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Deutsches Volksliedarchiv "Da amüsiert der Nemez sich". Die "kolonistischen Lieder" der Russlanddeutschen Author(s): Eckhard John Source: Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture, 48. Jahrg. (2003), pp. 163-205 Published by: Deutsches Volksliedarchiv Stable URL: http://www.jstor.org/stable/4147821 . Accessed: 14/06/2014 00:20 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Deutsches Volksliedarchiv is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture. http://www.jstor.org This content downloaded from 188.72.126.166 on Sat, 14 Jun 2014 00:20:43 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

"Da amüsiert der Nemez sich". Die "kolonistischen Lieder" der Russlanddeutschen

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Deutsches Volksliedarchiv

"Da amüsiert der Nemez sich". Die "kolonistischen Lieder" der RusslanddeutschenAuthor(s): Eckhard JohnSource: Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture, 48. Jahrg. (2003), pp. 163-205Published by: Deutsches VolksliedarchivStable URL: http://www.jstor.org/stable/4147821 .

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>DA AMUSIERT DER NEMEZ SICH<

Die >>kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen*

ECKHARD JOHN

Die angenehme Sommerzeit Ist selten hier Tennjo. Doch zum Ersatz ist das daftir Die Nichte durch cBeTnjo.

2. Und kommt der liebe Sonntag an, Dann sind wir alle froh. Da geht es auf der Eisenbahn Nach LjapcKoe Cenio.

9. Will man KpecToBCKHii OCTpoB sehn,

CuI4I TaM qac B TpaKTHp, Dort amiisiert der HeMeu sich Mit Tabak und mit Bier.

13. Und hat man alles da gesehn, So flihrt man schnell Ha3aA. Es ist wohl alles reich und sch6n, A gOMa inysqme, 6paT!1

Dieses beschwingte Lied wurde 1929 in einer russlanddeutschen Siedlung aufgezeichnet, die passenderweise ,,Frbhliche Kolonie< hief und in der

Umgebung von Leningrad lag. Dokumentiert hat es der russische Germa- nist Viktor Schirmunski, der in den Zwanzigerjahren in Leningrad ein >>Deutsches Volksliedarchiv< gegriindet hatte und in den liindlichen Sied-

lungen der Russlanddeutschen intensive Feldforschung betrieb.2 Das Lied

* Diese Studie entstand im Rahmen des Forschungsprojektes >>Das Deutsche Volks- liedarchiv Leningrad (Sammlung Viktor Schirmunski)<<, welches das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg i.Br. 2000/01 mit FSrderung durch den Beauftragten der Bundesregierung for Kultur und Medien durchfiihrte. Ich danke Prof. Dr. Natalia D. Swetosarowa (St. Petersburg) fur ihre unermiidliche Unterstiitzung bei den Recherchen.

1 Tenno: warm - cBeTJno: hell (Anspielung auf die >>weifgen Nichte<<) - LjapcKoe Ceno: Zarskoje Selo - KpeCTOBCKHii OcTpoB: Krestowski Ostrow -

CH4•A TaM iac B TpaKTHp: setz dich dort eine Stunde ins Wirtshaus - HeMeu: der Deutsche -

Ha3aA: zuriick - A gOMa Jnyqme, 6paT: Doch zuhause ist es besser, Bruder! 2 Vorliegender Aufsatz bezieht sich im Wesentlichen auf diese Sammlung (im

Folgenden: DVL). Die Zitierweise der Archivalien orientiert sich an der friiheren Dokumentationspraxis des DVL, dessen Bestande sich heute iiberwiegend im Institut ffir Russische Literatur (Puschkin-Haus) der Russischen Akademie der Wissenschaften (im Folgenden: IRLI) befinden. - Die Liedaufzeichnung hat die

Lied und populire Kultur / Song and Popular Culture 48 (2003) 163

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Eckhard John

iiber Die angenehme Sommerzeit schildert in seiner gesamten Linge (13 Str.) einen Sonntagsausflug zu den verschiedensten Publikumsmagneten in und

um St. Petersburg (zu den Lustbarkeiten um die Zarenschldsser in Zarskoje Selo, Pawlowsk und Peterhof, zur Krestowski-Insel in der Newa-

Miindung, zum Sommergarten, dem Volkspark Katharinenhof oder dem

Kullerberg in Alt-Petersburg), und zwar auf humoristische Weise - wobei der Witz an der Sache insbesondere im pfiffigen Spiel mit den Sprach- ebenen, dem Deutschen und dem Russischen, besteht. Dieses Lied ist un- ter den so genannten ,,kolonistischen Liedern<< eines der populdirsten.3

Mit dem Ausdruck >>kolonistische Lieder<< wurden jene populiiren Lie- der der Russlanddeutschen bezeichnet, die in ihren liindlichen Siedlungen (>>Kolonien<<) entstanden und verbreitet waren. Diese Liedgruppe ist aus

heutiger Sicht besonders interessant, wenn man sich mit den traditionellen Liedern der Russlanddeutschen beschiiftigt. Viktor Schirmunskis Archiv bietet hierzu einen einzigartigen Quellenfundus. Schirmunski war bekannt- lich einer der bedeutendsten russischen Philologen des 20. Jahrhunderts. Weit weniger bekannt ist indes, dass sein 1927-1931 in Leningrad instal- liertes Volksliedarchiv die wichtigste Sammlung popullirer Lieder der Russ- landdeutschen aus der Zeit vor dem Stalinismus darstellt. Eine detaillierte wissenschaftliche Auswertung dieser Liedarchivalien steht noch aus, nach- dem sie diber Jahrzehnte in Vergessenheit geraten waren.4 Vorliegender

Textsignatur M 20, Nr. 5 (L), gesungen wurde das Lied von Christine Reich (ca. 60 Jahre); IRLI Handschriften-Abt. 104-21-173 (Bl. 174). Im Unterschied zu dieser Fassung heifit es in anderen erhaltenen Varianten dieses Liedes in der Regel >>Da amiisiert der HeMeC sich [...]<<, vgl. z.B. M 20, Nr. 1 (L) und Nr. 2 (L).

3 Allein im DVL gibt es davon 16 iiberlieferte Varianten; und zusammen mit der Liedparallele Die angenehme Winterzeit (weitere zehn Varianten) ist es der im DVL am hiufigsten dokumentierte >>kolonistische<< Liedtyp. Weitere Belege aus miindlicher Oberlieferung finden sich im Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg i.Br. (im Folgenden: DVA): Liedmappe Gr. XIa Die angenehmeJahreszeit; auch in der Literatur wird das Lied vergleichsweise hiufig erwiihnt.

4 Ausgehend von unserem Forschungsprojekt konnte Schirmunskis Volksliedarchiv in den letzten Jahren rekonstruiert und wieder benutzbar gemacht werden. Zu- dem liegt die Sammlung mittlerweile in Kopie auch im DVA vor. Detaillierte Informationen zur Geschichte und den Bestlinden in Traditionelle Lieder der Russ- landdeutschen. Die Volksliedsammlung von Viktor M. Schirmunski. Ein Quellen- handbuch. Hg. von Eckhard John und Natalia D. Swetosarowa. Minster, er- scheint voraussichtlich 2005 (Volksliedstudien 6).

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Die >kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

Aufsatz ist lediglich ein erster Versuch, am Beispiel einer Liedgruppe auf ihren Stellenwert aufmerksam zu machen. Besonders geeignet hierfiir erschienen die >kolonistischen Lieder<, denn sie geben unmittelbarer als die iibrigen traditionellen deutschen Lieder Auskunft iiber die damalige Lebenswelt der Russlanddeutschen.

Dass ein Lied wie Die angenehme Sommerzeit unter den >,kolonistischen Liedern< eine solche Popularitait hatte, ist insofern bemerkenswert, als es ein zweisprachiges Lied ist: Denn gerade jenen Liedern der Russland- deutschen, die mit dem Praidikat >Volkslieder<< ausgestattet wurden, ist von interessierten Sammlern, Forschern oder Propagandisten zumeist auch ein besonderer Nimbus des >Deutschen< zugeschrieben worden.

>Volkslied< und ethnische Konstruktion

Die Idee des >Volksliedes<< als besonderer Indikator eines spezifischen Deutschtums, die das Verstiindnis und die Sinngebung des russland- deutschen Volksliedes seit der vblkisch-nazistischen Publizistik (zuweilen bis in die jiingste Gegenwart) weitgehend konstituierte, hat seine Wurzeln bereits bei den Urspriingen der Sammeltiitigkeit:

Das Volkslied bildet [...] neben unserer Kirche mit ihrer deutschen Predigt den zweiten Rettungsanker fiir unser in letzter Zeit so sehr

gef•ihrdetes deutsches Volkstum, hieE es in der ersten Sammlung von Volksliedern und Kinderreimen aus den Wolgakolonien (1914)5. Die Herausgeber sahen im

,>Volkslied< ein be-

sonders geeignetes Medium zur Pflege der hochdeutschen Sprache - gegeniiber dem zunehmenden Einfluss des Russischen sowie dem darf- lichen Dialekt. Insbesondere die >>Russifizierung<< infolge der Verdrhingung des deutschen Sprachunterrichts aus den Schulen war fiir sie alarmierend, und die Obernahme russischer Lieder durch die russlanddeutsche Jugend, die Durchsetzung der Sprache mit russischen Worten ein Zeichen dafiir, dass umgehend Gegenmaignahmen notwendig seien:

5 Volkslieder und Kinderreime aus den Wolgakolonien. Gesammelt und mit einem An- hang von Riitseln zum 150jdhrigen Jubilkium der Wolgakolonien. Hg. von J[ohannes] E[rbes] und P[eter] S[inner]. Saratow 1914, S. XIII.

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Eckhard John

Hier mufi und kann das Volkslied mithelfen, einen Damm gegen die drohende Gefahr zu schlagen. [Denn:] Je mehr wir das Volks- lied pflegen, desto mehr pflegen wir auch die eigene Muttersprache und stirken das eigene deutsche Volkstum. [ebd., S. XIVf.]

Das Volkslied fungierte hier also aufgrund seiner deutschen Sprache als ein Vehikel der kulturellen Selbstbehauptung im repressiven zaristischen Russ- land. Doch erst in der jungen Sowjetrepublik der Zwanzigerjahre - nach den verschairften antideutschen Repressalien im Zuge des Ersten Welt- kriegs, der Erleichterung aufgrund der russischen Revolution 1917 und den neuerlichen Nbten im Biirgerkrieg - schienen die Bestrebungen nach

Anerkennung kultureller Selbstbestimmung und Autonomie ihre Erfiillung zu finden. Die vergleichsweise liberale sowjetische Nationalitiitenpolitik der

Zwanzigerjahre und die damit einhergehende Kulturpolitik ermbiglichten letztlich auch jene Forschungen, auf denen Schirmunskis Archiv griindet.'

Neben der Konnotation des >>Deutschen<< exponierten Erbes und Sin- ner aber auch noch in anderer, weit grundsaitzlicherer Hinsicht ein spezi- fisches Verstdindnis der Singpraxis der russlanddeutschen Landbev6lkerung: indem sie nimlich den Begriff des ,,Volksliedes<< dafiir nutzten. Das mag uns heute, riickblickend auf die immense Konjunktur des >>Volksliedes( seit der Jahrhundertwende, als selbstverstiindlich erscheinen. Und natiirlich agierten Erbes und Sinner in deutlicher Anlehnung an den damaligen >>Volkslied<<-Boom (und hatten sich dabei vergleichsweise gute Kenntnisse des damaligen Diskussionsstandes erarbeitet). Diese Ideen iibertrugen sie nun mit aktivistischem Engagement auf die Situation in den deutschen

Wolgasiedlungen, wo realiter der Begriff des >>Volksliedes<< bislang ein eher unbekannteres Wesen war. Man sprach von den >>Gassen- und Schelmen- liedern<<, und zwar in einem durchaus geringschiitzigen Sinne. Demgegen- uiber, insbesondere angesichts der strikten Missbilligung populdirer Lieder

6 Schirmunski fiihrte seine Feldforschungsreisen mit Unterstiitzung des Kommis- sariats fir Volksbildung (sowie der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften) durch; vgl. seine entsprechenden Berichte im Archiv der Akademie der Wissen- schaften St. Petersburg, Sammlung 1001 (= Nachlass Viktor Schirmunski), Mappe 1001-2-112. Diese Berichte sind heute eine wichtige Quelle zur Rekonstruktion seiner Volksliedsammlung und diesbeziiglichen Forschungstditigkeit.

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Die >kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

in den streng religidsen >Kolonien< und der kirchlichen Versuche, sie zu

verdringen, wandten sich Erbes und Sinner engagiert gegen die pauschale Verunglimpfung des jugendlichen Singens aus engstirniger Frdimmelei. Allerdings ging es auch ihnen nicht um eine umfassende Akzeptanz der realen Singpraxis, sondern um selektive Aufwertung einzelner Teilbereiche: >>die alten guten Volkslieder? wurden abgegrenzt von den ,,schandbaren oder zotigen Liedern?. Gemeint war damit das >>unziichtige Lied< der >ver- wilderten Jugend? ebenso wie das >>sich einschleichende Gift? der zeit-

genissischen >>Nachtpoesie<7. Charakterisiert sich die Erfindung des >>russlanddeutschen Volksliedes<

an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg also vor allem durch seine Instru-

mentalisierung fiirs Deutschtum und durch Intentionen, die gegen kirch- liche wie staatliche Autoritiiten gerichtet und mit piidagogischen Ambi- tionen verkniipft waren (das Volkslied als >Damm? gegen Russifizierung, Sittenverfall und Proletarisierung), so fuf3te Schirmunskis Volksliedbegriff im Wesentlichen auf den Parametern des akademischen Diskurses. Wie damals iiblich, interessierten ihn >Volkslieder? vor allem als alte Lieder: als

>verklingende Weisen<8, als vom Aussterben bedrohte Lieder, deren Doku- mentation Riickschliisse auf friihere Epochen ermaiglichen sollte. Hierfiir war die >Sprachinsel<-Idee eine auch Schirmunski faszinierende Methode, die ihn als Maiglichkeit historischer Rekonstruktion begeisterte. Mit den

propagandistischen Implikationen der Deutschtumsideologie, die damals oft mit der >>Sprachinsel<-Volkskunde einherging, hatte Schirmunski indes nichts im Sinn. Er war auch kein lediglich riickwairts gewandter Dokumen- tarist, sondern ebenso an Phainomenen der Gegenwart (wie etwa den >kolonistischen Liedern<) interessiert und orientiert an den wissenschaft- lichen Standards seiner Zeit.

7 Gemeint waren damit >>die billigen Berliner Coupletssammlungen mit der widri-

gen Grunewaldpoesie<< (ebd. S. XXI); die vorangegangenen Zitate S. V, VIII. Da- zu ausfiihrlicher John, Eckhard: Russlanddeutsches

, Volkslied<<. Geschichte undAna-

lyse seiner Konstruktion. In vorliegendem Jahrbuch, S. 133-161, v.a. S. 150-154. 8 Dieses Bild, das Louis Pinck seit 1926 programmatisch fir seine Edition der

Lothringer Volkslieder gebrauchte (5 Bde., 1926-1962), gefiel Schirmunski aus-

gesprochen gut, und er verwendete es sehr hilufig.

