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Kapitel 6 Das Üben von Achtsamkeit: Eine einzigartige klinische Intervention für die Verhaltenswissenschaften Paul Grossman Zusammenfassung: Das vorliegende Kapitel setzt sich mit dem Potential des Übens von Achtsamkeit für die Verhaltenswissenschaften auseinander. Ausgehend von einer grund- legenden Definition des Phänomens Achtsamkeit wird dargelegt, dass eine allzu einfache Übertragung von Achtsamkeit in westlich geprägte Behandlungsansätze wesentliche Aspekte vernachlässigt. Die buddhistischen Wurzeln der Achtsamkeit, insbesondere die zentrale Rolle der Beobachtung des Atmens, werden vorgestellt und einer evolutionsbio- logischen Theorie des Bewusstseins gegenübergestellt. Wesentliche Unterschiede zwischen dem buddhistischen Ansatz der Achtsamkeit und den westlichen Verhaltenswissenschaf- ten werden herausgearbeitet, wobei dem Gegensatz von praktischer Erfahrungen und in- tellektuellem Wissen Raum gegeben wird. Das Kapitel schließt mit Betrachtungen zum Wesen der untersuchten Phänomene und grundsätzlichen Überlegungen zur Rolle der Persönlichkeit, des Ich und des Selbst. Einführung Die Geschichte der akademischen Psychologie und Psychotherapie des zwanzigsten Jahrhunderts ist stark von behavioralen Konzepten und Theorien geprägt. In dieser Phase wurden die subjektive Wahrneh- aus: Heidenreich, T. & Michalak, J. (2004). Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Tübingen: dgvt-verlag. Korrespondenzadresse:

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Page 1: Das Üben von Achtsamkeit: Eine einzigartige klinische ...„Achtsamkeit“ in das Vokabular der allgemeinen Psychologie einge-führt (siehe Clinical Psychology: Science & Clinical

Kapitel 6

Das Üben von Achtsamkeit:Eine einzigartige klinische

Intervention für dieVerhaltenswissenschaften

Paul Grossman

Zusammenfassung: Das vorliegende Kapitel setzt sich mit dem Potential des Übens vonAchtsamkeit für die Verhaltenswissenschaften auseinander. Ausgehend von einer grund-legenden Definition des Phänomens Achtsamkeit wird dargelegt, dass eine allzu einfacheÜbertragung von Achtsamkeit in westlich geprägte Behandlungsansätze wesentlicheAspekte vernachlässigt. Die buddhistischen Wurzeln der Achtsamkeit, insbesondere diezentrale Rolle der Beobachtung des Atmens, werden vorgestellt und einer evolutionsbio-logischen Theorie des Bewusstseins gegenübergestellt. Wesentliche Unterschiede zwischendem buddhistischen Ansatz der Achtsamkeit und den westlichen Verhaltenswissenschaf-ten werden herausgearbeitet, wobei dem Gegensatz von praktischer Erfahrungen und in-tellektuellem Wissen Raum gegeben wird. Das Kapitel schließt mit Betrachtungen zumWesen der untersuchten Phänomene und grundsätzlichen Überlegungen zur Rolle derPersönlichkeit, des Ich und des Selbst.

Einführung

Die Geschichte der akademischen Psychologie und Psychotherapie deszwanzigsten Jahrhunderts ist stark von behavioralen Konzepten undTheorien geprägt. In dieser Phase wurden die subjektive Wahrneh-

aus: Heidenreich, T. & Michalak, J. (2004). Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. Tübingen:dgvt-verlag. Korrespondenzadresse:

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mung und persönliche Erfahrungen im Allgemeinen als Quellen despsychologischen Verständnisses abgewertet und als außerhalb des Be-reichs verifizierbaren wissenschaftlichen Wissens angesiedelt betrach-tet. Dabei wurde jedoch vergessen, dass sie den wichtigsten Aspekt derindividuellen menschlichen Existenz und des Bewusstseins bilden,durch den letztendlich alle kognitiven und affektiven Prozesse gefiltertwerden (Depraz, Varela & Vermersch, 2003). Daher ist es auch mehrals ironisch, dass Achtsamkeit – ein Konzept das für die inhärent in-trospektive (d.h. subjektive und persönliche) buddhistische Psycholo-gie zentral ist, ausgerechnet von Verhaltenstherapeuten in westlichespsychologisches Denken und Praxis eingebracht wurde (Segal, Willi-ams & Teasdale, 2002; die deutsche Übersetzung dieses Buches wirdvoraussichtlich 2005 im DGVT-Verlag erscheinen) Faktisch wurde je-denfalls in den letzen Jahren durch einen regelrechten Aufschwung desInteresses, primär auf Seiten kognitiver Verhaltenstherapeuten, die„Achtsamkeit“ in das Vokabular der allgemeinen Psychologie einge-führt (siehe Clinical Psychology: Science & Clinical Practice, Vol. 10, 2003).

In diesem Kapitel untersuche ich zunächst einige grundlegende De-finitionen, Annahmen und Arbeitsprinzipien der buddhistischen Auf-fassung von Achtsamkeit und stelle diese Ansätzen den allgemeinenVerhaltenswissenschaften im westlichen Kulturkreis gegenüber, so-wohl was deren Konzept des „Selbst“ angeht als auch das Verständnisvon bio-psychosozialen Störungen und entsprechende klinische Inter-ventionen. Ich hoffe, dass diese vorläufige Diskussion der Achtsamkeitdazu dienen kann, die wissenschaftlichen Ergebnisse in einem psycho-logischen Kontext zu verankern, der zwar ungewohnt sein mag, sichjedoch als gedanklich äußerst anregend und informativ erweisenkönnte. Sonst besteht die Gefahr, dass die innewohnenden Spannun-gen zwischen buddhistischer und westlicher Psychologie, deren Be-trachtung so ergiebig sein könnte, nicht erkannt werden, in der ge-wohnten empirischen Analyse und positivistischen Wissenschaftsper-spektive verloren gehen und damit trivialisiert werden könnten.

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Definitionen von Achtsamkeit

In der Regel wird Achtsamkeit im Sinne von „Bewusstsein und Auf-merksamkeit gegenüber gegenwärtigen Erfahrungen“ definiert. DieVorstellung, dass wir uns unserer wahrnehmbaren geistigen Zuständeund Prozesse im gegenwärtigen Augenblick bewusst sein und ihnenunsere Aufmerksamkeit zuwenden können, scheint auf den erstenBlick sehr gut zu modernen psychologischen Theorien der Aufmerk-samkeit und kognitiver Funktionen zu passen. Unter Umständen er-scheinen sie uns sogar auf absurde Weise selbstverständlich und banal.Hinter diesem scheinbar einfachen Konzept und der gemeinsamenTerminologie verbirgt sich jedoch ein geistiger Ansatz, der sich radikalvon Ansichten der modernen Psychologie unterscheidet, insbesonderevon behavioristischen Konzeptionen. Aus buddhistischer Sicht bein-haltet Achtsamkeit eine Reihe nicht nur kognitiver, sondern auch emo-tionaler, sozialer und ethischer Dimensionen, in die sie eingebettet istund die weit über die herkömmliche Unterteilung von Konditionie-rung, Aufmerksamkeit und Bewusstsein in der wissenschaftlichen Psy-chologie hinausgeht. Gerade diese Unterschiede sind jedoch für ein an-gemessenes Verständnis der Achtsamkeit und deren Rolle in der psy-chologischen Epistemologie unerlässlich. Ein begrenzteres Konzeptder Achtsamkeit, das sich einfach nur als eine weitere Technik in dasArsenal der verhaltens- und psychotherapeutischen Interventioneneinreihen lässt, wird damit weder der ursprünglichen Vorstellung vonAchtsamkeit gerecht, noch entspricht dies dem gegenwärtigen wissen-schaftlichen Forschungsstand auf dem Gebiet achtsamkeitsbasierterInterventionen.

In diesem Zusammenhang sollte noch erwähnt werden, dass sichfast alle publizierten Studien zu achtsamkeitsbasierten Interventionenauf eine bestimmten Form beziehen, die als achtsamkeitsbasierte Belas-tungsreduktion (MBSR, Kabat-Zinn, 1990) bezeichnet wird. Obwohlbei diesem Ansatz nur gelegentlich auf seine buddhistischen Wurzelnverwiesen wird, orientiert er sich doch größtenteils an den grundsätz-lichen Zielen, Prinzipien und Vorgehensweisen traditioneller Ein-

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sichts-(Vipassana)Meditation, bei der Achtsamkeit eine zentrale Kom-ponente bildet. In diesem Kapitel beabsichtige ich, nicht nur das Po-tenzial der Achtsamkeit für klinische Interventionen darzustellen, son-dern auch die Bereicherung hervorzuheben, die Achtsamkeit sowohlfür die Lehrenden als auch für die Lernenden sein kann.

