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Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie im Wandel ... · 4 Hay PP, Bacaltchuk J, Stefano S et al. Psychological treatments for buli-mia nervosa and binging. Cochrane Database Syst

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Page 1: Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie im Wandel ... · 4 Hay PP, Bacaltchuk J, Stefano S et al. Psychological treatments for buli-mia nervosa and binging. Cochrane Database Syst

Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie im WandelDifferenzierte psychotherapeutische Angebote –Qualitätsmerkmal einer KlinikChanges in Psychiatry and PsychotherapySpecialised Psychotherapy – A Quality Feature of a Clinic

Autoren Olaf Schulte-Herbrüggen, Jürgen Gallinat

Institut Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus

BibliografieDOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1349652Psychiat Prax 2013; 40:409–410© Georg Thieme Verlag KGStuttgart · New YorkISSN 0303-4259

KorrespondenzadressePriv.-Doz. Dr.Olaf Schulte-HerbrüggenPsychiatrische Universitätsklinikder Charité im St. Hedwig-KrankenhausGroße Hamburger Straße 5-1110115 [email protected]

Olaf Schulte-Herbrüggen

Jürgen Gallinat

Editorial 409

Die zunehmend gute Datenlage für differenziertepsychotherapeutische Interventionen bei schwe-ren und chronischen psychischen Erkrankungenverändert das therapeutische Angebot der psychi-atrischen Kliniken in Deutschland [1–7]. Wo frü-her zum Teil die klinisch-psychiatrische Visite,eine medikamentöse Beratung und ein allgemeingehaltenes Programm auf alle Diagnosegruppenangewendet wurden, fordert der aufgeklärte Pa-tient heute das störungsspezifische Programm.Dies ist auch richtig soundhatdieAufnahmesitua-tion vielerorts verändert. An Orten, wo solche An-gebote aus wirtschaftlichen oder konzeptionellenGründen nicht umgesetzt werden, ist der ambu-lante Sektor umsomehr gefordert undmeist über-fordert.Wir wissenmittlerweile gut, dass die Auf-nahme von Patienten mit Borderline-Störung inein allgemeinpsychiatrisches Setting deren Ver-lauf eher verschlechtert. Zunehmenderfolgt daherdie direkte Zuweisung in störungsspezifische Ein-heiten, z.B. mit DBT-Programm. Die für eine er-folgreiche Behandlung von Zwangsstörungen not-wendige intensive Exposition wird häufig nur indamit erfahrenen spezialisierten Settings durch-geführt. Die Gefahr, dass ein Patient mit Angster-krankungwährend einesAufenthalts in einemun-gerichteten Settingmehr vermeidet als Expositionmit angstbesetzten Situationen durchführt, isthoch. Die eher ernüchternden metaanalytischenDaten zu Effektstärken der medikamentösen The-rapie mit Antidepressiva betonen die leitlinienge-rechte Durchführung der wirksamen Psychothe-rapie bei depressiven Patienten [8, 9].Daher entstehen vielerorts differenzierte Thera-piepfade, die sich an wissenschaftlichen Studienorientieren. Beispiele dafür sind Programme fürPatienten mit Essstörungen, mit chronischer De-pression z.B. nach CBASP, spezielle Konzepte fürPatienten mit Suchterkrankung in Kombinationmit Schizophrenie oder Sucht mit komorbiderBorderline-Erkrankung (DBT-Sucht). Dazu kom-men intensive Therapie- und Betreuungsangebo-

te für schizophrene Ersterkrankte in Anlehnungan die Soteria-Konzepte.Diese Entwicklung stellt besondere Herausforde-rungen an die Organisationsstruktur der psychi-atrischen Kliniken und die Behandler dar. Ausdem Facharzt für Psychiatrie ist der Facharzt fürPsychiatrie und Psychotherapie geworden. Mitder aktuellen Psychotherapieausbildung im Rah-men des Facharztes für Psychiatrie und Psycho-therapie sind die komplexen Programme kaummehr vermittelbar. Die State-of-the-Art-Behand-lung im störungsspezifischen Setting fordert da-rüber hinaus Zusatzqualifikationen bei den be-handelnden Ärzten, Psychologen und der Pflege.Modular werden Behandlungselemente für denPatienten zusammengestellt. Längst ist ein großerMarkt entstanden, um Kollegen in einer Vielzahlvon Curricula mit Zertifikaten zu versehen. Vie-lerorts verändert sich daher auch das Berufsbildder Pflegenden zu dem eines Co-Therapeutenmit wöchentlichen Einzelstunden und klar for-muliertem Therapieauftrag.Dabei muss allen Beteiligten im System insbeson-dere Kostenträgern, Politik, Verwaltung und Ärz-ten eines klar sein: Psychotherapie ist personalin-tensiv! Im Rahmen wirksamerer Behandlungenwerden im System Kosten durch die reduzierteAnzahl von Krankenhausaufenthalten, die Reduk-tion von Tagen der Arbeitsunfähigkeit und Folge-kosten der Chronifizierung gespart. Die weiterhinhohe Prävalenz psychischer Erkrankungen, insbe-sondere im Bereich der affektiven Erkrankungen,erzeugt immense Kosten im Gesundheitssystem,im Rentensystem und in volkswirtschaftlicherHinsicht. Hier sind wirksame und spezialisierteInterventionen von zentraler Bedeutung.

