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110 Kapitel 8 Paige strahlte, als ich ihr die Blumen zeigte, und schwebte den ganzen Abend um die Vase herum, die ich auf meiner Kommode platziert hatte. Sie drückte mir sogar einen luftigen Gutenachtkuss auf die Wange. Doch als ich am nächsten Morgen vom schrillen Pie- pen meines Weckers geweckt wurde, saß sie schnie- fend unter dem Schreibtisch. Während ich mich für die Schule fertig machte, schwebte sie ohne das übliche Ge- mecker über meine Klamottenwahl im Zimmer herum, zwirbelte nur ihr Haar und seufzte. Als ich sie fragte, welchen Sender sie im Radio hören wollte, zuckte sie bloß mit den Schultern. »Egal, spielt doch sowieso keine Rolle.« Ich goss einen Becher frisches Wasser in die Vase. Die Blumen begannen schon zu welken. Als ich schließlich zur Tür hinausging, kam ich mir vor, als hätte man mir das Wort »unfähig« auf die Stirn tätowiert. Und die Tatsache, dass Tim auf unserer Ve- randatreppe auf mich wartete, verbesserte meine Stim- mung auch nicht gerade. »Hey«, sagte er, als ich auf der Türschwelle stehen blieb und ihn erstaunt anblickte. Er schwankte und

Crewe - Der Geist an meiner Seite

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Oetinger Taschenbuch

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Kapitel 8

Paige strahlte, als ich ihr die Blumen zeigte, und schwebte den ganzen Abend um die Vase herum, die ich auf meiner Kommode platziert hatte. Sie drückte mir sogar einen luftigen Gutenachtkuss auf die Wange. Doch als ich am nächsten Morgen vom schrillen Pie-pen meines Weckers geweckt wurde, saß sie schnie-fend unter dem Schreibtisch. Während ich mich für die Schule fertig machte, schwebte sie ohne das übliche Ge-mecker über meine Klamottenwahl im Zimmer herum, zwirbelte nur ihr Haar und seufzte. Als ich sie fragte, welchen Sender sie im Radio hören wollte, zuckte sie bloß mit den Schultern. »Egal, spielt doch sowieso keine Rolle.«

Ich goss einen Becher frisches Wasser in die Vase. Die Blumen begannen schon zu welken.

Als ich schließlich zur Tür hinausging, kam ich mir vor, als hätte man mir das Wort »unfähig« auf die Stirn tätowiert. Und die Tatsache, dass Tim auf unserer Ve-randatreppe auf mich wartete, verbesserte meine Stim-mung auch nicht gerade.

»Hey«, sagte er, als ich auf der Türschwelle stehen blieb und ihn erstaunt anblickte. Er schwankte und

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blinzelte mich an. Sein Gesicht war ganz bleich, bis auf die dunklen Ränder unter den Augen.

»Hey«, erwiderte ich. Hinter ihm stand der Olds-mobile quer in der Einfahrt. Einer der Hinterreifen hatte eine tiefe Furche in der Rasenkante hinterlas- sen.

Tim folgte meinem Blick. »Oh, tut mir leid. Mir geht’s heut irgendwie nicht so gut. Scheußliche Kopfschmer-zen.« Er rieb sich die Stirn und lächelte mich mit seinem gequälten Lächeln an. »Wenn ich ein bisschen Kaffee intus habe, wird’s bestimmt besser. Ich dachte … äh … mein Dad geht zur Arbeit … erst in einer halben Stunde oder so, aber ich wollte dich noch erwischen, bevor du in der Schule bist. Also, kann ich dich zum Frühstück einladen, und dann versuchen wir es noch mal?«

»Alles okay, Cassie?«, rief Dad von oben.»Ja, alles bestens.« Ich trat hinunter auf die Veranda

und ließ die Tür hinter mir zufallen. »Wie hast du raus-gefunden, wo ich wohne?«, fragte ich.

»Na ja, du hast mir erzählt, dass du in der Earl Street wohnst«, antwortete er. »Und so unheimlich viele McKennas stehen nicht im Telefonbuch.« Für jeman-den, der behauptete, kein Stalker zu sein, kannte der Typ sich ziemlich gut aus.

»Gehen wir also?«, fragte er und trat dabei von einem Fuß auf den anderen.

»Ich muss zur Schule«, erinnerte ich ihn. »Und du mit ziemlicher Sicherheit auch.«

»Gestern hat’s dir doch auch nichts ausgemacht, zu schwänzen.«

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»Na ja, du solltest die betreffende Person wenigstens vorwarnen, bevor du auftauchst, um sie irgendwohin zu schleppen. Sonst sieht es ja so aus, als bräuchtest du nur mit den Fingern zu schnippen, und schon springe ich.«

Er musste hörbar schlucken. »Ich … so hab ich das nicht gemeint, ich dachte bloß …«

»Schon gut.« So sauer war ich jetzt auch wieder nicht. Es war einfach nur eine weitere Macke in einem Tag, der schon ziemlich blöd angefangen hatte.

Er wollte also, dass ich wieder mit zu ihm nach Hause kam, um die Frau ausfindig zu machen, die nichts we-niger wünschte, als von mir entdeckt zu werden. Ich dachte an die Verfolgungsjagd von gestern − wie sie mir auf der Flucht entwischt war −, und mich überkam ein ungutes Gefühl.