Das Konzept des achtsamen Bewusstseins, bzw. der Achtsamkeit,um das es hier geht, bezieht sich zwar auf den entsprechenden Ansatzaus frühen buddhistischen Abhandlungen, ist dabei jedoch seinem We-sen nach weder religiös noch esoterisch. „Achtsamkeit“ ist in unsererSprache zweifellos ein allgemein verwendeter Begriff, der unterschied-liche Bedeutungen haben und unterschiedlich gebraucht werden kann.Keiner dieser Begriffe kommt jedoch der buddhistischen Vorstellungvon Achtsamkeit auch nur nahe, geschweige denn entspricht er dieservollständig, auch wenn es dabei manchmal zu Überlappungen kom-men kann. Laut „Webster’s Dictionary“ wird z.B. „mindfulness“(Achtsamkeit) als Eigenschaft von „having in mind“ (im Kopf/Geisthaben) definiert und als „aware, heedful or careful of something (to bemindful of the danger)“ (aufmerksam, achtgebend, vorsichtig gegen-über etwas (auf die Gefahr achten)), zu sein. Im Internet-Hyperdictio-nary (http://www.hyperdictionary.com/dictionary/mindfulness)wird „mindfulness“ definiert als „the trait of staying aware of (payingclose attention to) your responsibilities“ (das Persönlichkeitsmerkmal,sich seiner Verantwortung bewusst zu sein (genau darauf zu achten)),und Roget’s Thesaurus bietet dafür die folgenden Synonyme an: care,carefulness, caution, gingerliness, heed, heedfulness or regard (Roget,1995; dt: Fürsorge, Sorgfalt, Vorsicht, Behutsamkeit, Bedacht, Beach-tung oder Berücksichtigung).

Im umgangssprachlichen Gebrauch beinhaltet Achtsamkeit häufigKonnotationen wie Beachtung schenken oder sich innerhalb einesdeutlich bewertenden Kontextes um etwas zu kümmern: Ein Kindkann von seinen Eltern aufgefordert werden: „Achte (engl.: mind) aufdeine Manieren“, oder „achte auf deine Sprache“, was bedeutet dassman darauf achten sollte, sich auf eine kulturell vorgeschriebene Artund Weise zu verhalten. „Auf die schlechten Straßenverhältnisse ach-

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tend, fuhr er sehr langsam“. „Was ist doch der Mensch, dass du seinerachtest?“ (Psalm VIII, 5). „Ich verspreche dir dass ich deine Ratschlägebeachten werde“ oder „er achtete immer auf seine Verpflichtungen ge-genüber der Familie“. All diese Formulierungen spiegeln eine Beto-nung sorgfältiger Aufmerksamkeit wider, so dass niemand unter denKonsequenzen achtloser Verhaltensweisen zu leiden hat.

Eine zeitgenössische und recht beliebte wissenschaftliche Darstel-lung von Achtsamkeit beinhaltet Offenheit gegenüber Neuem, Auf-merksamkeit bezüglich Differenzen, Empfindsamkeit für verschiedeneKontexte, Bewusstsein multipler Perspektiven sowie die Orientierungan der Gegenwart (Langer, 1997; Sternberg, 2000). Dieser primär wis-senschaftliche Einsatz des Begriffs umfasst das kognitive Bewusstseinund die Einschätzung der Variabilität verschiedener Situationen in dengegenwärtigen Umständen, sowie die praktische und zielgerichteteEntwicklung bestimmter Fertigkeiten, durch die die Wahrnehmungvon Unterschieden gewährleistet wird. All die oben genannten Defini-tionskategorien überlappen sich mit buddhistischer Achtsamkeit je-doch nur insofern, als sie sich an Aspekten des Bewusstseins und/oderdes gegenwärtigen Augenblicks orientieren.

Buddhistischen Abhandlungen zu Folge ist Achtsamkeit durch einleidenschaftsloses, nicht-wertendes und fortwährendes Bewusstseinwahrnehmbarer geistiger Zustände und Prozesse von einem Augen-blick zum anderen gekennzeichnet. Dies bedeutet ein anhaltendes, un-mittelbares Bewusstsein körperlicher Empfindungen, Wahrnehmun-gen, Affektzustände, Gedanken und Vorstellungen. Achtsamkeit ist un-willkürlich: Dies bedeutet fortwährende Aufmerksamkeit gegenübervorübergehenden geistigen Inhalten im gegenwärtigen Augenblick, oh-ne dabei über die vorübergehenden geistigen Phänomene nachzuden-ken, diesbezüglich Vergleiche anzustellen oder sie anderweitig zu be-werten. Auf Grund dieser Betonung des direkten Bewusstseins, wobeinur eine minimale Filterung durch Bewertungen oder Analysen stattfin-det, wird Achtsamkeit häufig auch als „reine Aufmerksamkeit“ gegen-über geistigen Ereignissen und Prozessen beschrieben (Epstein, 1995).Achtsamkeit könnte daher auch als eine Art natürlicher Beobachtung an-

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gesehen werden, bzw. genauer gesagt Beobachtung seitens des Teilneh-mers (participant-observation), bei der die wahrnehmbaren geistigenPhänomene, die in allen Stadien des wachen Bewusstseins auftreten, zuden Objekten der Beobachtung werden.

Diese gerade angebotene Definition von Achtsamkeit aus einerbuddhistischen Perspektive mag für westliche psychologische undkognitiv-verhaltenstherapeutische Interpretationen und eine Integra-tion in dieselben immer noch sehr zugänglich erscheinen. Dennoch er-geben sich bei näherer Betrachtung wichtige Unstimmigkeiten mit ei-nem rein kognitiven Ansatz: Die Entwicklung eines „leidenschaftslo-sen, nicht-wertenden und fortwährenden“ Bewusstseins mag einfachund nützlich klingen – eine kühle und neutrale Beobachtung der eige-nen, für die Wahrnehmung zugänglichen kognitiven Ereignisse undProzesse. Auf diese Art und Weise aufmerksam zu sein ist jedoch aus-gesprochen schwierig und komplex, wie Ihnen jeder bestätigen wird,der versucht hat, solche Fertigkeiten zu entwickeln. Zunächst geht esdabei um die Aufrechterhaltung eines fortwährenden Bewusstseins, imGegensatz zum unbewussten Abdriften in Gedanken und Vorstel-lungsbilder (wobei man sich normalerweise vom gegenwärtigen Au-genblick entfernt und sich in die Vergangenheit oder in die Zukunftbegibt). Diese Tendenz hängt auch mit den anderen beiden definitions-gemäßen Kennzeichen der Achtsamkeit zusammen, nämlich den„nicht-wertenden“ und „leidenschaftslosen“ Dimensionen. Beide be-inhalten eine Herangehensweise, die für unsere Gedankenprozesse imWachzustand höchst ungewohnt ist, weil wir dabei normalerweise zustarken Wertungen und häufig auch emotionalen Reaktionen neigen,die uns von der fortwährenden Aufrechterhaltung des Bewusstseinswegführen. Genau an dieser Schnittstelle – zwischen dem fortwähren-den Bewusstsein von einem Augenblick zum anderen und dem Aus-setzen von Bewertungen und emotionaler Reaktivität – setzen die af-fektiven und ethischen Dimensionen der Achtsamkeit ein.

Eine tiefere Untersuchung der affektiven und ethischen Faktoren beider achtsamen Aufmerksamkeit würde den Rahmen dieses Kapitelssprengen, aber vielleicht reichen schon ein paar Beispiele aus, um deut-

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lich zu machen wie fortwährende Aufmerksamkeit durch die gleich-zeitige Kultivierung ethischen Verhaltens und eines bestimmten affek-tiven Geisteszustands gefördert und gestärkt werden kann. Durch Auf-merksamkeit gegenüber den eigenen Empfindungen, Gedanken undEmotionen wird normalerweise bei denjenigen, die das Üben achtsa-mer Aufmerksamkeit nicht gewohnt sind, eine Kaskade von Gedan-ken, Emotionen und Bewertungen ausgelöst (was übrigens auch beidenjenigen mit Erfahrungen im Üben häufig vorkommt!). Wenn manverhindern will, dass derartige Ablenkungen während des Übens vonAchtsamkeit ständig auftreten, ist die Förderung eines bestimmten af-fektiven Geisteszustandes unerlässlich. In der buddhistischen Psycho-logie bedeutet dies die Absicht zu kultivieren, Freundlichkeit, Geduld,Toleranz, Sanftmut, Mitgefühl, nicht-Streben, Akzeptanz und Offen-heit zu entwickeln (eine gute Beschreibung findet sich in Shapiro &Schwartz, 2000). Den unmittelbaren Fokus dieser bewussten, willkür-lichen Geisteshaltung bildet der Prozess der Achtsamkeit selbst – beidem immer wieder versucht wird, alle Niveaus unangenehmer innererErfahrungen zu akzeptieren und ihnen freundlich gegenüberzustehen.Diese Erfahrungen können von einem Augenblick zum anderen auf-tauchen (z.B. unangenehme körperliche Empfindungen, Gedankenoder Emotionen), oder auch Übergänge bilden (d.h. von einem ange-nehmen Gefühl der Ruhe zu Erregung, Müdigkeit oder Langeweile),die während des Übens von Achtsamkeit auftreten können. Währendsich das Üben von Achtsamkeit langsam entfaltet, verstärkt sich dabeidie Fähigkeit, die Konzentration aufrecht zu erhalten und eine freund-lichere, tolerantere und offenere Haltung der Erforschung zu entwi-ckeln, wobei eine Art Synergieprozess vonstatten geht.

