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DEMOKRATISCHES SELBST UND DILETTANTISCHES SUBJEKT DEMOKRATISCHE BILDUNG UND ERZIEHUNG IN DER SPÄTMODERNE Roland Reichenbach Habilitationsschrift, eingereicht an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz 24.9.1999

DEMOKRATISCHE BILDUNG UND ERZIEHUNG IN … · 1.2.4 Alain Touraine: Spätmoderne Demodernisierung 50 1.2.4.1 Von der „Hochmoderne“zur „Tiefmoderne“ 51 1.2.4.2 Das „tiefmoderne“Subjekt

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  • DEMOKRATISCHES SELBST UNDDILETTANTISCHES SUBJEKT

    DEMOKRATISCHE BILDUNG UND ERZIEHUNGIN DER SPTMODERNE

    Roland Reichenbach

    Habilitationsschrift,eingereicht an der Philosophischen Fakultt der

    Universitt Freiburg/Schweiz

    24.9.1999

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    ...da die Menschen nicht Herr bleiben ber das, wassie tun, da sie die Folgen nicht kennen und sich auf

    die Zukunft nicht verlassen knnen, ist der Preis, densie dafr zahlen, da sie mit anderen ihresgleichen

    zusammen die Welt bewohnen, der Preis, mit ande-ren Worten, fr die Freude nicht allein zu sein, und

    die Gewiheit, da das Leben mehr istals nur ein Traum

    Hannah Arendt

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    Inhalt

    Vorbemerkungen 13

    Einleitung 15

    I.Prliminarien

    1. Bildung im Lichte soziologischer Signaturen der Moderne 251.1 Bildung 251.1.1 Zur Vielfalt eines Begriffs 261.1.2 Vom Gutzur permanenten Aufgabe 271.1.3 Zur Aktualittdes Bildungsbegriffs 301.1.4 Dimensionen der Bildung 321.2 Moderne 371.2.1 Moderne als Diskurskonstrukt 381.2.2 Ulrich Beck: Individualisierung und Standardisierung 401.2.2.1 Die drei Hauptthesen 411.2.2.2 Kinder der Freiheit? 421.2.3 Richard Mnch: Paradoxien der Moderne 461.2.4 Alain Touraine: Sptmoderne Demodernisierung 501.2.4.1 Von der Hochmodernezur Tiefmoderne 511.2.4.2 Das tiefmoderneSubjekt 541.2.4.3 Der Verlust der politischen Leidenschaft und die

    Schule des Subjekts 561.2.5 Modernitt und Kontingenzbewutsein 581.3 Bildung als modernes Glck und als Unglck 621.3.1 Zur Wahrnehmung des Glcks 631.3.2 Zur Unbescheidenheit eines Begriffs ...

    ... und der Definition von Bildung 671.3.3 Zur Dramaturgie soziologischer Modernediagnosen 70

    2. Sptmoderne Skepsis und ihre anthropologische Aktualitt 752.1 Vorbemerkungen 752.2 Sptmoderne: Ein Kompromibegriff 772.2.1 Bemerkungen zum modern-postmodernen Diskurs 782.2.2 Sptmoderne als radikalisierteund reflexiveModerne 832.3 Anthropologische Skepsis 852.3.1 Helmuth Plessner: Stehen im Nirgendwo 862.3.1.1 Natrliche Knstlichkeit 872.3.1.2 Vermittelte Unmittelbarkeit 892.3.1.3 Der utopische Standort 922.3.1.4 Kommentar: Exzentrische Positionalitt als Bildungsgrund 932.3.2 Eugen Fink: Koexistierende Freiheiten 952.3.2.1 Die Sitte lebt: Selbstdeutung und Weltdeutung 96

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    2.3.2.2 Beratung und Notsituation 1012.3.2.3 Erziehung und Freiheit: Die intergenerative Fragegemeinschaft 103

