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Claudia Neu (Hrsg.) Daseinsvorsorge

Claudia Neu (Hrsg.) Daseinsvorsorge€¦ · II Anpassungsstrategien und kommunale Konzepte für eine zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge Regionale Dimensionen des Alterns und

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Claudia Neu (Hrsg.)

Daseinsvorsorge

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VS RESEARCH

Demografischer Wandel – Hintergründe und Herausforderungen

Herausgegeben von

Prof. Dr. Gabriele Doblhammer,Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, Rostock

Prof. Dr. James W. Vaupel,Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock

Unsere Gesellschaft verändert sich tiefgreifend: Immer mehr Menschen erreichenin Gesundheit ein hohes Lebensalter, immer weniger Kinder kommen zur Welt,neue Partnerschafts- und Familienstrukturen entstehen, Menschen wandern überregionale und nationale Grenzen hinweg. In Zeiten einer alternden und schrump-fenden Bevölkerung sind neue Entwürfe für Biografien, für das Zusammenleben,für den Arbeitsmarkt, für den Wohlfahrtsstaat aber auch für die Regional- undStadtplanung gefragt. Mit dieser Schriftenreihe wollen die Herausgeber zurverantwortungsvollen Diskussion um die Hintergründe und Herausforderungendes Demografischen Wandels beitragen und aktuelle Forschungsergebnisse inkompakter, allgemein verständlicher Form darstellen.

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Daseinsvorsorge Eine gesellschafts-wissenschaftliche Annäherung

VS RESEARCH

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Christina M. Brian / Dr. Tatjana Rollnik-Manke

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-16627-8

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Vorwort Die zukünftige Gewährleistung der Daseinsvorsorge gerät seit der ‚Entdeckung‘ des Demografischen Wandels in eine sehr kontroverse Diskussion. Scheinen doch we-niger Menschen auch weniger „Leistungen von allgemeinem Interesse“ zu benöti-gen. Mit dieser Begründung werden Schulen, Kindergärten, Museen oder Schwimmbäder geschlossen und der öffentliche Personennahverkehr auf ein Mini-mum zurückgestuft. Gleichzeitig bedarf eine älter werdende Bevölkerung mögli-cherweise anderer Infrastrukturleistungen als eine Gesellschaft mit vielen Kindern. Insgesamt ist ein Trend zu einer Rückverlagerung von Verantwortlichkeiten und Gestaltungsaufgaben an private Haushalte oder Dienstleister zu beobachten. In unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Daseinsvorsorge steht die Aufrechterhaltung annähernd gleicher Lebensverhältnisse auf dem Staatsgebiet. Lässt sich ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die grundgesetzlich geregelte Her-stellung territorialer Gerechtigkeit (Artikel 72 Absatz 2 GG) feststellen (von der Gleichheit zu Gleichwertigkeit), so ist bisher weitgehend unklar, wie gleichwertige Lebensverhältnisse jenseits von einer sozialpolitisch angestrebten Gleichheit ausse-hen könnten. Offen ist zudem, was als „angemessene“ Daseinsvorsorge in Zeiten voranschreitender Alterung und leerer Kassen für alle Bürger gelten kann und wie sie herzustellen ist. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch die Frage, wer zu-künftig in welchem Maße für die Bereitstellung (einzelne Bereiche) der Daseinsvor-sorge zuständig ist. Die sozialstrukturellen Folgen, die mit der Neukonzeption der staatlichen Daseinsvorsorge einhergehen, bedürfen ebenfalls einer stärkeren Dis-kussion. Diesen Fragestellungen widmete sich die Tagung „Daseinsvorsorge - Herausforde-rungen für eine alternde und schrumpfende Bevölkerung“, die vom Rostocker Zentrum im Mai 2007 veranstaltet wurde. Hauptanliegen des Sammelbandes ist es daher, einen umfassenden Überblick zum aktuellen Stand der Diskussion um die Zusammenhänge zwischen Daseinsvorsorge, demografischen Veränderungen und dem Wandel von Staatlichkeit zu bieten. Für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung sowie dieser Veröffentli-chung darf ich mich ganz herzlich bei Frau Prof. Dr. Gabriele Dobelhammer-Reiter bedanken. Frau Dr. Insa Cassens bin ich ebenfalls außerordentlich dankbar, dass sie die Mühen des Lektorates auf sich genommen und die Autorinnen und Autoren so freundlich wie hilfreich unterstützt hat. Darüber hinaus bin ich Frau Marlen Toch für ihre unermüdliche Arbeit am Layout des Bandes sehr verbunden.

Claudia Neu

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Inhalt Daseinsvorsorge - eine Einführung Claudia Neu .......................................................................................................................... 9 I. Neukonzeption der Daseinsvorsorge und ihre sozialstrukturellen Konsequenzen Wandel der Daseinsvorsorge – Von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zur wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Kohäsion Jens Kersten ..........................................................................................................................22 Koordination der Anpassung der Daseinsvorsorge an den Demografischen Wandel durch Meta-Regulierung und Netzwerkgovernance Klaus Einig..........................................................................................................................39 Wohlfahrtstaatliche Daseinsvorsorge und soziale Ungleichheit Berthold Vogel .....................................................................................................................67 Daseinsvorsorge und territoriale Ungleichheit Claudia Neu ........................................................................................................................80 Auf dem Weg zum Gewährleistungsstaat: Netzvermarktung und Infrastrukturpolitik für die schrumpfende Gesellschaft Weert Canzler, Andreas Knie..............................................................................................97 II Anpassungsstrategien und kommunale Konzepte für eine zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge Regionale Dimensionen des Alterns und der Umbau der kommunalen Daseinsvorsorge – Entwicklungen am Beispiel ländlicher Räume Stephan Beetz.....................................................................................................................114 Anpassungsstrategien an schrumpfende Versorgungsstrukturen – Beispiele aus Brandenburg und Niedersachsen Karl Martin Born ..............................................................................................................133 Land am Rand? Soziale und wirtschaftliche Infrastrukturentwicklung im ländlichen Raum in Österreich Ingrid Machold, Oliver Tamme ..........................................................................................154 Expansive Umgangsweisen mit dem Demografischen Wandel im bildungspolitischen Bereich – Vorteile und Gefahren am Beispiel des polnischen öffentlichen Bildungssektors Katarzyna Kopycka ..........................................................................................................170 Wenn man gegen den Strom schwimmt und auf Kultur und Weiterbildung setzt Bernadette Jonda ................................................................................................................186 „Wenn jemand fragt, wir würden das machen…“ – Engagementpotenziale junger Senioren in ländlichen Räumen Ostdeutschlands Peter-Georg Albrecht..........................................................................................................206

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Daseinsvorsorge – eine Einführung Claudia Neu Das Thema Daseinsvorsorge erfährt seit einigen Jahren eine interessante Neubele-bung. War der Begriff der Daseinsvorsorge bisher überwiegend Rechtswissenschaft-lern geläufig, so kommen heute sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen zu regi-onalen Entwicklungen kaum noch ohne einen Hinweis auf die Herausforderungen bei der zukünftigen Gestaltung der Daseinsvorsorge aus (exemplarisch Kocks 2005). Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung sowie leere öffentliche Kassen stellen fast alle Städte und Gemeinden vor die Entscheidung, wie die infrastrukturel-len Daseinsvorsorgebereiche (beispielsweise Verkehr, Bildung, medizinische Ver-sorgung, Energie) zukünftig gestaltet und finanziert werden können.