Entsprechend wird auch ethisches Verhalten für die Entwicklungvon Achtsamkeit als unerlässlich angesehen, weil der Einzelne da-durch von der Spannung befreit wird, die durch unethisches Verhaltenentsteht. Im Buddhismus umfasst unethisches Verhalten übrigens nurHandlungen, durch die anderen Schaden zugefügt wird (körperlicherSchaden, Verleumdung, Lügen, Diebstahl etc.). In der buddhistischenPsychologie (und in der Erfahrung der meisten Menschen) wird durch

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unethische Handlungen häufig ein Gefühl der Scham, der Schuld und/oder der emotionalen Unterdrückung geschaffen, das sich mit hoherWahrscheinlichkeit störend auf die geistige Leistungsfähigkeit aus-wirkt. Ein solch beunruhigender Zustand wird für die Entwicklung ei-nes ruhigen und konzentrierten Zustandes als hinderlich angesehen,während gerade eiser Zustand eine notwendige Bedingung zur Förde-rung von Achtsamkeit bildet (z.B. Goldstein, 1993). Wie schon bei derKultivierung von mehr Sanftmut, Freundlichkeit, Großzügigkeit undToleranz, geht die buddhistische Psychologie davon aus, dass nicht nurethisches Verhalten Achtsamkeit verstärkt, sondern umgekehrt auchAchtsamkeit ethisches Verhalten fördert.

Dementsprechend ist diese Auffassung von Achtsamkeit expansivund inhärent transformativ und stellt, wie vorher bereits erwähnt, dasFundament der MBSR dar. Engere Konzeptionen der Achtsamkeitwurden bisher in der empirischen Literatur nicht berücksichtigt (mitAusnahme der deutlich unterschiedlichen Operationalisierung vonLanger, 1997). Deshalb existieren bis heute auch keine Hinweise dar-auf, dass eine engere Konzeption als eine effektive behaviorale Inter-vention funkionieren würde.

Darüber hinaus sollen hier einige Annahmen deutlich gemacht wer-den, die buddhistischen Konzepten und Vorgehensweisen der Acht-samkeit zugrunde liegen (Buchheld, Grossman & Walach, 2002; Gole-man, 1988; Kabat-Zinn, 1993; Nanamoli & Bodhi, 1995): 1. Menschen sind sich im allgemeinen ihrer Erfahrungen von einem

Augenblick zum anderen nicht bewusst, und sie operieren häufigim Autopiloten-Modus.

2. Der Mangel an Bewusstsein bezüglich der eigenen geistigen Inhalteund Prozesse bietet einen guten Nährboden für fehlerhafte Wahr-nehmungen und Selbsttäuschungen.

3. Wir sind in der Lage dazu, die Fähigkeit zu entwickeln, von einemAugenblick zum anderen ein nicht-wertendes und höchst differen-ziertes Bewusstsein unserer geistigen Inhalte aufrecht zu erhalten.

4. Die Entwicklung dieser Fähigkeit geht allmählich vonstatten, nimmtlangsam zu und erfordert ständiges Üben.

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5. Durch das Bewusstsein der Erfahrungen von einem Augenblick zumanderen entsteht ein reichhaltigeres und vitaleres Lebensgefühl, in-sofern als die Erfahrungen dabei lebhafter werden und unbewussteReaktivität durch achtsame Anteilnahme ersetzt wird.

6. Durch eine solche beständige, nicht-wertende Beobachtung geistigerInhalte entsteht langsam ein größerer Wahrheitsgehalt der Wahrneh-mungen.

7. Weil eine genauere Wahrnehmungen der eigenen geistigen Reaktio-nen auf äußere und innere Stimuli erreicht wurde, werden dadurchzusätzliche Informationen gewonnen, die wiederum wirksameHandlungen in der Welt fördern und zu einem stärkeren Gefühl derKontrolle führen.

Hinsichtlich dieser und weiterer Annahmen sollte jedoch keinesfallsaus den Augen verloren werden, dass die grundsätzlichen Ziele einerPsychotherapie und beim Üben von Achtsamkeit nicht identisch sind.Eine Psychotherapie ist fast immer auf die Überwindung gegenwärti-ger Beschwerden hin ausgerichtet. Das primäre Ziel beim Üben vonAchtsamkeit besteht dagegen in der Entwicklung von Einsicht und ei-nem besseren geistigen Verständnis aller Erfahrungen, das dadurch er-reicht wird dass man von einem Augenblick zum anderen ein nicht-wertendes, höchst differenziertes Bewusstsein kultiviert (Kabat-Zinn,2003).

Zum Verständnis der Entwicklung von Achtsamkeit

Diskurs über das volle Bewusstsein des Atmens

Einsichtsmeditation und das Üben von Achtsamkeit basieren auf eineruralten Forschungsmethode (In jüngster Zeit wurde dieser Ansatz je-doch auch als zentrale Methode zur Gewinnung phänomenologischenWissens angesehen; vgl. Depraz, Varela & Vermersch, 2003; Varela,

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Thompson & Rosch, 1991). Das Kernstück bildet ein systematischesProgramm zur Entwicklung der Achtsamkeit, welches das etwa 2300Jahren schriftlich niedergelegt wurde. Es könnte lehrreich sein, kurzwichtige Segmente eines bemerkenswerten Textes in dem dieser An-satz beschrieben wird zu untersuchen und die empirische Untermaue-rung dieser Methode im Licht aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis-se zu betrachten. In den meisten Fällen beginnt das Üben von Acht-samkeit mit der Beobachtung der Atmung, und bei der Abhandlungmit dem Titel „Diskurs über das volle Bewusstsein beim Atmen“,könnte es sich um die älteste überlieferte detaillierte Anweisung fürdas Vorgehen bei einer Meditation handeln. Im Folgenden ist eine ge-kürzte Version dargestellt (in Anlehnung an Nanamoli & Bodhi, 1995):

„Nun, wie wird Achtsamkeit gegenüber dem Ein- und Ausatmen entwik-kelt und verfolgt, um zu einem vollständigen Bewusstsein des Körpers, derGefühle, der geistigen Formationen und der Art zu gelangen, wie die Dingefür sich selbst betrachtet sind?Fortwährend achtsam, atmet man ein; achtsam atmet man aus.Beim langen Einatmen weiß man: ,ich atme lang ein‘. Beim langen Aus-atmen weiß man: ,ich atme lang aus‘. Beim kurzen Einatmen weiß man: ,ich atme kurz ein‘. Beim kurzen Aus-atmen weiß man: ‘ich atme kurz aus’.Man übt sich selbst: Einfühlsam für den ganzen Körper, atme ich ein, atmeich aus.Man übt sich selbst: Einfühlsam für Empfindungen, Wahrnehmungenund Gefühle, atme ich ein, atme ich aus.Man übt sich selbst: Einfühlsam für geistige Formationen, atme ich ein,atme ich aus.Man übt sich selbst: Einfühlsam für Wandel und Veränderungen, atme ichein, atme ich aus.“Anapanasati Sutra, Diskurs über das volle Bewusstsein beim Atmen (circa500 v.Chr.)

Diesem Diskurs zufolge stellt der Atem sowohl das Vehikel als auchdas zentrale Eingangstor dar, durch das Achtsamkeit entwickelt wer-den kann und Einsichten über das Wesen der inneren und äußeren Pro-zesse und Ereignisse gewonnen werden können, die für Menschen

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wahrnehmbar und verständlich sind. In den verschiedenen buddhisti-schen Schulen werden eine Reihe verschiedener auf Einsicht beruhen-der Meditationsformen eingesetzt, aber fast alle von ihnen beginnenzumindest mit einem Bewusstsein der körperlichen Empfindungen,die mit der Atmung verbunden sind. Anfängliche Anweisungen lautenhäufig, sich dem Atem entweder am unteren Ende der Nasenlöcheroder im Bauch zuzuwenden, ohne dabei bewusst zu versuchen dasAtemmuster auf irgendeine Weise zu verändern. Daher liegt der an-fängliche Fokus auf der Aufrechterhaltung eines anhaltenden sensori-schen Bewusstseins gegenüber der Atmung (z.B. Atemfluss und Tiefe,Häufigkeit und Regelmäßigkeit), einen Atemzug nach dem anderen,über einen Zeitraum hinweg. Während sich die Fähigkeiten und dieKonzentration allmählich entwickeln, werden sie weiter ausgearbeitetund ausgedehnt und erstrecken sich schließlich vom Atem selbst auchauf andere körperliche Empfindungen, die mehr oder weniger direktmit dem körperlichen Prozess des Atmens zusammenhängen. Von dortgeht es weiter zu zunehmend komplexeren geistigen Phänomenen, diezunächst grundsätzliche wahrnehmbare Elemente einschließen unddann zu einem Bewusstsein der Emotionen, Gedanken und anderergeistiger Ereignisse und Prozesse (Vorstellungen, Erinnerungen etc.)fortschreiten. Letztendlich geht man davon aus, dass sich durch regel-mäßiges und fortwährendes Üben einer solchen inneren teilnehmen-den Beobachtung und Erforschung allmählich ein anderes Verständnisfür das Selbst, die Welt und das Wesen der Erfahrungen gewinnenlässt; ein Verständnis das unlösbar mit einem stabilen Zustand des Be-wusstseins von einem Augenblick zum anderen verbunden ist.