    II.Demokratisches Leben

    3. Demokratie als Erziehungsprojekt 1113.1 Erziehung zum politischen Leben: Drei Klassiker 1123.1.1 Platon: Die sich selbst zerstrende Demokratie 1123.1.1.1 Vorbemerkend: Die unersttliche Freiheit 1133.1.1.2 Das Erziehungsprogramm 114

    Exkurs I: Athen zur Zeit Platons 1163.1.2 Jean-Jacques Rousseau: Eine Regierungsform fr Gtter 1193.1.2.1 Radikale Volkssouverntitt 1203.1.2.2 mile, ein Erziehungspurismus 1223.1.2.3 Eine anti-politische Utopie? 1243.1.3 John Dewey: Erziehung als Demokratie 1273.1.3.1 Schulen als embryonale Gesellschaften 1283.1.3.2 Dewey postmodern? 1313.2 Demokratische Erziehung im Lichte kantischer Ethiken 1333.2.1 Emanzipation, Diskursfhigkeit, Postkonventionalitt 1353.2.2 Lawrence Kohlberg: Moralische als demokratische Erziehung 1373.3 Klassische und zeitgenssische Demokratietheorien 1423.3.1 Zwischen Polisidyll und massendemokratischem Realismus 1433.3.2 Erziehung und deliberative Demokratie 149

    4. Konturen demokratischer Kultur 1554.1 Staatsform und Lebensform 1554.1.1 Demokratie als Staatsform: Idealisierung und Enttuschung 1564.1.2 Demokratie als Lebensform: Gleichberechtigung und

    Unverbindlichkeit 1634.1.2.1 Was sind Lebensformen? 1634.1.2.2 Moderne Lebensformen 1664.1.2.3 Demokratische Lebensformen 1674.2 ffentlichkeit und Privatsphre 1714.2.1 Hannah Arendt: Polis und Haushalt 1724.2.1.1 Das antike Polisideal und der neuzeitliche Aufstieg des Sozialen 1724.2.1.2 Kritisch wrdigend: Die Moral der Polis 1774.2.2 Richard Sennett: Tyrannei der Intimitt 1794.3 Das Leben, die Politik und das Politische 1844.3.1 Politische Arenen, politisches Handeln und politische Abstinenz 1854.3.2 Politische Tugend demokratische Tugenden 1904.3.2.1 Tugend und Kompetenz 1904.3.2.2 Die Exklusivitt politischer Tugend 1924.3.2.3 Lebensweltliche Politik: Demokratische Tugenden 197

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    5. Zum moralphilosophischen Hintergrund 2035.1 Liberale Demokratie gute Polis: Das Gerechte und das Gute 2045.1.1 Die Streitpunkte der Kommunitarismusdebatte 2055.1.2 Charles Taylor I: Der Vorrang des Guten vor dem Gerechten 2135.1.2.1 Inhaltlicher Neutralismus? 2145.1.2.2 Politik der Anerkennung 2155.1.2.3 Hypergter: Quellen des Konflikts 2215.2 Das Selbst: Zwischen Situiertheit und Atomisierung 2265.2.1 Das Selbst zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft 2275.2.2 Charles Taylor II: Das Selbst als moralische Kategorie

    2335.2.2.1 Selbstinterpretationen und starke Wertungen 2335.2.2.2 Moralische Kartographie 2375.3 Autonomie und Authentizitt: Eine tragische Kollision? 2415.3.1 Ein eigenesLeben fhren: Die Kultur der Authentizitt 2435.3.2 Die Freiheit im Konflikt mit sich selbst 250

    III.Selbst und Subjekt

    6. Das Selbst und seine Entwicklung 2576.1 Zur Entwicklungspsychologie des Selbst 2576.1.1 Zum psychologischen Begriff des Selbst 2576.1.1.1 Allgemein-psychologische Annherungen 2596.1.1.2 Sozialpsychologische Annherungen 2626.1.1.3 Eine Definition des Selbst 2646.1.1.4 Konzeptionen des moralpsychologischen Selbst 2666.1.2 Das Selbst im Lichte der strukturgenetischen Tradition 2706.1.2.1 Harte und weiche Stufen 2716.1.2.2 Moralstufe und Selbststufe 2736.1.2.3 Problematische Stufenbeschreibungen 275