Meine Lippen formten schon ein »Nein«, doch ich hielt mich noch rechtzeitig zurück. Denk nicht daran. Denk lieber an Danielle. Ich tat das für Tim, egal, ob seine Mom nun vor mir weglief oder sich dazu entschloss, mit mir zu reden. Und als Gegenleistung konnte ich diese eine Sache von ihm verlangen. Das war schließlich nur fair. Und das war es wert.

»Wenn ich dir noch weiter helfe, musst du auch was für mich tun, in Ordnung?«, sagte ich.

»Klar«, antwortete er. »Hab ich ja versprochen. Sag mir einfach, was du willst.«

Das war nicht die Sorte Unterhaltung, die Dad mit-bekommen sollte. Und Tim sah so aus, als würde er jeden Augenblick die Stufen hinunterpurzeln.

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»Was hältst du davon, dir jetzt den Kaffee zu holen, und wir besprechen alles, wenn du bei vollem Bewusst-sein bist?«

Er fing an zu lachen. »Der Plan gefällt mir.«»Gut.« Ich richtete meinen Blick auf das Auto. »Nur

dass du es weißt, ich gehe zu Fuß.«»Ja, keine schlechte Idee. Ich glaube, ich hab um die

Ecke ein Café gesehen. Ist es okay, wenn ich das Auto hier stehen lasse?«

»Klar, das wird meinem Dad dabei helfen, dich auf-zuspüren, falls du unterwegs auf die Idee kommst, mich zu entführen.«

Das einzige Problem bei dem Spaziergang mit Tim bestand darin, dass er keine zwei Schritte machen konnte, ohne zusammenzuzucken und sich den Kopf zu halten. Normalerweise hätte man für den Weg zwei Minuten gebraucht, aber mit ihm zusammen dauerte es zehn.

»Wieso nimmst du nicht ein paar Schmerztabletten oder so?«, fragte ich ihn, als wir endlich vor der Tür des Café De Lite standen.

»Hab ich schon«, antwortete er. »Keine Sorge. Ein Es-presso wirkt Wunder.«

Mr Gin-am-Mittag wusste anscheinend, wovon er sprach. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch auf der Terrasse, ich mit einem Blaubeermuffin und einem Mo-chaccino bewaffnet und Tim mit seinem Espresso, der schlückchenweise seine Gesichtsfarbe wiederkehren ließ. Als ich den Boden meines Bechers sehen konnte, war er schon beim zweiten und halbwegs munter.

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»Okay«, sagte er. »Jetzt bin ich zu hundert Prozent wach. Was wolltest du also?«

Ich schluckte einen Bissen vom Muffin hinunter und entschloss mich, gleich hier damit herauszurücken. »Alles, was du über Paul weißt − und über Danielle. Einfach alles.«

Er legte den Kopf zur Seite. »Könntest du da viel-leicht ein bisschen konkreter werden? Ich kann dir Pauls Geburtsdatum sagen oder Danielles Lieblings-farbe, aber ich vermute mal, das ist nicht das, was du von mir wissen willst.«

Seine Reaktion war besser, als ich gehofft hatte. Er schien ziemlich gelassen mit der Sache umzugehen, bloß vorsichtig. Vielleicht war er gar nicht so übel, wie ich gedacht hatte, zumindest wenn man etwas tun konnte, das er wollte.

»All das, wovon die meisten nichts wissen. All das, wovon die beiden nicht wollen, dass es jemand weiß. Auch wenn es nur Gerüchte sind, und du dir nicht si-cher bist. Mir ist alles recht.«

»Und ich nehme an, das hat noch einen anderen Grund als dein übliches Ordnungshüter-Getue.«

»Ja, kann man so sagen.«Er ließ den Becher in den Händen kreisen, sodass der

Schaum herumwirbelte. »Paul und ich sind nicht wirk-lich gut befreundet, weißt du? Früher haben wir vielleicht mehr zusammen rumgehangen, aber selbst damals … über wirklich private Sachen reden wir nicht. Wieso interessierst du dich überhaupt so für Paul und Dani-elle?«

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»Danielle und ich kennen uns von früher«, sagte ich. »Ich hab noch eine Rechnung mit ihr offen.«

»Es geht also gar nicht nur darum, die Welt zu ver-bessern. Es ist was Persönliches.«

Ich erstarrte. »Ich denke, alle haben was davon, wenn die Gemeinheiten der Leute ans Licht gebracht werden. Hilfst du mir nun?« Ich stand langsam auf. »Wenn nicht, muss ich jetzt nämlich zum Unterricht.«

»Komm schon, setz dich wieder«, sagte Tim. »Ist ja kein Ding. Mom ist mir sowieso wichtiger als jeder Ein-zelne von denen. Und ich bin dir ja wohl auch für ges-tern noch was schuldig.«

Ich setzte mich, verschränkte die Arme auf dem Tisch und lauschte. Tim stellte seinen Becher ab.

»Von Paul weiß ich … er macht oft Witze darüber, dass er mit anderen Mädchen rummacht, aber ich glaube, da ist nichts dran, jedenfalls nicht in letzter Zeit. Er hat nie jemand Bestimmten erwähnt.« Er machte eine Pause. »Er hat angefangen, sein Auto das ›Liebesmobil‹ zu nennen, vielleicht hat er also da was am Laufen.«

»Was für ein Auto?«»Mustang GT. Rot. Coupé, kein Cabrio. Normaler-

weise parkt er ihn an der Straße. Hat Angst, auf dem Schulparkplatz könnte ihn ein rücksichtsloser Kerl wie ich zu Schrott fahren.«

»Das ist doch schon mal etwas.« Ich würde Norris und Bitzy darauf ansetzen, das Auto im Auge zu behal-ten. Was er da wohl schon alles getrieben hatte!