Das nachfolgende Kapitel führt ein in das Konzept der Daseinsvorsorge und diskutiert seine aktuelle Relevanz für politische Gestaltungsaufgaben und wissen-schaftliche Forschungsarbeiten. Darüber hinaus werden die Beiträge der Autorin-nen und Autoren des Bandes kurz vorgestellt. 1. Das Konzept der Daseinsvorsorge ‚Daseinsvorsorge’ ist eine deutsche Besonderheit, wenngleich in fast allen Industrie-staaten ähnliche Konzepte vorzufinden sind. In den USA und Australien werden öffentlich bereitgestellte Dienstleistungen wie beispielsweise Energie oder Wasser-ver- und -entsorgung „universal service (obligations)“ genannt, in Großbritannien spricht man vom „public service“ beziehungsweise „services of general economic interest“, während in Frankreich vom „service public“ oder „service d`intérêt géne-ral“ die Rede ist. Auf der Ebene der Europäischen Union wird der Bezeichnung „Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse“ der Vorzug vor dem Begriff der Daseinsvorsorge gegeben.

In Deutschland wurde das Konzept der Daseinsvorsorge seit den späten 1920er bis in die frühen 1970er Jahre maßgeblich durch den deutschen Staats- und Verwal-tungsrechtler Ernst Forsthoff geprägt. Forsthoff formulierte allerdings keinen recht-lichen Rahmen für die Ausgestaltung der öffentlichen Dienste, sondern sah in der Daseinsvorsorge stets einen zentralen Legitimationsbaustein staatlicher Herrschaft. Letztlich sind es für Forsthoff die Auswirkungen der Industriegesellschaft auf den

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modernen Menschen, die Entfremdung von einem natürlichen Lebensumfeld und die Zunahme der Technisierung des Alltages, die die Bürger nach Versorgung und Sicherheit streben lässt.1 Die Verwaltung als Leistungsträger (Forsthoff 1938) garan-tiert ihrerseits durch die Bereitstellung der Daseinsvorsorgeleistungen die Versor-gung und soziale Sicherung der Bürger.2

Diese eher sozialpsychologische Herleitung des Begriffs Daseinsvorsorge bringt es aber mit sich, dass eine trennscharfe Definition von Forsthoff nicht vor-genommen werden konnte (Kersten 2005). So definierte Forsthoff Daseinsvorsorge allgemein als „die Darbietung von Leistungen, auf welche der in die modernen massentümlichen Lebensformen verwiesene Mensch lebensnotwendig angewiesen ist“.3 Zu diesen Leistungen zählen beispielsweise die Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität sowie Post, Telekommunikation und öffentlicher Verkehr, aber auch Vorsorge im Falle von Krankheit, Alter, Invalidität und Arbeitslosig-keit(Forsthoff 1938: 7, 12, 42ff.). Bis heute existiert für den Begriff der Daseinsvor-sorge weder eine Legaldefinition noch ist sein Inhalt abschließend bestimmbar. Im Mittelpunkt der Daseinsvorsorge steht üblicherweise die Versorgung mit Infrastruk-turgütern (exemplarisch Knorr 2005). Welche Infrastrukturgüter im Einzelnen dazu gezählt werden, variiert je nach Betrachtung und wohl auch (politischen) Moden (aktuell: Die Diskussion um die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs oder die Breitbandverbindungen).

1 Der Vorsorgegedanke ist bei Forsthoff – in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren stark durch nationalsozialistisches Gedankengut geprägt – stets mit der Diziplinierung der Gesellschaft ver-bunden. Daseinsvorsorge bietet in ihrer totalitärsten Form somit völlige Entlastung der Bürger von Daseinsrisiken und Totalinklusion in die Gemeinschaft – um den Preis der individuellen Freiheit und Sozialdisziplinierung. Die Grundrechte werden für Forsthoff somit obsolet, sie werden durch die Teilha-be an der Gemeinschaft ersetzt. Bereits Mitte der 1930er Jahre löst sich Forsthoff von der nationalsozia-listischen Ideologie und damit von dem Gedanken der totalen Kontrolle und Disziplinierung der Bürger durch die Daseinsvorsorge. Im Kriegsjahr 1941 betont er in seinem Vortrag „Grenzen des Rechts“, dass staatliche Daseinsvorsorge individuellen Bedarfen angepasst sein muss. (Kersten 2005: 553 ff.) 2 Für Forsthoff war die Bereitstellung der Infrastrukturgüter zur Daseinsvorsorge eine zentrale Aufgabe der Verwaltung: „... alles, was von Seiten der Verwaltung geschieht, um die Allgemeinheit oder nach objektiven Merkmalen bestimmte Personenkreise in den Genuss nützlicher Leistungen zu verset-zen, ist Daseinsvorsorge“. Bedeutsamer ist aber vermutlich, wie Forsthoff fortführt: „Diese Feststellung ist auch der Umkehrung fähig: alle öffentliche Daseinsvorsorge in diesem Sinne ist öffentliche Verwal-tung, gleichgültig in welchen Formen sie ausgeübt wird“. (Forsthoff 1973: 370) Somit ist die Einordnung der Daseinsvorsorge als Element der Leistungsverwaltung klar umrissen. 3 In seinem später veröffentlichten Werk „Lehrbuch des Verwaltungsrechts“ passte Forsthoff sein Verständnis der Daseinsvorsorge der veränderten Zeit an. Er verzichtet nunmehr auf die frühere Ein-schränkung der Daseinsvorsorge auf lebensnotwendige Leistungen. Unter den Begriff der Daseinsvor-sorge fallen jetzt alle nützlichen Leistungen der Verwaltung, unabhängig davon, ob diese Leistungen als lebensnotwendig eingestuft werden oder nicht. Allerdings wird eine Differenzierung in Leistungen, bei denen keine Wahl besteht, ob sie in Anspruch genommen werden oder nicht (z.B. Gas, Wasser, Elektri-zität) und in Leistungen, deren Nutzung aus eigenem Antrieb geschieht (z. B. Theater, Volkshochschule), vorgenommen. (Forsthoff 1973, Neu et al. 2007)