    Exkurs II: Die Hherentwicklungsidee und dersozial-kognitive Primat 282a) Genesis und Geltung von Moral 282b) Zum Primat der Kognition 285c) Zum Primat des Sozialen 286

    6.2 Michel Foucault: Die Sorge um sich 2916.2.1 Die Selbstsorge als die Sorge um das Gute 2926.2.2 Ethos: Die Kunst der Lebensfhrung 3006.2.3 Zum Narzimus-Verdacht 303

    Exkurs III: Christopher Lasch zum homo psychologicus 3056.3 Axel Honneth: Das Selbst im Kampf um Anerkennung 3076.3.1 Liebe, Recht und Solidaritt 308

    Exkurs IV: Hegel, Pestalozzi, Kohlberg eine Gegenberstellung 3146.3.2 Moralische Kommunikation und die Entwicklung des Selbst 321

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    7. Das Bildungs- und Erziehungssubjekt 3277.1 Keine Nekrologie des Selbstbestimmungsgedankens 3277.1.1 Aufstieg, Fall und Vergleichgltigung des Subjekts 3297.1.2 Probleme der Subjektivitt 3337.1.2.1 Einheit oder Vielheit? 3337.1.2.2 Autonom sein? 3387.2 Pdagogik und das dilettantische Subjekt 3397.2.1 Das dilettantische Subjekt 3407.2.1.1 Die peinliche Figur des Dilettanten 3407.2.1.2 Kennzeichnungen des dilettantischen Subjekts 344

    a) Zur Anthropologie des dilettantischen Subjekts 344b) Zur Psychologie des dilettantischen Subjekts 348c) Zur Moral des dilettantischen Subjekts 353Exkurs V: Dilettantismus, Ironie und Demokratie 357

    7.2.2 Erziehung und Bildung als Dilettantismus 3627.2.2.1 Nicht-souverne Bildung 3627.2.2.2 Nicht-souverne Erziehung 3657.2.3 Erziehung und die Zumutung, autonom zu sein 369

    IV.Demokratische Erziehung und Bildung

    8. Demokratische Erziehung 3758.1 Vorbemerkend: Wovon handelt demokratische Erziehung? 3758.2 ber die Einfhrung in das Ethos des demokratischen Kampfes 3788.2.1 Negotiation und Hypergut 3798.2.1.1 Erziehung als Negotiation 3798.2.1.2 Erziehung als Kampf 3848.2.2 Tugenden der Diskursivitt 3888.2.3 Demokratischer Umgang: Die Citoyenitt 3918.3 ber die Einfhrung in den Preis der Freiheit 3938.3.1 Freiheit als Problem 3948.3.2 Der Preis fr Wahlfreiheit und Interpretationsfreiheit 3968.3.3 Die Dialektik der demokratischen Gemeinschaft 4008.4 ber die Scham der Erziehenden 4058.4.1 Zur pdagogischen Bedeutung von Scham und Inkompetenz 4058.4.2 Die Kultur der Imperfektibilitt als ein Tradieren von Fragezeichen 4108.5 Fazit 412

    9. Demokratische Bildung 4179.1 Bildung ohne Ziel? 4179.1.1 Das Ethos der Transformation 4189.1.1.1 Die ewige Baustelle 4199.1.1.2 Beliebigkeit? Oberflchlichkeit? Leichtfertigkeit? 4259.1.2 Die Pflege der Selbstirritation 427

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    9.1.2.1 Irritation und Selbsttuschung 4279.1.2.2 Bildung und Anti-Kitsch 4309.2 Bildung und der Skandal des Lebens 4359.2.1 Die Welt als Ansto und rgernis: Das emprte Selbst 4359.2.2 Der nihilistische Schatten 4399.3 Die Politik des demokratischen Selbst 4429.3.1 Je me souviens: Nostalgische Identitt? 4439.3.2 Das Gesprch das wir sind: Widerstreit im Selbst 4529.3.3 Selbst und Demokratie 4579.4 Fazit 462