»Sonst noch was?«, fragte ich. »Es muss nicht unbe-dingt mit Mädchen zu tun haben.«

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Tim überlegte und fuhr mit seinem Daumen am Rand des Bechers entlang.

»Er reißt Witze und spricht ab und zu über Danielle, ansonsten redet er nur noch über Sport. Du weißt ja sicher, dass er in der Basketballmannschaft und in der Leichtathletikmannschaft ist. Ähm … und er war ganz schön sauer, dass er nicht als Sportler des Jahres nomi-niert wurde, weil es doch sein letztes Jahr in der Frazer High School ist.«

Ich verzog den Mund zu einem Grinsen.»Was?«, fragte Tim. »Ist das gut?«»Ich weiß bloß ein paar Dinge, die Paul nicht weiß«,

erwiderte ich. Zum Beispiel, dass er ursprünglich auf der Liste der Nominierten stand. Und welcher seiner Freunde dafür gesorgt hatte, dass er wieder gestrichen wurde. »Und was ist mit Danielle?«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die sehe ich ei-gentlich nur, wenn ein paar von uns zusammen sind. Sie sagt, dass sie nächstes Jahr für die Schülervertretung kandidieren will, und sie hatte irgend so einen Job im Einkaufszentrum in Aussicht. Die Sache ist aber ge-platzt, und ich glaube, sie war ziemlich sauer deswe-gen. Ansonsten« − er schüttelte den Kopf −, »das ist alles, was ich weiß. Na ja, ehrlich gesagt, manchmal hat sie einen ziemlich harschen Ton drauf, aber ich habe sie auch schon dabei beobachtet, wie sie einem Mädchen, das sie kaum kannte, in der Mittagspause geholfen hat, einen Fleck aus der Bluse zu kriegen.«

Natürlich, wenn wichtige Leute dabei waren, prahlte Danielle mit ihrem Edelmut. Ich zog die Brauen hoch.

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»Ist das alles? Du verbringst so viel Zeit mit diesen Typen −«

Tim verzog das Gesicht, und mich überkam ein An-flug von schlechtem Gewissen. Dann schlich sich lang-sam so etwas wie ein Lächeln in sein Gesicht. Und ich fühlte mich noch unwohler in meiner Haut.

»Weißt du«, sagte er, »morgen Abend gibt Matti eine Party. Ich hatte eigentlich nicht vor, hinzugehen, ich sehe die Leute ja ohnehin schon oft genug, aber wenn du mitkommen würdest …«

»Ich? Auf eine Party?« In den letzten vier Jahren hatte ich nur ein einziges Mal so etwas Ähnliches wie eine Party besucht. Es war die letzte Feier in der Junior High School gewesen, wo die Mädchen sich geweigert hatten, im Umkreis von zwei Metern von mir zu stehen, und die Jungs abwechselnd mit einge-speichelten Papierkügelchen nach mir warfen und im Vorbeigehen unanständige Bemerkungen losließen. »Aber … ich … Die würden mich doch nicht mal rein-lassen, oder?«

»Klar doch, wenn du mit mir kommst.« Er sah mich erwartungsvoll an. »Ich dachte, dann könntest du so viel Klatsch und Tratsch auskundschaften, wie du willst, und ich wäre nicht gezwungen, mit denen allein zu sein. Aber du musst natürlich nicht. War bloß so eine Idee.«

Toll, jetzt hielt er mich für ein feiges Huhn. Ich biss die Zähne zusammen. Wo war das Problem? Es wäre fantastisch. Die größten Angeber, alle auf einem Hau-fen, betrunken und bekifft, schutzlos ausgeliefert. Ich

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könnte in einer Nacht mehr Gemeinheiten aufdecken als im ganzen Jahr zuvor.

Und trotzdem schlug mir das Herz vor Aufregung bis zum Hals.

»Ich denk mal drüber nach«, sagte ich.»Du solltest mitkommen«, erwiderte er und grinste

noch mehr. »Es wäre … auf jeden Fall interessant.«Eine Bedienung kam angeschlurft und räumte un-

sere Becher ab. »Möchtest du noch etwas?«, fragte Tim.»Nee, ich würde jetzt gern von hier verschwinden.«Er zögerte. »Äh … zu mir also?« Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Ich hatte ja

alles, was ich von ihm wollte. Ich konnte einfach gehen, ohne mich noch einmal umzudrehen, ohne mich weiter mit dieser Toten herumschlagen zu müssen, die nichts mit mir zu tun haben wollte. Doch so rasch der Gedanke gekommen war, so schnell wischte ich ihn wieder weg. Tim hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt, und ich wäre genauso gemein wie alle anderen, wenn ich mich jetzt vor meinem Part drücken würde.

»Warum nicht?«, antwortete ich, und die Erleichte-rung in seinem Gesicht war so groß, dass ich dachte, er würde jeden Moment anfangen zu heulen. »Ich tue, was ich kann«, fügte ich schnell hinzu. »Das letzte Mal war sie ein bisschen … schüchtern. Ich kann dir nicht ver-sprechen, dass es klappt.«

»Hey«, rief er und hob die Hände. »Ich bin echt nicht wählerisch. Ich nehme, was immer du kriegst. Traust du mir jetzt zu, dass ich fahre?«

»Ich denk schon.« Ich traute ihm jedenfalls genug,

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um lieber fünf Minuten Autofahrt zu riskieren, als zu laufen und noch eine halbe Stunde lang peinliche Un-terhaltungen führen zu müssen.