In der buddhistischen Psychologie wird dies nicht einfach nur alsKorrekturprozess betrachtet, sondern als transformativer Vorgang, derin einer Veränderung grundsätzlicher Konzepte des Selbst, anderer,der Gesellschaft und natürlicher Phänomene resultiert.

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Abbildung 1: Die systematische Struktur der Achtsamkeit gegenüber demAtem. Die Aufmerksamkeit bewegt sich von den körperlichen Eigenschaftendes Atems hin zu anderen körperlichen Empfindungen, Wahrnehmungen, Ge-fühlen, Emotionen und weiteren geistigen Zuständen, was mutmaßlich zugrößerer Einsicht in innere und äußere Erfahrungen führt. Dieses Entwick-lungsmodell entspricht den vier Säulen der Achtsamkeit, die im Text beschrie-ben werden.

Beim tatsächlichen meditativen Üben bilden die verschiedenen Stadienhäufig eine natürliche Folge entsprechend der Länge und Intensität derErfahrungen, und stimmen diesbezüglich mit den Grundsätzen der

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Achtsamkeit in der klassischen Formulierung überein (Mahasatipatanasutra; Thera, 1962): Der Körper; angenehme, unangenehme und neu-trale Wahrnehmungen; affektive Zustände und Gedanken; und dieQualitäten von Erfahrungen, die als Unbeständigkeit und nicht-Iden-tifikation mit der normalen Vorstellung des Selbst beschrieben werdenkönnten (siehe hierzu auch die folgende Diskussion).

Achtsamkeit im Bezug zu einer evolutionsbiologischen Theorie des Bewusstseins

Im „Diskurs über das volle Bewusstsein beim Atmen“ wurden die ver-schiedenen Stadien des Übergangs von einem sensorischen Bewusst-sein bis hin zu immer komplexeren geistigen Prozessen skizziert, beidenen der Atem als zentraler Leitfaden oder Anker des Bewusstseinseingesetzt wird. Es könnte daher hilfreich sein, diese Version des er-lernten erweiterten Bewusstseins mit einem neurophysiologischenEntwicklungsmodell des Bewusstseins zu vergleichen, das von zweianerkannten Neurobiologen, Gerald Edelman, dem Nobelpreisträgerfür Medizin, und seinem Kollegen Guilio Tononi beschrieben wurde(Edelman & Tononi, 2000). Ihrer Theorie zufolge beinhalten die frühe-sten Dimensionen der bewussten Wahrnehmung, sowohl aus einerevolutionären als auch einer entwicklungspsychologischen Perspekti-ve, bestimmte körperliche Wesensmerkmale. Diese Wesensmerkmalewerden primär durch Strukturen im Stammhirn vermittelt, wo körper-liche Zustände im Zusammenhang mit äußerlichen und inneren Be-dingungen verarbeitet werden, und sie beinhalten propriorezeptive,kinästhetische, somatosensorische sowie weitere sensorische und au-tonome Komponenten. Den Autoren zufolge drehen sich diese frühes-ten bewussten Erfahrungen um Körperfunktionen, derer wir uns nor-malerweise nur vage bewusst sind, die sich jedoch gleichzeitig auf alleAspekte unseres Wesens auswirken. Später kommen dabei auch nochbestimmte Dimensionen der Wahrnehmung und der Emotionen insSpiel, die sich als biologisch adaptiv erwiesen und zum Überleben der

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Art beigetragen haben: Eine zunehmend differenzierte Wahrnehmungbietet z.B. eine größere Flexibilität hinsichtlich angemessener Reaktio-nen auf wichtige umweltbedingte Eventualitäten, und emotionale Auf-merksamkeit dient als zusätzlicher und anschaulicherer Wachposten,wobei beide die Stereotypen des Annäherns und Vermeidens ersetzen,die vor dem Auftauchen der Säugetiere vorgeherrscht hatten. Im näch-sten Stadium entwickeln sich nonverbale Erinnerungen, die zur Unter-stützung der Vorstellungsbilder dienten und eine Differenzierung inverschiedene Erfahrungskategorien ermöglichten: Dieses letzte Stadi-um wird als charakteristisch für höhere Säugetiere oder Kinder vordem Erwerb der Sprache betrachtet. Erst mit der Entwicklung derSprache und der sprachlichen Fähigkeit mit komplexen Symbolen um-zugehen, sprechen Edelman und Tonino vom Beginn der Entwicklungeines höheren menschlichen Bewusstseins:

„Mit dem Auftauchen eines Bewusstseins höherer Ordnung taucht gleich-zeitig auch wahre Subjektivität auf, voller narrativer und metaphorischerKräfte und Konzepte des Selbst sowie der Vergangenheit und der Zukunft,und mit einem ineinander verflochtenen Stoff aus Überzeugungen undWünschen, die jetzt ausgedrückt werden können. Erst dadurch wird Fik-tion möglich gemacht.“

Selbstverständlich hat diese neurobiologische Theorie einen spekulati-ven Charakter, aber sie reflektiert dennoch zeitgenössisches wissen-schaftliches Denken über die Entwicklung eines höheren Bewusstseinsbeim Menschen, ein zunehmend beliebteres Thema in den Neurowis-senschaftlern. Was hier jedoch besonders interessant erscheinen mag,ist wie sehr die systematische Entwicklung der achtsamen Aufmerk-samkeit der Evolution des Bewusstseins zu entsprechen scheint. Wiediese beginnt sie mit körperlichen Empfindungen und geht dann zukomplexeren geistigen Zuständen über, um schließlich in einem neuenintegrativen Verständnis des Selbst und der Natur zu kulminieren. Derbuddhistischen Psychologie zufolge entstehen durch den Mangel annicht-wertendem Bewusstsein von einem Augenblick zum anderen„Wünsche und Überzeugungen“, die bei den Selbsttäuschungen undvon uns selbst geschaffenen Fiktionen eine zentrale Position einneh-

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men. Tatsächlich werden durch die menschlichen Eigenschaften kom-plexer narrativer Kräfte, Selbstzuschreibungen und Formulierungender Vergangenheit und der Zukunft dazu Fiktionen geschaffen, dienicht unter dem Einfluss eines nicht-wertenden und differenzierendenGeistes stehen, der seine Basis in achtsamer Aufmerksamkeit hat. Aufder anderen Seite können sich der buddhistischen Theorie zufolge ge-nau diese Fähigkeiten des höheren Bewusstseins – wenn sie in leiden-schaftsloser, kritischer und nicht-wertender Aufmerksamkeit von ei-nem Augenblick zum anderen zusammengefasst werden – zu einemgenaueren Verständnis und Einsicht ins Selbst sowie dessen Beziehun-gen zur Welt umwandeln.

Sowohl in der wissenschaftlichen Literatur zum „Bewusstsein“ alsauch in Abhandlungen der buddhistischen Psychologie wird diemenschliche Fähigkeit zu einem höheren Bewusstsein anerkannt. Einwichtiger Unterschied zwischen diesen beiden Disziplinen besteht je-doch darin, dass die an den Neurowissenschaften orientierte Literaturnicht zwischen der Fähigkeit zur bewussten Erfahrung und dem Aktder bewussten Aufmerksamkeit unterscheidet. Es wird also implizitoder explizit angenommen, dass Menschen zu jeder Zeit bewusste,aufmerksame Wesen sind, und es wird kaum oder nicht ernsthaft erör-tert, welche Variationen es im normalen Spektrum der bewussten Auf-merksamkeit gibt oder wie man diese bewusste Aufmerksamkeit ver-bessern könnte. Die buddhistische Herangehensweise an bewussteAufmerksamkeit – und zwar eine welche die meisten von uns anhandunserer eigenen persönlichen Erfahrungen leicht verifizieren können –lautet dass Menschen zwar grundsätzlich durchaus die Fähigkeit be-sitzen, ihre bewusste Aufmerksamkeit gegenüber geistigen Zuständenund äußeren Erfahrungen im gegenwärtigen Augenblick aufrechtzu-erhalten, aber dass diese Fähigkeit nur schwach entwickelt ist und sel-ten zum Einsatz kommt, d.h. wir operieren häufig im „Autopilot“, unddies kann bis hin zur Vernachlässigung unserer unmittelbaren Erfah-rungen gehen. Wir können so in unsere Gedanken und Grübeleien ver-senkt sein, die sich primär auf die Vergangenheit oder die Zukunft be-ziehen, dass wir die Gegenwart gar nicht reflektieren. Genau dieser

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Mangel an Bewusstsein wird im Buddhismus als die Quelle des „in-einander verflochtenen Stoffs aus Wünschen, Überzeugungen und Fik-tionen“ betrachtet, der von Edelman und Tononi mit dem höheren Be-wusstsein assoziiert wird. Buddhistischem Gedankengut zufolge, kannnur die Kultivierung einer besseren achtsamen Aufmerksamkeit zu un-verfälschteren Wahrnehmungen des Selbst und der Welt führen. Folg-lich kann dies nur durch das Üben von Aufmerksamkeit vom frühestenEntwicklungs-/Evolutionsniveau an erreicht werden, und die dabeieingesetzte Methode ist die systematische Entwicklung der vier Säulender Achtsamkeit. Mit dem Atem als dem Objekt für die achtsame Auf-merksamkeit zu beginnen könnte daher ein besonders vielverspre-chender Ansatz sein.