    Schlubemerkungen 469

    Literaturverzeichnis 471Namenregister 497

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    Danksagung

    An erster Stelle mchte ich Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz Oser, Universitt Freiburg i. e.,ein Wort des groen Dankes aussprechen, welches sich freilich nicht nur auf die Un-tersttzung der vorliegenden Arbeit beziehen kann. Die zehnjhrige Zusammenarbeitmit Prof. Oser stellt fr mich in beruflicher und persnlicher Hinsicht eine groe Be-reicherung und fruchtbare Auseinandersetzung dar, ein Jahrzehnt oft inspirierenderDiskursivitt, durch welche ich erfahren konnte, da es im akademischen wie im prak-tischen Leben darauf ankommt, sich zu verndern, theoretische und praktische Sicher-heitsbedrfnisse zumindest zeitweilig zu berwinden und das Neue, und damit sichselber, zu versuchen. Zentrale Fragestellungen und pdagogische berzeugungen, diein der vorliegenden Arbeit behandelt werden, verdanke ich dem kritischen, nie lustlo-sen Dialog mit Prof. Oser.Zum Verfassen dieser Habilitationsschrift durfte ich mageblich von einem zweijhri-gen Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds zur Frderung der wissenschaftli-chen Forschung profitieren. Fr dieses Privileg bin ich den Verantwortlichen des Nati-onalfonds zu groem Dank verpflichtet.Whrend meines zweijhrigen Aufenthalts an der Universit de Montral ergaben sichviele Mglichkeiten, zentrale Aspekte meiner Arbeit zu besprechen. Danken mchteich besonders Prof. Grard Potvin, Prof. Guy Bourgeault, Prof. Daniel Weinstock undProf. Lukas Sosoe. Die fruchtbaren Diskussionen mit Prof. Potvin ermglichten miraristotelische Gegenreflexionen zu einigen kantisch inspirierten Fragestellungenbzw. Behauptungen, von denen ich nicht immer abgerckt bin. Es war mir eine Freude,in Prof. Bourgeault einen Gesprchspartner gefunden zu haben, der den pdagogischbeliebten Relativismus- und Beliebigkeitsvorwurf gegenber sptmodernem Denkennicht nur nicht teilt, sondern als irrelevant betrachtet. Ihm verdanke ich wertvolle Hin-weise auf franzsischsprachige Autoren, welche in der deutschsprachigen Pdagogikwenig rezipiert werden. Prof. Weinstock verdanke ich wertvolle Einblicke in die Apo-rien der Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte, Prof. Sosoe anregende Diskussionenber die gleichursprnglichen und widerstreitigen Wurzeln derselben in Aufklrungund Romantik.Fr historisch und konzeptionell bereichernde Hinweise sowie die Kritik an meinenberlegungen bin ich mehreren Mitgliedern der Kommission Erziehungs- und Bil-dungsphilosophie der Deutschen Gesellschaft fr Erziehungswissenschaften dankbar.Hervorheben mchte ich an dieser Stelle Prof. Meyer-Wolters, durch welchen ich aufdas Werk Eugen Finks gestoen bin, und Prof. Arnold Schfer, dessen kommunikati-onstheoretische Einwrfe und Analysen mich in manchem Gedankengang korrigierten.Meiner Frau Nicolette danke ich herzlich fr ihre langjhrige Untersttzung und insbe-sondere fr die nicht selbstverstndliche Bereitschaft, ein eher unstetiges, manchmalunruhiges Familienleben zu fhren, welches die akademische Ttigkeit, vor allem mitArbeitsvorhaben wie diesem, mit sich bringt. Gegenber unseren Kindern Cdric,Chlo und Julien mchte ich die Hoffnung aussprechen, meine Aufgaben als Familien-vater in dieser Zeit nicht allzu heftig versumt zu haben.