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2. Daseinsvorsorge – reloaded Gleichwohl bleibt offen, warum augenblicklich das Interesse an der Daseinsvorsor-ge so groß ist. Wohlmöglich liegt die Neubelebung des Themas darin begründet, dass das Konzept der Daseinsvorsorge stets aufs engste mit den Vorstellungen von staatlichem Handeln und gesellschaftlicher Ordnung verbunden war. Nun drängen angesichts demografischer Verschiebungen, wirtschaftlicher Schieflage und ver-schärftem wohlfahrtsstaatlichem Wandel die Themen soziale Sicherung, Exklusion, Verwundbarkeit und neuen Ungleichheiten in die öffentliche und wissenschaftliche Debatte zurück. Wie soll sich zukünftig das Verhältnis von (Wohlfahrts-) Staat und Gesellschaft gestalten? Wie wandeln sich soziale und räumliche Ordnungsmodelle?

In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, welche große Rolle die infra-strukturellen Daseinsvorsorgeleistungen für das Zusammenwachsen und –halten der Nachkriegs- und Wiedervereinigungsgesellschaft Bundesrepublik gespielt haben. Infrastrukturen haben dabei stets mehr als reine Versorgungsfunktionen für die Bürger erfüllt, sie beförderten zugleich die soziale und territoriale Integration der Gesellschaft (van Laak 1999, 2006; Kersten 2006). Die integrierende Wirkung ent-falteten die öffentlichen Dienstleistungen vor allem durch ihre flächendeckende Bereitstellung, die allen Bürgern Zugang und Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungen ermöglichen sollte. Diesem „geheimen Lehrplan“ der Infrastruktur-politik (van Laak 2006: 168) folgend, diente die „Schaffung einheitlicher Lebensver-hältnisse“ – seit 1994 die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Artikel 72 Absatz 2 Grundgesetz) – jahrzehntelang als politischer Leitgedanke, um unter-schiedlich entwickelte Räume an ein gleichmäßig hohes Wohlstandsniveau heranzu-führen. Der Bayerische Wald, Ostfriesland und die Eifel sind markante Beispiele für ländliche Regionen, die mittels einer Angleichung der Lebensverhältnisse am wirt-schaftlichen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland und der steigenden Lebens-qualität partizipieren konnten. Auch die Wiedervereinigung Deutschlands war von dem Gedanken beseelt, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die territoriale Integration des gesamten Staatsgebiets befördern würde. Überall sollten die Landschaften gleich erblühen, in Rostock wie in Augsburg, in der Niederlausitz wie auf der Schwäbischen Alp. Konkret bedeutete dies: An jedem Ort der Republik für eine bestimmte Anzahl von Menschen die gleiche Ausstattung mit Bildungsein-richtungen, Freizeitanlagen, Betten in Krankenhäusern, aber auch mit Arbeits- und Ausbildungsplätzen bereit zu stellen, um den dort Wohnenden auf diese Weise „gleichwertige Lebensverhältnisse“ zu garantieren (Barlösius / Neu 2007). Mit Jens Kersten (2006: 245) kann das besondere bundesrepublikanische Verhältnis von Daseinsvorsorge und räumlicher Ordnung wie folgt zusammengefasst werden: „Politisch betrachtet, ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse der unitarische Kern des Selbstverständnisses der Bundesrepublik als Wohlfahrtsstaat. Die Gleich-wertigkeit der Lebensverhältnisse ist gleichsam die räumliche Variante des sozial-

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staatlichen Versprechens, jedermann am gesellschaftlichen Versprechen teilhaben zu lassen, der sich nach 1945 so unverhofft in der Bundesrepublik entwickelt hat.“

Nun aber lassen Demografischer Wandel und Strukturkrisen der vergangenen Jahre die erzielten Erfolge des bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschlands und der Wiedervereinigung brüchig werden. Regionale Disparitäten – zwischen Stadt und Land, Ost und West, Nord und Süd, Zentrum und Peripherie – flammen auf und stellen die brennenden Fragen nach sozialer Ungleichheit, Integration und Teilhabe neu. Zugleich lässt sich ein Paradigmenwandel im Umgang mit bedürftigen Regionen erkennen, Hilfsbedürftigkeit legitimiert nun nicht mehr Unterstützung, sondern umgekehrt, im Rückgriff auf demografische Argumente (weniger Men-schen brauchen weniger Infrastruktur), werden öffentliche Dienstleistungen gekürzt und eingestellt. Mit dieser Begründung werden Schulen, Kindergärten, Museen oder Schwimmbäder geschlossen und der öffentliche Personennahverkehr auf ein Mini-mum zurückgestuft. In entlegenen ländlichen Regionen drohen bereits Versor-gungsdefizite und ein Verlust an Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben. Doch selten wird nach den sozialstrukturellen Folgen des Um- und Abbaus von Daseinsvorsorgeeinrichtungen gefragt. Welche Bevölkerungsgruppen leiden beson-ders unter dem zunehmenden Maß an territorialer Ungleichheit (Neu 2006)? Wel-che Auswirkungen haben die dauerhaften Einschränkungen – beispielsweise bei der medizinischen Versorgung oder im öffentlichen Personennahverkehr – auf die Lebenschancen der Betroffenen?

Wann immer die zukünftige Ausgestaltung der Daseinsvorsorge verhandelt wird, berührt dies stets die Frage nach der Aufrechterhaltung annähernd gleicher Lebensverhältnisse auf dem Staatsgebiet. Doch wie könnten gleichwertige Lebens-verhältnisse jenseits einer sozialpolitisch angestrebten Gleichheit aussehen? Und was kann in Zeiten voranschreitender Alterung und leerer Kassen als „angemesse-ne“ Daseinsvorsorge für alle Bürger gelten und wie ist sie herzustellen? Wie kann sozialer und territorialer Zusammenhalt gesichert werden, wenn die räumliche Dif-ferenzierung zunimmt? Welche sozialstrukturellen Folgen zeitigen die veränderte Ausgestaltung der daseinssichernden Infrastruktur?