Tim schaffte es natürlich auch so, die Sache ziemlich unangenehm zu machen. »Darf ich dich mal fragen«, fing er an und schob seinen Stuhl zurück, »nach den Geistern und dem ganzen Kram? Wie funktioniert das? Siehst du sie einfach? Schon immer?«

Mir schnürte sich der Hals zu, und ich wandte mich ab, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich zer-krümelte die letzten Muffinreste zwischen den Fingern. »Ja, ich kann sie sehen«, antwortete ich. »Und nein, noch nicht immer.« Erst seit dem Morgen nach Paiges Abschlussball in der Junior High School.

Ich hatte die Ereignisse schon so oft in meiner Erin-nerung durchgespielt, dass sie wie ein Film in meinem Kopf abliefen. In jener Nacht war ich bis in die frühen Morgenstunden wach geblieben und hatte darauf ge-wartet, dass die Tür ins Schloss fiel und Paiges Schritte im Flur zu hören waren. Am nächsten Morgen war ich dann spät und völlig fertig aufgewacht und hatte ge-merkt, dass ich unabsichtlich eingeschlafen war. Als ich auf dem Weg zur Treppe an Paiges halb geöffneter Tür vorbeitrottete, war sie in ihrem Zimmer. Ich konnte nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen und sah sie zusam-mengerollt auf ihrem Bett liegen. Sie heulte so laut, dass man sie bestimmt in der ganzen Straße hören konnte. Nichts Neues. Irgendeine Katastrophe auf dem Ball ver-mutlich − vielleicht hatte Larry mit ihr Schluss gemacht oder ein anderes Mädchen geküsst, oder sie hatte sich

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Punsch auf ihr schönes Kleid gekippt. Eigenartig nur, dass Mom nicht bei ihr war, um sie zu trösten, aber viel-leicht wollte sie sich einfach nicht beruhigen lassen. Das war auch schon vorgekommen.

Als ich nach unten kam, hörte ich Mom im Esszim-mer schluchzen. Meine Haut begann zu kribbeln. Mom weinte sonst nie, jedenfalls nicht vor den Augen ande-rer. Wo war Dad? Ich geriet in Panik und stürzte ins Ess-zimmer.

Dad war da, er stand hinter Mom und hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt. Mom wischte sich mit einem Papiertaschentuch über die Augen.

»Oh, Cassie«, sagte sie.Dann ergriff Dad das Wort. »Cassie« − seine Stimme

klang heiser −, »deine Schwester …«Was? War Paige krank? Verletzt? Es ging ihr doch si-

cher gut, sie hatte nie irgendwas.Er räusperte sich. »Deine Schwester … ist letzte

Nacht gestorben.«Ich starrte die beiden an. Die Worte trafen mich wie

ein Schlag und blieben hängen. Sie schafften es nicht ganz bis in mein Hirn. Mom und Dad mussten sich irren. Paige war nicht tot. Sie war oben. Ich hatte sie doch gerade noch gesehen – oder etwa nicht?

»Cassie«, murmelte Mom.Ich rannte davon, wieder die Treppe hinauf zu Pai-

ges Zimmertür, und spähte hinein. Da war sie, inzwi-schen leise in ihr Kopfkissen wimmernd. Ich stieß die Tür auf, drauf und dran, sie anzufahren, sie solle ihren Hintern nach unten bewegen und die Sache aufklären,

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da sah ich es. Der Saum des Kopfkissens, das Bettlaken mit dem Rosenmuster, alles schien durch sie hindurch. Als die Tür an der Wand anschlug, richtete sie sich auf, und ich konnte das hölzerne Kopfende des Betts durch ihr rosa schimmerndes Gesicht erkennen.

»Cassie?«, rief sie. »Cassie, die sind alle verrückt ge-worden! Sie sprechen nicht mit mir; sie sehen mich noch nicht mal an. Kannst du Mom fragen, was los ist? Ich kriege es nicht aus ihr heraus −«

Ich begrüßte meine neu gewonnene Gabe, indem ich die Tür zuschlug und direkt ins Innere meines Klei-derschranks rannte, wo alles dunkel und greifbar war, während draußen nichts mehr wirklich zu sein schien.

Es ist meine Schuld, dachte ich dauernd. Ich hatte gewollt, dass sie verschwindet, und nun war es passiert. Sie war fort, für alle außer für mich. Und ich war schuld.

»Cass? Hey, Cass?«, holte Tim mich aus meinen Ge-danken zurück. Ich zuckte zusammen. Wir standen an der Ecke zur Earl Street − wie auch immer ich dorthin gelangt war.

»Ich habe bloß nachgedacht«, sagte ich.»Ja, das hab ich gemerkt.« Er zog den Kopf ein. »Ich

meine, tut mir leid, dass ich gefragt habe, ich wollte nicht …«

»Ist schon in Ordnung. Seit wann ich sie sehen kann, wolltest du wissen. Seit vier Jahren. Seit meine Schwes-ter gestorben ist. Über das Wie kann ich dir nichts sagen. Eine Gebrauchsanweisung ist nicht dabei gewesen.«

Ich strich meine Haare hinter die Ohren und ging

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dann so entschlossen auf unser Haus zu, dass Tim zu-rückblieb. Kurz darauf holte er mich wieder ein.