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Eckhard John

Wesentlich ftir Letzteres war zweifellos seine Begegnung mit John Meier, einer Leitfigur der deutschen Volksliedforschung: Schirmunski kam 1927 das erste Mal zu einem dreiwachigen Arbeitsaufenthalt ins Deutsche Volksliedarchiv nach Freiburg, und die Anregungen durch den Griinder des Hauses sollten die Volksliedforschungen Schirmunskis mafigeblich prigen. Dies betrifft die theoretischen Grundlagen (Balladen als Schwer-

punktinteresse, Gattungen als Ordnungssystem, Rezeptionstheorie der

Kunstlieder im Volksmunde) ebenso wie die praktischen (Sammel- und

Archivpraxis): Zuriick von seinen intensiven Studien im Freiburger Archiv,

griindete Schirmunski 1927 in Leningrad ebenfalls ein >>Deutsches Volks- liedarchiv<<, das als zentrale Sammelstaitte fur die russlanddeutschen Volks- lieder aus den verschiedenen Regionen (Ukraine, Krim, Leningrader Kreis, Wolgarepublik und Transkaukasien) gedacht war. Korrespondierend damit brachte er ein Buch heraus, das die potentiellen Sammler - insbesondere die russlanddeutsche Lehrerschaft - grundlegend Uiber Geschichte, Mund- arten, Volkslieder und Volkskunde der deutschen >>Kolonien<< informierte; zugleich fungierte dieses als dezidierter Aufruf zur Sammlung von Volks- liedern und enthielt eine genaue Anleitung, was bei der Aufzeichnung die- ser Lieder wichtig und zu beachten sei.9

Nicht zuletzt aufgrund Schirmunskis eigener reger Feldforschungen wuchs das Leningrader Archiv rasch und pflegte beste Verbindungen zum DVA. Die Jahre der engen Kooperation waren kurz, aber intensiv - und

keineswegs nur beschrainkt auf archivalische und publizistische Gesichts-

punkte sowie den Austausch von Liedaufzeichnungen. Vielmehr war auch Schirmunskis >Volkslied<-Begriff wesentlich von Meiers Konzeption ge- prigt.10 Schirmunskis ,Volkslied<<-Auffassungen unterschieden sich daher im Kern nicht von den damals geliufigen Positionen: Ein >>Volkslied<< ist

9 Vgl. Schirmunski, Viktor: Die deutschen Kolonien in der Ukraine. Geschichte, Mundarten, Volkslied, Volkskunde. Moskau 1928.

10 Dazu niher John, Eckhard: Viktor Schirmunski als Volksliedforscher. In:

MaTepHlaSbl KOH4epeHHH, HOCBHIImeHHOHi 110-.reTHIo Co AHI•i powAeHHIl aKa-

WeMHKa BHKTOpa MaKCHMOBHqa )KHpMyHCKOFO [Materialien zur Konferenz, anliisslich des 110. Geburtstags des Akademiemitglieds Viktor Maksimowitsch Schirmunski]. Hg. von der PoccHiicKaA AKageMHr HayK, CaHKT-HeTep- 6yprcKHii

HayqnHbHi LeHTp, HHCTHTyT JIHTBHBCTHeIrCKHX HCCJenIoBaRHMii.

St. Petersburg 2001, S. 89-101.

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Die >>kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

fiir ihn ein Lied, das von der baiuerlichen Bev6lkerung gesungen und das

miindlich iiberliefert wird. Diese miindliche Oberlieferung bedingt Cha- rakteristika wie Variantenbildung und den Prozess des so genannten >>Um-

singens<<." Und allein diese spezifische Art der Rezeption - >,die >autoritire

Haltung< der Singer gegeniiber dem iiberlieferten Text?< - sei letztlich ent- scheidend daffir, ob ein Lied als ?Volkslied<< anzusehen seil2 (nicht aber Kriterien wie Alter oder anonyme Autorschaft). Hier zeigt sich beispielhaft Schirmunskis Adaption von Meiers Rezeptionstheorie.

Bemerkenswert an Schirmunskis tOberlegungen zum russlanddeutschen Volkslied war allerdings sein Plaidoyer fir eine regional differenzierte Sicht- weise: Er verdeutlichte - abgesehen von jenen Volksliedern, die generell fiir die deutschen >>Kolonien<< in Russland typisch waren - den Stellenwert regi- onaler Spezifika von Liedrepertoire, Variantenbildung oder Singpraxis in den recht unterschiedlich strukturierten und z.T. weit auseinander liegen- den Siedlungsgebieten Russlands (etwa Siidukraine, Leningrader Kreis oder

Wolgarepublik). Zum anderen ist sein Verhiiltnis zur >>Sprachinsel<<- Methode interessant, denn Schirmunski verkniipfte die Idee vom sprach- lichen Reliktgebiet nicht mit Bildern deutschtiimelnder Trutzburgen, son- dern vielmehr mit Faktoren des sozialen Modernisierungsprozesses und der soziobkonomischen Gegebenheiten hinsichtlich Struktur und Geschichte der jeweiligen >>Kolonien<. Diesen sozialgeschichtlichen Ansatz bezog er auf die soziokulturelle Binnendifferenzierung von Singpraktiken und Lied-

repertoire. Davon mag heute mancher Gedanke als etwas zu schematisch und vereinfachend erscheinen (und man wird seine Thesen nicht in allen Punkten teilen), wissenschaftsgeschichtlich gesehen war es jedoch eine ver-

gleichsweise moderne und originelle Sichtweise, die sich auf erfrischende Art von der verbreiteten vilkischen >Volkslied<<-Ideologie abhob.

Schirmunskis Volksliedinteresse beruhte auf seinen Intentionen als

Sprachforscher.13 Ihn reizte das Volkslied nicht als Vehikel ethnischer

11 Vgl. z.B. Schirmunskis >Volkslied<<-Definition in Schirmunski: Die deutschen Kolonien in der Ukraine (wie Anm. 9), S. 55f.

12 So Schirmunski - Meier zitierend - ebd., S. 55. 13 Hinzu kam zunehmend auch ein methodisches und sachliches Interesse an den

M6glichkeiten der Volkskunde als (damals noch relativ) neuer, kulturwissen- schaftlicher Disziplin.

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Eckhard John

Identititsstiftung, sondern als ein Medium, das einen Erkenntnisgewinn iiber sprach- und kulturhistorische Prozesse ermaglicht. Da er als Germa- nist, Linguist und Dialektforscher zur Volksliedforschung kam, war auch er primair an deutschsprachigen Liedern interessiert - und nicht an einer

kompletten Erfassung des liindlichen russlanddeutschen Liedrepertoires. Die OUbernahme russischen Liedgutes durch die Kolonisten wurde von ihm

natiirlich registriert und am Rande erwihnt, aber nicht explizit aufgezeich- net. So gesehen repraisentiert auch seine Sammlung nur einen Ausschnitt der

tats.chlichen damaligen Singpraxis. Aber sie hat - gegeniiber vielen

anderen Quellen - den Vorzug, dass Schirmunskis Blick ungetriibt war von plumper Deutschtiimelei und dass er mit wissenschaftlicher Niich- ternheit und Sorgfalt die vorgefundene Realitiit dokumentierte, soweit sie ihn eben interessierte - darunter auch die der zweisprachigen Lieder.

Der >Volkslied<,-Begriff

des Sammlers und das Liedverstandnis vor Ort klafften freilich deutlich auseinander. Wie wenig die Konstruktion des >>Volksliedes<< - wie sie in Deutschland giingige Anschauung war - fir das russlanddeutsche Denken selbstverstindlich und als positiver Wert an- erkannt war, signalisieren nicht nur Erbes' und Sinners eifrig bemiihte Sinngebungen vor dem Ersten Weltkrieg. Auch bei Schirmunskis Feld-

forschungen in den Zwanzigerjahren zeigte sich, dass die betroffene Bev6l-

kerung mit dem Begriff des >)Volksliedes<< in Hinblick auf ihre Singpraxis noch nicht allzu viel anfangen konnte. Der russlanddeutsche Lehrer und Schriftsteller Hermann Bachmann, der Schirmunski im Sommer 1927 auf einer Forschungsreise in der Siidukraine (Beresaner Gebiet) begleitete, skizziert am Beispiel des Kiisters in der Kolonie Rastatt die bezeichnende Reaktion der Einheimischen:

Zuerst wunderte es ihn, daif wir Volkslieder in den Kolonien sam- meln, da es ja viele solcher Lieder in den gedruckten Biichern gebe. Als wir ihm erkliirten, daft wir solche suchen, die nirgends gedruckt sind, steigerte sich seine Verwunderung noch mehr. Es war sogar ein leichter Zug von Verachtung solcher Ware gegeniiber in seinem Ge- sichte zu lesen. >>Das sind ja Gassenlieder, die die Buben auf der Stra-

fge singen, oder besser gesagt - plirren. Das alles ist ja gar kein richti-

ger Gesang. Da wird ja gezogen und gepfuscht, daf es einem beim Anhbren derselben Uebel wird. So etwas hat doch gar keinen Wert!"14

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Die >kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

Die GeringschLtzung dessen, was ,Volkslied<<-Enthusiasten und -Sammler als besonderen Wert ansahen, war in den russlanddeutschen Siedlungen auch in den Zwanzigerjahren noch verbreitet, und selbst die bewusste

Missachtung und Verdriingung des Gassensingens - von der Erbes und Sinner schon 1914 geschrieben hatten - ist ein Moment, das offenbar noch zu Zeiten von Schirmunskis Feldforschungen virulent war: Hermann Bachmann berichtet etwa, dass ihn die Dorfburschen bei einer abendlichen

Verabredung fiir Liedaufzeichnungen deshalb versetzten, weil sie die bei- den ortsfremden Liedsammler (Schirmunski und Bachmann) als Spitzel ansahen, die gekommen seien, >um die Singer aufzuschreiben, damit das

Rayonvollzugskomitee, welches das Gesang auf den Straiten verboten habe, sie bestrafen k6nne<< - ein Ereignis, das sich ausgerechnet in der Kolonie

,,Waterloo(< abspielte.15

Schirmunskis Feldforschungen

Uber die konkreten Umstainde und Bedingungen der Forschungspraxis von Viktor Schirmunski und seinen Mitarbeitern sind bislang nur unzu- reichende Informationen bekannt. Zwar wissen wir, dass er die Liedtexte

vor Ort zunaichst handschriftlich festhielt und dann in Leningrad abtippen lieI3, dass er anfangs Musiksachverstandige (wie etwa Hermann Bachmann) mitnahm, die in den Kolonien die Melodien der Lieder nach Geh ir notier-

ten, dass er sehr bald zu Tonaufzeichnungen mittels Fonografen (Wachs- walzen) bzw. Retor-Sprechmaschine (Wachsschallplatten) wechselte und dass diese Fonogramme dann in Leningrad zu grotlen Teilen transkribiert wurden. Wir kennen auch die Gattungs- und Ordnungssystematik seines

Archivs, die Chiffren der verschiedenen Signaturen, Zeitpunkte und Ziele der Feldforschungsreisen und den nicht unbedeutenden Anteil seiner Mit- arbeiter am Aufbau dieses einzigartigen Archivs.'6 Aber wie sich die

14 Vgl. Bachmann, H[ermann]: Durch die deutschen Kolonien des Beresaner Gebietes. Charkow 1929, S. 8.

15 Ebd., S. 22. 16 Geschichte und Struktur der Sammlung wird ausfiihrlich rekonstruiert in Tradi-

tionelle Lieder der Russlanddeutschen [John/Swetosarowa] (wie Anm. 4); dort auch

bio-bibliografische Portriits zu Schirmunskis Mitarbeiter(inne)n.

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Eckhard John

Forschungsarbeiten im Einzelnen und konkret vor Ort gestalteten, dariiber gibt es bislang nur sehr spairliche Quellen.

Umso wertvoller ist daher ein Bericht wie das erwiihnte Biichlein Durch die deutschen Kolonien des Beresaner Gebietes von Hermann Bach- mann. 1929 in Charkow innerhalb der Reihe >Deutsche Bauernbibliothek<<

publiziert, zielte es nicht auf einen akademischen Interessentenkreis, son- dern wurde auf das russlanddeutsche Publikum hin geschrieben. Gleich- wohl enth~ilt es etliche sehr aufschlussreiche und instruktive Informationen

fiber Schirmunskis Vorgehensweise, fiber die Reaktionen und Verhaltens- weisen der Russlanddeutschen, fiber Eigentiimlichkeiten und Kdrperlich- keit ihres Gesangsstils, iiber den lebensweltlichen Kontext der Lieder, jiber die Probleme der Grammofon-Aufnahmen, fiber die verschiedenen Aingste, Verunsicherungen und Abneigungen der Kolonisten gegeniiber den Lied-

aufzeichnungen, iiber Lieder bzw. Liedinhalte, die von den Gewiihrs-

personen bewusst nicht mitgeteilt wurden, sowie fiber viele weitere prag- matische Schwierigkeiten, diese Lieder ,,herauszuquetschen<< - bis hin etwa zu jener >deutschen Bettlerin, namens Minna, [...] die angeblich alle in Katharinental bekannten Lieder auswendig kann<<. Dieses au3ergew6hn- liche >>Museum von Liedern< kostete den Sammler nicht nur Eintritt (>ffir 50 Kopeken ihren Liederschatz<<), sondern stiirzte ihn gar in einen heftigen Konflikt zwischen moralischen und wissenschaftlichen Prioritaiten, als er kurz nach Beginn der Aufzeichnungsarbeiten erfuhr:

>Sie ist eine Alkoholikerin und wird nur dann noch vorsingen, wenn man ihr ein Schniipschen gibt.<<

Ich kam in eine unangenehme und peinliche Lage. Mit

Schnaps sie stdirken, um auf diese Weise ihr die Volkslieder zu ent- locken, schien mir diuferst unsch6n und unmoralisch. Andererseits aber fand ich es fur unzulaissig, ein solches Museum von Liedern

unausgenutzt zu lassen. Die Aussichtslosigkeit, bald ein anderes

Singerexemplar finden zu k6nnen, und die Furcht, einen ganzen Tag verlieren zu miissen, trieben mich fiber die moralischen Be- denken hinweg und ich beschlotf, zum Alkohol zu greifen.

Im Folgenden schildert Bachmann ausfiihrlich seine Schwierigkeiten, den

Schnaps im Dorf aufzutreiben und ihn der sich zierenden Minna anzu- bieten - bis sie das Glas dann schlief8lich doch leerte.

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Die >>kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

Nun liefl sie wieder einige Lieder ert6nen, bis sich bei ihr das Ge-

fiihl, daLg der eingenommene Schnapsgeist schon versungen sei, ein-

gestellt hatte. Das zweite Glischen wurde schon mit weniger Zere- monien umgestiilpt, worauf wiederum mehrere Lieder herauskamen.

Die hineintrinkende und heraussingende Minna erinnerte mich an die Automatenrestaurants, die man in gr6faeren Staidten oft antrifft. In demselben vollzieht sich die Befriedigung des menschlichen Durstes in nachfolgender Weise. Man wirft eine

Silbermiinze in die Ritze des Apparates und der Kran fiillt einem das Glas. Ich bemiihte mich, fur jeden Einwurf aus meinem leben- den Apparate recht viel herauszuquetschen, um nicht zuviel

Mifbrauch zu begehen. Nur wenn die Kehle der Siingerin voll-

stindig versagte, setzte ich den Automat in Bewegung. Nach dem vierten Glischen hatte ich schon die wichtigsten Lieder meiner

Singerin aufnotiert, bezahlte und lieft sie laufen. Heute noch, wenn ich die Aufzeichnungen durchsehe, kommt

es mir vor, als ob die Noten dieser Lieder nach Spiritus riechen. Sie sind aber inzwischen schon umgeschrieben, haben einen Weg von

ungefdihr 2000 Kilometern zuriickgelegt, sich dabei griindlich aus-

geliiftet und ruhen jetzt im Archiv der Leningrader Universitait.17

Bevor die Lieder in Schirmunskis Volksliedarchiv >,zur Ruhe gelegt<< wur-

den, hat man sie dort freilich genau bearbeitet: die handschriftlich vor-

liegenden Liedtexte wurden abgetippt und - nach dem Vorbild des DVA - mit genauen Angaben zu Aufzeichnungsort und -zeitpunkt, Namen und Alter der Gewiihrsperson sowie Namen des Sammlers versehen. Zudem erhielten die Liedtexte eine Inventarnummer und eine Gattungssignatur. Anhand der Inventarnummer lisst sich rekonstruieren, zu welcher Feld-

forschungsreise ein einzelner Liedbeleg geh6rt;18 die Gattungssignatur er-

schlieft den Platz der Aufzeichnung innerhalb der Ordnungssystematik des Archivs. Schirmunski ordnete die Liedtexte nach Gattungen, die jeweils

17 Bachmann: Durch die deutschen Kolonien (wie Anm. 14), S. 47-50. 18 Siehe dazu das Inventarbuch des DVL, IRLI Handschriften-Abt. 104-44-26. - Eine

genaue Rekonstruktion und Obersicht zu den verschiedenen Feldforschungen auch in Traditionelle Lieder der Russlanddeutschen [John/Swetosarowa] (wie Anm. 4).