Der Paradigmenwandel in Bezug auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhält-nisse (gleichwertig ist nicht gleich) muss eingebettet werden in den sich vollziehen-den Wandel von (Wohlfahrts-)Staatlichkeit (Leibfried / Zürn 2006, Hurrelmann et al 2008; Schuppert / Zürn 2008, Vogel 2007), der mit der Formel vom ‚sorgenden’ zum ‚gewährleistenden’ Wohlfahrtsstaat umschrieben werden kann. Der Staat sorgt nun nicht mehr primär für die Reduzierung sozialer Ungleichheit, gesicherte berufli-che Laufbahnen und den Ausbau öffentlicher Dienste, sondern zieht sich Stück für Stück aus der Leistungserbringung zurück und stellt sicher, dass vormals staatliche Dienstleistungen nun durch andere (private) Anbieter erbracht werden. In Teilbe-reichen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Telekommunikation, Post, ÖPNV, Kin-dertageseinrichtungen etc.) hat sich bereits dauerhaft eine veränderte Arbeitsteilung

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zwischen Staat und privaten Unternehmen etabliert. Am Beispiel der Daseinsvor-sorge lassen sich die Fragen nach der zukünftigen Rolle des Staates hervorragend durchdeklinieren: Was soll und kann der Staat zukünftig im Bereich der Daseinsvor-sorge (noch) leisten? Wer soll welche Dienste und Infrastrukturangebote zukünftig anbieten? Wo sind die Grenzen privatwirtschaftlicher Leistungserbringung? In welchem Umfang und in welchen Daseinsvorsorgebereichen können sich Bürger aktiv einbringen und ergänzend zu staatlichen oder privatwirtschaftlichen Leistun-gen wirken?

Noch wird in der Wissenschaft gestritten (exemplarisch Schuppert 2002, vgl. Fußnote 1 Kersten 2005), ob der Forsthoff’sche Daseinsvorsorgebegriff noch an-schlussfähig ist und welchen weiterführenden Beitrag er heute für die Lösung zu-künftiger Herausforderungen leisten kann. Sicher darf eine heutige Verwendung des Daseinsvorsorgebegriffs nicht in der Staatsfixiertheit Forsthoffs stecken bleiben. Doch Forsthoff bietet zugleich verschiedenste Ansatzpunkte, die für eine zu-kunftsweisende Diskussion fruchtbar gemacht werden können – und in diesem Band auch bereits ihren Niederschlag finden. Dies gilt ebenso für die Frage nach der „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ (Forsthoff 1971, Vogel 2007), wie für die zukünftige Rolle der Bürger bei der Erbringung daseinssichernder Leistungen (Neu et al. 2007). Forsthoff (1958) sah – wenn dies auch bloß ein kurzes Intermezzo bleiben sollte – in seinem Vortrag „Die Daseinsvorsorge und die Kommunen“ aus dem Jahr 1957 erstmalig nicht allein die staatliche Verwaltung als Leistungserbringer in der Pflicht, sondern er begriff die kommunale Selbstverwaltung als einen Platz für demokratische Mitbestimmung und bürgerschaftliche Beteiligung.4 Hier gilt es anzusetzen, um ein neues „Drehbuch“ (Schuppert 2008) für ein Zusammenspiel von Staat, Markt und Bürgern für die Sicherung der Daseinsvorsorge zu schreiben. Darüber hinaus ist noch nicht entschieden, wie soziale Teilhabe und räumliche Integration, die bisher maßgeblich über die flächendeckende Bereitstellung von Infrastrukturen gelenkt worden sind, in einem zunehmend regional differenzierten Staat zu gewährleisten sind. 3. Kurzüberblick über die Beiträge des Bandes Die zuvor angeschnittenen thematischen Eckpunkte Demografischer Wandel, Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, politische Planung und Steuerung, Wandel des Wohlfahrtsstaates, soziale Ungleichheit und bürgerschaftliches Engagement setzen den Rahmen für die vorliegenden Beiträge. Alle Artikel nehmen mehr oder weniger Bezug auf die angespannte demografische und wirtschaftliche Situation in 4 Die kurze Blüte der Bürgerbeteiligung ist jedoch bereits in den 1960 Jahren vorüber. Forsthoff kehrt zu seiner kritischen Haltung gegenüber Bürgerbeteiligung zurück. (Kersten 2005: 559)

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entlegenen ländlichen Räumen, denn dort zeigen sich die Herausforderungen für die zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge mit besonderer Deutlichkeit.

Der Band gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil stehen die Neukonzeption der Daseinsvorsorge und ihre sozialstrukturellen Folgen im Zentrum der Betrachtung. Im zweiten Teil stehen dann regionale Dimensionen des Demografischen Wandels und ihre Auswirkungen auf die (kommunale) Daseinsvorsorge im Vordergrund. Jens Kersten führt im ersten Beitrag des Bandes aus rechtswissenschaftlicher Sicht in die Thematik Daseinsvorsorge ein. Kersten konzentriert sich auf die Frage, wie künftig unter den Bedingungen von Schrumpfung und Wachstum die Daseinsvor-sorge gesichert werden kann. Galt bisher das wohlfahrtsstaatlich geprägte Leitbild der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“, so vollzieht sich momentan ein Leitbildwandel in Richtung des europarechtlich inspirierten Leitbildes des „wirt-schaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“. Am Beispiel der Daseins-vorsorgesektoren Verkehr und Telekommunikation wird gezeigt, wie das Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts die Gewährleistung der Daseinsvorsorge in einer schrumpfenden Gesellschaft steuern kann. Im folgenden Beitrag zeigt Klaus Einig am Beispiel der Raumordnung, wie das Dienstleistungsangebot der Daseinsvorsorge bereichsübergreifend koordiniert wer-den kann. Einig führt in das raumordnerische Politikfeld der Daseinsvorsorge ein und erläutert, welche Koordinationsmodi der Raumordnung zur Regulierung des Angebots von Daseinsvorsorgeeinrichtungen zur Verfügung stehen. Bisher ver-sucht die Raumordnung mithilfe ihres Zentrale-Orte-Konzeptes für die Grundver-sorgung in der Fläche einen Ordnungsrahmen zu definieren. Allerdings lassen sich in besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffenen Räumen Anpassungsprozesse unterausgelasteter Einrichtungen durch die Raumordnung nicht auf hierarchischem Wege koordinieren. In diesen Räumen nutzt die Raumordnung nun ihre moderie-renden Kapazitäten und versucht eine Koordination von Anpassungsprozessen durch Initiierung und Management von Netzwerken (Netzwerkgovernance) einzu-leiten. Berthold Vogel widmet sich in besonderer Weise dem zentralen Zusammenhang eines auf Daseinsvorsorge hin orientierten Wohlfahrtsstaates und sozialer Ungleichheit. Vogel beschreibt die aktuellen wohlfahrtstaatlichen Entwicklungen als einen Wan-del vom sorgenden zum gewährleistenden Wohlfahrtstaat, der neue Steuerungsprin-zipien hervorgebracht hat. So sind es nicht mehr ‚Sorge’ und ‚Statuserhalt’, sondern ‚Gewährleistung’ und ‚Ermöglichung’, die staatliches Handeln prägen. Der Wandel der (Industrie-) Arbeitsgesellschaft und der Wohlfahrtstaatlichkeit haben neue so-ziale Ungleichheiten hervorgebracht, die nunmehr auch den Mittelstand treffen. Abschließend plädiert Vogel für ein kreative Schrumpfungspolitik, die sich dem