Achtsamkeit: mit dem Atem beginnen

Wie bereits erwähnt kommt dem Atem bei den einsichtsorientiertenMeditationsformen, sowie bei anderen östlichen Disziplinen, die sichmit Veränderungen des Bewusstseins befassen, eine besondere Funk-tion zu. Aus einer psychologischen Perspektive betrachtet gibt es vieleGründe, weshalb Atemprozesse einen idealen Ausgangspunkt für diePraxis der Entwicklung achtsamer Aufmerksamkeit bilden könnten.Zunächst und vielleicht am offensichtlichsten handelt es sich bei derAtmung um die eine fortwährende und lebensnotwendige physiologi-sche Funktion, die in allen möglichen Situationen und Zeitpunkten fürEmpfindungen zugänglich ist, bis sie schließlich durch den Tod ausge-löscht wird. Der Vorgang des Atmens steht all unseren Sinnen zur Ver-fügung – berührend, schmeckend, riechend, hörend, sehend, proprio-rezptiv, kinästhetisch und interozeptiv. Darüber hinaus stellt der Atem,weil er für das Leben selbst so unerlässlich ist und dennoch normaler-weise vom Atmenden nicht wahrgenommen wird, ein faszinierendesObjekt für die Aufmerksamkeit dar – er ist immer vorhanden, trägt dasLeben in sich, wird selten beachtet, hat jedoch das Potenzial, das Be-wusstsein mit Strömen sensorischer Informationen zu überfluten.

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Die Lungen sind das größte Organ unseres Körpers und fungierenals kontinuierliche Pumpen während der Atemphasen des Ein- undAusatmens. Das bedeutet auch, dass es sich beim Atmungssystem umden mächtigsten physiologischen Oszillator in unserer Brust handelt.Entsprechend den physikalischen Eigenschaften starker Oszillatoren,beeinflusst der Rhythmus der Lungen auch schwächere rhythmisch os-zillierende physiologische Systeme, wie z.B. den Herzschlag, den Blut-druck und die Aktivitäten des Zentralnervensystems (Grossman,1983). Wenn man seine Aufmerksamkeit dem Atem zuwendet, bedeu-tet das daher auch, eine mächtige physikalische Resonanzkraft im Kör-per zu beobachten, die sich direkt oder indirekt auf andere lebensnot-wendige Prozesse auswirkt.

Die Atmung wird jedoch nicht nur durch den sensorischen Flussund ihre Oszillationskraft zu einem wertvollen Objekt unserer Auf-merksamkeit, sondern sie eignet sich auf Grund des Musters und derFrequenz mit der wir atmen zudem besonders für die Wahrnehmungs-fähigkeit der menschlichen Aufmerksamkeit. Das Atemmuster bleibtvon einem Atemzug zum anderen nicht konstant, sondern verändertsich in Abhängigkeit von den inneren und äußeren Bedingungen ent-weder subtil oder erheblich, und befriedigt daher unsere natürlicheTendenz zu Neuem und Orientierungsreaktionen. Zudem sind Men-schen in der Lage, sensorische Stimuli in einer Frequenz von mindes-tens 20–30 Hz (d.h., 20–30 Stimuli pro Sekunde) zu verarbeiten. Hin-sichtlich des Atemzyklus lassen sich alle signifikanten Informationeninnerhalb des Spektrums dieser Wahrnehmungsfähigkeit erfassen. Tat-sächlich kommt es bei physiologischen Studien über die Atmung sehrselten vor, dass die Wellenform der Atmung bei Frequenzen über30 Hz digital erfasst oder aufgezeichnet wird, weil diese Frequenz be-reits genügend Messpunkte liefert, anhand derer alle für wissenschaft-liche Zwecke wichtigen Dimensionen des Atemmusters verfolgt wer-den können. Betrachten Sie dagegen einmal das Elektrokardiogramm(EKG), mit dem die elektrische Aktivität des Herzens aufgezeichnetwird. Der Herzzyklus geht im Allgemeinen mit etwa der 4-fachen Fre-quenz vonstatten als beim Atemmuster (d.h. mit ca. 70 Schlägen pro

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Minute im Vergleich zu ca. 15 Atemzügen pro Minute). Dazu kommt,dass ein EKG einen Komplex verschiedener während eines einzelnenHerzschlages auftretender Wellenformen bildet, im Gegensatz zu dereinzigen, im Prinzip sinusförmigen Wellenform, die einen Atemzugkennzeichnet. Zur genauen Darstellung aller herzbedingten Ereignissesind in jeder Millisekunde Informationen erforderlich (1000 Hz im Ver-gleich zu 30 Hz). Selbst wenn wir alle herzbezogenen Ereignisse direktspüren könnten – was wir im Allgemeinen nicht können – würden wirdabei immer noch viele relevante Informationen verpassen.

Achtsame Aufmerksamkeit gegenüber der Atmung hat jedoch nochweitere Dimensionen, die hier zwar relevant sind, unter Umständenjedoch nicht so offensichtlich sein mögen. Das Atmungssystem ist ein-zigartig, weil es entweder fast vollständig unter bewusster Kontrollefunktionieren kann, oder auch komplett unter unbewusster Kontrolle(z.B. Phillipson, McClean, Sullivan & Zamel, 1978). Ein komatöser Pa-tient, bei dem nur der ursprünglichste Teil des Gehirns, nämlich dasStammhirn, funktioniert, ist häufig dennoch in der Lage ohne mecha-nische Hilfe zu atmen und dadurch das wichtigste Ziel der Atmung zuerreichen, nämlich den Austausch lebenswichtiger Gase (Sauerstoffund Kohlendioxyd) zwischen den Lungen und der Atmosphäre. Aufder anderen Seite sind Menschen im Wachzustand in der Lage, enormebewusste, willentliche Kontrolle über ihre Atmung auszuüben. Tat-sächlich wurden bestimmte cerebrale und im Mittelhirn angesiedelteAreale identifiziert, die während der bewussten Veränderung vonAtemmustern ins Spiel kommen. Als Kinder mussten wir ja tatsächlichlernen, unsere Atemmuster im Alltagsleben an diverse Verhaltensakti-vitäten anzupassen (z.B. sprechen, essen und singen), und experimen-telle Lernstudien weisen darauf hin, wie einfach es ist, Atemparameterzu konditionieren (Van den Bergh, Stegen & Van de Woestijne, 1997).Die Atmung liegt daher genau an der Schnittstelle zwischen bewusstenund unbewussten Erfahrungen, willentlichen und unwillkürlichenVerhaltensweisen. Bei der Entwicklung von Achtsamkeit gegenüberdem Atem sollte unsere Aufmerksamkeit für diesen Schnittpunkt zwi-schen dem Kontrollierbaren und Unkontrollierbaren, zwischen be-

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wussten und unbewussten körperlichen Prozessen, geweckt werden.Zusätzlich dazu können wir Einsichten in die gewohnheitsbedingtenMuster der Atmung bekommen, die wir im Laufe unseres Lebens er-worben haben und die vielleicht eines der wichtigsten Beispiele für un-ser Funktionieren im „Autopilot“ ist. Achtsame Aufmerksamkeit ge-genüber der Atmung kann uns zudem mit Informationen über even-tuell bei uns vorhandene Tendenzen versorgen, bewusste Kontrolleüber einen physiologischen Prozess auszuüben, der unter den meistenUmständen auch gut ohne diese zurechtkommt.

Im „Diskurs über das volle Bewusstsein beim Atmen“ wird derAtem zudem zur Bewusstmachung von Prozessen eingesetzt, die weitüber die körperlichen Empfindungen bei der Atmung hinausgehen.Auch hier eignet sich der Atem für diesen Zweck hervorragend, weildas Atemmuster besonders empfindlich auf emotionale Zustände undAktivitäten auf der Verhaltensebene reagiert (Boiten, 1998; Grossman& Wientjes, 2001). Emotionen wie Angst, Wut, Nervosität und Zufrie-denheit sind alle mit bestimmten Atemmustern verbunden, genausowie verschiedene geistige Prozesse wie z.B. Problemlösen oder Kopf-rechnen. Das Atemmuster reagiert sogar auf verschiedene Stadien desSchlafes (Guilleminault et al., 2001). Wenn man seine Aufmerksamkeitvon einem Augenblick zum anderen auf den Atem richtet und dieseine Zeitlang und durch verschiedene emotionale Zustände hindurchfortsetzt, beginnt man Beziehungen zwischen der Physiologie und gei-stigen Prozessen zu erkennen und kann den Atem dann als Vehikel zurErforschung dieser Emotionen bzw. weiterer geistiger Zustände einset-zen.

