Zangen gezwackt, darnach von unten auff geredert, volgents geviertelt, vor jedem Thor ein Viertel aufgehenkt, das Haupt auff St. Geor-gens Thor gestackt (…)« (E. Fidicin (Hg.): Die Chronik der Cölner Stadtschreiber vom Jahre 1542 bis zum Jahre 1605. In: Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin. Heft I, 1865, 8). In einem Urteil in Luzern 1478 wurde als Strafe für Landesverrat die Vierteilung des Delinquenten angeordnet, wobei mit dem Leichnam folgendermaßen verfahren werden soll: »vier stuck für die tor an die vier fryen Richtstrassen henken« (zit. nach Osenbrüggen 1868, 302).

    61 1465 wurde in Zürich ein Mann hingerichtet, indem er entkleidet an vier in der Erde befestigte Pfähle gebunden und durch seinen Nabel ein fünfter Pfahl getrieben wurde (vgl. Osenbrüggen 1868, 297).

    62 Besonderen Dank gilt Annett Dittrich für inhaltliche Anmerkungen und Andreas Kleineberg für das Lektorat des Textes.

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    Bildnachweis

    Abb. 1: Brévart 1981, Abb. 1Abb. 2: Zöllner 2004, Abb. 5Abb. 3: Sollbach 1995, 83Abb. 4: Benevolo 1983, Abb. 49Abb. 5: Benevolo 1983, Abb. 78Abb. 6: Lilley 2009, Abb. 38 (Bibliotheque Municipale, Valenciennes, MS 99, fol. 38r) Abb. 7: Edson et al. 2011, Abb. 1 (Paris, MS Bodl. 270 b, vol. 1v)Abb. 8: von Schwarzenberg: Bambergische Peinliche Halsgerichtsordnung, 1507,

    Bl. 35b (Permalink der Universität Mannheim http://www.uni-mannheim.de/mateo/ desbillons/bambi/seite80.html)

    Abb. 9: K. Geßner; Kartengrundlage: La Vigne, Plan von Berlin mit Umgebung (1685), Kopie von 1890, Original zerstört (Landesarchiv Berlin)

    Abb. 10: Berliner Gerichtslaube 1870, 171Abb. 11: von Schwarzenberg: Bambergische Peinliche Halsgerichtsordnung, 1507,

    Bl. 3a (Permalink der Universität Mannheim http://www.uni-mannheim.de/mateo/desbillons/bambi/seite15.html)

    Abb. 12: Salomon 1936, T. XII (Opicinus de Canistris, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. Lat. 1993)