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Wachstumsprinzip des „Immer-Mehr“ verabschiedet und ein „Immer-Weniger“ gestaltet. Im Mittelpunkt des Beitrags von Claudia Neu stehen ebenfalls die Folgen, die der Demografische Wandel, die unbewältigte Strukturkrise und die leeren öffentliche Kassen für die Bewohner entlegener ländlicher Räume haben. Vielfach führt der Abbau der öffentlichen Infrastruktur nicht nur zu Versorgungsdefiziten, sondern damit einhergehend zu einem Verlust an Zugangs- und Teilhabechancen. Neu un-tersucht zudem, welche Wirkung der Abbau der sozialen und kulturellen Infrastruk-tur auf das Gemeindeleben und den öffentlichen Raum hat. Der Beitrag endet mit einer Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen eine stärkere Bürgerbeteili-gung bei der Erbringung daseinssichernder Leistungen zu erwarten ist. Weert Canzler und Andreas Knie verknüpfen am Beispiel des Bereichs ÖPNV die Themenfelder Demografischer Wandel, wohlfahrtsstaatlicher Wandel und zukünfti-ge Infrastrukturpolitik. Die Autoren unterbreiten verschiedene Ansätze zu einer umfassenden Reform der Daseinsvorsorge. Neben einer stärkeren Privatisierung ehemals öffentlicher Dienste sehen sie alternativ eine verstärkt hybride Leistungs-erbringung, die neue Anbieterkonstellationen zulässt. Gleichzeitig müssen die Infra-strukturen sich variabel der veränderten (sprich: verminderten) Nachfrage anpassen können und Anreize für eine effiziente Ressourcennutzung bieten. Zudem bedarf es einer grundlegenden Änderung staatlicher Förderung für periphere ländliche Räu-me. Wo die Aufrechterhaltung flächendeckender Daseinsvorsorge aus Kostengrün-den nicht mehr sinnvoll ist, gilt es über weiterführende Ansätze nachzudenken wie beispielsweise die Einführung individueller Transferleistungen für die Versorgung mit Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs, eine stärkere Unterstützung der Eigeninitiative der Bürger bei der Leistungserbringung oder auch die Auslobung einer Umzugsprämie. Die folgenden Beiträge im zweiten Teil des Bandes befassen sich schwerpunktmä-ßig mit den regionalen Dimensionen des Demografischen Wandels und ihre Auswir-kungen auf die (kommunale) Daseinsvorsorge. Einleitend betrachtet Stephan Beetz gesellschaftliches und individuelles Altern, das regional sehr unterschiedlich verläuft. Dabei kann einerseits nicht davon ausgegan-gen werden, dass ländliche Regionen grundsätzlich ‚älter’ sind, also eine besonders alte Bevölkerung aufweisen, allerdings verzeichnen ländliche Räume andererseits seit Beginn der 1990er Jahre eine überdurchschnittliche Alterung, besonders bei den über 75-jährigen. Individuelles Altern wiederum ist stark von den Lebensbedingun-gen vor Ort (Ausstattung und Zugangsmöglichkeiten zu Infrastruktur) abhängig. Bietet naturräumliche Qualität ein eindeutiges Plus für viele ländliche Räume, so

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mindern die besonders in entlegenen Räumen auftauchenden Versorgungsdefizite eben diese Vorteile. Für viele Ältere gestaltet sich das Leben in peripheren ländli-chen Räumen zunehmend schwieriger. Denn der Rückzug der stattlichen Infra-strukturausstattung aus der Fläche trifft auf eine hohe Wohnortgebundenheit bei weniger mobilen Senioren. Räumlich differenzierte Alterungsprozesse ebenso wie unterschiedliche infrastrukturelle Ausstattungsniveaus erfordern einen regional angepassten Umbau der Daseinsvorsorge auf staatlicher und mehr noch auf kom-munaler Ebene. Dies bedarf jedoch einer Klärung der Verantwortlichkeiten für einzelne Daseinsvorsorgebereiche, einer Diskussion und Entscheidung über Aus-gleichsleistungen und Qualitätsstandards, aber vor allem der Sicherung kommunaler Handlungsfähigkeit. Karl Martin Born fragt in seinem Beitrag in einer ost- und einer westdeutschen ländli-chen Region nach den Bedingungen für die Gestaltung einer wohnortnahen Grundversorgung besonders im Bereich der Versorgung mit Lebensmitteln. Die Wohnumfeldanalyse erbringt das Ergebnis, dass vor allem für die ostdeutsche Regi-on von Versorgungsdefiziten gesprochen werden kann. Gleichzeitig erweist sich die Problemlösung als äußerst kompliziert, da verändertes Konsum- und Mobilitätsver-halten sowie enge finanzielle Handlungsspielräume der Befragten eine einfache Rückkehr zum „Tante-Emma-Laden“ wenig wahrscheinlich werden lassen. Ange-sichts einer schnell alternden Bevölkerung wird dennoch zukünftig zu diskutieren sein, wie die Grundversorgung – auch im Bereich der Lebensmittel – zwischen privaten Anbietern im Einzelhandel, nachbarschaftlichen Hilfestellungen und staat-lichen Unterstützungen nachhaltig zu organisieren ist. Von der Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel sind auch die ländlichen Räu-me Österreichs nicht verschont geblieben, ebenso sind dort Buslinien abgebaut und viele hundert Poststationen in den vergangenen Jahren geschlossen, Kindergärten, Senioren- und Pflegeeinrichtungen hingegen ausgebaut worden. In den kommenden Jahren bleibt zu beobachten, wie sich die Konzentration der höheren Schulen in zentralen Orten auf die Bildungsbeteiligung von Kindern aus ländlichen Räumen auswirken wird. Ingrid Machhold und Oliver Tamme sehen auch für die ländlichen Räume Österreichs die Notwenigkeit, Infrastrukturen multifunktional zu gestalten und zu nutzen. Praxisgemeinschaften oder „Multi Service Shops“ bieten sich an, um eine bessere Versorgung der Bewohner entlegener Gemeinden mit den Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs oder ärztlicher Versorgung zu verbessern. Die folgenden drei Beiträge widmen sich den Versuchen, dem Demografischen Wandel nicht allein mit Schließungen und Kürzungen von kommunaler Seite her zu begegnen. Katarzyna Kopycka schildert, welche nicht intendierten Nebenfolgen die ‚expansive’ polnische Strategie hatte, dem Rückgang der Schülerzahlen mit einer