Psychotherapeutische Behandlungsstan-dards und neues EntgeltsystemDie Folgen des kommenden Vergütungssystemsin der psychischen Medizin sind bisher schwer

Schulte-Herbrüggen O, Gallinat J. Das Fach Psychiatrie… Psychiat Prax 2013; 40: 409–410

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abzuschätzen. Eines scheint jedoch gewiss: Mehr Ressourcenkommen nicht ins System. Darüber hinaus gibt es durch die ge-plante abnehmende Vergütung der Tagespauschale im Verlaufder Liegezeit einen neuen Anreiz für Kurzaufenthalte in der Kli-nik. Die PsychPV entfällt und damit die gesetzliche Grundlageeiner Mindestausstattung an therapeutischem Personal. Für vieleKliniken ist mit einem sinkenden Erlös zu rechnen, der den finan-ziellen Druck auf die Klinikleitungen erhöht. Ein damit einherge-hender Abbau personalintensiver Versorgungsstrukturen, insbe-sondere psychotherapeutischer Ressourcen, wäre äußerst pro-blematisch. Vor demHintergrund der gerechtfertigten Forderungnach angemessener Vergütung der Psychologen im Ausbildungs-jahr spitzt sich die Situation für die psychotherapeutische Versor-gung weiter zu.

Divergenz von Bedarf, politischer Forderung undSystementwicklung am Beispiel der TraumatherapieNachdem das Thema der Traumafolgestörungen, insbesonderenach frühkindlichem Missbrauch, in den vergangenen Jahrendurch die Skandale in Schulen und Betreuungseinrichtungen dieÖffentlichkeit erreicht hat, sind die Forderungen nach bedarfsge-rechten Behandlungsangeboten in einer Vielzahl an prominentbesetzten Kommissionen und runden Tischen formuliert. Hinzukommt die öffentlich geführte Debatte um die Versorgung derBundeswehrsoldaten mit Traumafolgestörungen nach Kampfein-sätzen. Darüber hinaus sind die hohen Zahlen an Arbeitsunfähig-keitszeiten durch psychische Traumatisierung während der Be-rufsausübung in das Bewusstsein der Unfallversicherungsträgergerückt. Demgegenüber stehen zunehmend gute Studien und Er-fahrungen zur Therapie von Traumafolgestörungen wie der Post-traumatischen Belastungsstörung zur Verfügung. Sie erfordernein hohes Maß an expositionsorientierter Therapie. Aufgrundder sehr belastenden und individuell unterschiedlichen Aspekteerfordert die Therapie dabei einen hohen Anteil an Einzelpsycho-therapie. Neben einem hohen Übungsbedarf ist in vielen Fällendie baldige Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit und Be-lastbarkeit ein Anliegen der Patienten. Im Rahmen der Exposi-tionstherapie und der notwendigen Außenorientierung bietetsich daher ein möglichst ambulantes Setting an.Es kondensieren an diesem Beispiel alle Forderungen zwischenwissenschaftlich untermauerter Therapie, politisch und gesell-schaftlichem Auftrag, Ambulantisierung und ressourceneffizien-ter Betreuung. Wir sind diesem Auftrag an unserer Klinik miteinem tagesklinischen Intensivangebot (8 Plätze) auf der Basiseines verhaltenstherapeutischen und DBT-basierten Konzeptsbegegnet. Dies beinhaltet u.a. täglich mindestens 2 störungsspe-zifische Gruppen und 4 psychologisch/ärztliche Einzeltherapienpro Woche (wobei 2 Sitzungen auch von spezialisierten pflegeri-schen Co-Therapeuten durchgeführt werden können). In denmeisten Fällen ist ein beruflicher Wiedereinstieg direkt im An-schluss möglich. Die deutliche Nachfrage zeigt den erheblichenVersorgungsbedarf.Ein solches Angebot erfordert deutlich mehr personelle Ressour-cen als nach PsychPV zur Verfügung steht. Insbesondere, da nachdem herkömmlichen Vergütungssystem die teilstationäre Be-handlung personell besonders wenig berücksichtigt wird. Diesbedeutet, dass eine wirksame und effektive Versorgung, wie imFalle der Traumatherapie gefordert, flächendeckend nicht ge-währleistet werden kann.