Auf sehr konkrete Art ermöglicht uns die Einbeziehung des Atemsin unsere Aufmerksamkeit von einem Augenblick zum anderen etwas,das uns kein anderer Prozess bieten kann: die Gewinnung von prakti-schen und persönlichen Einsichten in die Interaktionen zwischen Geistund Körper unter verschiedenen Bedingungen der Ruhe und der Ak-tivität. Die Atmung ist das einzige physiologische System mit einembeständig wahrnehmbaren Output, der mit geistigen Zuständen ver-bunden werden und in direkte, unmittelbare Erfahrungen mit einbe-

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zogen werden kann. In der gegenwärtigen, „wissenschaftsorientier-ten“ Ära verlassen wir uns häufig sogar auf nomistische, normativeDaten um unsere eigene innere Funktionsweise zu verstehen. Genauwegen dieser normativen Eigenschaften sind solche Informationen je-doch häufig mit Fehlern behaftet, wenn es um Beziehungen innerhalbdes Subjekts geht und wenn Vorurteile bestehen, wie eigene Musterdes individuellen Funktionierens im Hinblick auf die statistisch„durchschnittliche“ Reaktion interpretiert werden sollen. Unsere eige-nen charakteristischen Reaktionen und psychophysiologischen Bezie-hungen weichen aller Wahrscheinlichkeit nach von solchen durch-schnittlichen Tendenzen ab. Die achtsame Aufmerksamkeit gegenüberdem Atem bietet in diesem Sinne eine introspektive Methode persön-licher psychophysiologischer Beziehungen, die den nomothetischen,normativen Ansatz ersetzen kann, von dem wir normalerweise ausge-hen um unsere eigenen Beziehungen zwischen Körper und Geist zuverstehen.

Schließlich sollte in Bezug auf den Einsatz des Atems bei der Acht-samkeit noch bemerkt werden, dass allein durch den Akt der Aufmerk-samkeit gegenüber dem Atem sich die Atmung verlangsamt und ver-tieft – selbst wenn man sich dabei nicht bewusst bemüht, das Atem-muster zu beeinflussen (Western & Patrick, 1988). Durch diese langsa-mere, tiefere Atmung wird ein stärkeres Gefühl der Ruhe ausgelöst,wodurch wiederum aller Wahrscheinlichkeit nach ein konzentrierteresund nicht-wertendes Bewusstsein des gegenwärtigen Augenblicks ge-fördert wird (siehe Grossman, 1983).

All diese Aspekte des Atems – seine Zugänglichkeit, seine physio-logische Einzigartigkeit in Bezug auf die Kontrollmechanismen undderen enge Zusammenhänge mit höheren geistigen Prozessen – bietenein besonderes Objekt für unsere Aufmerksamkeit, das optimal dafürgeeignet ist, ein besseres Verständnis und Einsichten darüber zu ent-wickeln, wie der Körper und der Geist unlösbar miteinander verbun-den sind. Auch wenn bei vielen Methoden einsichtsorintierter Medita-tion der Fokus auf den Atem nur in der Anfangsphase eingesetzt wird,um Konzentration und die Fähigkeit zu entwickeln, seine Aufmerk-

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samkeit auf ein einziges Objekt des Bewusstseins zu richten, bildet dieAchtsamkeit gegenüber dem Atem trotzdem auch für sich selbst ge-nommen eine vollständige Methode des Übens (Rosenberg, 1998). Dar-über hinaus nimmt die Aufmerksamkeit gegenüber dem Atem einewichtige und fortwährende Position im MBSR-Programm ein, das spä-ter noch betrachtet werden soll (Kabat-Zinn, 1990).

Der buddhistische Ansatz der Achtsamkeit im Vergleich zu westlichen Verhaltenswissenschaften: einige wesentliche Unterschiede

Vor mehr als zwanzig Jahren wurde von Roger Walsh ein Artikel imAmerican Journal of Psychiatry veröffentlicht (Walsh, 1980), in welchemauf wichtige Unterschiede zwischen dem vorherrschenden Paradigmader Verhaltenswissenschaften und dem hingewiesen wurde, was er alsdas Paradigma der „Bewusstseinsdisziplinen“ bezeichnete, einem An-satz, bei dem es um systematische Veränderungen in verschiedenenStadien des Bewusstseins geht. In diesem klassischen Artikel trafWalsh eine Reihe von Unterscheidungen, die noch ein Vierteljahrhun-dert später höchste Relevanz besitzen und für Therapeuten und For-scher, die erwägen einige Aspekte der Achtsamkeit in klinische Inter-ventionen einzubeziehen, sehr wertvoll sein können. Das Üben vonAchtsamkeit passt gut zu Walsh’s Konzeptionalisierung der „Bewusst-seinsdisziplinen“ und verdient im Folgenden eine besondere Erwäh-nung, wobei ich seine Vorstellungen mit einigen meiner eigenen zu-sammenführen werde (viele entsprechende Quellen finden sich im Ar-tikel von Walsh). Die Vorstellung einer „Bewusstseinsdisziplin“ wirdim Folgenden anhand von Erklärungen und Beispielen näher erläutert.

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Praktische Erfahrungen im Gegensatz zu intellektuellem Wissen

Dass das Üben von Achtsamkeit eine radikale Abkehr von westlichenpsychologischen und behavioralen Ansätzen darstellt, ist vielleichtschon aus der vorhergehenden Darstellung klar geworden. Dennochist es sinnvoll, solche Unterschiede so exakt wie möglich hervorzuhe-ben, vor allem für diejenigen klinischen Anwender und Wissenschaft-ler, die sich für die Anwendung von Achtsamkeitsübungen bei Klien-ten und Patientengruppen interessieren.

Die möglicherweise wichtigsten Unterschiede zwischen Ansätzenaus einer professionellen und klinischen Perspektive haben vielleichtmit der Rolle der praktischen Erfahrung im Gegensatz zu rein intellek-tuellem Wissen zu tun. Die buddhistische Herangehensweise an Acht-samkeit gründet sich auf dem intensiven, persönlichen und fortwäh-renden Üben der Achtsamkeitsmeditation. Man geht davon aus, dasssich aus einer solchen individuellen Erforschung und Hinterfragungeinzigartiges Wissen gewinnen lässt. Diese Art von Wissen wird jedochals etwas angesehen, das sich grundsätzlich von intellektuellem odertheoretischem Erlernen einer Strategie unterscheidet und durch diesesauch nicht zu ersetzen ist.

Die direkteste Schlussfolgerung aus dieser Prämisse lautet, dassTherapeuten, die sich für Achtsamkeit als klinische Intervention inter-essieren, als Voraussetzung dafür, anderen zur Entwicklung achtsamerAufmerksamkeit zu verhelfen, selbst über beträchtliche und längerfri-stige Erfahrungen mit Achtsamkeit verfügen müssen (Kabat-Zinn,2003; Segal & Williams, 2002). Daher wird das Erlernen von Achtsam-keit als etwas betrachtet, das wichtige transformative Eigenschaftenmit transzendentem Charakter in sich trägt, die einer intellektuellenAnalyse nicht vollständig zugänglich sind (Teasdale et al., 2001). Dabeiwird davon ausgegangen, dass sich z.B. das fundamentale Konzept des„Selbst“ als Folge des Übens von Achtsamkeit grundlegend verändert.Eine derartige Veränderung kann nicht außerhalb der eigenen Erfah-rung verstanden werden, weshalb es auch unmöglich ist Achtsamkeitzu vermitteln, ohne diese selbst zu praktizieren. Die „Einsicht“ bei der

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einsichtsorientierten Meditation leitet sich aus der teilnehmenden-be-obachtenden (participant-observational) Aufmerksamkeit gegenüberden eigenen geistigen Zuständen und Ereignissen her. Sie kann nichtmit anderen Mitteln erreicht werden, wie z.B. rein theoretische Aneig-nung und Analyse der entsprechenden Strategien oder der mutmaß-lichen Wirkungen, die durch achtsame Aufmerksamkeit entstehenkönnen. Die Unterstützung dieses Prozesses beispielsweise bei Teil-nehmern an einem MBSR-Programm erfordert ein entsprechendes En-gagement im Üben von Achtsamkeit seitens der Teilnehmer sowie desKursleiters.

Eine solche Betonung ausführlicher introspektiver Erfahrung unter-scheidet sich erheblich von den meisten westlichen Ansätzen in derPsychotherapie, bei denen die Selbsterfahrung des Therapeuten hin-sichtlich der eingesetzten psychotherapeutischen Methoden und Inter-ventionen nur begrenzt oder auch überhaupt nicht wertgeschätzt wird(eine Ausnahme bildet diesbezüglich die Psychoanalyse). Eine thera-peutische Ausbildung umfasst normalerweise eine intensive Analysepsychotherapeutischer Fertigkeiten und Vorgehensweisen hinsichtlichihres psychologischen und verhaltensbezogenen Nutzens, anstatt dieMitteilung persönlicher Erfahrungen, die mit der fortwährenden An-wendung der Methoden seitens des Therapeuten selbst verbundensind. Darüber hinaus zielen die meisten psychotherapeutischen Inter-ventionen darauf ab, bestimmte Verhaltensweisen oder Kognitionen ineiner zuvor operationalisierten Weise und Richtung zu modifizieren –und nicht auf die Umwandlung von Einstellungen, Denkweisen undErfahrungen in radikal neue Strukturen, die multiple Formen anneh-men können und bei denen das Ergebnis offen bleibt.