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umfassenden Schulreform (Verlängerung der Schulpflicht, veränderte Schulformen, Einstellung von Lehrern) zu begegnen. So hat ihre Analyse ergeben, dass diese expansive Politik im Bildungsbereich zu einer erheblichen Belastung der polnischen Gemeindehaushalte führt. Die Kommunen laufen dadurch Gefahr, ihre Investiti-onsfähigkeit einzubüßen. Allerdings führten die erheblichen Erhöhungen der Aus-gaben für Bildung in den vergangenen Jahren nicht zu einer Einschränkung der Infrastrukturleistungen für ältere Bewohner. Nicht selten werden als Reaktionen auf die demografische Entwicklung zuallererst Kultur und Weiterbildung Opfer kommunalpolitischer Entscheidungen. Bernadette Jonda beschreibt am Beispiel einer rheinland-pfälzischen Gemeinde, welche Potenzi-ale gerade in den Bereichen Kultur und Weiterbildung stecken und wie gut sie ge-eignet sind, um auf demografische Veränderungen in den Kommunen sinnvoll reagieren zu können. Der Erhalt oder sogar Ausbau kultureller Infrastruktur ist nicht nur in der Lage, die Integration ausländischer Mitbürger zu befördern, son-dern erweist sich als wichtiger Standortfaktor für Neubürger und Touristen. Dass auch bürgerschaftliches Engagement – unter bestimmten Voraussetzungen – eine gewinnbringende Ergänzung zur Daseinsvorsorge darstellen kann, schildert Peter Georg Albrecht in seinem Beitrag. Zunehmend wird das Aktivitätspotential der Senioren im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements entdeckt. Doch in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands trifft der Engagementwille vieler Senioren auf wenig förderliche Strukturen. Durch den Abbau der sozialen und kulturellen Infra-struktur verlieren viele Aktiven den Rückhalt ihres freiwilligen Engagements. So geht die Schulschließung mit dem Verlust der Turnhalle für das Seniorenturnen einher, mit dem „Abzug“ des Pfarrers wird auch der Gemeinderaum nicht mehr benutzt. Eine deutlich ausgeprägtere Anerkennungskultur, hauptamtliche Unter-stützung und innovative Lösungen zur Erhaltung der sozialen und kulturellen Infra-struktur sind geeignet, einen entscheidenden Beitrag zu leisten, damit Senioren sich zukünftig mehr ins öffentliche Leben einbringen und ihr Umfeld mitgestalten kön-nen. Ziel des Bandes soll es sein, der interessierten Leserschaft einen umfassenden Überblick zum aktuellen Stand der Diskussion um die Zusammenhänge zwischen Daseinsvorsorge, demografischen Veränderungen und Wandel von Staatlichkeit zu bieten. Erstmals werden die – gar nicht so – unterschiedlichen Standpunkte der Rechtswissenschaften, Geographie und Soziologie in einer Veröffentlichung zu-sammengeführt. Das Buch wendet sich sowohl an WissenschaftlerInnen und Stu-dentInnen der Rechtswissenschaften, Geographie und Soziologie sowie an politi-sche Entscheidungsträger.

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Literatur Barlösius, Eva/ Neu, Claudia (2007): Gleichwertigkeit – Ade? Die Demographisierung und

Peripherisierung entlegener ländlicher Räume. In: Prokla 36:77-92. Doering-Manteuffel, Anselm (Hrsg.) (2006): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des

20. Jahrhunderts. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. Forsthoff, Ernst (1938): Die Verwaltung als Leistungsträger. Stuttgart: Kohlhammer. Forsthoff, Ernst (1958): Die Daseinsvorsorge und die Kommunen. Ein Vortrag anlässl. d.

Jahrestagung d. Verbandes Kommunaler Unternehmen am 16. 12. 1957 in Köln. Köln-Marienburg: Sigillum-Verlag.

Forsthoff, Ernst (1971): Der Staat der Industriegesellschaft: dargestellt am Beispiel der Bun-desrepublik Deutschland. 2., unveränd. Aufl. München: Beck.

Forsthoff, Ernst (1973): Lehrbuch des Verwaltungsrechts. Erster Band: Allgemeiner Teil. München: Beck.

Hurrelmann, Achim/ Leibfried, Stephan/ Martens, Kerstin/ Mayer, Peter (Hrsg.) (2008): Zerfasert der Nationalstaat? Die Internationalisierung politischer Verantwortung, Frankfurt am Main: Campus.

Kersten, Jens (2005): Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff. In: Der Staat 44:543-569.

Kersten, Jens (2006): Abschied von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – der „wirt-schaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt“ als neue Leitvorstellung für die Raumplanung. In: UPR 7:245-252.

Knorr, Andreas (2005): Ökonomisierung der öffentlichen Verwaltung – einige grundsätzliche ordnungstheoretische Anmerkungen, Materialien des Wissenschaftsschwerpunktes „Globalisierung der Weltwirtschaft“ am Institut für Weltwirtschaft und Internationales Management der Universität Bremen, Bremen.

Kocks, Martina (2005): Öffentliche Daseinsvorsorge und demographischer Wandel, hrsg. vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn.

Laak, Dirk van (1999): Der Begriff der „Infrastruktur“ was er vor seiner Erfindung besagte. In: Archiv für Begriffsgeschichte 41:280-299.

Laak, Dirk van (2006): Garanten der Beständigkeit. Infrastrukturen als Integrationsmedien des Raumes und der Zeit. In: Doering-Manteuffel, Anselm (Hrsg.) (2006): 167-180.

Leibfried, Stephan/ Michael Zürn (2006): Transformationen des Staats? Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Neu, Claudia (2006): Territoriale Ungleichheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 37:8–15. Neu, Claudia et al. (2007): Daseinsvorsorge im peripheren ländlichen Raum – am Beispiel der

Gemeinde Galenbeck, hrsg. vom Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucher Mecklenburg-Vorpommern. Schwerin.

Schuppert, Gunnar Folke (2008): Der Staat bekommt Gesellschaft. In: WZB Mitteilungen 121. 15-17.

Schuppert, Gunnar Folke/ Zürn, Michael (Hrsg.) (2008): Governance in einer sich wandeln-den Welt, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 41. Wiesbaden: VS Verlag.