»Wow!«, sagte er. »Das war sicher hart. Tut mir leid wegen deiner Schwester. Wissen deine Eltern davon?«

Ich musste lauthals lachen. »Was denkst du denn? Am Anfang war ich so verrückt, ihnen davon zu er-zählen, und ehe ich mich’s versah, saß ich beim Seelen-klempner. Für sie war es eine kurze, von der Trauer aus-gelöste Episode, die sich nicht mehr wiederholen wird.« Es gab eben Dinge, für die Eltern nicht gemacht waren. Eine zwölfjährige Tochter, die etwas davon faselte, den Geist ihrer verstorbenen Schwester zu sehen, war mit Sicherheit eins davon.

Als wir am Auto ankamen, schloss Tim zuerst die Beifahrertür auf. Am liebsten wäre ich in den Sitz ge-sunken und hätte den Kopf ans Fenster gelehnt, aber nicht vor ihm. Er sah mich ohnehin schon so seltsam an. Ich musste mich zusammenreißen.

»Wieso willst du das alles eigentlich so genau wis-sen?«, fragte ich ihn.

»Es ist interessant.« Er drehte den Schlüssel im Zünd-schloss, und der Motor sprang stotternd an. »Ich lerne nicht so oft Leute kennen, die mit Toten reden können, weißt du? Kannst du … gibt es noch was anderes, was du …«

»Ich kann nach deiner Mom suchen. Das ist doch die Hauptsache, oder? Ich bin jedenfalls keine wandelnde Freakshow.«

»Für mich bist du kein Freak.«»Gut.«

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»Ehrlich, du bist nicht verrückt.« Er wartete noch einen Augenblick und überprüfte den toten Winkel, bevor er das Auto aus der Einfahrt manövrierte. »Inter-essant und verrückt ist nicht dasselbe. Meine Mom hat immer gesagt: ›Jeder Mensch, den du in deinem Leben triffst, ist wie eine spannende Geschichte – du hast sie nur noch nicht gelesen.‹«

»Das klingt ziemlich weise«, erwiderte ich.»Ich weiß nicht, ob sie weise war, aber sie war … gut.

Wenn man sie gebraucht hat, ließ sie alles stehen und liegen. Sie war immer für einen da. Das kann ich sonst von keinem sagen.«

»Es war sicher schön. Und du warst ganz allein, keine Brüder oder Schwestern?«

Er nickte. »Sie sagte, dass in allen Familien mit meh-reren Kindern, die sie kannte, die Eltern letztendlich immer eins bevorzugt haben, auch wenn es gar nicht ihre Absicht war. Das sollte bei uns nicht passieren.«

Was dieses Problem betraf, konnte ich ihr durchaus zustimmen. »Sie war also gut und selbstlos und alles − aber hat sie denn gar nichts für sich selbst getan?«

»Das war für sie selbst. Es war ihr wichtig, zu helfen und für andere da zu sein − sie hat im Altenheim gear-beitet und während der Feiertage im Obdachlosenheim ausgeholfen. Ist es denn so schwer zu glauben, dass je-mand das alles gerne macht?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist schwer zu glau-ben, dass sie gar nichts für sich ganz allein hatte.«

»Na ja …« Sein Blick schweifte in die Ferne. »Sie mochte Musik. Wenn ich nach Hause kam, sang sie öf-

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ters bei den Liedern von irgend so einem Oldie-Album mit. Und eine Zeit lang hat sie Klavierstunden genom-men. Ich glaube, das Keyboard steht noch unten im Kel-ler … «

Seine Stimme geriet ins Stocken, und mir fiel ein, was − oder vielmehr, wen – wir gestern im Keller ge-troffen hatten.

»Wo wir gerade bei interessanten Geschichten sind«, bemerkte ich, »was läuft denn da zwischen dir und dei-nem Dad?«

Gerade noch rechtzeitig vor einem Stoppschild trat Tim plötzlich auf die Bremse, und ich wurde in meinen Sitz zurückgeschleudert. Während er darauf wartete, dass ein anderes Auto links abbog, verkrampften sich seine Hände am Lenkrad.

»Was meinst du?«, fragte er angespannt.»Ich bin doch nicht blind. Du hast gestern ausgese-

hen, als würdest du ihn eher erstechen, als ihm Hallo zu sagen. Und du hast mir selbst erzählt, dass du nicht mit ihm reden kannst.«

»Ja, aber ich will auch nicht über ihn reden, okay?«»Denkst du, ich bin scharf drauf, den Leuten zu er-

zählen, dass ich Tote sehen kann?« »Lass es einfach sein«, fuhr er mich an.Ich lehnte meinen Kopf zurück und betrachtete

das ausgeblichene Grau des Autohimmels. »Wie du meinst.«

Der Wagen zuckelte weiter, und Tim starrte ver-bissen geradeaus. Das hatte ich mir schon gedacht. Es war genau wie an dem Tag im Park. Er selbst war ganz

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versessen darauf, alles über die Verrücktheiten meines Lebens zu erfahren, aber eine winzige Frage über seine Familienangelegenheiten …

»Er hat uns verlassen«, sagte er plötzlich. Er stockte, und ich wartete. »Als Mom krank geworden ist und klar war, dass sie nicht wieder gesund werden würde, konnte er das nicht ertragen. Er sagte, es sei zu viel für ihn, dabei zuzusehen, wie sie immer schwächer wird … also hat er sich aus dem Staub gemacht. Als die Klinik sie am Ende nach Hause geschickt hat, ist er aus-gezogen. Irgendwo in ein Motel. Ich hab ihn monate-lang nicht gesehen. Erst als sie ganz am Schluss wieder im Krankenhaus war, ist er zurückgekommen. Zufrie-den?«

Mein Mund klappte auf, doch es kam nichts heraus. Dafür fehlten mir die Worte.