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Eckhard John

durch Buchstaben repraisentiert wurden: von den Alten Balladen (A) bis zu Kinderliedern (0). Innerhalb jeder Gattung erhielt jeder Liedtyp eine

eigene Nummer, z.B. Es waren zwei Koinigskinder (A 1), Es war einmal eine

Jiidin (A 2), etc. Im Weiteren wurde jede einzelne Aufzeichnung gezihlt und nach regionaler Herkunft unterschieden. Die Gattungssignatur des

eingangs zitierten Liedes - M 20, Nr. 5 (L) - besagt also, dass diese Fassung unter den ,,kolonistischen Liedern< (M) zum Liedtyp Die angenehme Sommerzeit (M 20) gehbirt und bei diesem die fiinfte vorhandene Auf-

zeichnung aus dem Leningrader Gebiet (L) darstellt. Die Melodieaufzeichnungen zu den Liedern wurden nach anderen Ge-

sichtspunkten geordnet, die sich ganz pragmatisch von der Archivierungs- weise der Speichermedien - Fonografenwalze und Wachsschallplatte - ableiteten: die Signatur umfasst eine Chiffre fiir die jeweilige Feldforschung sowie die Walzen- bzw. Plattennummer und den konkreten Titel darauf. FiUr die Aufnahme des erwsihnten Liedes von der Sommerzeit lautet der Code z.B. L VII, Nr. 28c, und er bedeutet: Gruppe der Tonaufnahmen aus dem Leningrader Gebiet im Winter 1928/29 (L VII), Schallplatte Nr. 28, darauf drittes StUck (c). Nach diesen Codes wurden dann auch die

Melodietranskriptionen der Tonaufnahmen geordnet. Das Bindeglied zwischen den Aufzeichnungen der Melodien und den Liedtexten war deren

Gattungssignatur (siehe Abb. 1). Diese Melodie ist freilich nicht die einzige, die sich zu diesem Liedtyp

im Leningrader Volksliedarchiv findet, vielmehr sind hier noch zwei weitere verzeichnet.'9 Auch hinsichtlich des Textes finden sich (wie eingangs er-

waihnt) verschiedene Aufzeichnungen - mit bis zu 17 Strophen - sowohl aus dem Leningrader Gebiet (8) als auch aus der Ukraine (7) und von der

Wolga (1).20 Somit lisst sich schon erahnen, dass es nicht eine einzelne, ideale Fassung ist, die einen solchen Liedtyp konstituiert, sondern die

heterogene Vielfalt seiner Varianten.

19 Siehe dazu weiter hinten (Abb. 3 und 4). 20 Eine Obersicht zu den erhaltenen Varianten bietet Kolonistische Lieder. Bestands-

katalog einer Liedgattung aus dem Deutschen Volksliedarchiv Leningrad (Sammlung Viktor Schirmunski). Hg. von Eckhard John und Natalia Swetosarowa. Freiburg i.Br. 2001.

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Die >>kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

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Abb. 1 Melodietranskription L VII, Nr. 28c:

Frahliche Kol., Rayon Leningrad, Christian Reich (ca. 50 Jahre), 27. Januar 192921

Neben der speziellen Gruppe der >>kolonistischen Lieder<<, die der Kreativi- tait der Kolonisten zugeschrieben wurde, bilden in Schirmunskis Archiv die

(vermeintlich) besonders alten Lieder einen Schwerpunkt. Allein die

Gattung >>Alte Balladen? umfasst 632 Aufzeichnungen; zusammen mit den >Neueren Balladen<< (466) machen diese Liedaufzeichnungen mehr als ein Viertel der insgesamt zusammengetragenen Texte (3744) aus.22 Dies ent-

21 IRLI Phonogrammarchiv, Sammlung Schirmunski. - Abweichend vom Liedtext wird ffir die Tonaufnahme nicht Christine Reich (ca. 60 Jahre), sondern Christian Reich (ca. 50 Jahre) angefiihrt. Dass hier kein Schreibfehler vorliegt, veranschau- licht die erhaltene Tonaufnahme, bei der eindeutig eine minnliche Stimme zu hdren ist. Ein Fehler in der Abschrift k6nnte also allenfalls bei der Angabe zur Textfassung aufgetreten sein. Andererseits findet sich im DVL ifter der Fall, dass die Gewiihrspersonen ffir Liedtext und Tondokument nicht immer identisch sind - was wohl mit der Scheu etlicher Kolonisten zu tun hat, in den Schalltrichter des

>>Retor-Sprechmaschinen<<-Apparates zu singen: Wer einen Text gut memorierte, hatte nicht unbedingt auch den Mut, ihn fur eine Aufnahme vorzusingen.

22 Zu Struktur und Bestand der Sammlung siehe im Einzelnen Swetosarowa, Nata- lia: Viktor Schirmunski und ,,Das Deutsche Volksliedarchiv in Leningrad<<. Geschich- te, Inhalt und Struktur einer vergessenen Sammlung. In: Traditionelle Lieder der Russlanddeutschen [John/Swetosarowa] (wie Anm. 4).

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Eckhard John

sprach Schirmunskis eigenem Forschungsinteresse, der sich - in Uber-

einstimmung mit John Meiers Intentionen - auch publizistisch besonders den Balladen widmete23 sowie dem Liedgut einer besonders alten Kolonie:

Jamburg am Dnjepr, einer der vier iiltesten deutschen Siedlungen in der Siidukraine (gegriindet 1793 von Kolonisten, die bereits 1765/66 nach Russland eingewandert waren).24

Kolonistische Lieder

Neben den ,,verklingenden Weisen< und der Balladenforschung konzen- trierte sich Schirmunskis eigenes Interesse am russlanddeutschen Volkslied auf jene Lieder, die in den Ansiedlungen selbst entstanden waren. Ihnen widmete er bereits 1927 eine spezielle Untersuchung.25 Im Leningrader Volksliedarchiv sammelte er konsequenterweise die entsprechenden Lied-

belege aus seinen Feldforschungen als eigene Gattung (M) und berichtete

1930, dass in den wenigen Jahren seit seinem Aufsatz ,,zahlreiche Er-

gdinzungen hinzugekommen sind<26. In der Tat umfasst diese Liedgruppe in seinem Archiv (DVL) ins-

gesamt 77 verschiedene Liedtypen (mit 191 Varianten), wdihrend sich in Schirmunskis Aufsatz nur Materialien zu 34 Liedern finden. Beriicksichtigt man weiterhin den Umstand, dass zehn der dort dokumentierten Lieder

gar nicht im DVL vorhanden sind,27 so wird klar, dass Schirmunski 1927

23 Schirmunski, Viktor: Die Ballade vom ,Kinig aus Mailand,

in den Wolga-Kolonien. In: Jahrbuch fur Volksliedforschung 1 (1928), S. 160-169; ders.: )),,Des Schlichters Tichterlein<< in neuen Aufzeichnungen. In: Zeitschrift fiir Volkskunde 40 (1930) [N.F. Bd. II, 1931], S. 136-143.

24 Schirmunski, Viktor: Alte und neue Volkslieder aus der bayrischen KolonieJamburg am Dnjepr. In: Das deutsche Volkslied 33 (1931), S. 1-21 und 35-47; damals auch als Separatdruck erschienen (ohne Fotos) mit dem Titel Volkslieder aus der

bayrischen KolonieJamburg am Dnjepr. Wien 1931. 25 Schirmunski, Viktor: Das kolonistische Lied in Russland. In: Zeitschrift des Vereins

flir Volkskunde 37/38 (1927/28), S. 182-215. 26 Schirmunski, Viktor: Das Deutsche Volksliedarchiv in Leningrad. In: Jahrbuch fiir

Volksliedforschung 2 (1930), S. 166. 27 Warum diese Lieder keinen Eingang in die Archivalien fanden, ist nicht ganz klar.

Einerseits stammten etliche nicht aus Schirmunskis eigenen Feldforschungen, sondern vielfach aus der (wolgadeutschen) Sammlung des Paters Weigel, die dem

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Die >kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

lediglich ein Drittel (24) des spaiteren DVL-Bestandes an >>kolonistischen

Liederno in seiner Untersuchung beriicksichtigen konnte. Im Folgenden wird das Phainomen der >kolonistischen Lieder? bei den Russlanddeutschen anhand des gesamten Quellenbestandes des Schirmunski-Archivs exempla- risch untersucht und dargestellt. Auf diesem Weg wird auch der besondere Stellenwert dieser Sammlung fur die Popularliedforschung anschaulich.

Genau besehen sind die >>kolonistischen Lieder< keine Gattung im

engeren Sinne, eher eine heterogene Liedgruppe, deren (einzige) Gemein- samkeit darin besteht, dass ihre Entstehung (und Verbreitung) in den russ- landdeutschen Siedlungen verortet wurde. Innerhalb dieser Liedgruppe finden sich die verschiedensten (traditionellen) Gattungen: z.B. Ballade28, Liebeslied29, Abschiedslied30, Vierzeiler31, Dorfneckereien32, historisch-

politisches Lied33, Soldatenlied34, Auswandererlied35, Kinderlied36 oder Mischlieder37. Aussagekraiftiger als die Rubrizierung in solche herkamm- lichen Ordnungssysteme erscheint die Inhaltsanalyse dieser Lieder. Sie

spiegeln im Wesentlichen zwei Themenbereiche: Alltag und Lebensgefiihl der Kolonisten sowie deren Geschichte.

Die historische Erinnerung der Lieder reicht stellenweise zuriick bis zur

Niederschlagung der polnischen Revolution 1830/31, wobei etwa der Zar als Beschiitzer der deutschen Kolonisten (gegeniiber dem polnischen Adel)

gefeiert wurde.38 Zu den ailtesten Liedern zaihlen augferdem jene iiber den

DVL insgesamt nicht angegliedert worden ist; andererseits gibt es darunter aber auch Lieddokumente von Schirmunskis Assistenten Alfred Str6(h)m, aus dessen

Sammeltfitigkeit sich ansonsten viele Lieder im DVL befinden. 28 Zum Bsp. In dem dunklen Graschdankawald (M 34). 29 Zum Bsp. Baum

rila3KI4H pocTo IyY1o [Ihre Augen sind einfach ein Wunder] (M 67). 30 Zum Bsp. Ich muss scheiden von den Meinen (M 30). 31 Zum Bsp. Aufeinem weissen Schimmel, da reiten die Soldaten in den Himmel (M 26). 32 Zum Bsp. Gliickstal hat's eine Schanz gebaut (M 77). 33 Zum Bsp. Das Manifest der Kaiserin (M 3). 34 Zum Bsp. Wie sieht's aus imfernen Osten (M 6a). 35 Zum Bsp. Kommt, ihr Briider, wir wollen ziehen (M 5). 36 Zum Bsp. Enecke benecke sickele sa (M 72). 37 Zum Bsp. L)ie angenehme Winterzeit ist oieHb xopowo (M 19). 38 Jetzt ist Polen ganz verloren, jubiliert, ihr Deutsche (M 63). Das Lied wurde 1909

aufgezeichnet.

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Eckhard John

Krimkrieg (1853--1856),39 bei dem deutsche Kolonisten als Fuhrleute im Proviantdienst der russischen Armee Zeugen der militirischen Gescheh- nisse wurden.40 Ein besonders markantes Ereignis der Kolonistengeschichte war die Einfiihrung der allgemeinen Wehrpflicht (1874),41' denn zuvor waren die deutschen Kolonisten als privilegierter Stand von der in Russ- land jiblichen Rekrutenaushebung befreit: >>auf ewige Zeiten<<, wie es im Manifest der Kaiserin Katherina II. 1763 geheitfen hatte. Gleichzeitig ver- loren die Kolonisten - im Zuge der von Alexander II. betriebenen Ver-

waltungsreform und Russifizierungspolitik - weitere Privilegien, vor allem hinsichtlich ihrer Selbstverwaltung. Als Folge dieser einschneidenden Ver-

inderungen setzte eine Auswanderungswelle ein, zumal unter den deut- schen Kolonisten etliche pazifistisch orientierte religidse Gemeinschaften waren, ffir die gerade die Militiirfreiheit ein zentraler Grund ihrer Aus-

wanderung nach Russland gewesen war. Als neues Ziel der Auswanderung bot sich nun u.a. Brasilien an.42 Fuir die in Russland Verbliebenen wurden

folglich vor allem die Kriege des Zarenreiches zu existentiellen Ereignissen, so der Russisch-Tiirkische Krieg (1877/78)43 sowie der Russisch-Japanische Krieg (1903-1905).4 Aber auch die Migration innerhalb des russischen

39 Zur Tawrischen Festung zu Sewastopol (M 68). Vgl. hierzu auch Klein, Victor:

Unversiegbarer Born. Vom Wesen des Volksliedes der Sowjetdeutschen. Alma-Ata 1974, S. 51f.

40 Am Friihjahr schrieb man ein Passport (M 1). Vgl. hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 196, 212, 215.

41 Das Manifest der Kaiserin (M 3). Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 193f.; ausfiihrlich zu diesem Lied John: Russland- deutsches )) Volkslied< (wie Anm. 7).

42 Kommt, ihr Briider, wir wollen ziehen (M 5). Hierzu auch Schirmunski: Das kolo- nistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 195, 212, 215. Siehe auf3erdem Habe- nicht, Gottfried: Das Brasilienlied. Monographische Skizze eines rujflanddeutschen Aus-

wanderungsliedes. In: Jahrbuch fiir ostdeutsche Volkskunde 22 (1979), S. 227-278. 43 Im Orient sind sieben Fiirsten (M 2). Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische

Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 196, 212, 215. - Aufierdem: Wenn ich an die Heimat denke, und ans wiiste Tiirkenland (M 46) und Korga a B PeBene

posHn1Cc [Als ich in Reval geboren war] (M 21). Vgl. dazu Redlich, Friedrich A.: Gemischt-

sprachige Dichtung im Baltikum. In: Jahrbuch der volkskundlichen Forschungs- stelle, Riga 1 (1937), S. 113-143; siehe auch weiter unten S. 200f.