Das Wesen der untersuchten Phänomene

In westlichen behavioralen Ansätzen liegt die grundsätzliche Beto-nung häufig auf quantifizierbaren, verifizierbaren und statistisch vali-den Merkmalen bezüglich der Funktionsfähigkeit auf der psychologi-

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schen und der Verhaltensebene, d.h. auf messbaren Reaktionen im Ver-halten, auf Skalen oder in strukturierten klinischen Interviews. SolcheDaten dienen dann zur Klassifizierung normaler und dysfunktionalerpsychologischer Zustände und Persönlichkeitsmerkmale, häufig mitdem Ziel die Verhaltensstörung zu behandeln oder das Verhalten vonanderen zu modifizieren. Die Befürworter der buddhistischen Acht-samkeit und anderer Bewusstseinsdisziplinen dagegen gehen davonaus, dass die normalen Funktionsweisen selbst suboptimal sind; imAllgemeinen wird dabei nicht zwischen normalen und psychopatho-logischen Formen unterschieden. In der buddhistischen Psychologieist der normale Alltagszustand des Bewusstseins ein illusionärer, beidem das Individuum sich in einem Zustand unterhalb des vollständi-gen Wachzustands befindet. Entsprechend wird in der buddhistischenPsychologie auch erklärt, dass es möglich sei Bewusstseinszuständeund Einsichten in das Wesen des Geistes und der Realität zu erhalten,die weit über die von der Mehrheit der westlichen psychologischenAnsätze postulierten hinausgeht. Darüber hinaus handelt es sich beiAchtsamkeit um einen Ansatz für ein Verständnis bewusster Erfahrun-gen, der ohne festgesetzte Klassifizierung auskommt. Dabei geht esnicht primär um Quantifizierung, Kategorisierung, Verständnis oderModifikation der psychologischen Funktionsweise anderer Menschen,sondern darum, in sich selbst Bewusstseinszustände zu entwickeln, diemit größerer Aufmerksamkeit und Einsichten in die Arbeitsweise desGeistes und aller natürlichen für das menschliche Verständnis zugäng-lichen Prozesse zusammenhängen. Folglich ist die grundsätzliche„Währung“ der Achtsamkeit auch das Bewusstsein und dessen zahl-reiche Variationen oder Zustände. Diejenigen Klassifikationssysteme,die in der buddhistischen Psychologie auftauchen, versuchen derartigegeistige Zustände und Prozesse zu klären und sind tatsächlich sehrausgefeilt, wenn man sie mit den relativ jungen mentalistischen Kon-zepten der kognitiven Verhaltenstherapie vergleicht (Goleman, 1988).

Im Gegensatz dazu finden Bewusstseinszustände in den traditionel-len westlichen Wissenschaften kaum ernsthafte Beachtung, wobei esjedoch einige Ausnahmen gibt (z.B. James, 1958). Tatsächlich scheint

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sogar das gesamte Konzept eines „Bewusstseinszustands“ im Main-stream der westlichen Psychologie zu fehlen. Psychologen sprechenzwar von „Zuständen“ und „Persönlichkeitseigenschaften“, aber diesesind normalerweise auf bestimmte affektive Dimensionen begrenzt(z.B. „state anxiety“ vs. „trait anxiety“ etc.), anstatt ein breites Spek-trum gleichzeitig auftretender emotionaler, kognitiver, sozialer undphysiologischer Aspekte zu erfassen, durch deren Zusammenwirkenein bestimmter Bewusstseinszustand hervorgerufen und dargestelltwird. Dabei könnte es sich um eine Konsequenz der wissenschaftlichenAusrichtung auf einzhelne und fest umrissene psychologische Katego-rien handeln, eine Art des Verhaltensreduktionismus.

Obwohl manchmal auf Schlafzustände, Rauschzustände oder patho-logische Bewusstseinszustände eingegangen wird, scheint die einzig an-dere Option der „normale Wachzustand“ zu sein. In Wirklichkeit gibt esjedoch zahlreiche Bewusstseinszustände im Schlaf, die sich durch dasEEG und andere physiologische und Verhaltensmessungen in Polysom-nographiestudien erfassen lassen, aber diese Klassifikationen hören auf,sobald die entsprechende Person aufwacht (es gibt jedoch eine einfacheKategorie des „Wachseins“). Hier fängt die buddhistische Psychologiejedoch erst an. Vielleicht erforschen westliche Psychophysiologen gele-gentlich auch Variationen in der psychologischen und physiologischenFunktionsweise unter verschiedenen physiologischen Bedingungen(selbst sehr subtile wie eine Haltungsveränderung vom Liegen zum Sit-zen (Sloan et al., 1995); aber diese Unterschiede werden nicht hinsichtlichihrer erkennbaren Variationen im „Bewusstseinszustand“ konzeptiona-lisiert, obwohl die entsprechenden physiologischen, psychologischenund sozialen Aktivitäten und Verhaltensweisen sich auffallend vonein-ander unterscheiden – selbst von einer Haltung zur anderen. Genau umsolche mehr oder weniger subtilen Veränderungen geht es jedoch bei derAchtsamkeit, den fortwährenden und häufig nicht geordneten Stromdes menschlichen Bewusstseins in seinen vielen verschiedenen wahr-nehmbaren Formen. In der westlichen Psychologie wird jedoch das Kon-zept der „Bewusstseinszustände“ und Ansätze wie Achtsamkeit größ-tenteils mit Skeptizismus und Verachtung betrachtet: Wenn in den her-

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kömmlichen Verhaltenswissenschaften keine klare Vorstellung über Be-wusstseinszustände herrscht und es keine Tradition der Ausbildung be-wusster Aufmerksamkeit gibt, dann muss auch das Ideal eines höherenBewusstseinszustands und dessen Entwicklung – welche in der bu-ddhistischen Psychologie so zentral sind – lächerlich und ohne Grundla-gen erscheinen. Auf der anderen Seite machen in den Bewusstseinsdiszi-plinen die persönlichen Erfahrungen der verschiedenen Bewusstseins-zustände ihre Validität zur einer Selbstverständlichkeit.

Die Persönlichkeit, das Ich und das Selbst

Das Konzept eines stabilen Ichs, einer Persönlichkeit oder eines Selbstist in der westlichen psychologischen Theorie und deren Anwendungallgegenwärtig. Die Vorstellung eines relativ beständigen und kohä-renten Grundstocks psychologischer Merkmale durch die sich einMensch auszeichnet bildet tatsächlich eine der Grundsäulen der west-lichen Psychologie, obwohl das Konzept der Stabilität der Persönlich-keit im Laufe der Zeit in der psychologischen Literatur immer wiederin Frage gestellt und modifiziert wurde (Mischel, 2004; Roberts & Del-Veccio, 2000). In den Verhaltenswissenschaften könnte jedoch geradediese zentrale Rolle, welche die stabile individuelle Veranlagung spielt,dazu führen dass ein „Bewusstseinszustand“ zu einer unhaltbarenoder zumindest unbequemen Vorstellung wird: Wenn Bewusstseins-zustände transformativen Charakter haben, dann sind auch Veranla-gungen bezüglich bestimmter Verhaltensweisen nicht stabil und kön-nen sich verändern, wenn es zu Veränderungen des Bewusstseinskommt. Dadurch wird offensichtlich die Vorstellung in Frage gestellt,dass es eine starre Persönlichkeit gibt. Tatsächlich weisen auch neuereForschungen darauf hin, dass selbst bei kurzfristigen Test-Retest-Kor-relationen von Persönlichkeitstests – eine wichtige Maßeinheit für de-ren Stabilität – selten hohe Stabilitätsniveaus gemessen werden, son-dern die Koeffizienten normalerweise bei .55 oder weniger liegen (die-se erklären nur 30 % oder weniger der Varianz bei den Persönlichkeits-

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eigenschaften, sogar über ein bis zwei Jahre betrachtet (Roberts & Del-Vecchio, 2000)). Über mehrere Jahre hinweg betrachtet liegen die Sta-bilitätskoeffizienten sogar noch wesentlich niedriger. Die direkten Be-weise für die Konstanz der Persönlichkeitsstruktur sind daher rechtbegrenzt. Darüber hinaus scheint die Konsistenz der Messungen derPersönlichkeit und des Selbstkonzeptes durch eine Reihe sich häufigändernder Faktoren beeinflusst zu werden. Neben genetischen Einflüs-sen (die sich übrigens im Laufe der Zeit ebenfalls verändern können)kommen Umweltfaktoren, Transaktionen zwischen Person und Umge-bung sowie Interaktionen zwischen Vererbung, Person und Umgebunghinzu.