»Er … du warst ganz allein?«, brachte ich schließlich hervor.

»Na ja, zehn Stunden am Tag kam eine Kranken-schwester zu uns nach Hause, und meine Tante, die Schwester meiner Mom, hat öfters bei uns übernachtet. Es war eine große Hilfe, dass sie da war.«

»So ein Mistkerl. Du musst ihn hassen.«Tim antwortete nicht, und sein Blick war stur auf die

Windschutzscheibe gerichtet. Ein weiß-grauer Wolken-streifen glitt vom See herüber. Tim fuhr geschmeidig um die Kurve und parkte das Auto vor dem Haus seiner Familie. Wir schwiegen.

Ich atmete tief durch. Nach dieser gegenseitigen Beichte fühlte ich mich wie durch die Mangel gedreht.

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Höchste Zeit, sich wieder aufs Wesentliche zu konzent-rieren. Dieses Mal konnte Tims Mom nicht wieder in den Keller entwischen, allerdings hinderte sie nichts daran, in den Wänden zu versinken oder durch die Decke fortzuschweben. Womöglich hatte ich sie gestern irgendwie erschreckt, doch heute würde sie sich ohne-hin nicht mehr an mich erinnern. Vielleicht fürchtete sie sich einfach vor allen Menschen. Ich musste davon ausgehen, dass sie nicht lange dableiben würde, wenn ich erst mal im Haus war, ganz egal, was ich tat. Also musste ich sofort zur Sache kommen.

»Ich glaube, es ist besser, wenn du erst mal draußen bleibst«, sagte ich zu Tim. »Gib mir zuerst Gelegenheit, ihr alles zu erklären.«

Er runzelte die Stirn. »Kannst du das nicht machen, wenn ich dabei bin?«

»Wenn sie ängstlich ist, wird es umso schwieriger sein, sie zum Zuhören zu bringen, je mehr Leute dabei sind. Ich ruf dich, wenn sie so weit ist.«

»Okay.« Beim Aussteigen blickte Tim zum Haus hi-nauf und presste die Lippen zusammen. »Aber sobald du kannst …«

»Natürlich«, beruhigte ich ihn. »Was sollte ich denn mit ihr zu besprechen haben?«

Ich wartete am Auto, während er die Einfahrt hinun-terlief, um die Garage zu kontrollieren. »Er ist auf jeden Fall weg!«, rief er mir zu. »Die Luft ist rein.«

Wir gingen hinauf zur Veranda, und er gab mir sei-nen Schlüsselbund. »Leg los. Es ist der große silberne. Ich warte hier.«

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Ich fingerte an den Schlüsseln herum und suchte den passenden heraus. Im ersten Moment klemmte das Schloss ein wenig, dann machte es »klick«, und die Tür ging auf.

»Mrs Reed?«, rief ich und sprang über die Tür-schwelle in die Dunkelheit des Flurs. Ein Hauch von Puderzucker lag in der staubigen Luft. Ich ließ den Schlüsselring auf das Schuhregal fallen, schob die Tür mit dem Fuß zu und senkte die Stimme. »Mrs Reed, Sie müssen kurz rauskommen – für Tim. Ich weiß, dass Sie mich hören können, und wenn Sie mit mir reden, kann ich Sie auch hören. Es ist nur für Tim, versprochen. Ich glaube, er will wissen, ob es Ihnen … gut geht … oder so. Jetzt, wo er weiß, dass Sie hier sind, wird er sicher nicht aufgeben. Bringen wir es also hinter uns, einver-standen?«

Ich schmeckte etwas Zuckriges auf der Zunge, und im Wohnzimmer wurde es, kaum wahrnehmbar, heller. Ich trat durch die Tür. »Mrs Reed?«

Der Raum war von einem zarten Lichtschein er-füllt, und mitten darin schwebte eine Frau. Ihr weißes Sommerkleid schmiegte sich fließend um ihre schlanke Figur. Sie kam auf mich zu, machte an der Türschwelle halt und faltete die Hände vor dem Körper. Das Ge-sicht unter ihren honigblonden Locken war schmal und bleich. Die Augen, mit denen sie mich anstarrte, hatten dieselbe graublaue Farbe wie die von Tim.

Sie war die schönste Tote, die ich je gesehen hatte. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie für einen Engel gehalten.

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»Wer bist du?«, fragte sie, und ihre Stimme klang sanft, aber beunruhigt.