Schuppert, Gunnar Folke: Die Zukunft der Daseinsvorsorge in Europa: Zwischen Gemein-wohlbindung und Wettbewerb. In: Hans-Peter Schwintowski (Hrsg.) (2002):11-40.

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Schwintowski, Hans-Peter (Hrsg.) (2002): Die Zukunft der kommunalen EVU im liberalisier-ten Energiemarkt, Baden-Baden: Nomos.

Vogel, Berthold (2007): Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, Hamburg: Hamburger Edition.

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I. Neukonzeption der Daseinsvorsorge und ihre sozi-alstrukturellen Konsequenzen

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Wandel der Daseinsvorsorge – Von der Gleichwertig-keit der Lebensverhältnisse zur wirtschaftlichen, sozia-len und territorialen Kohäsion Jens Kersten 1. Einleitung Der Demografische Wandel in der Bundesrepublik Deutschland wird durch zwei langfristige Entwicklungen bestimmt: Die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt (BMVBW/BBR 2005:7ff.; Kaufmann 2005:11ff., 38ff.; Birg 2003:42ff.). Seit den 1970er Jahren liegt die Geburtenziffer in Deutschland mit geringen Schwan-kungen bei durchschnittlich 1,4 Kindern und damit um ein Drittel unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus. Im internationalen Vergleich rangiert die Bundesrepu-blik mit dieser Geburtenrate unter 190 Staaten auf Platz 185. Doch die Bevölkerung der Bundesrepublik geht nicht nur zurück, sondern sie altert zugleich auch: Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt aufgrund der besseren Lebensqualität sowie des medizinischen Fortschritts. Die Brisanz dieser demografischen Entwick-lung liegt in der Veränderung der Bevölkerungsstruktur (Kaufmann 2005:15, 41, 234ff.): Setzen sich die gegenwärtigen Trends fort, so wird für das Jahr 2050 prog-nostiziert, dass der Bevölkerungsanteil der Jugendlichen bei 16,1 Prozent, der 20 bis 60 Jahre alten Erwerbstätigen bei 47,2 Prozent und der über 60 Jahre alten Bürger bei 36,7 Prozent liegt.

Der Demografische Wandel verstärkt die bereits bestehenden sozialen und re-gionalen Gegensätze der Bundesrepublik (Kaufmann 2005:112, 115; Birg 2006:43; Tutt 2007:21ff., 39ff.), die durch Binnenwanderungen von Ost nach West und von Nord nach Süd noch weiter intensiviert werden (BMVBW/BBR 2005:7ff.; Kauf-mann 2005:16, 91, 101, 111, 161; Tutt 2007:23f.): Anziehungspunkte sind die wachstumsstarken Metropolregionen. Diese spannen sich geografisch in Form eines „C“ von Hamburg über Bremen, Rhein-Ruhr, Rhein-Main, Rhein-Neckar und Stuttgart bis nach München. In Ostdeutschland werden sie allein durch den Wachs-tumspunkt Berlin ergänzt. „C mit Punkt“ lautet deshalb die neue wirtschaftsgeogra-fische Formel für die Bundesrepublik.

Dieser soziale Strukturwandel hat auch Folgen für die Infrastruktur: Die flä-chendeckende Daseinsvorsorge in der Bundesrepublik ist gefährdet (BMVBW/BBR 2005:8ff.; MKRO 2006:3). Insbesondere über den ländlichen Gebieten, die in dem

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stark schrumpfenden Dreieck Düsseldorf, Stralsund, Dresden liegen, schwebt das „Damoklesschwert des Wegbrechens noch vorhandener Angebote“ (BMVBW/ BBR 2005:74) der Verkehrs-, Versorgungs-, Gesundheits-, Kommunikations- und Bildungsinfrastrukturen (Dahrendorf 1995:103ff.): Die Gemeinden und Städte schrumpfen personell, sozial, finanziell, wirtschaftlich und politisch. Sie perforieren städtebaulich. Innenstädte veröden. Kirchen schließen. Industrie stirbt oder wandert ab. Öffentliche Einrichtungen veralten. Medizinische Versorgung ist nicht mehr gesichert. Schulen werden geschlossen. Immobilien verlieren ihren Wert. Kultur-landschaften verwildern. Vom „Implosionsrisiko“ (Beirat für Raumordnung 2004: 13; ebd.:2) ganzer Regionen ist die Rede, von der „Gefahr regionaler Abwärtsspira-len“ (BMVBW/BBR 2005:11; Sinz 2006:605), von „Wüstungen“ (Tutt 2007:34), vom „Regionaldarwinismus“ (Weiß 2005:348). Demgegenüber wird das Niveau der Daseinsvorsorge in den expandierenden Metropolregionen der Bundesrepublik künftig noch weiter ansteigen. Deutschland wächst und schrumpft zugleich (Canz-ler 2007:524).

Wie soll in diesem Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Räu-men die Daseinsvorsorge künftig gesichert werden? Um diese Frage zu beantwor-ten, ist zunächst zu klären, was Daseinsvorsorge heute meint (2.). Auf dieser Grundlage ist sodann dem Wandel des räumlichen Leitbilds für die Daseinsvorsor-ge nachzugehen, der sich gegenwärtig von dem wohlfahrtsstaatlich geprägten Leit-bild der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zum europarechtlich inspirierten Leitbild des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ vollzieht (3.). Schließlich soll drittens am Beispiel der Daseinsvorsorgesektoren Verkehr und Telekommunikation gezeigt werden, wie das Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts die Gewährleistung der Daseinsvorsorge in einer schrumpfenden Gesellschaft steuern kann (4.). 2. Daseinsvorsorge Der Begriff der Daseinsvorsorge hat erst in jüngerer Zeit Eingang in gesetzliche Regelungen gefunden: So weisen § 1 Abs. 1 RegG und Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Bay-ÖPNVG den öffentlichen Personennahverkehrs als staatliche Daseinsvorsorge aus. Darüber hinaus hat auch die „kommunale Daseinsvorsorge“ Eingang in die Ge-meindeordnungen (vgl. Art. 87 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BayGO) sowie in die BID-Gesetzgebung (§ 2 Abs. 2 Satz 3 HessINGEG) gefunden. Und aktuell konturiert das neu gefasste Raumordnungsgesetzes den Begriff einer „nachhaltigen Daseins-vorsorge“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 S. 2 und Nr. 3 S. 1 ROG). Doch trotz dieser gesetzli-chen Regelungen gibt es keine abschließende Definition des Begriffs der „Daseins-vorsorge“. Im Allgemeinen wird versucht, Daseinsvorsorge beispielhaft zu kontu-rieren (Kersten 2006a:246): medizinische Dienste, Wasser- und Elektrizitätsversor-

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gung, Abfallentsorgung, Verkehrs- und kommunikative Infrastruktur. Zum Teil werden auch Bildung und soziale Sicherung hinzugezählt. Diese Kasuistik darf jedoch nicht den Blick auf die Funktion der Daseinsvorsorge als einem ganz zentra-len sozialpolitischen Legitimationsbaustein von Herrschaft in der Industriegesell-schaft verstellen: Die Bundesrepublik legitimiert sich nicht nur durch die Staatsfun-damentalnormen des Art. 20 Abs. 1 GG, also vor allem durch Demokratie sowie durch Rechts- und Sozialstaatlichkeit, sondern insbesondere auch durch die Garan-tie der Daseinsvorsorge für die Bürger.