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    Vorbemerkungen

    Die vorliegende Arbeit wurde von der Intuition gefhrt, das sich das spezifische We-sen der demokratischen Lebensform auch im Selbst des Einzelmitglieds derselben aufspezifische Weise reprsentieren mte, da also das Selbst, sofern es fr die demo-kratische Lebensform bedeutsam ist, im Grunde selbst demokratisch verfatseinmu. Dieser Intuition ist der vielleicht verwirrende bertitel, v.a. DemokratischesSelbst, zu verdanken. Htte Demokratie allein mit Volksherrschaftzu tun, knnte derTitel nur irritieren, schiene es doch gnzlich diffus, von einem volksherrschaftlichenSelbstzu sprechen. Doch bekanntlich ist das Adjektiv demokratischvieldeutig, undstrittig, was mit Volksherrschaftgemeint wird. Es bleibt aber zu hoffen, da die zudiskutierenden Aspekte des demokratischen Lebens und der Erziehungs- und Bil-dungsprozesse, welche die Teilnahme an einem solchen unter den auch prekren Be-dingungen der Sptmoderne ermglichen und begnstigen, die Titelwahl als angemes-sen erscheinen lassen.Es wre beruhigend gewesen, die Bedeutung der demokratischen Bildung und Erzie-hung in der Sptmoderne in einem stringenten und einheitlichen Vokabular und mitgrerer Systematik zu diskutieren, als es mir schlielich mglich gewesen ist. Dieserfr akademische Arbeiten in der Regel erwartbare Standard kann hier mitunter nur ent-tuscht werden. Es sollte mir nicht gelingen, die Thematik mit einem einheitlichen the-oretischen Deutungsmuster systematisch zu behandeln. Dies wre vielleicht auch imHinblick auf den Umfang der vorliegenden Schrift wnschenswert gewesen. Nebenpersnlichen Kompetenz- und Bildungsdefiziten, die fr diesen Mangel schuldig seinmgen, mchte ich auf zwei thematisch immanente Grnde verweisen, warum eineeinheitlich-systematische Herangehensweise kaum gelingen kann. Erstens scheint dasvieldeutige und mannigfaltige Phnomen des demokratischen Lebens selber Annhe-rungen auf verschiedenen Ebenen mit nicht nur unterschiedlichen, sondern sogar wi-derstreitigen Interpretationsmustern zu fordern, deren Quellen sich kaum um die aka-demische Sehnsucht nach kategorial trennbaren Kompartementen der Wissensdiszipli-nen kmmern, sondern vielmehr oft gleichzeitig anthropologische, ethische, politische,soziologische, erziehungs- und bildungstheoretische Komponenten aufweisen. Diesernur scheinbar milichen Lage darf vielleicht die Hoffnung entgegengesetzt werden,da im folgenden wenigstens annherungsweise erkennbar wird, was Wittgenstein im67. Paragraphen seiner Philosophischen Untersuchungen (1993) so ausgedrckt hat:die Strke des Fadens liegt nicht darin, da irgend eine Faser durch seine ganze Lngeluft, sondern darin, da viele Fasern einander bergreifen. Der zweite Grund, warumdie Arbeit nicht immer ohne belletristische oder spekulative Note auskommt, liegt imBegriff der Freiheit, ohne welchen das Wesen der demokratischen Lebensform kaumangemessen erhellt werden kann. Freiheit ist nicht nur kein empirischer Begriff, son-dern auch theoretisch kaum behandelbar, weil ihre Existenzdurch keine Argumenta-tion bewiesenwerden kann. Freiheit ist vielmehr eine kontrafaktische Setzung, eine(mgliche) Selbstbeschreibung des Menschen, eine notwendige Voraussetzung fr denmoralischen und rechtlichen Diskurs, und damit auch fr den Erziehungsdiskurs. Dochdaraus folgt weder ihre Wirklichkeitnoch da klar ist, was unter Freiheit unabding-bar verstanden werden mu. Klar erscheint blo, da jede Rede von Verantwortungohne Freiheitsunterstellung sinnlos wre. Dies ndert nichts daran, da die Freiheit