Ich atmete langsam aus. »Ich bin … so was wie eine Freundin von Tim. Wir gehen zusammen auf die Frazer High School. Er hat mich gebeten, hierherzukommen.«

»Warum? Was willst du?«»Ich will gar nichts«, erwiderte ich. »Tim will etwas,

es war seine Idee. Er will bloß … na ja, ich weiß nicht so genau, was er eigentlich will, aber ich glaube, er möchte mit Ihnen reden, jetzt, wo er weiß, dass Sie hier sind. Er wartet draußen. Bleiben Sie so lange, bis ich ihn geholt habe?«

Ihre Stirn legte sich in Falten. »Das ist keine gute Idee. Du hättest nicht zulassen sollen, dass er …«

»Moment mal.« Ich hob die Hände. »Ich hab gar nichts zugelassen. Ich bin nur hier, weil er mich geholt hat. Ihr Sohn ist nämlich ein ganz schöner Dickkopf.«

Sie verblasste und wurde von der Dunkelheit durch-drungen. »Ich weiß«, antwortete sie. »Es tut mir leid. Du verstehst das nicht. Ich muss mit ansehen, wie er nach mir sucht, wie er einfach bloß dasitzt, in meinem Zim-mer oder hier unten, und all die Zeit verschwendet, die er draußen mit seinen Freunden verbringen sollte oder mit der Vorbereitung fürs College oder … Er leidet, und ich bin schuld. Wenn ich nur fortgehen könnte, wenn ich gar nicht mehr hier wäre …«

Das lag natürlich genauso wenig in ihrer Macht wie in Paiges oder in der der anderen Toten. Obwohl ich mich fragte, ob es nicht doch etwas mit ihr selbst zu tun hatte und sie es nur nicht erkannte. Vielleicht hielt ihre

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Angst um Tim sie hier zurück, so wie auch er sie umge-kehrt nicht loslassen konnte. Klar, wer war schon ohne Ängste, wenn er starb? Aber wenn sie gewusst hätte, wie durcheinander Tim sowieso schon war, weil sein Dad abgehauen war und seine Freunde sich zurück-zogen … Aber vermutlich hätte der Schmerz in seinem Gesicht in jedem das Bedürfnis geweckt, in der Nähe zu bleiben und auf ihn aufpassen zu wollen.

Ich wischte die Gedanken weg. Ich konnte es nicht wissen, und es würde sowieso nichts ändern.

»Vielleicht fühlt er sich besser, wenn er mal mit Ihnen spricht«, versuchte ich ihr nahezulegen. »Ich kann ihm ja sagen, dass er nur fünf Minuten hat. So lange hören Sie ihm zu, und dann haben wir es alle hinter uns, und jeder kehrt zurück in sein … Leben.«

»Aber … wenn er weiß, dass ich hier bin, ist es viel-leicht noch schwerer für ihn, weiter…«

»Weiterzumachen?« Ich hätte ihr am liebsten gesagt, dass es keinen Ausweg gab. Jetzt, wo Tim sich darauf versteift hatte, würde er nicht aufgeben, bis er sie gefun-den hatte. Doch die Hoffnungslosigkeit in ihren Augen ließ mich zögern. Es gab nur noch eins, was ich vor-schlagen konnte, um ihr zu helfen. »Wenn Sie wollen, sage ich Tim, dass ich mich geirrt habe und dass Sie gar nicht hier sind.«

Ihre Hände verkrampften sich. »Nein«, sagte sie. »Ich habe ihn nie belogen, und damit will ich jetzt nicht anfangen. Kannst du ihm nicht einfach sagen, dass ich hier bin? Und dass ich möchte, dass er ab jetzt an sich denkt und nicht an mich?«

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»Ich glaub nicht, dass ihm das reicht«, wandte ich ein. »Ehrlich, wenn ich könnte, würde ich es so machen. Aber wenn Sie ihm nicht selbst zuhören, wird er es si-cher weiter versuchen, und dann geht alles vielleicht noch schlimmer aus.«

Wir sahen uns einen Augenblick eindringlich an. Dann senkte sich ihr Blick.

»Einverstanden«, sagte sie leise. »Wir versuchen es. Fünf Minuten.«

Die Haustür knarrte, und Tim streckte den Kopf he-rein. »Cass? Was geht da drin vor?«

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst warten!«, rief ich und sah zu seiner Mom hinüber. Sie blickte an mir vor-bei zur Tür. Dann nickte sie.

»Das dauert ja ewig«, rief Tim. »Hast du noch nicht mal …«

»Schon gut.« Ich ließ mich ins Sofa sinken. »Komm rein. Sie ist hier.«

Tim stolzierte mitten ins Zimmer, und die Tür schlug laut hinter ihm zu. Er drehte sich in alle Rich-tungen und spähte in die Dunkelheit. Seine Mutter schwebte an seine Seite. Das Licht in ihrem Inneren flackerte.

»Du kannst sie nicht sehen«, erinnerte ich ihn.»Klar.« Er öffnete den Mund, machte ihn wieder zu

und öffnete ihn wieder.»Da drüben.« Ich nickte mit dem Kopf in ihre Rich-

tung. »Nun sag ihr, was immer du ihr sagen wolltest. Wir haben fünf Minuten.«

»Nur fünf Minuten? Wieso?«

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»Beinahe wäre sie gar nicht dageblieben. Sie sagt, dass du zu viel an sie denkst. Das beunruhigt sie.«

»Dass ich an sie denke?« Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. »Mom?«, sagte er. »Natürlich denk ich an dich. Geht’s dir gut? Ich meine, es tut doch nicht mehr weh, oder?«

»Keine Schmerzen«, raunte sie lächelnd.»Sie sagt, sie hat keine Schmerzen mehr«, gab ich

weiter.»Gut.« Er sah mich an. »Tut mir leid … nicht etwa,

dass ich dir nicht glaube, es ist bloß … ich muss mir ganz sicher sein, dass sie es auch wirklich ist.«

Ich zuckte mit den Schultern und blickte seine Mom fragend an. Sie glitt nach vorne, gerade so weit, dass sie seine Schulter mit der Hand berühren konnte. Dabei ruhte ihr Blick die ganze Zeit auf seinem Gesicht. »Bevor ich zum letzten Mal ins Krankenhaus gekommen bin, habe ich ihm meinen Ehering gegeben, damit ich sicher sein konnte, dass er in guten Händen ist.«