In der buddhistischen Psychologie dagegen wird die Vorstellung ei-nes klar abgegrenzten, größtenteils unveränderlichen Selbst oder einesindividuellen Identitätsgefühls als eine Illusion betrachtet, die von ei-nem Geist hervorgerufen wird, der nicht darin geübt ist, von einemAugenblick zum anderen nicht-wertende, achtsame Aufmerksamkeitwalten zu lassen. In der buddhistischen Psychologie wird das her-kömmliche Selbstkonzept lediglich als ein lose zusammenhängendesBündel vergänglicher körperlicher und geistiger Elemente betrachtet,einschließlich des Körpers selbst sowie der Empfindungen, Wahrneh-mungen, Gedanken und anderer geistiger Zustände, die in unser Be-wusstsein dringen (Goldstein, 1993; Rosenberg, 1998). BuddhistischemGedankengut zufolge halten wir an dem illusorischen Gefühl einer be-ständigen Identität fest, das von Wünschen und Aversionen motiviertist und sich aus unserer Unfähigkeit herleitet, ein achtsames Bewusst-sein aufrechtzuerhalten. Wenn man die Aufmerksamkeit jedoch auf dieErfahrungen des gegenwärtigen Augenblicks lenkt, wird einem klarwie unbeständig und veränderlich all die Eigenschaften sind, die wirals unser „Selbst“ ansehen: Im Laufe der Zeit verändern sich unsereKörper in ihrer Erscheinung und ihrem tatsächlichen physischen Auf-bau, und auch unsere Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedan-ken befinden sich in einem ständigen Fluss. Innerhalb einer solchenKonzeption scheint daher ein starres Selbstgefühl tatsächlich schwerzu rechtfertigen zu sein. Buddhistischem Gedankengut zufolge kann

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man nur durch systematisches und fortwährendes Üben von achtsa-mer Aufmerksamkeit zu der Einsicht gelangen, dass die tatsächlichenErfahrungen aus allen möglichen veränderlichen geistigen Zuständenund körperlichen Empfindungen bestehen, und dass unser normalesSelbstkonzept sowohl bei der Definition intrinsischer Eigenschaften alsauch bei deren Erneuerung in Zeit und Raum unberechtigterweise re-striktiv ist.

In der Summe konzentriert sich die buddhistische Psychologie somitauf die Prozesse und Veränderungen der bewussten Aufmerksamkeitund betrachtet eine konstante Persönlichkeit bzw. Selbst in den meistenFällen als leere Vorstellung. In der westlichen Psychologie wird ande-rerseits die Bedeutung andauernder psychologischer Persönlichkeits-merkmale sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht (z.B.in Psychotherapie und Persönlichkeitstheorie) betont, und „Bewusst-seinszustände“ werden als Erklärungsprinzip, das zumindest teilweisedie Wechselfälle bei Persönlichkeitsmerkmalen begründen könnte, imAllgemeinen nicht beachtet. Offensichtlich sollten diese widersprüch-lichen Standpunkte jedoch berücksichtigt werden, wenn Achtsamkeitals klinische Intervention von Therapeuten eingesetzt werden soll, dieprimär im verhaltenstherapeutischen Paradigma ausgebildet wurden.

Die meisten Theorien der westlichen Psychologie und deren thera-peutische Anwendung zielen konsequent auf die Stärkung des Ichs,die Verbesserung des Selbstwertgefühls oder „das Einfordern der ei-genen Bedürfnisse“. Die Ziele sind dabei häufig sehr spezifisch (erfolg-reiche Behandlung von Depressionen, Ängsten, Borderline-Syndrom,Trauma etc.) und ihrem Wesen nach individueller Natur – mein Prob-lem, meine Störung, meine Unzufriedenheit. In der buddhistischenPsychologie fällt diese individuelle Dimension jedoch weg, und dieZiele bei den Meditationsübungen haben einen universelleren undnicht primär psychotherapeutischen Charakter. Die entsprechendenEigenschaften werden normalerweise mit Begriffen umschrieben wieErwachen, eine zutreffende Wahrnehmung entwickeln, sich seiner Er-fahrungen vollständiger bewusst werden, und sich von den Bindun-gen an Wünsche und Aversionen zu befreien. In der buddhistischen

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Psychologie wird nicht zwischen depressiven, ängstlich-neurotischenund „normalen“ Menschen unterschieden, sondern man geht davonaus dass dieser Prozess universell zur Verfügung steht und dabei imAllgemeinen einem gemeinsamen Weg folgt, auch wenn es dabei zeit-weise Unterschiede geben mag. Tatsächlich ist dabei die Einsicht selbstdas Ziel, anstatt ein Problem beheben zu wollen oder sich um seinepersönliche Zufriedenheit zu kümmern, wie dieser Ausdruck häufigverstanden wird.

Dennoch sind an dieser Stelle auch einige Warnhinweise angebracht:Um die Diskussion zu verkürzen habe ich vielleicht ein zu einfachesBild der Unterschiede zwischen dem Paradigma der Verhaltenswissen-schaften und dem buddhistischen gezeichnet. Selbstverständlich gibtes zwischen den beiden auch offensichtliche Gemeinsamkeiten undnicht nur Unterschiede. Dennoch kann die Darstellung der Unterschie-de zwischen den beiden Ansätzen vielleicht Psychologen und Thera-peuten behilflich sein, wenn diese den Einsatz von Achtsamkeit als kli-nische Intervention erwägen. Ein Überblick über einige dieser Unter-schiede ist in Tabelle 1 dargestellt.

Darüber hinaus sollte noch erwähnt werden, dass die buddhistischePsychologie keineswegs monolithisch ist und ich bestimmte buddhi-stische Konzepte vielleicht auf eine Art interpretiert habe, die für eineweitere Diskussion offen ist.

Dennoch hat die vorhergehende Erörterung der Achtsamkeit hof-fentlich einige der impliziten und expliziten Annahmen der MBSR er-hellen können. Bei der Interpretation der wissenschaftlichen Ergebnis-se (vgl. das Kapitel von Grossman et al., in diesem Band) könnte dieÜberlegung von besonderer Bedeutung sein, dass MBSR und das Übenvon Achtsamkeit nicht darauf ausgerichtet sind den einzelnen von sei-nen gegenwärtigen Beschwerden zu heilen (obwohl dies in manchenFällen durchaus vorkommen kann), oder eine Art Entspannungsreak-tion hervorzurufen, die sich auf alltägliche Aktivitäten übertragenlässt. Tatsächlich kommt dabei der Behandlung der Symptome derTeilnehmer oder dem Versprechen direkter Erleichterung kaum odergar keine Bedeutung zu.

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Tabelle 1: Eine Gegenüberstellung wichtiger Konzepte des verhaltenswissen-schaftlichen Mainstreamparadigmas mit den Bewusstseinsdisziplinen, ein-schließlich auf Einsicht beruhender Meditation und Üben von Achtsamkeit.

Verhaltenswissenschaftliches Para-digma

Bewusstseinsdisziplinen

Verifizierbare Phänomene zentral Bewusstsein ist zentrales Anliegen

Normales Wachbewusstsein optimal Normales Bewusstsein äußerst subop-timal

Vielzahl von Bewusstseinszuständenwerden ignoriert oder pathologisiert

Multiple Bewusstseinszustände exis-tieren

Skepsis oder Negation höherer Be-wusstseinszustände

Höhere Bewusstseinszustände sinderreichbar

Keine Tradition des Übens von Be-wusstsein

Intensives geistiges Üben erforderlich

Ziel: ICH glücklich (in einigen Tradi-tionen der Selbstverwirklichung)

Letztendliches Ziel ist Befreiung, Er-wachen

Glück = Stimulation, Neuheit, Aktivi-tät, Akkumulation, Macht

Glück = Frieden, Gleichmut, Mitge-fühl, Freiheit von Bindungen, Akku-mulation

Psychotherapie und ein gesundes Ichsind zentral

Psychotherapeutische Aspekte wer-den größtenteils vernachlässigt

Letztendliche Bewertung muss wis-senschaftlich, intellektuell und verhal-tensbezogen sein

Ansatz ist von Natur aus introspektiv

Der optimale und einzige Weg zumWissen führt über den Intellekt

Sprache und abstrakte Gedankensind für Verständnis nicht ausrei-chend

Stütz sich ausschließlich auf Selbst-Berichte oder Beobachtungen von an-deren

Basiert vollkommen auf persönlichenErfahrungen

Selbstberichte und beobachtendeMessungen sind häufig naiv, begrenzt

Ganzes Spektrum und Tiefe der per-sönlichen Erfahrungen

Klare Ich-Grenzen, psychische Stabili-tät, Individualität

Buddhismus: grundsätzliches Kon-zept des nicht-Selbst, Unbeständigkeit

Korrektiv: modifiziere vermeidende,wertende dysfunktionale Verhaltens-weisen

Konstruktivistisch: Spektrum und Fle-xibilität der Fähigkeiten werden er-weitert

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Wie zuvor erläutert richtet sich achtsame Aufmerksamkeit auf ein bes-seres Verständnis der eigenen inneren und äußeren Welt. Alle messba-ren Veränderungen durch achtsame Aufmerksamkeit müssen vor die-sem Hintergrund betrachtet werden. Daher sollten die normalen vompsychosozialen Kontext abhängigen Variablen am besten im Kontexteines grundlegenderen psychologischen Prozesses verstanden werden,anstatt allein die Symptomreduktion zu betrachten.

Literatur

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Abbildung 2: Ein schematisches Diagramm der Entwicklung/Evolution desBewusstseins, abgeleitet von Edelman & Tonino (2000). Die frühesten Be-wusstseinsniveaus sind mit dem Körper verbunden, und zunehmend höhereBewusstseinsniveaus kulminieren schließlich in der menschlichen Fähigkeitzu einem komplexen Identitätsgefühl, das mit Hilfe von Sprache und symbo-lischen Gedanken vermittelt wird. Bitte beachten Sie die Ähnlichkeiten in derProgression des Bewusstseins zwischen diesem neurobiologischen Modell unddem buddhistischen Konzept.

Wohin?

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