Für die deutsche Verfassungs- und Verwaltungslehre prägend hat Ernst Forsthoff die Daseinsvorsorge als sozialwissenschaftlich inspirierte Legitimations-theorie von den späten 1920er bis in die frühen 1970er Jahre des letzten Jahrhun-derts entfaltet (vgl. der Sache nach bereits Forsthoff 1932:45ff.; begrifflich und programmatisch sodann Forsthoff 1938:1ff.; 1971:75f.; 1973:368ff., 567ff.). Schon der Begriff „Daseinsvorsorge“ zeigt, dass Forsthoff mit ihm einen existentiellen Sachverhalt thematisieren wollte: Forsthoff spricht 1935 – also zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich langsam vom Nationalsozialismus zu lösen beginnt – von der „sozia-len Empfindlichkeit des modernen Massendaseins“ (Forsthoff 1935:398; vgl. so-dann 1938:4f.; schließlich 1971:75f.) des Menschen – und meint damit die Folgen der industriellen Revolution für die Autonomie des Individuums und daran an-schließend die soziale und politische Ordnung (Kersten 2005:557ff.; Schütte 2006 :81ff.; Vogel 2007:13ff.; Gegner 2007:455ff.; Bull 2008:2ff.). Doch für Forsthoff sind zeitlebens die Daseinsvorsorge für den Einzelnen und die Sozialdisziplinierung des Einzelnen zwei Seiten der gleichen Medaille, ohne dass dem Individuum bei der Gestaltung der Daseinsvorsorge eine aktive soziale und politische Rolle zukäme. Forsthoff setzt ausschließlich auf den starken Staat als Leistungsträger (eine Aus-nahme in Forsthoffs Werk bildet Forsthoff 1958; vgl. hierzu Kersten 2005:558f.).

Doch wie Lorenz Jellinghaus jüngst gezeigt hat (Jellinghaus 2006:26ff., 143ff., 159ff., 167ff., 259ff.), verdeckt die Rezeption dieses staatsfixierten Infrastrukturexis-tentialismus in der Bundesrepublik die sozialliberalen Alternativen, die von der Verwaltungswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, um den Infrastrukturausbau politisch und rechtlich zu steuern: In der ers-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts versagt die wohlfahrtstaatliche Medizinalpolizei bei der Bekämpfung der Cholera. Deshalb formulieren ab 1860 – vor dem Hintergrund von Industrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungsexplosion – Naturwissen-schaft und Kommunalpolitik gemeinsam in der Hygienebewegung und sodann im Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege den infrastrukturellen Para-digmenwechsel: Krankheiten dürfen nicht erst mit polizeilichen Mitteln unterdrückt, sondern müssen bereits durch den gezielten Aufbau von städtischen Infrastrukturen im Keim erstickt werden. Die liberale Verwaltungslehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatiert sehr sensibel, dass sich mit diesem Aufbau der Versor-gungs- und Verkehrsstrukturen die Staatsaufgaben exponentiell ausweiten: Nach

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Robert von Mohl und Rudolf von Gneist sollen die Bürger den Aufbau der kom-munalen Verkehrs- und Versorgungsnetze in Vereinen und Kommunen selbst gestalten. Hier schwingt das politische Erbe der gescheiterten Revolution von 1848 mit, das die Kommunalisierung der urbanen Infrastrukturen zunächst prägt, sich dann aber schließlich im Munizipalsozialismus bereits kurz vor dem ersten Welt-krieg verlieren wird. Auch Lorenz von Stein sucht mit seiner Unterscheidung zwi-schen „arbeitendem Staat“ und „freier Verwaltung“ nach Formen der Bürgerparti-zipation für die Entfaltung von Verkehrs- und Versorgungsstrukturen. Und Otto Mayer rezipiert schließlich unter dem Eindruck der Infrastrukturstabilität um 1900 das französische Konzept des service publique in seiner Lehre von der „öffentli-chen Anstalt“, die eine staatliche Verantwortung für die Netzstrukturen mit privater Aufgabenerfüllung kombiniert: Der Staat garantiert zwar die lebenswichtigen Infra-strukturen für die Bürger. Deren Betrieb kann jedoch auf Private übertragen wer-den.

Doch Ernst Forsthoff hat die Tragfähigkeit dieser Ansätze – Bürgergesell-schaft, Selbstverwaltung und staatliche Gewährleistung – als wirklichkeitsfremd bezeichnet, um sich selbst umso wirksamer zum Theoretiker der Infrastrukturkrisen des 20. Jahrhunderts stilisieren zu können. Darauf wird zurückzukommen sein. 3. Wandel des räumlichen Leitbilds der Daseinsvorsorge Um den demografischen Strukturwandel der technischen und sozialen Infrastruktu-ren steuern zu können, bedarf es eines Paradigmenwechsels im räumlichen Leitbild der Daseinsvorsorge. Dieser vollzieht sich vom wohlfahrtsstaatlich geprägten Leit-bild der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zum europarechtlich inspirierten Leitbild des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“. 3.1 Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse In der Bundesrepublik ist die räumliche Gewährleistung der Daseinsvorsorge bisher der in § 1 Abs. 2 ROG niedergelegten Leitvorstellung einer „großräumig ausgewo-genen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen“ gefolgt. Verfassungsrechtlich orientiert sich der Gleichwertigkeitsgrundsatz an Art. 72 Abs. 2 GG (vgl. zur verfassungsrechtlichen Stellung des Gleichwertigkeitsgrundsatzes Korioth 1997:169ff.; Hebeler 2006:301ff.). Politisch betrachtet bildet er – wie gesagt – neben den Staatsfundamentalnormen des Art. 1 und Art. 20 GG einen ganz zent-ralen Legitimationsbaustein der Bundesrepublik als Wohlfahrtsstaat (Kersten 2006b:245ff.). Nicht zuletzt deshalb wird die Konkretisierung der Leitvorstellung von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bis heute durch die Planungsphilo-