»Sie sagt, du hättest ihren Ehering.«Er bekam große Augen. »Sie … sie ist wirklich hier.«

Er wirbelte herum, als könne er einen Blick auf sie erha-schen, wenn er sich nur schnell genug bewegte. »Okay. Okay. Der Ring … wolltest du, dass ich ihn Dad gebe? Er hat nicht danach gefragt, aber ich glaube, er weiß, dass ich ihn habe.«

»Er gehört jetzt dir. Mach damit, was du für richtig hältst.«

»Du kannst ihn behalten. Oder damit machen, was du für das Beste hältst.« Ich sah auf die Uhr.

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Die Hälfte seiner Zeit war um, aber vielleicht war seine Mom ja gnädig und gewährte ihm einen kleinen Zu-schlag.

»Wirst du hierbleiben?«, fragte Tim in die Dunkel-heit.

Ihr Lächeln gefror. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, es liegt nicht in meiner Macht, das zu entscheiden.«

»Sie weiß es nicht. Sie können das anscheinend nicht selbst entscheiden«, fügte ich erklärend hinzu. »Soweit ich weiß, jedenfalls.«

»Oh. Ich … Gibt es …« Seine Stimme geriet ins Sto-cken, und er starrte auf den Boden. Mir kam der Ge-danke, dass er vielleicht etwas sagen wollte, das ich nicht hören sollte, etwas, das nur für ihn und seine Mom bestimmt war. Dieses Problem konnte ich allerdings nicht für ihn lösen.

»Es ist besser, wenn ich jetzt gehe«, sagte sie.»Hey, noch eine Minute!«, widersprach ich. Und

dann sagte ich zu Tim: »Wenn du noch was zu sagen hast, dann mach schnell.«

»Wie soll ich … was soll ich tun?«, platzte es aus ihm heraus, und seine Stimme klang so rau, dass ich von meiner Armbanduhr aufsah. Sein Gesicht war jetzt rot und fleckig. »Alle … alles ist so anders. Die Leute reden nur drum herum – es interessiert sie nicht wirklich. Sie benehmen sich, als wäre nichts, als wäre alles bloß ein Vorwand, um traurig zu sein. Und sie beruhigen ihr Gewissen, indem sie so tun, als mach- ten sie sich Sorgen. Dabei merken sie gar nicht, wie es mir wirklich geht. Und Dad − kann ich nicht ver-

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trauen. Und Tante Nancy ist natürlich wieder nach Hause. Es ist niemand da. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Seine Mom streckte die Hand aus und berührte seine Wange. »Sag ihm … sag ihm, dass ich seinem Vater ver-ziehen habe und dass er das auch versuchen soll. Sag ihm, dass er sein Leben nach seinen eigenen Vorstellun-gen leben und dass er die Nähe der Menschen suchen soll, denen er etwas bedeutet. Und er soll bitte auf sich aufpassen. Er schläft kaum. Ich glaube, er ist …« Sie schüttelte den Kopf. »Mir gefällt das alles nicht.«

Sie drückte einen Kuss auf ihre Finger und strich ihm damit über die Stirn. »Ich bin da, und es geht mir gut. Kümmere du dich jetzt um dich.« Dann schwebte sie durch die Wand davon.

Ich wiederholte ihre Worte für Tim. Er sah nicht auf. Nach einer Minute des Schweigens sagte ich: »Sie ist fort. Aus dem Zimmer, meine ich.«

Er sank mit hängenden Schultern in den Sessel in der Ecke. Ich beschäftigte mich damit, an einem Fädchen im Sofabezug zu zupfen. Ein leichter Schimmelgeruch drang aus dem Polster. Tim räusperte sich, sagte aber nichts.

Wir saßen so lange in der Dunkelheit, mit all dem, was die beiden gesagt hatten und was sicher nicht für mich bestimmt war, bis ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.

»Ich geh jetzt«, sagte ich und erhob mich. »Ich muss zu meinem Nachmittagsunterricht.«

Tim wandte sich mir zu. Die Röte war aus seinem Ge-

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sicht verschwunden, und auch seine Augen sahen nicht mehr verheult aus. Ohne viel Mühe rappelte er sich auf. Doch als er lächelte, schien es, als würde sein Gesicht jeden Moment in zwei Teile brechen und zerbröckeln.

»Danke«, sagte er. »Ich meine, danke ist nicht annä-hernd genug, aber ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.«

»Schon gut«, erwiderte ich. »Ich hab eben einfach eine besondere Begabung.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ich konnte ihm nicht vorwerfen, dass er für einen Augenblick die Kontrolle verlor, aber vermutlich wollte keiner von uns beiden, dass ich dabei zusah. Mir fiel nichts ein, was die Sache wieder in Ordnung gebracht hätte. Ich konnte ja noch nicht einmal Paige wegen Mom trösten, und sie kannte ich besser als jeden anderen.

»Eine besondere Begabung, die sonst niemand hat«, sagte er und lachte, irgendwie heiser. »Soll ich dich dann morgen abholen, um neun? «

Richtig. Die Party. Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, aber irgendetwas an der Art, wie er mich ansah, mit diesem gebrochenen Lächeln, hinderte mich daran, die Worte auszusprechen.

»Einverstanden«, antwortete ich. »Um neun.«