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    eher einer plante sauvage(Touraine 1997, S. 80) als einer Zuchtblume im huslichenTopf gleicht.Diese beiden Grnde lassen so manchen Gedanken, der im folgenden geuert unddiskutiert wird, bisweilen dilettantischerscheinen. Es wird zu zeigen sein, da eseine nun positiv zu konnotierende intrinsische Verbindung zwischen Freiheit, Di-lettantismus und Demokratie gibt, die fr ein sptmodernes Denken um demokratischeBildung und Erziehung nicht nur eingestanden werden mu, sondern stark gemachtwerden kann. Diesem Unterfangen ist die vorliegende Arbeit gewidmet, die in metho-discher Hinsicht als theoretische Explorationsstudiebezeichnet werden knnte.

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    Einleitung

    Seit der Antike kann mit (groen) Unterbrchen eine demokratiekritische Traditionnachgezeichnet werden, die das demokratische Selbstregieren u.a. deshalb ablehnt,weil es inkompetenten Mehrheiten zu Entscheidungs- und Deutungsmacht verhelfe undgegenber moralischer Wahrheit indifferent sei. Erst nach dem zweiten Weltkriegkonnte sich Demokratie ber weite Strecken des Denkens und Lebens einen so gutenNamen machen, da sie auch moralisch positiv konnotiert wurde und in der Folgevielmehr Demokratiekritik suspekt geworden ist (vgl. Sartori 1992; Schmidt 1995).Whrend es in der Vorkriegs- und Zwischenkriegszeit im Europa des 20. Jahrhundertsnoch mglich gewesen ist, die demokratische Dimension des Lebens in elitistischerManier zu kritisieren, z.B. als Kult der Inkompetenten(Faguet 1911), der eine egali-tre Kultur von Dilettanten hervorbringe und wahre Bildungzunehmend verdrnge(vgl. Kassner 1910), wird Demokratie im Anschlu an die Schrecken der politischenTyrannei zur Hoffnungstrgerin auch im Erziehungs- und Bildungsgedanken, wiewohldie enge Verbindung von Demokratie und Erziehung natrlich schon frher etwa vonDewey (1916) postuliert worden ist. Der gute Name der Demokratie verhindert je-doch zumindest tendenziell, sich auch ihrem Preis und ihrer Ambivalenz Rechenschaftzu geben, aus denen sich die alte Demokratiekritik noch nhrte, und verfhrt auch p-dagogische Reflexion mitunter dazu, das demokratische Projekt der Moderne so aufzu-fassen, als ob es einen eindeutigen und eindeutig wnschenswerten Horizont vorzeich-nen wrde, nach welchem sich Erziehung und Bildung zu richten htten. Die hohenAnforderungen und Erwartungen an dieDemokratie bzw. das demokratische Lebenschlagen sich denn auch in Konzeptionen von staatsbrgerlicher, politischer und de-mokratischer Bildung und Erziehung nieder, Konzeptionen, die von der Idee leben,derzufolge das staatsbrgerlich, politisch und ethisch-demokratisch Defizitre im Ein-zelindividuum berwunden werden msse und der mndige, sich interessierende undam ffentlichen Leben teilnehmende Citoyen, das sich aus ethisch-moralischen Grn-den einschaltende politische Subjekt als ein (moralisches) Bildungssubjekt Ziel vonErziehungsbemhungen und Bildungsprozessen zu sehen sei. Diese pdagogischenIdeale setzen nicht nur ein ungebrochenes Verhltnis zur Dimension des Demokrati-schen voraus, sondern auch den Glauben, da sich die einstmals kritisierte Inkompe-tenz prinzipiell und fr mglichst viele junge bzw. zuknftige BrgerInnen abbauenlt, da also hohe demokratische Partizipation und hohe politisch-ethische Kompe-tenz der mglichst Vielen miteinander hergehen knnen.In der vorliegenden Arbeit wird hingegen versucht, ohne diesen pdagogischen Opti-mismus, ohne das autonome, souvern handelnde und deutende Subjekt als Leitzielauszukommen und der alten Demokratiekritik dort recht zu geben, wo sie auch heutegute, wenn auch nicht unbedingt politisch korrekte Grnde angeben kann, ohne jedochihren Antidemokratismus zu teilen. Es soll jedoch nicht argumentiert werden, da diehohen Ziele demokratischer Erziehung und Bildung unrealistischseien, sondern gewissermaen schlimmer da sie auch als regulative Ideen, die den Erzie-hungsproze steuern und den Bildungsprozess formen sollen (oder wrden), nicht n-tig sind, ja, da sie sogar den Blick auf Besonderheiten der demokratischen Lebens-form verengen. Ausdrcklich wird bejaht werden, da Demokratie, Inkompetenz undDilettantismus insofern intrinsisch zusammenhngen, als die demokratische Praxis im kleinen wie im groen eine Praxis der Freiheit, Freiheit aber ein Gegenbegriff