Neue Vergütungssysteme – ein Ausweg?Vollstationäre psychotherapeutische Behandlung ist nur beieinem geringen Anteil von Patienten medizinisch indiziert undbirgt die Gefahr der verminderten Außenorientierung. Insbeson-dere wenn sich die psychiatrisch-psychotherapeutische Medizinin Deutschland vermehrt dem Ziel der (beruflichen) Wiederein-gliederung stellen möchte, besteht die medizinische Herausfor-derung in einer intensivierten teilstationären oder ambulantenVersorgung. Diese wird derzeit unzureichend umgesetzt, da dasstarre Vergütungssystem der Klinik unzureichend Spielraumgibt, seine Ressourcen flexibel auf die Versorgungssituation undsein Patientenklientel abgestimmt einzusetzen.Komplexe integrierte Versorgungskonzepte könnten eine Lösungdarstellen. Hierbei haben die Kliniken die Möglichkeit, über dasganze Spektrum der Interventionen und dem damit verbunde-nen Einsatz ihres Personals zu verfügen. Diese Interventionenkönnen das Krisengespräch zu Hause beim Patienten (Home-treatment und andere Varianten), Telefonkontakte, aber ebenauch ein psychotherapeutisches Intensivprogramm im tageskli-nischen Setting bedeuten. Der vollstationäre Bereich könntedann in der Kapazität reduziert und vermehrt für Patienten ge-nutzt werden, denen eine Übernachtung aufgrund schwererSymptomatik, Suizidalität etc. nicht möglich ist. Eine solche Ver-sorgung findet komplementär und enger verzahnt mit den beste-henden ambulanten Angeboten der psychiatrisch-psychothera-peutischen Versorgung statt.Diese Überlegungen zu einer Verschiebung der Ressourcen inner-halb des Krankenhaussystems sollen aber nicht davon ablenken,dass mit dem aktuellen Bedarf an psychotherapeutischer Versor-gung zusätzliche Ressourcen benötigt werden. Da zeitnah nichtmit einer deutlichen Entspannung der psychiatrisch-psychothe-rapeutischen Krankenhausfinanzierung zu rechnen ist, muss be-fürchtet werden, dass durch den wissenschaftlichen und gesell-schaftlichen Druck Angebote entstehen, deren Namen eine inten-sive psychotherapeutische Behandlung nahe legen, die aber per-sonell so dünn gestrickt sind, dass sie dieses Versprechen und da-mitdieQualität nichthaltenkönnen. EsbestehtHandlungsbedarf!

Literatur1 Stoffers JM, Völlm BA, Rücker G et al. Psychological therapies for people

with borderline personality disorder. Cochrane Database Syst Rev2012: 8

2 Bisson J, Andrew M. Psychological treatment of post-traumatic stressdisorder (PTSD). Cochrane Database Syst Rev 2007: 3

3 Gava I, Barbui C, Aguglia E et al. Psychological treatments versus treat-ment as usual for obsessive compulsive disorder (OCD). CochraneDatabase Syst Rev 2007: 2

4 Hay PP, Bacaltchuk J, Stefano S et al. Psychological treatments for buli-mia nervosa and binging. Cochrane Database Syst Rev 2009: 4

5 Gould RA, Buckminster S, Pollack MH et al. Cognitive-behavioral andpharmacological treatment for social phobia: A meta-analysis. ClinPsychol 1997; 4: 291–306

6 Mitte K. Meta-analysis of cognitive-behavioral treatment for generali-zed anxiety disorder: A comparison with pharmacotherapy. PsycholBull 2005; 131: 785–795

7 Mitte K. A meta-analysis of the efficacy of psych- and pharmacothera-py in panic disorder with and without agoraphobia. J Affect Disord2005; 88: 27–45

8 Keller MB, McCullough JP, Klein DN et al. A comparison of nefazodone,the cognitive behavioral-analysis system of psychotherapy, and theircombination for the treatment of chronic depression. N Engl J Med2000; 342: 1462–1470

9 Nemeroff CB, Heim CM, Thase ME et al. Differential responses to psy-chotherapy versus pharmacotherapy in patients with chronic formsof major depression and childhood trauma. Proc Natl Acad Sci 2003;100: 14293–14296

Schulte-Herbrüggen O, Gallinat J. Das Fach Psychiatrie… Psychiat Prax 2013; 40: 409–410

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