44 Wie sieht's aus im fernen Osten (M 6a) und Manche liegen auf dem Felde (M 6b). Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 196-200, 213-215. - Weitere Lieder zum Russisch-Japanischen Krieg bei

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Die ,>kolonistischen

Lieder<< der Russlanddeutschen

Reiches in neu gegriindete Tochterkolonien, die insbesondere seit den

1880er-Jahren im Kaukasus entstanden, fand Resonanz im Lied.45 Je na*her die Ereignisse zur Gegenwart (gemeint ist die Zeit der Feldforschungen) liegen, desto gr6afer ist die Anzahl der iiberlieferten Lieder, aber auch die

dokumentierte Verbreitung besonders populirer Gesiinge.46 Am praigendsten in dieser Hinsicht waren in den Zwanzigerjahren na-

tiirlich die tief greifenden Erschiitterungen der zuriickliegenden 15 Jahre: Weltkrieg, Revolution und Biirgerkrieg. Insbesondere der Weltkrieg war auch fiir die deutschen Kolonisten ein traumatisches Ereignis, das sich recht detailliert in ihren Liedern ausdriickte. Sie sind gekennzeichnet durch schmerzvolle Klage fiber diesen Krieg; angefangen beim Abschied des Sol-

daten, wie etwa im Lied Welch ein Schrecken war's im Jahre 1914 doch (das

pikanterweise auf die Melodie von Alle Menschen miissen sterben gesungen wurde)47 oder im Lied Ich muss scheiden von den meinen, Trdnen darf man keine sehn, das mit einer bemerkenswerten Parodie auf das Deutschlandlied endet:

O du Deutschland diber alles Du erschreckst die ganze Welt, Mit Kanonen und mit Flinten Untersembart ist dein Held.48

Zahlreich sind auch die Soldatenklagen aus dem Ersten Weltkrieg, etwa Wie schdn ist das Leben in friedlicher Zeit, im Hause des Vaters hat mich es

gefreut (M 52) oder Ich, ein armer Bauernknabe alt von 21 Jahre49 sowie

Schiinemann, Georg: Das Lied der deutschen Kolonisten in Russland. Mit 434 in deutschen Kriegsgefangenenlagern gesammelten Liedern. Miinchen 1923, S. 381-384 (= Nr. 428--433).

45 Ihr Briider, wollt ihr ziehen fort aus Bessarabia (M 4): Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 195f.

46 Die Lieder M 6a und 6b (siehe Anm. 44) geh6ren z.B. mit insgesamt 20 auf-

gezeichneten Textvarianten zu den vier am umfassendsten dokumentierten kolo- nistischen Liedern im DVL.

47 M 10. Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 201f.

48 M 30, Nr. 1. Aufgezeichnet 1927 in Friedental (Krim), vorgesungen von Doro- thea Bauer (geb. 1912); IRLI Handschriften-Abt. 104-12-91 (Bl. 99).

49 M 7. Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 187, 200f.

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Eckhard John

Ach, lieber Gott, wie schwer die Zeit, die du uns jetzt hast vorbereit, das mit der Strophe endet:

Es schreit das Volk mit lauter Stimm Zu Gott, dem lieben Herren hin. Ach, lieber Gott, wann kommt der Tag, Wo du dem Krieg ein Ende machst?50

Dabei war den Kolonisten durchaus bewusst, dass das Kriegselend letztlich darauf zuriickzufiihren war, ,,weil dass Deutschland immer knallt< - wie es in einem anderen Lied heifit, das hier stellvertretend ffir den Typus der leiderfillten Weltkriegslieder ganz wiedergegeben sei:

1. Liebe Eltern, wollt ihr's wissen, Wie es mir im Kriege geht? Schrecklich bin ich's abgerissen, Und der Hunger quiilt mich sehr.

2. Kiilte iiber zwanzig Stunden, Heisst es: >>Vorwirts<< zum Soldat, >>Vorwirts<(, heisst es, ,,immer vorwirts, Vorwdirts<<, heisst es zum Soldat!

3. Borscht und Fleisch und ein StUck Kascha

Kriegt man alles eis und kalt Heisses kann man gar nicht kriegen, Weil dass Deutschland immer knallt.

4. Mancher ist schon eingeschlafen Und ist nimmer aufgewacht, Mancher hat schon Kopf und Fuss verloren Mancher auch schon Kopf und Arm.

5. Ach, das war ein Jammerleben, Kriegen muss man Tag und Nacht, Ach, das war ein Jammerleben, Kriegen muss man Tag und Nacht.51

Das Lied wurde auf die Melodie von Stenka Rasin gesungen, wie eine Ton- aufnahme aus demselben Ort veranschaulicht (siehe Abb. 2). Bei dieser

Aufzeichnung findet sich im Liedtext noch eine weitere praignante Strophe, die auch in anderen U(berlieferungsvarianten vertreten ist:

50 M 8, Nr. 1. Aufgez. 1926 aus dem Liederheft von Helene Faber, Kol. Rybalsk (bei Jekaterinoslaw, Ukraine); IRLI Handschriften-Abt. 104-12-27 (Bl. 33). Hier- zu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 201.

51 M 14, Nr. 3. Aufgezeichnet im Sommer 1928 in der Kol. Gliickstal (Moldauer Republik), Ukraine, von einem Burschenchor, durch H. Bachmann; IRLI Hand- schriften-Abt. 104-12-38 (Bl. 45). Str. 2 triigt hier - wohl irrtiimlich - folgende Zeichensetzung: >KMilte fiber zwanzig Stunden, I/ Heisst es: >Vorwiirts zum Sol- dat, / Vorwairts, heisst es, >immer vorwirts, / Vorwlirts<, heisst es, >zum Soldat!<<.

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Die >>kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

Zehn Minuten ka[u]m zum Ruhen Und zum Essen fiinf Sekund, Und das Brot, das wir bekommen, Ist wohl kaum ein halbes Pfund.52

Mit zunehmender Kriegsdauer entstanden weitere Lieder iiber das Kriegs- elend: Juli sechzehn fing es an zu regnen, und der Landmann fuhr vom Feld nach Haus (M 11), Nun ist es schon drei Jahre bald, ein manches Kind und Vater alt (M 71), Wir schreiben jetzt schon 17Jahr, und [...] Kriegsgefahr (M 73) - und stets sind Abschied, Tod und Leid an der Front die zentra-

len, sehr konkret und detailliert er6rterten Themen.

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Abb. 2 Melodietranskription U VI, Nr. 64b:

Kol. Gliickstal, Kreis Nikolajew, Maria Werry (27 Jahre), August 193053

52 M 14, Nr. 6. Aufgezeichnet im Sommer 1930 in der Kol. Gliickstal, gesungen von Maria Werry (27 Jahre), gesammelt von A. Leonowa; IRLI Handschriften- Abt. 104-12-41 (Bl. 48).

53 IRLI Phonogrammarchiv, Sammlung Schirmunski. - Der Hinweis auf Stenka Rasin findet sich auch in anderen Aufzeichnungen dieses Liedes.

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Eckhard John

Kein Thema in den iiberlieferten Liedern ist dagegen die Kriegsgefangen- schaft, zumal die in Deutschland. Diese Seite des Krieges spiegelt sich in der Liedgeschichte der Russlanddeutschen in gdinzlich anderer Form. Denn in den Gefangenenlagern nutzten reichsdeutsche Sprachwissenschaftler und Musikologen das inhaftierte fremdlkindische >,,Menschenmaterial(( dazu, folkloristische Feldforschungen zu betreiben: und so wurde im Auf-

trage der vom Preugischen Kultusministerium eingesetzten >>Phonographi- schen Kommission<< auch unter den russlanddeutschen Kriegsgefangenen gesammelt. Diese kriegsbedingte Forschungstaitigkeit fiihrte 1923 zur ersten (und bis heute grundlegenden) wissenschaftlichen Darstellung iiber Das Lied der deutschen Kolonisten in Russland, in der mit Befremden fest-

gehalten wurde: Bezeichnend ist, wie tief sich solche Lieder [Klagen iiber den Mili- tairdienst] in der Erinnerung festgesetzt haben, und wie die Kolo- nisten sie gleich bei der Hand haben, wenn man nach Soldaten- stiicken fragt. Ihre eigenen Lieder sind fast alle wehklagend, elegisch oder bitter anklagend, [...]. Kommt es wirklich einmal zu einem frischen, fest zugreifenden Stiick, so kann man von vorne- herein sagen, dass eine deutsche Quelle vorliegt.54

In der Tat spielen >>frische,< und >fest

zugreifende<, Soldatenlieder, also die

militaristisch-soldatischen und hurrapatriotischen Gesdinge, wie sie in Deutschland zur Grundausstattung nationaler Sozialisation geh6rten, keine Rolle unter den >>kolonistischen Liedern<< der Russlanddeutschen. In dem von Schirmunski iiberlieferten Material findet sich lediglich ein Lied, das im emphatisch-idealisierenden Sinne als Soldatenlied zu bezeichnen waire55

54 Schiinemann, Georg: Das Lied der deutschen Kolonisten in Russland. Mit 434 in deutschen Kriegsgefangenenlagern gesammelten Liedern. Miinchen 1923 (Sammel- bdinde fdir vergleichende Musikwissenschaft 3), S. 14. - Zur Sarnmeltiitigkeit der

?Phonographischen Kommission<< vgl. Ziegler, Susanne: Dokumentation balka- nischer Musiktraditionen in Deutschland. Aus den historischen Schallaufnahmen der

Preuflischen Phonographischen Kommission 1915-1919. In: Musik im Umbruch. Kulturelle Identitait und gesellschaftlicher Wandel in Siidosteuropa. Hg. von Bruno R. Reuer. Miinchen 1999, S. 378-393.

55 Mutig tapfer ziehen wir zu Kriege, fiir das liebe, teure Vaterland (M 70). Darin

heifLt es u.a.: Preussen, Tiirken und zuletzt Bulgaren/ Heben gegen uns die

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Die >kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

- und dies, obwohl die Soldaten- und kriegsbezogenen Lieder am zahl- reichsten unter den >kolonistischen Liedern< vertreten sind: sie umfassen

ca. ein Drittel des Gesamtbestandes (25 von 77 Liedtypen). Der Grund

hierfiir diirfte sein, dass das bereits existierende Angebot an herk6mm- lichen Soldatenliedern die entsprechenden Bediirfnisse offensichtlich reich- lich deckte,56 wiihrend es for die bedriickenden Realitaiten des militairischen

Alltags keine vorgefertigten Ausdrucksformen gab: diese mussten sich die Kolonisten vielmehr selbst schaffen.

Soldatenklage und Soldatenabschied sind innerhalb der >>kolonistischen

Lieder<< die dominierende Liedgruppe. Hierzu gehdren neben den bereits

genannten auch jene Lieder, die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammen bzw. keine spezifischen Aussagen zu bestimmten Kriegen ent- halten: Abschiedslieder wie Jetztfangen an die Schreckenstunden, die Triibsal bricht mit Macht herein (M 64), Die Zeiten sind verflossen, jetzt kommt der

Abschiedstag (M 51), Eltern mein, Eltern mein, wird ihr noch am Leben sein

(M 75) oder Soldatenklagen wie Auf, ihrjunge deutsche Briider, leget's eure

Arbeit nieder (M 50) und Christenheit, ich rufDir zu: Leb doch nicht Idnger in der Ruh (M 54) sind somit noch zu ergainzen. Keinerlei Hinweise gibt es bei den kolonistischen Soldatenliedern darauf, dass deren klagender Cha- rakter irgendetwas zu tun haitte mit der besonderen Konstellation der Krieg fiihrenden Parteien im Ersten Weltkrieg, als Deutschland gegen Russland

kiimpfte und die deutschen Kolonisten auf der russischen Seite dienen mussten. Vielmehr bleibt festzuhalten, dass die kolonistischen Lieder auch schon in den Kriegen zuvor eine kritische Sicht der unmittelbar vom

Kriegsgeschehen Betroffenen entwickeln und die konkreten Inhalte auch sehr praizise benennen: den Abschied ins Ungewisse; das Schicksal von Frau

Waffen auf. / Und uns drohen dadurch die Gefahren: / Briider schlagt nut mutig drauf. / [Chor:] Kiimpfet nur mutig bis der letzte Feind besiegt!< M 70, Nr. 1 (L); IRLI Handschriften-Abt. 104-21-226 (Bl. 227).

56 In diesem Zusammenhang waire die DVL-Gattung >Soldaten- und Kriegslieder, Auswanderungsliedern< (L), die insgesamt 99 Liedtypen umfasst, niher zu analy- sieren und ggf. auf eine spezifische Variantenbildung hin zu untersuchen. - Ver-

mutlich wurde beim Militar zudem durch entsprechende russische Lieder der Bedarf an patriotischen Soldatengesingen gestillt; dieses Liedrepertoire wurde im

DVL indes nicht beriicksichtigt.

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Eckhard John

und Kindern (sozialer Abstieg, Hunger, Waisen); die mangelhafte Ver-

sorgung (Kleidung) und Ernmiihrung (Hunger) bei der Truppe; Tod und Traumata der Fronterlebnisse.

Unzufriedenheit und 1Iberdruss am Kriegselend brachen sich allerdings auch in einem sarkastischen Spottlied gegen die russische Regierung Bahn: Ach Russland, armes Russland, wie traurig steht's mit dir57. Und solcher Un- mut gegen das zaristische Regiment wurde noch verstiindlicher angesichts der brutalen ZwangsmaiEnahmen gegen Teile der russlanddeutschen Be-

v6lkerung im Zuge des Weltkrieges. Auch dies waren einschneidende Er-

eignisse der Kolonistengeschichte, die in Liedern verarbeitet wurden, ins- besondere die Deportation der Deutschen aus Wolhynien: Aus Wolhynien sind gezogen, die Ver]agten arm und reich58 oder Frisch auf, ihr deutschen Briider, frisch auf fasstfrohen Mut59. Umso mehr Hoffnung sch6pften die Russlanddeutschen durch die Russische Revolution 1917: ein im Juli 1917 verfasstes Kriegslied reflektiert diesen Zusammenhang von Krieg, zaristi- scher Repression (gegen die Deutschen) und revolutionairem Freiheits-

gefiihl en detail:

1. Wie ein Blitzschlag ging ein Jammer Durch Europa fiirchterlich. Krieg, ach Krieg, so h6rt man rufen, Auf, Soldat, und tu dein Pflicht!

2. Juli siebzehn schreibt man grade, Jahrgang vierzehn zihlte man, Wo der schwere Krieg begonnen, Wann er endet, acht man kaum.

3. Mancher Vater musste scheiden Von den Lieben seinen fort. Als Soldat fir 's Reiche streiten, Kdimpfen mit dem blut'gen Schwert

4. Ach, der Vater mit dem Sohne Musste auf das Schlachtfeld ziehn. Grofier Gott, erbarm dich unser, Sonst ist es um uns geschehn!

5. Zu dem Krieg kam andres Leiden COber unser deutsches Volk. Wurde schrecklich hier gequilet Von der alten Obrigkeit.

6. Manches Bethaus wird geschlossen, Mancher Prediger verschickt, Ach, manch deutsches Dorf verheeret, Mancher wurde sehr gedriickt.

57 M 15. Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 203.

58 M 13. Hierzu auch Schirmunski: ebd., S. 202. 59 M 31. Hierzu auch ebd., S. 203. - Auch das Lied Wir sind hier im fremden Lande

weit von Weib und Kind getrennt (M 49) geh6rt vermutlich zu diesen Liedern der

weltkriegsbedingten Vertreibung.

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Die >>kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

7. Aber doch, bei allen Leiden, War das deutsche Volk getreu. Harrte nur der rechten Zeiten, Wo Gott seine Hilf erweist.

8. Ach wir hofften nicht vergebens, Wie ein Blitzschlag kam die Hilf Von dem grogfen Gott im Himmel Ober uns im ganzen Land.

9. Freiheit, hief3 es, Freiheit, Briider! Freiheit in dem ganzen Land.

Jauchzet Gott, singt Jubellieder, Ach frohlocke, deutsches Volk!

10. Ach, die grofte Zeit der Freiheit Brach am sechsten Mirz herein.

Jahrgang siebzehn war die Zeit jetzt, Ach, wir alle achten 's kaum.

11. Nun ist alles frei von Banden, Und die Ketten sind gesprengt. Durch die Hilfe unsres Gottes, Der noch unser treu gedenkt.60

Wdihrend hier die Februarrevolution enthusiastisch begriiift wurde, war es in einem spaiter entstandenen, thematisch aihnlichen Lied bereits die

Oktoberrevolution, der die Befreiung der Deutschen zugeschrieben wurde; darin heitft es u.a.:

Denn der Kaiser Nikolai Gab Befehl im ganzen Land, Alle Deutsche, die drin wohnen Miissen raus mit leerer Hand.

[...]

Doch der Lenin hat gesorget Fir uns arme deutsche Leut, Hat das Ungliick abgeworfen, Hat uns von dem Joch befreit.

[...] Alle, die am hi"chsten waren Sind auf einmal hingericht, Und der Kaiser Nikolai Darf nicht mehr ans Tageslicht.61

Doch solcher Optimismus erhielt in den ersten nachrevolutionairen Jahren erhebliche Dimpfer, es dominierte der Nachkrieg: die Flucht vor dem Biir- gerkrieg (1919 Jahr, in dem Monat Februar62), die Hungersnot (1921 war

ffir uns ein schweresjahr63) oder die Zumutungen des Kriegskommunismus:

60 M 12, Nr. 1. Niederschrift des (ungenannten) Singers in der Volksliedsammlung von Lehrer Bletsch, Kol. Worms (Ukraine), aufgezeichnet von Schirmunski 1927; IRLI Handschriften-Abt. 104-12-33 (Bl. 43f.).

61 Ach, wie traurig kam die Botschaft hier in diesem Jammerland (M 40); IRLI Hand- schriften-Abt. 104-12-99 (Bl. 111). Das Lied ist Vertreibung der Deutschen aus Russland iiberschrieben und wurde auf die Melodie von Stenka Rasin gesungen.

62 M 41. Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 204.

63 M 16. Hierzu auch Schirmunski: ebd., S. 204f., 214f.

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Eckhard John

1. Ach Russland, armes Russland, Du bettelarmes Reich, Statt Stiefel trage mer Lapke, Mir stehn d'r Bettler gleich.

2. Als sie den Kaiser stiirzten, Da riefen sie - hurrah! Und klatschten in die Hiinde, Da war die Freiheit da.

3. Sie legten Kontribuzie Auf tiefgeackert Land, Sie fresse Korn' un' Waaze, Das is uns wohlbekannt.

4. Sie nehmen uns die Hinkel Und Gdins un' Ente weg (wek), Sie fresse die Butter un' Eier Un' auch den Schweinespeck.

5. Sie nehme' uns die Rinder, Die Schafe un' die Kiih', Vergeblich is die Arwait, Vergeblich is die Miih.

6. Un' alles was sie nehme Das bringe se nach die Stadt, Un' frage die Regierung Was sie sonst n6tig hat.

7. Sie trage uf ihre Briiste Ein Sternche rot wie Blut, Un' klatsche in die Hiinde Un' sin' jetzt voller Mut

8. Sin' so viel Kommissione Im russische Regent D'r Daiwel kann es wisse, Ei, wie mer die all nennt.

9. Sin' so viel Kommissare Wie Sand is an dem Meer. D'r Daiwel kann es wisse, Wu komme se nor all her?64

Das von der Revolution erhoffte Aufatmen kam ffir die deutschen Kolo- nisten eigentlich erst mit dem Ende des Biirgerkriegs und der Etablierung einer neuen Politik gegeniiber den nationalen Minderheiten, die sich para- digmatisch an der Griindung der autonomen Wolgarepublik festmachen liisst. Es ist also im Grunde jene Zeit, in der auch Schirmunski seine Feld-

forschungen durchfiihrte. Dass er hierbei auch gegenwartsbezogene Lied-

iugferungen zu den Realitiiten in Sowjetrussland aufzeichnete (und un- geschminkt publizierte), war unter Volksliedforschern seiner Zeit nicht

unbedingt iiblich und zeichnet seinen Ansatz aus.

64 M 15, Nr. 1 (W). Mit der Oberschrift Ach Russland, armes Russland (aus der Zeit des Kriegskommunismus), aufgezeichnet durch A. Justus im August 1931 in der Kol. Stahl, Kanton Marxstadt, ASRR.d.WD. von Gustav d. Chr. Justus (22 Jahre, >,,Mittelbauer-Kollektivist<<); IRLI Handschriften-Abt. 104-24-112 (Bl. 113). Der Text ist eine Parodie auf das oben erwaihnte Weltkriegslied (siehe Anm. 57).

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Die >>kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

Es gibt aber auch einen Fall, wo Schirmunski in seiner Veriffentlichung die politische Brisanz des Liedtextes durch Auslassung entschairfte: Im Lied

fiber die Flucht der deutschen Bevilkerung 1919 aus dem Melitopoler Kreis liefI er drei politisch heikle Strophen vorsichtshalber weg:

2. Melitopol liegt in Taurien, wo verschiedne Banden sind, Bolschewiken und Banditen, die nur raiuberisch Gesindel.

3. Alte Minner von siebzig Jahren mussten greifen nach der Flint, denn in Riuberhinden sterben wollte nicht das kleinste Kind.

6. Alles blieb den Bolschewisten in dem fernen Heimatort, und so mussten wir nun fliichten nach dem Krimerer Gebiet.65

Dass Schirmunskis Studien schon damals von punktuellen politischen Riicksichtnahmen begleitet waren, illustriert auch sein Schreiben vom 25. Mai 1930 an John Meier.66 Aufs Ganze gesehen sind jedoch solche Fiille vorbeugender Selbstzensur bei Schirmunski die Ausnahme, und sie be- treffen - soweit wir dies heute iiberblicken - nicht die Dokumentations-

praxis des DVL. Dort wurden die Texte so aufbewahrt, wie sie vorgefun- den wurden. Zu beriicksichtigen ist in diesem Zusammenhang freilich noch der wesentlich folgenreichere Umstand, dass vieles vermeintlich oder tatsichlich Prekire den Sammlern damals erst gar nicht vorgesungen wurde und deswegen in dieser Sammlung fehlt (und dies betrifft bei weitem nicht nur politische Themen).67

65 M 41, Nr. 1. Aufgezeichnet 1926 in Kol. Andreburg (Molotschnaja, Ukraine); IRLI Handschriften-Abt. 102-12-100 (BI. 112). Vgl. hierzu Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 62).

66 Siehe dazu John: Russlanddeutsches )) Volkslied,<

(wie Anm. 7), S. 160f. 67 Vgl. z.B. die originale handschriftliche Textaufzeichnung von M 15, Nr. 2 (Ach

Russland, armes Russland), die bereits in der zweiten Strophe abbricht, was vom Aufzeichner (Hermann Bachmann) mit den Worten kommentiert wurde: ,,Weiter wusste der Singer nicht, oder, wahrscheinlicher, wollte er es nicht diktieren<< (!). Vgl. AAW 1001-1-379 (BI. 47). In der maschinenschriftlichen Abschrift, also der Form, die die Liediiberlieferung im DVL konstituiert, ist diese Anmerkung indes nicht iibernommen worden; vgl. IRLI Handschriften-Abt. 104-12-43 (Bl. 50). - Im Weiteren siehe hierzu auch Anm. 96.

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Eckhard John

Bis in die sowjetische Gegenwart der Kollektivierung finden wir unter den von Schirmunski aufgezeichneten Liedern Beziige zur politischen Ge- schichte, sei es im Klagelied eines Kulaken68, in einem gegen die Kulaken gerichteten Spottlied69 oder in einem lakonischen Vierzeiler auf die neue landwirtschaftliche Kollektivwirtschaft70. Die neue, sowjetische Obrigkeit (>>Lenin<) wird dagegen allenfalls am Rande erwaihnt,71 so wie in den Zeiten zuvor auch eher beiliiufig von >,mein Zar/ mein Vaterland< die Rede gewesen war.72 Doch solche traditionelle Staatsriison wird gelegent- lich auch von antikommunistischen Einsprengseln durchbrochen.73 Da- gegen finden sich unter den >>kolonistischen Liedern< der Schirmunski-

Sammlung keine kommunistisch inspirierten Lieder: lediglich eines hat sich im Leningrader Archiv in diese Gruppe verirrt, und dieses ist in Wirklich- keit gar kein >,,kolonistisches Lied<.74

Im Zentrum des originar kolonistischen Liedes der Russlanddeutschen stand also um 1925-1930 die Bewailtigung und Abarbeitung der trauma- tischen Erfahrungen aus Weltkrieg und Biirgerkrieg. Dariiber hinaus arti- kulierten sich Alltag und Lebensgefiihl der Kolonisten auch in anderer Weise und charakterisieren auf ihre Art die d6rfliche Lebenswelt. Da wird

68 Herz; mein Herz; warum so traurig und was griimst du dich so sehr (M 66). 69 Uns ist gut und uns ist gut, wir leben ohne Sorgen (M 25). 70 ,,Kollektiv ,Neue Welt< / Milch, Milch ohne Geld / steht schief, steht krumm/

und fillt bald umrn (M 9). Aufgezeichnet 1930 in Kol. Gliickstal (Mold. Rep., Ukraine); IRLI Handschriften-Abt. 104-12-30 (Bl. 36). - Etliche weitere Vier- zeiler auf die sowjetischen Modernisierungsbestrebungen auf dem Lande hat damals Schirmunskis Schiiler und Mitarbeiter Alfred Str6hm gesammelt. Vgl. Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 192.

71 Vgl. z.B. M 40 und M 51. 72 Vgl. z.B. M 21 oder M 63. 73 Zum Beispiel ,,Auf einem weissen Schimmel, / Da reiten die Soldaten in den

Himmel. / Auf einer gelben Schwelle, I Reiten die Kommunisten in die HSlle< (M 26). Aufgezeichnet 1927 in Kol. Belowesch (Kr. Konotop, Ukraine); IRLI Handschriften-Abt. 104-12-87 (Bl. 95). - Siehe auch M 41, Nr. 1 (Anm. 65).

74 Vgl. Auf aufzum Kampf, zum Kampf Zum Kampfsind wir geboren (M 69); iiber-

schrieben Das Lied von K Liebknecht und R. Luxemburg. Es handelt sich hierbei um ein Lied, das innerhalb der kommunistisch orientierten Arbeiterbewegung in Deutschland direkt nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist. Vgl. z.B. Steinitz, Wolfgang: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Bd. II. Berlin 1962, S. 490-495.

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Die >>kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

in satirischen Liedern aus dem Dorfalltag z.B. eine namentlich genannte Frau als unertriiglich herrschsiichtig an den Pranger gestellt,75 ein Alko- holiker unbarmherzig dem Spott iiberlassen,76 ein aufgeflogener Hiihner- diebstahl geniisslich in Erinnerung gerufen77 oder gleich das halbe Dorf

durchgehechelt.78 Ebenso werden die Rivalititen zu benachbarten Orten

>>singfest<< gemacht.79 Regional meist grofte Verbreitung haben Liedberichte

iiber besonders schockierende lokale Ereignisse, etwa die Ermordung von Pastor Baumann und seiner Familie in Prischib 1904,80 die Todesstrafe fiir einen Falschmiinzer, der von seinem Bruder denunziert wurde (evtl. bereits in den 1860er-Jahren),81 iiber einen verheerenden Brand in Grunau, bei

dem die Helfer t6dliche Brandwunden davontrugen,82 iiber den jungen Kolonisten Wilhelm Greiner, der beim Militairdienst durch einen Pferde- unfall zu Tode kam,83 oder die Ballade vom Liebespaar Karl und Emilia, dem russlanddeutschen Pendant zu Romeo und Julia, das in der Kolonie Graschdanka nahe bei St. Petersburg Selbstmord beging.84

75 Aus dem Grabe istgedrungen, eine Stimm'durch Engelszungen (M 33). 76 Ich bin ein Schreiber gut gelehrt, das muss mirjeder sagen (M 36). 77 Der weisse und der rote Fuchs, die gingen einst zujagen (M 48). 78 In Rastatt ein Verein es gibt, Jupeidi-jupeida (M 24). - Hermann Bachmann be-

richtet mit Blick auf dieses Lied, dass es fiir die angereisten Volksliedsammler gar nicht so einfach war, solche Lieder von der Dorfjugend iiberhaupt mitgeteilt zu bekommen. Vgl. Bachmann, Hermann: Durch die deutschen Kolonien des Beresaner Gebietes. Charkow 1929, S. 11.

79 Wie etwa im Lumpestickle iiberschriebenen Vierzeiler >Gliickstal isch die schdnste Stadt, / Neudorf isch der Bettelsack, / Bergdorf isch der Wasserkiwwel, / Schlot- tere isch der Deckel driiwern< (M 60). Aufgezeichnet 1930 in Kol. Gliickstal (Mold. Rep., Ukraine), vorgesungen von Elisabeth Biber (25 Jahre); IRLI Hand- schriften-Abt. 104-12-113 (Bl. 126). - Auferdem Der Wind hat den Kandlern den Verstand verjagt (M 53) und Gliickstal hat's eine Schanz gebaut (M 77). Vgl. hierzu auch die im DVL nicht dokumentierte Variante bei Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 191f.

80 H'rt, Menschen, eine Schreckenskunde, die jiingst in Prischib ist geschehn (M 17). Hierzu auch Schirmunski: ebd., S. 188f.

81 Gute Nacht, du Siindenleben, gute Nacht, du eitle Welt (M 18). Hierzu auch Schirmunski: ebd., S. 189f.

82 Schrecklich war die Nacht in Grunau, als beim Meier brannt das Haus (M 39). 83 Hier zu Wassiani in dem Lager ging uns verloren unser Freund (M 45). 84 In dem dunklen Graschdankawald, dort wo des Kuckucks Ruferschallt (M 34). Diese

Ballade ist das am haiufigsten belegte >>kolonistische Lied<< im DVL (23 Varianten). Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25),

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Eckhard John

Die Beziehungen von Mann und Frau spielten in den Liedern der deut- schen Kolonisten in Russland natiirlich - wie andernorts auch - eine zen- trale Rolle. Es verwundert kaum, dass die Gattung >>Liebeslied? im DVL mit 214 Liedtypen die mit Abstand umfangreichste Oberlieferung auf- weist. Aber auch unter den >>kolonistischen Liedern<< artikulieren sich in dieser Hinsicht die verschiedensten Facetten von Paarbeziehungen: die miinnliche Selbstdarstellungs5 und Werbung"s, die kecken Balzspiele"8, das sentimentale Liebesleid"8, das hingebungsvolle Liebesliedsg, das ausgelassene Hochzeitsfest9?, das Wiegen-91 und Kinderlied92, die ehelichen Erfah- rungen93 sowie die unvermeidlichen Enttdiuschungen und Eheklagen94. Hierbei herrscht bisweilen ein recht direkter Ton:

Will der Mann spazieren gehen Und die Welt ein bisschen sehn, Muss er erst dem Weibe sagen Und sie um Erlaubnis fragen, Sonst ist ja der Teufel los, Ist der Mann ja noch so gross.

Kommt er abends dann nach Haus Und hat einen kleinen Rausch, Geht er dann mit leisen Schritten Vor die Bettlad hin zu bitten: - Geh nur naus, du b'soffne Sau, Oder ich schlag dich schwarz und blau!95

S. 187f., 211, 215. - Schirmunski berichtete, dass in den Zwanzigerjahren die Grabstaitte noch zu sehen gewesen sei; vgl. dazu auch Swetosarowa: Viktor Schir- munski und

,Das Deutsche Volksliedarchiv in Leningrad<< (wie Anm. 22).

85 Nur, Carluscha, nicht verzagt, besser wird es kiinftig (M 32). 86 Miidchen, willst du mit mir gehen, meine Wirtschaft zu besehen (M 37). 87 Solche Mddchen grad wie du, trag ich unter meiner Schuld (M 57). Vgl. dazu auch

Schirmunski, Viktor: Volkslieder aus der bayrischen Kolonie Jamburg am Dnjepr. Wien 1931, Nr. 35 (hier mit Melodie, die im DVL nicht iiberliefert ist!).

88 Hast du erlebt in deiner ugend auch schon Tage, die dir nur brachten Ungliick und viel Leid (M 38).

89 Bamui rsJa3KH rpOCTro syao, IlenosBaTb SI Bac TOTOB [Eure Augen sind einfach ein Wunder, ich bin bereit, Sie zu kiissen] (M 67).

90 Hier wird im Dorfe Hochzeit sein, da wird's wohl lustig sein (M 55). 91 Crn, MJnaeHeL Moil

npeKpacHabii, BaiotiKH cnoIo [Schlafe mein Kindchen, mein schiines, ich singe dir Eiapopeia] (M 76).

92 Enecke benecke sickele sa, CKOJIbKO CTOHT KonI6aca? [wie viel kostet die Wurst] (M 72). 93

HepbIhxi pac, KaK oueHHJIUcI, To B3sU uIIHHKy c MOJrTOBaH [Als ich das erste Mal

geheiratet habe, habe ich mir ein Weib von den Moldawiern genommen] (M 58). 94 Oft zankt mein Weib mit mir, o Graus (M 61); ebenso Aus dem Grabe ist gedrungen

(M 33). 95 M 23, Nr. 2 (Str. 4 und 5). Aufgezeichnet 1927 in Kol. Bergdorf (Moldauer

Republik, Ukraine), gesungen von Karoline Schmidt (ca. 24-28 Jahre); IRLI Handschriften-Abt. 104-12-83 (Bl. 91).

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Die >>kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

Solche >>Derbheit des Ausdrucks<<, die schon Schiinemann als Charakteristi-

kum ffir die Lieder der deutschen Kolonisten erwithnt, findet man haiufiger, wenn es in den >,kolonistischen Liedern<< um die eheliche Beziehungswelt geht. Was jedoch in Schirmunskis Archiv gainzlich fehlt, sind die erotischen

Lieder, die >>obscdnen Lieder, Zoten und Schwiinke, die das Letzte bringen<, von denen Schiinemann in diesem Zusammenhang ebenfalls spricht.96

Auffdillig ist bei allen diesen Liedern, die sich um die Beziehungs- und

Gefiihlswelt drehen, dass es sich nahezu ausnahmslos um deutsch-russische Mischlieder handelt. Als Beispiel hierfiir ein Liedzitat, in dem nicht der

Mann, sondern die Frau geschlagen wird:

6. Und wenn er dann nach Hause kommt So heisst's: )IeHa HOCTOHI Und wenn er gleich den Schnaps vermisst Kommt er wie ein 'opT )IOMOH.

8. Und wenn das Weib das Maul auftut So heisst's: KeHa, MOJIqH Sonst wenn ich einen Priigel krieg Wird dir's nicht wohl ergehn.

9. Und dir damit Ha CIHH

e AaM

MuTyrK BaualaTb an der Zahl So geht es wohl den

)KeHnIHHaM Fast immer fiberall.

10. So geht wenn man geheirat hat, Dann heisst's: )KeHa, Tepnn Da bekommt man auch noch Schldge satt, Fast wie das liebe Vieh.97

Es gibt darunter aber auch Lieder, in denen die Aufteilung der Sprachen eher mit Gegebenheiten der Strophenform einhergeht, wie z.B.:

Ein jeder Mann, der braucht ein Weib, Dass er sich die Zeit vertreibt. Ax rAe-w, ax rAe-xK, ax rAe-)e Mo0i, Ax rAe-wK Moi KpacHaI AIeBHUra?

Ein jedes Weiblein braucht ein Mann, Dass er sie's besorgen kann. Ax rqe-i, ax rAe-w, ax rpge-we MolI, Ax rge-)K MOi KpacHai ACeBHaa?98

96 Schiinemann: Lied der deutschen Kolonisten in Russland (wie Anm. 54), S. 19. -

Inwieweit diese Leerstelle primir auf Priiderie und Desinteresse der Sammler zu-

riickzufiihren ist oder auf mangelnde Mitteilungsbereitschaft der Singer, dariiber kann heute nur spekuliert werden. Indes ist das Faktum als solches durchaus ty- pisch in der Geschichte der Volksliedforschung.

97 M 20, Nr. 3. Aufgezeichnet 1926 in Kol. Prischib (Molotschnaja); IRLI Hand- schriften-Abt. 104-12-65 (BI. 72). - )KeHa HOCTOHi: Frau, warte mal - lopT

)omoi: Teufel nach Hause - KeHa, MOJnIH: Frau, sei still - Ha cnHHe qaM HITyK 2BaAjuaTb: auf den Riicken gebe ich etwa zwanzig Stiick - KeHMIHHaM: Frauen - )KeHa, Tepni: Frau, halt's aus.

98 M 57, Nr. 1 (Str. 3 und 4). Aufgezeichnet 1929 in Kol. Jamburg (Kr. Dnjepro- petrowsk, Ukraine), gesungen von Christine Lautenschlager (19 Jahre); IRLI

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Eckhard John

Solche Lieder, die zwischen und mit zwei Sprachen jonglieren, sind ein Charakteristikum der >>kolonistischen Lieder<<. In Schirmunskis Sammlung sind immerhin 16 (der 77) Liedtypen deutsch-russische Mischlieder."9 Ins Auge flillt ihr scherzhafter Grundzug, ein Merkmal, das generell gemischt- sprachige (>>makkaronische<<) Lieder kennzeichnet. Dieser humoristische Charakter ist wohl auch Ursache ffir ihre grof.e Beliebtheit unter den Russ- landdeutschen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang freilich auch ein genauerer Blick darauf, woriiber hier eigentlich gelacht wurde (oder - um das eingangs zitierte Lied aufzugreifen - woruiber sich >,der Nemez?< in den deutsch-russischen Mischliedern eigentlich >>amiisiert<<).

Besonders stark verbreitet waren drei Lieder, in denen die Begegnung mit der russischen Welt direkt an- und ausgesprochen wird: sei es die der

Nachbard6rfer - mit herablassendem Blick auf die russische Landbevbl- kerung -,1' sei es der Ausflug in die Stadt - als unternehmungslustige Teil- habe am stdidtischen Amusement (vor allem dem um St. Petersburg).1o' Dass die Konfrontation der deutschen Kolonisten mit der russischen (bzw. der ukrainischen) Umgebung sich in solchen Liedern auch auf der Sprachebene widerspiegelt, mag weit weniger iiberraschen als die Feststellung, dass prak-

Handschriften-Abt. 104-12-111 (BI. 124). Der Kehrreim lautet iibersetzt: >Ach wo, ach wo, ach wo / Ach wo ist mein sch6nes Midchen<<.

99 Nicht mitgerechnet sind drei Lieder, in denen einzelne russische Begriffe (oder Lehnworte) auftauchen. Die meisten der Mischlieder haben iiberwiegend deutsche Texte mit jeweils unterschiedlichen russischsprachigen Anteilen bzw. Einspreng- seln. Aber es gibt darunter auch vier Lieder mit iiberwiegend russischem Text.

100 Drunne kummt d Russlgfjahre (M 27). Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 192. Dieser Vierzeiler ist im DVL nur einmal

belegt, wird in der Literatur jedoch hiufig genannt. - Eine etwas deftigere Varian- te iiberliefert z.B. H. Steinwand: >>Kummt der Russ' fum Berg herab, I Mit de Rukawitze, / Hot e Bindl Hai im Arsch, I - 3TO He FrOJHTCs! [Das schickt sich

nicht!]<<. Steinwand, H.: Uber russische und ukrainische Einfliisse auf das Lied der deutschen Kolonisten in der Ukraine. In: Nachrichten der Odessaer Kommission fir Landeskunde an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, Nr. 4-5, Deutsche Sektion, H. 1. Odessa 1929, S. 15. - Auch M 59 (Je, je, schlappasa, dort oba kummet Russa ra) ist wohl eine weitere Variante hierzu.

101 Die angenehme Winterzeit ist oeHEb xopomuo (M 19) und Die angenehme Sommer- zeit ist selten hier Tenno (M 20). Hierzu auch Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 205-207, 214f.

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Die >kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

tisch alle weiteren im DVL vorhandenen zweisprachigen Lieder thematisch der oben angesprochenen zwischenmenschlichen Sphiire zuzuordnen sind.

Wie bereits erwfihnt, sind viele kolonistische Lieder zur Beziehungs- thematik Mischlieder. Umgekehrt betrachtet umfassen aber auch die Misch- lieder - neben der direkten deutsch-russischen Begegnung - ausschliefglich diesen Themenbereich (Mann-Frau). Dariiber hinaus gibt es unter den

zweisprachigen Liedern keine weiteren eigenstaindigen Themen. Denn auch die soldatische Welt, die ansonsten noch in zwei Mischliedern aufgegriffen wird,'02 kann im weiteren Sinne dem Bereich der direkten deutsch- russischen Begegnung zugeordnet werden, ebenfalls die lustige Erinnerung an lieb gewonnene Staidte.'03 Ausgerechnet der Themenbereich der intimen

Gefiihls- und Beziehungswelt ist also derjenige, in dem sich praktisch aus-

schliegflich Lieder finden, in denen die Zweisprachigkeit der Betroffenen zur Geltung kommt - ein immerhin bemerkenswertes Faktum.

Es wiire sicherlich unangemessen, dieses - am Beispiel eines ideal-

typischen Korpus >,kolonistischer Lieder<< herausgearbeitete - Ergebnis vor- schnell zu verallgemeinern oder (iiber)interpretieren zu wollen.104 Zumal hier auch noch andere Aspekte dieses Liedgenres zum Tragen kommen:

Zweisprachige Lieder sind immer auch humoristische Lieder, bei denen das

Spiel mit den Sprachebenen einen erheblichen Spafffaktor ausmacht. Ein bezeichnendes Beispiel dafiir ist das eingangs zitierte Lied von der >,an- genehmen Sommerzeit?<, das hier in einer weiteren Fassung, die den Lied- inhalt am umfassendsten wiedergibt, dokumentiert sei:

1. Die angenehme Sommerzeit Ist selten hier TenJno, Doch aber zum Ersatz dafiir Die Niichte durch CBeTno.

2. Und kommt der liebe Sonntag bei, Da ist man wieder froh, Dann

fa•hrt man auf der Eisenbahn

Nach IjapcKoe Cenio.

102 Korga 1 B PeBene po•Hrinc,

hab ich erblickt das Licht der Welt (M 21) sowie Ich muss reisen, ich muss fort, ich muss 3aBTpa Ha noxog (M 23).

103 Du schiines Eupatoria, du wunderschiine Stadt (M 22). - Als sentimentale Erinne- rung ist dies jedoch auch ohne Zweisprachigkeit m6glich, vgl. Siief wie Flitenspiel und Geigen, Simferopol klingt ein Lied (M 29).

104 Es miisste hierfiir nicht nur das Terrain der Liedforschung transzendiert werden, sondern auch das sonstige deutschsprachige Liedrepertoire - insbesondere die

Gattung >>Liebeslieder(< (D) im DVL - wire niiher zu untersuchen.

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Eckhard John

3. Von dort aus fiihrt ein grader Strich Nach Kurmaniki BOK3aIn, Und unterwegs da h6rt man schon, TaM cnaBHbIii 6yaeT 6an.

4. Und kommt man auf die Station, So ruft die Menge: cTOii! Man ruft: >>H3BO3qHK, noAaBaHi!<< Und fa•hrt mit ihm aOMOfi.

5. Und hat man alles recht gesehn, So faihrt man schnell Ha3aA, Ist auch dort alles recht und sch6n, A AoMa nysme, 6paT.

6. Ein jeder npa3niHHK ist besetzt,

Hapogy, TecHoTa, Die Eisenbahn ist so besetzt,

vTO npocTO, 6paT, 6ega.

7. Und f~ihrt man nach Katharinoslaw Den ersten Tag im Mai, Dort kann man haben, was man will, Fae xoqeimb, TaM rynJIst.

8. TaM eCTb npeKpaCHbIHi TpaKTHp, Auf ganz franz6sisch Fuss, A AeHer aaai, TaM 6yAeT nHp, Dass man erstaunen muss.

9. Will man KpeCTOBCKHii OCTpOB sehn, ToTiac

I•aHI B TpaKTHp,

Da amiisiert ein Jude sich Mit Tabak und mit Bier.

10. Der Kaufmann sitzt mit seinem Bart Und seine 3eMJIIKH, Bewirtet er nach alter Art, Mit Schnaps und nlIpOlKH4I.

11. Und ist man bei dem Kullerberg Korga xopounRi =eHb, Die Biirger mit dem Samowar Sie amiisieren sehn.

12. Und fihrt man aufder Dampffahrt hin, Auf Petrowski fest, So ist auch ein Geddinge dort, 14TO TaM He CTaHemb cJIeCTb.

13. KaKHe TaM 4OHTaHbI eCTb, KOHCTaTH gross und klein, Man glaubt dort wirklich steif und fest Im Paradies zu sein.

14. Und was fiir eine Illumination, KaKoji 4yaeCHbI BHJA, Der ganze Garten iiberall, Sieht aus als iibergliiht.

15. Die ganze Stadt flihrt da hinaus, Zu Wasser und zu Land

HI caMbIHi 6eHbIii My)KHIeK H caMbI~ 6eAHbii 4'paHT.

16. Und wer kein Geld zu fahren hat, Der geht neH KoM hinaus, 'TO 3a 6e3a, was macht sich denn Ein MonoAeu daraus.

17. H3BO3LuHK o)KiHaeT, Hab nur das Geld bereit TaoKce HeJIb3I weiRaeT Fiir unsre Sommerzeit.o05

105 M 20, Nr. 2. Aufgezeichnet in Zarekwitsch (Krim) durch E. Johannson im Win- ter 1928, vorgesungen von Ther. Haschek (geb. 1899); IRLI Handschriften-Abt. 104-12-64 (BI. 70). - Tenno: warm - CBeTno: hell - IapcKoe Ceno: Zarskoje Selo - BoK3aIn: Bahnhof - TaM cnaBHMlii 6yaeT 6ami: dort gibt es einen sch6nen Tanzabend - CTOii: Halt - H3BO3'IHK, noIaBafi: Kutscher, fahr' vor - AOMOH: nach Hause - Ha3a: zuriick - A goma nylme, 6paT: Doch zu Hause ist es besser,

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Die >>kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

In diesem Lied geht es nicht darum, das kulturell oder ethnisch Andere mittels abflulliger Sprachbehandlung licherlich zu machen (was man in Mischliedern auch finden kann). Das Spiel mit den Sprachebenen beruht hier vielmehr auf einem subtilen Witz, der sich letztlich nur dem vollends

erschlie8ft, der beide Sprachen (und Kulturen) ernst nimmt und versteht. Was etwa an k6stlichen Assoziationsfeldern in solchen russischen Ein-

schiiben steckt, sei hier nur anhand einer Textstelle gestreift: ?A eHer Aiai, TaM 6yAeT nup<< [>>und gibst du Geld, so gibt es einen Schmaus<<] hei8t es dort im Zusammenhang mit dem >sch6nen Wirtshaus<<, und welchen Schmaus (>>pir<<) man sich hierbei vorstellen konnte, zeigt dieselbe Stelle in anderen Liediiberlieferungen: ?A aeHer eCTb, TaM 6yaeT Bier!<<106 Und auch von dieser Seite ausgehend funktioniert das Spiel: denn der >Bier<<- Genuss lisst sich gleichfalls als >pir<< (im Sinne eines Gelages) imaginieren.

Der Liedtext wurde damals in Zarekwitsch (Krim) auf diejenige Melo- die gesungen, die Schirmunski bereits 1928 in seinem Aufsatz iiber die >>kolonistischen Lieder<< ver6ffentlichte (siehe Abb. 3)107 - den unmittelbar

Bruder - npa3AHHHK: Feiertag - Hapogy, TecHOTa: Gedringe von Menschen - qTO npOCTO, 6paT, 6eaa: dass es geradezu ein Ungliick ist - FAe xoqemub, TaM ryJIi.: wo du m6chtest, geh spazieren - TaM eCTb npeKpacHb1iH TpaKTIHp:

dort gibt es ein schdnes Wirtshaus - A AeHer aia, TaM 6yjeT HHp: und wenn du Geld gibst, dann gibt es einen Schmaus - KpeCTOBCKHii OcTpOB: Krestowski Ostrow - ToTqac HaIH B TpaKTHp: geh sofort ins Wirtshaus - 3eMnJIKH: Landsleute - rlpOXKKH: (gefiillte) Pastetchen - Korga xopomHIHi AeHb: wenn ein sch6ner Tag ist - Petrowski fest: [in anderen Aufzeichnungen: >nach Peterhof's sch6n Fest<<] - qTO TaM He

CTaHeI1b, CJIeCTb: [entstellt] dass man das Aussteigen sein lisst -

KaKHe TaM 4OHTaHbI eCTb: was es dort fur Springbrunnen gibt - KOHCTaTH: [unklar, evtl. entstellte Form von russ. KCTaTH (nebenbei gesagt, a propos)] - KaKoii 'yIeCHbILH BHA: was fur ein wunderbarer Anblick - 14 caMlbi 6eaHbIii MyxcHKieK / 1 CaMbliH 6eAHbli 4 paHT: und selbst das arme Biuerchen / und selbst der arme Geck - neHlKOM: zu FufE - 'TO 3a 6eAa: was schadet es - Mojinoge: ein ganzer Kerl - 143BO311AHK oKHAaeT: der Kutscher wartet - TaKxe HeJIb3AI XeJIaeT: [entstellte Syntax; vermutlich:] Man kann sich auch nichts [Besseres] wiinschen.

106 M 20, Nr. 1 (L); IRLI Handschriften-Abt. 104-21-169 (BI. 170). 107 Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 214, Nr. 15,

dort mit dem Quellennachweis: >>phonographische Aufnahme von Frl. E. Johann- son in Kol. Zarjekwitsch (Krim, Rayon Dschankoi); notiert von E. Hippius<<. Diese Transkription ist identisch mit der Melodienotation auf einem nicht niher bezeichneten handschriftlichen Blatt in IRLI Phonogrammarchiv, Mappe 50-1 (B1. 33), bei dem es sich offenkundig um eine Niederschrift von Hippius fiir die

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Eckhard John

dazu gehdrenden Text publizierte er jedoch nicht. M6glicherweise ist diese Melodie diejenige, die Schirmunski bei seinen Feldforschungen am haiu- figsten zu diesem Liedtyp vorfand'08 und die er vielleicht auch in den Kolonien um Leningrad gehart hat. Aus dieser Gegend stammten niimlich seine wichtigsten Quellen for den damals abgedruckten Liedtext. Genau besehen hatte er aber zu dieser Zeit aus der Leningrader Gegend zunaichst nur melodielose Aufzeichnungen aus Liederbiichern vorliegen.'09 Eine stillschweigende Kombination von Text- und Melodiebelegen unterschied- licher Provenienz wurde indes von der spaiteren philologisch-kritischen Liedforschung als wenig hilfreich verworfen - aus guten Griinden, wie auch unser Beispiel veranschaulichen kann: denn das Lied von der >>ange- nehmen Sommerzeit<< ist in den deutschen Siedlungen an der Newa nach- weislich auch auf eine andere Melodie gesungen worden (s.o., Abb. 1).

15. Die Sommerseit. Min. = 108.

Die an - ge- neh - me Som - mer -zeit ist sel - ten heisz tep-

lo, doch a - ber zum Er - satz da -fiir die NA - chte durchswet-

lo, doch a - ber zum Er - satz da - fur die NL-chte dunrch swet- lo.

Abb. 3 Transkription der Fonogrammaufnahme durch Eugen Hippius

Drucklegung des Schirmunski-Aufsatzes handelt. Die urspriingliche, von Johann- son aufgenommene Walze ist im DVL jedoch nicht mehr vorhanden.

108 Dieser Melodietyp ist in der iiberschaubaren Liediiberlieferung dominant vertre- ten, vor allem durch Belege aus Bessarabien: von Schiinemann (1923) ilber Auf- zeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg (1941, DVA: A 168 203) bis zu einer Aufnahme in der DDR; siehe Hesse, Axel: Kammajah - MafJeinheitfiir Interethni- ka. Deutsch-russisches im Lied. In: Musikforum 31/1 (1986), S. 22-24, hier S. 23f.

109 In seinem Aufsatz bezog sich Schirmunski auf Liederhefte aus Neu-Saratowka von Ch. Abraham (1908), im DVL: M 20, Nr. 1 (L) [bei ihm: Text A]; von Ch. Steinmiiller (1884), DVL: M 20, Nr. 4 (L) [Text B]; und das >>Liederheft Nr. 2<<, DVL: M 20, Nr. 3 (L) [Text C]; sowie auf die Fassungen M 20, Nr. 3 und 4 [Text D].

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Die >kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

Die von Schirmunski damals publizierten Textfassungen aus dem Kreis

Leningrad stimmen mit der hier vorgelegten Version im Grundtyp iiber- ein. Interessant ist jedoch, dass ausgerechnet die Fassung von der Krim die Lustbarkeiten um St. Petersburg noch ausfiihrlicher erzihlt als alle erhalte- nen Varianten aus dessen deutschen Vororten: die letzten fiinf Strophen tauchen niimlich in Belegen des Leningrader Raumes nie auf, und vier davon sind auch anderswo nicht iiberliefert. Andererseits beinhalten die

Leningrader Belege in der Regel zwei weitere Strophen, die zwischen Str. 8 und 9 der Fassung aus Zarekwitsch eingeschoben wurden:

Und auch am ersten Pfingstentag Ho pyccKH - AyxoB aeHb -

HIAeT KyIneecKHHi CbIHOK Die reiche Braut zu sehn.

Und auch der JnaBOIHHK - X035I4H Kiimmt sich die Haare glatt, Und mischt sich ins Gedrding hinein, In CaIaBHbIH JIeTHHH•

cag.110

Ansonsten verweisen kleinere Details der Liedfassung darauf, wie weit man auf der Krim von den Petersburger Gegebenheiten entfernt war: was dort noch der Bahnhof von Pawlowsk war, wurde (entsprechend den Gegeben- heiten vor Ort) zum >>Kurmaniki woksal<, und aus dem sonst jiblichen >Nemez<< wurde hier ein Jude, vielleicht weil es in der naichsten Strophe um einen Kaufmann mit Bart geht ... (insgesamt aber ein singuliirer Fall) - ansonsten ist im Raum Leningrad z.B. stets die Reihenfolge von Str. 4 und 5 umgekehrt.

Was die Melodie betrifft, so ist iibrigens nicht nur fiir Leningrad, son- dern auch ffir die Krim noch eine andere Fassung iiberliefert (siehe Abb. 4). Inwieweit es sich bei diesen weiteren Melodien um ausgeprigte Alternativen handelt oder lediglich um regionale Varianten, liisst sich an- hand der vorliegenden Quellenlage kaum entscheiden. Sicher ist jedoch, dass der Liedtext an der Wolga und in der Siidukraine eine andere Fassung als an der Newa aufwies: hier wurde auf eine ausfiihrliche Beschreibung der

Petersburger Ausflugsm6glichkeiten verzichtet. Nach den vier ersten (iden-

110 Liederheft von Ch. Abraham (1908), wie Anm. 109. - Ho pyCCKI ALyXOB eHb:

auf Russisch Tag des heiligen Geistes - HEAeT KyneqecKHii CbIHOK: geht der Kaufmannssohn -

naBOqHHK-XO35I•iH: Inhaber eines kleinen Krdimerladens -

CJIaBHbIHi JIeTHHHii cag: den beriihmten Sommergarten (Stadtpark in St. Petersburg).

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tischen) Liedstrophen folgte in der Regel eine Weiterdichtung, die (nach der Spazierfahrt) die Riickkehr nach Hause thematisiert und das kolonisti- sche Eheleben in seinen raueren Facetten (zwischen Alkohol und Priigel) zur Sprache bringt."'11

At 4t-t tom. st a stowmr k -two

----?C? --?-???FM%- I tXIX

per..•... .4.

..

? 4.i W ,. •. -• S,,,, i•

?, - t• k• ,•'e. A4 L- .

UPu;w Abb. 4

Melodietranskription K II, Nr. 56a: Kol. Neusatz (Ray. Simferopol, Krim), Helene Ackert (21 Jahre), Aug.-Sept. 1928112

Bei einer weiteren Liedstrophe, die im Kreis Odessa dokumentiert wurde, handelt es sich um eine Wanderstrophe, die aus einem anderen Lied stammt:

5I Bac iro6fHi vom ganzen Herzen,

Gewiss mein Engel T•I 6bina,

51 lyBcTBoBana grosse Schmerzen, Wenn ich so traurig TM 6bInIa.113

111 Siehe das weiter oben zitierte Textbeispiel (wie Anm. 97); diese Strophen sind aus den Kolonien um St. Petersburg nicht iiberliefert.

112 Die Walzenaufnahme stammt von Leo Sinder; die DVL-Transkription findet sich in IRLI Phonogrammarchiv, Mappe 50-1, Einheit 74, BI. 5b (= K II 56a). - Die

Gewiihrsperson sang auf die gleiche Melodie auch das Lied Mit hunderttausend Stimmen ruft - Hurra, hurra, hurrah. - Ebenfalls in der Kol. Neusatz hat Ellinor

Johannson ein Jahr zuvor (1927) eine Textfassung der Sommerzeit aufgezeichnet (M 20, Nr. 1).

113 M 20, Nr. 6. Aufgezeichnet in Kol. Mariental (Kr. Odessa) durch S. Akuljanz, Sommer 1930, vorgesungen von Anton Heinz (22 Jahre). - Schon Erbes/Sinner (1914) unterschieden die Sommerzeit von 51 Bac wno6nio [Ich liebe Sie] (Volks-

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Die >>kolonistischen Lieder<< der Russlanddeutschen

Dieses Lied scheint bei den Russlanddeutschen ebenfalls iiber einen linge- ren Zeitraum beliebt gewesen zu sein. 1974 erwaihnt es jedenfalls noch der

sowjetdeutsche Schriftsteller Victor Klein und konstatiert: >>Solche Misch- lieder kann man kaum zur Volksdichtung zaihlen. Sie [...] wurden von den

grogten Kolonistenmassen nie gesungen.<<"1 Hier wird deutlich, warum zwei-

sprachige Lieder in der Repertoiretradierung russlanddeutscher >>Volkslieder<< kaum vertreten sind, obwohl bereits Schirmunski deutlich gemacht hatte:

Diese Lieder erfreuen sich unter den Kolonisten einer grogfen Be- liebtheit und sind in den abgelegensten Gebieten deutscher Sied-

lung in stark abweichenden Fassungen bekannt.115

Sofern man also das Verstiindnis von >>Volksdichtung<< nicht a priori auf

Segmente einer idealisierten baiuerlichen Welt zum Zwecke ethnischer

Identitaitsstiftung verengt, bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich gerade in den ,,kolonistischen Liedern<< spezifische, interkulturell

bedingte Konstitutionen bei den Russlanddeutschen jener Zeit manifes- tieren, die einer umfassenden Untersuchung wert erscheinen.

Perspektiven der Rekonstruktion

Ausgangspunkt einer weiter gefassten und detaillierten Analyse kinnten daher gerade die zweisprachigen Lieder sein, die per se andere Facetten der

Singpraxis erfassen als eine Beschrinkung auf das traditionelle deutsche

Liedgut. Hierbei wird die Mehrsprachigkeit der Russlanddeutschen nicht nur als Realitit, sondern auch als Chance begriffen - und russische Ein-

lieder und Kinderreime, wie Anm. 5, S. 225; dort lautet der Text noch: >> [...] wenn einmal traurig Tbl 6bIna<<). Das Lied ist im DVL nicht weiter dokumentiert, findet sich aber in den Ver6ffentlichungen zum russlanddeutschen Liedgut immer wie- der. - 5I Bac ino6Hui: ich habe Sie geliebt - TbI 6birIa: bist du gewesen - 5I qyBcTBoBanja: ich habe empfunden.

114 Klein: Unversiegbarer Born (wie Anm. 39), S. 18: >>Solche Mischlieder kann man kaum zur Volksdichtung zihlen. Sie entstanden in kleinbiirgerlichen stidtischen Kreisen (unter Kleinkrimern, Handwerkern, die ihren Wohnsitz in russischen

Stdidten hatten, und Gymnasiasten), wurden von den grofien Kolonistenmassen nie gesungen und waren eigentlich nur witzig sein sollende Unterhaltung.<<

115 Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 205.

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fliisse auf Sprache oder Musik nicht als Indikatoren eines kulturellen Ver- lustes inkriminiert, sondern als Kennzeichen von Verhaltensweisen zwi- schen den Kulturen verstanden, die die russlanddeutsche Wirklichkeit fundamental bestimmt haben.

Mehrsprachige Lieder sind hierbei sicherlich nur ein Aspekt - freilich einer, der ffir die Popularliedforschung als Ganzes eine Herausforderung darstellt. Denn hier spielen die so genannten >>Mischlieder<< seit jeher eine

marginale Rolle, die allenfalls als vermeintlich unbedeutende Randerschei-

nung erwihnt wurden."6 Genau besehen stellt sich aber - jenseits der Re- konstruktion und Analyse russlanddeutscher Kultur - fir die Lied-

forschung erst noch die grundsiitzliche Frage, ob und inwieweit diese Lieder nicht doch fur grogLe Bevi5lkerungsteile (nicht nur im deutsch-

sprachigen Raum) ein praigendes Moment ihrer Lebenswelt waren (und sind) und somit auch for die Forschung ein bemerkenswertes und auf- schlussreiches Phdinomen darstellen.

Von den wenigen Autoren, die sich (nach Schirmunski) bislang damit befasst haben, sind - in Hinblick auf das russlanddeutsche Lied - bei-

spielsweise Friedrich Redlich und Axel Hesse zu nennen.117 Redlich ver-

folgt in seiner Studie insbesondere Spuren zur Geschichte und zum Ur-

sprung des Liedes B ropone PHre 3I po•mtIc1

(In der Stadt Riga bin ich

geboren), das auch in Schirmunskis Archiv unter den >>kolonistischen Lie- dern< vertreten ist."118 Redlich kann nachweisen, dass dieses Lied aus einem

116 Dies gilt mitnichten nur fiir das deutsch-russische Lied: gerade auch in vielen anderen, z.T. ungleich besser dokumentierten und untersuchten Bereichen (wie z.B. den deutsch-franz6sischen) ist diese Vernachl.issigung zweisprachiger Lieder offenkundig. Die Wurzeln hierfiir liegen bereits in der selektiven Wahrnehmung der friihen Volksliedsammler. Symptomatisch flir die Forschungssituation ist auch die Lage im Deutschen Volksiedarchiv: Hier existieren tausende von Liedmappen, die einzelnen deutschsprachigen Liedtypen gewidmet sind, aber bislang lediglich eine einzige Mappe fir Mischlieder mit den verschiedensten Sprachen.

117 Redlich: Gemischtsprachige Dichtung im Baltikum (wie Anm. 43); Hesse: Kamma- jah (wie Anm. 108). - Neben Schirmunski siehe auch Steinwand: Uber russische und ukrainische Einfliisse (wie Anm. 100), S. 15-21.

118 Hier lautet das Incipit des Liedtyps: Korea R B PeBene pou4JIcI [Als ich in Reval

geboren war] (M 21). - Dieses ebenfalls zweisprachige Lied gehbrt zusammen mit dem von der >angenehmen< Winter- und Sommerzeit (M 19, 20) zu den fiinf am hiiufigsten belegten ,)kolonistischen Liedern(( im DVL.

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Die >>kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

1855 in Riga verfassten Singspiel von Eduard Grunwaldt (1821-1891) stammt."19 In diesem Zusammenhang exponiert er Grundwaldt auch als

Autor der >>angenehmen Sommerzeit<. Hierbei bezieht sich Redlich auf

einen Text des baltischen (Kultur-)Historiografen und Lenzforschers Paul

Theodor Falck. Genau besehen hat Falck jedoch nur die Liedparallele Die

angenehme Winterzeit dem Rigaer Lokalpoeten zugeschrieben.120 Zweifellos ist die >,Winterzeit<< ein Pendant zur >>angenehmen Sommerzeit<<, gleich- wohl ist sie ein eigenstaindiges Lied,121 dessen Autor nicht zwangslaiufig mit dem der >>Winterzeit?< identisch sein muss.122 Ob Eduard Grundwaldt tat- sichlich der Autor des Liedes von der >>angenehmen Sommerzeit? war und der wolgadeutsche Kolonist Michael Frank - dem an der Wolga die Urheberschaft nachgesagt wurde123 - m6glicherweise Verfasser der oben erwihnten Weiterdichtung (siehe S. 197f. und S. 191), ist nicht aus-

zuschlief3en; doch ebenso sind deutliche Zweifel daran angebracht, und es

muss daher einstweilen offen bleiben.

119 Grunwaldt, Eduard: Ein Posten an der Donau oder Alexei Petrowitsch, der alte Feldwebel (1855); als Druck nennt Redlich: Diina-Zeitung 1897, Nr. 66, 67; siehe auch das Autorenportrit von Falck, Paul Theodor: Eduard Grunwaldt, der Riga- sche Localpoet par excellance. Ein Gedenkblatt. In: Diina-Zeitung 1897, Nr. 66, S. 1, und Nr. 67, S. If.

120 Falck, P[aul] Th[eodor]: Das deutsche Volks- und Studentenlied im Baltenlande. In: Baltische Monatsschrift 76 (1913), S. 336. - Schon Guido Waldmann hatte

geglaubt, daraus eine Autorschaft Grunwaldts ffir die Sommerzeit ableiten zu

kinnen; vgl. Sudetendeutsche Zeitschrift fiir Volkskunde 8 (1935), S. 78f. 121 Auch in Schirmunskis Archiv wurde die Winterzeit als eigenstandiger Liedtyp

gefiihrt (M 19). Auf~erdem unterscheiden sich auch die hier dokumentierten Me- lodien von denen der Sommerzeit. Vgl. Schirmunski: Das kolonistische Lied in Russland (wie Anm. 25), S. 214f., Nr. 14, aufgezeichnet in Neu-Saratowka von E. Hippius, der dazu anmerkt: >>der erste Teil ist eine Variante einer bekannten modernen Tanzmelodie (,Krakowjak<)<<. - Eine weitere Melodieaufzeichnung des Liedes ist in Form eines (nicht transkribierten) Tondokumentes erhalten; IRLI

Phonogrammarchiv, DL 455.02 (= U VI 84b); auf den CDs der Schirmunski-

Sammlung: CD 11, Titel 65. 122 Zudem wire erst noch zu verifizieren, ob Grunwaldt tatsichlich - wie Falck be-

hauptet - der Autor der Winterzeit ist. Dies umso mehr, als Falck in der Lenz-

Forschung als eher unsicherer Kantonist gilt. Vgl. Bosse, Heinrich: Ober den

Nachlaff des Lenz-Forschers Paul Theodor Falck. In: Lenz-Jahrbuch 2 (1992), S. 112-117.

123 Dies berichten Erbes/Sinner (Volkslieder und Kinderreime [wie Anm. 5], S. 225).

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Wichtig ist indes Redlichs Hinweis auf einen friihen Lieddruck der Som- merzeit, der 1871 unter dem Titel St. Petersburger Sommerfreuden im Balti- kum erschienen ist. Dieser Druck umfasste 18 Strophen und lag Redlich offenbar vor.124 Er erschien immerhin 13 Jahre vor dem (einstweilen) frii- hesten Beleg aus den russlanddeutschen Kolonien: Schirmunski fand sei- nerzeit in Neu-Saratowka (bei St. Petersburg) ein 1884 angelegtes Lieder- heft, das bereits Die Sommerzeit enthielt.125 Wesentlich ist Redlichs Fund aber nicht nur wegen der friiheren Datierung, sondern vor allem aufgrund der medialen Praisenz des Liedes als Druck bzw. als Liedflugschrift.

Dieses Beispiel macht einen for zeitgemrflte Liedforschung zentralen Punkt deutlich: Hinsichtlich des traditionellen Liedrepertoires der Russ- landdeutschen kannen sinnvollerweise nicht nur Liedaufzeichnungen aus miindlicher (Iberlieferung in liindlichen Regionen oder im biuerlichen Milieu beriicksichtigt werden, sondern - wie das die moderne Popularlied- forschung in anderen Bereichen schon seit l ingerem praktiziert - auch andere Medien der Liedverbreitung und -popularisierung sind heran- zuziehen, etwa Liedflugschriften, Zeitungen, Kalender oder Notendrucke. Hierbei richtet sich das Interesse nicht nur auf die Urspriinge von Liedern, vielmehr geht es insgesamt um die Wechselwirkungen zwischen staidtischen und liindlichen Lebensraiumen sowie um die Formen der Aneignung, Ver- dinderung und Popularisierung eines Liedes (in unserem Fall: bei den Russ- landdeutschen). Nicht zuletzt sind bei der hier skizzierten Herangehens- weise stets auch der soziale Ort und Kontext des Singens mitzubedenken, die jeweils gemeinschaftsstiftenden Funktionen der Lieder, die teilweise sehr unterschiedlichen Gegebenheiten und Lebenswelten in den verschie- denen Kolonien126, aber auch: die Grenzen des iiberlieferten Materials.

Mischlieder sind bei der Beschreibung historischer Liedkultur der Russlanddeutschen sicherlich nur ein Faktor - freilich ein bemerkens-

124 St. Petersburger Sommerfreuden. Gedruckt bei J.F. Steffenhagen und Sohn in Jelgawa (Mitau), 1871.

125 Die Sommerzeit im Liederheft von Ch. Steinmiiller (1884); M 20, Nr. 4 (L). 126 Schirmunski hob in seinen Schriften immer wieder auf diesen Aspekt ab; er wird

an dieser Stelle nur deswegen erwiihnt und unterstrichen, weil sich dies iiber die Lieddokumentation im DVL allein, also aiber die erhaltenen Liedtexte und -melodien, nicht vermittelt.

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Die >>kolonistischen Lieder< der Russlanddeutschen

werter, bei dem eine differenzierte Rekonstruktion ansetzen kann. Wie wesentlich dabei das Postulat einer Analyse interethnischer Realitit - das bereits Ingeborg Weber-Kellermann gegeniiber der traditionellen Sprach- insel-Volkskunde formulierte127 - jenseits von oberflaichlich-aiuferlichen

Gegebenheiten ist, unterstreichen gerade jene im Rahmen vorliegender Reflexion angefiihrten Punkte, die in tiefere Schichten sprachlichen Vermdgens und emotionaler Konstitutionen hineinreichen. Zu beriick- sichtigen wairen im Kontext einer interethnischen Analyse zudem weitere Phainomene wie etwa das in deutschen Kolonien gesungene russische Lied-

repertoire (soweit dies noch rekonstruierbar ist),128 die Aneignung russi- scher oder ukrainischer Lieder durch Obersetzung129 oder die Verwendung russischer Melodien als musikalisches Medium ffir deutsche Texte.'30

127 In Hinblick auf die Liedforschung vgl. vor allem Weber-Kellermann, Ingeborg: Probleme interethnischer Forschungen in Siidosteuropa. In: Handbuch des Volks- liedes. Bd. 2. Miinchen 1975, S. 185-198.

128 Schirmunski und seine Mitarbeiter(innen) berichten in ihren Publikationen hiufig von bestimmten Regionen oder Kolonien, in denen bei den Russland- deutschen ein teilweise oder iiberwiegend russisches Liedrepertoire anzutreffen ist. Dieses haben sie indes im Leningrader Volksliedarchiv nicht im Einzelnen doku- mentiert. Ansatzweise lassen sich diese Singpraktiken iiber Liederhefte nachvoll- ziehen, in denen sowohl russische als auch deutsche Lieder enthalten sind, etwa das Liederheft von Charlotte Abraham (1908) in Schirmunskis Nachlass, das neben 15 deutschen auch zehn russische Lieder enthfilt; Archiv der Akademie der Wissenschaften St. Petersburg, Fond 1001-1-336, BI. 5-19b. Darin findet sich im

Tbrigen auch die originale Vorlage zu M 20, Nr. 1 (L). 129 Zum Beispiel Schewtschenkos Vermdchtnis [Wenn ich sterb" so bettet, Freunde, mich

in weiter Steppe] (M 65) oder Aufder Wolga dunklen Wogen kommt ein Schifflein dort gezogen [Stenka Rasin] (M 56), die sich unter den >>kolonistischen Liedern< im DVL finden.

130 Sehr hiufig wurde beispielsweise die Melodie des russischen Liedes Stenka Rasin verwendet, wie die Tonaufnahmen des DVL verdeutlichen (siehe z.B. Abb. 2 sowie Anm. 61). Oder man nehme die in Anm. 121 erwiihnte Adaption des

>>Krakowjak<<. Das k6stlichste Beispiel ist in diesem Zusammenhang eine Auf- nahme, bei der die Ballade von den K6nigskindern auf die Weise des russischen Revolutionsliedes CMeIno ToBapHluHlI (in Deutschland: Briider zur Sonne zur Frei- heit) gesungen wurde; IRLI Phonogrammarchiv FB 5920.03 (= T II, Nr. 76c); auf den CDs der Schirmunski-Sammlung: CD 19, Titel 45. - Auch der umgekehrte Fall (russischsprachige Lieder auf Melodien deutscher traditioneller Lieder) wire

in diesem Kontext natiirlich zu verfolgen.

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Demgegeniiber erscheinen Verfahrensweisen der bisherigen volkskund- lichen Liedforschung problematisch. Wenn beispielsweise in der einzigen liedgeschichtlichen Studie, die bislang zu einem >>kolonistischen Lied<< der Russlanddeutschen vorliegt, Melodietafeln angefertigt werden, die >>auf die Verwandtschaft und teilweise auch Identitait zwischen dem ruffland- deutschen und deutschen Lied-Formelgut schlechthin aufmerksam machen"'31 sollen, so ist das in methodischer Hinsicht insofern vdllig unzureichend, als die konsequente Schlussfolgerung, >dat der Brasilienlied-

Melodietyp enge Bindungen zum deutschen Volksmelos schlechthin hat(, nicht iiberrascht, wenn eine mdgliche Verwandtschaft zu russischen oder ukrainischen Melodien gar nicht erst in Betracht gezogen und iiberpriift wurde. lZberhaupt ist in Hinblick auf die musikbezogene Diskussion erst noch zu verifizieren, ob die grundsaitzliche Kritik an Schiinemanns Thesen

(iiber russische Einfliisse auf Stilistik und Gestaltungsweisen des deutschen

Kolonistengesangs) - wie sie zum Kontinuum spiiterer volkskundlicher

Liedforschung wurde132 - tatsdichlich Bestand hat oder nicht fundamental zu differenzieren waire. Schon Gottfried Habenicht hat darauf hingewiesen, dass diese Diskussion nicht wirklich entschieden, sondern >>nach wie vor offen< ist:

Denn das Hin- und Wider der Argumente stiitzt sich eher auf An- nahmen und Deduktionen, die auf manchmal wenig iiberzeugen- den, zeitlich und raiumlich verschobenen Parallelerscheinungen be- ruhen, denn auf konkreten Belegen.133

131 Habenicht: Brasilienlied (wie Anm. 42), hier S. 272. - Dieses Lied liegt auch im DVL vor: Kommt, ihr Briider, wir wollen ziehen (M 5).

132 Exemplarisch Wittrock, Wolfgang: Zum melismatischen Singen der Wolgadeutschen. In: Festschrift fiir Walter Wiora. Kassel u.a. 1967, S. 648-650; Suppan, Wolf-

gang: Das melismatische Singen der Wolga-Deutschen in seinem historischen undgeo- graphischen Kontext. In: Studia instrumentorum musicae popularis III. Festschrift Ernst Emsheimer. Stockholm 1974, S. 237-243; Windholz, Johann: Bduerliche deutsche Mehrstimmigkeit in Kirowo/Karaganda um 1980. In: Jahrbuch fiir Volks-

liedforschung 36 (1991), S. 48-68. 133 Habenicht, Gottfried: Wolgadeutsche Lieder aus Argentinien. Die Aufzeichnungen

Thomas Kopps in der Kolonie Santa Teresa. Freiburg 1993, S. 15f.

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Die >kolonistischen Lieder<c der Russlanddeutschen

Schirmunskis Sammlung bietet eine Fiille neuer Belege, und zwar aus der

Zeit, bevor die traditionelle Lebenswelt der Russlanddeutschen im Stali- nismus zerstirt wurde. Sie ist ein einzigartiger Quellenfundus zur Thema- tik russlanddeutscher Popularlieder,134 dessen Mbglichkeiten nicht nur

erkannt, sondern auch vertieft und (in einem weiter gefassten Kontext)

analysiert werden sollten: im Sinne einer Liedforschung, die nicht ein- dimensionale Ideologeme postuliert und tradiert, sondern sich als kultur- wissenschaftliche Methodik begreift, die Lebenswelt und -wirklichkeit der Menschen (und sozialer Gruppierungen) zu erfassen und zu interpretieren.

So ist nun auch das Liedel aus, HTO CTOHJIO viel Tpya. Und wer es recht schdn singen kann, Der ist ein rechter UlyT.135

134 Gegeniiber der Sammlung von Schiinemann hat Schirmunskis Archiv den ent- scheidenden Vorteil, dass die Liedaufzeichnungen direkt vor Ort, in den russland- deutschen D6rfern selbst, gemacht wurden. Die Gewiihrspersonen waren somit nicht - wie die Kriegsgefangenen - aus ihren gewohnten Lebens- und Sing- zusammenhdingen gerissen, was auch hinsichtlich des Erinnerungsverm6gens (ge- rade bei den Liedtexten) ein wichtiger Faktor ist. Zudem enthiilt die Schirmunski-

Sammlung auch Lieder, die den Sammlern von Frauen vorgesungen wurden -

dagegen gibt es weibliche Liedtriiger bei Schiinemann nattirlich nicht (und bei den mdinnlichen Gewiihrspersonen war Schirmunski wiederum nicht auf die

Altersgruppe der Kriegsdienstpflichtigen beschrainkt). 135 M 20, Nr. 1 (W), Str. 11. Aufgezeichnet in Kol. Mariental (Wolga) durch Peter

Sinner 1927 von seinem Gewiihrsmann A. Baumtrog; IRLI Handschriften-Abt. 104-24-114 (Bl. 115). - 'TO CTOHJIO viel Tpyg: Was viel Miihe gekostet hat -

mLyT: Spaftvogel.

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