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    zu Souvernitt darstellt (vgl. Arendt 1994, 1996). Das Freiheit praktizierende Subjekterfhrt sich immer auch als inkompetent und dilettantisch, es versucht sich (Fink 1970)und verdankt den Versuch allein seiner Nicht-Souvernitt. Ein solches Denken, wel-ches sich nicht nur aus antiken Quellen nhrt, sondern auch Entsprechungen in dermodernen Pdagogik findet, verabschiedet sich weniger vom Autonomiegedanken alses diesen gerade in Anlehnung an einen viel lteren Freiheitsbegriff als dem kanti-schen, der Autonomie partout als moralische Autonomie versteht uminterpretiert,nmlich nicht als stabile Kompetenz oder bersituative Eigenschaft des Subjekts ver-steht, sondern als gesellschaftliche und intersubjektive Zumutung an die Person. Zielder Erziehung wre dann nicht die Autonomie des (moralischen) Subjekts, sondern dieBereitschaft des Selbst, die Zumutung der Freiheit zu bernehmen, wo es die Situation(subjektiv) erfordert. Dieser bescheidenere Begriff von Freiheit, mit welchem postu-liert wird, da Freiheit nur in ihrem Gebrauch existiert und nie auerhalb desselben,nicht als Eigenschaftsbeschreibung des reifen oder gebildeten oder mndigen Men-schen und nicht als moralisch und entwicklungstheoretisch eindeutig qualifizierbaroder quantifizierbar, sondern hchstens als rechtlich und/oder moralisch verlangteZumutung und Pflicht, wird hier nicht blo deshalb gewhlt, weil er eine weiteremgliche Perspektive auf Erziehung und Bildung darstellt, sondern vielmehr, weil erfr die sptmoderne Situation, die es zu umreien gilt, als geeigneter betrachtet wird,als Begriffe, die Freiheit nur mit Termini der moralischen Kompetenz zu beschreibenvermgen und dazu fhren, die demokratische Dimension des Lebens als moralischeindeutig bewertbar zu verstehen. Die sptmoderne Situation legt hingegen offen, wienostalgisch die Idee eines Bildungssubjekts geworden ist, das sich trotz normativerberdeterminiertheit der Moderne, trotz Fragmentiertheit und Widersprchlichkeitlebensweltlicher Erfahrungen und systemischer Imperative zur integrierenden Einheitund Ganzheit vervollkommnet. Mit dem demokratischen Selbst soll eine Mentali-ttbezeichnet werden, eine Weise der Selbst- und Weltinterpretation, die sich nichtdem Perfektibilittsglauben, sondern blo einem Ethos der Transformation verpflichtetsieht, der Freiheit also, sich zu verndern, ohne ber die Bedeutung der Vernderungzu verfgen. So scheint es dem Selbst mglich zu sein, seine Lust auf Ganzheit(Sennett 1994) zu zgeln, die eigenen Vervollkommnungstrume auch ironisch zu deu-ten und die Schwchen und die Unverbesserlichkeitder anderen zu akzeptieren. Mitden Merkmalen des demokratischen Selbst, das die Stimmenvielfalt in seinem Innernaushalten und schtzen lernt und sich nicht der Tyrannei eines, von einem vermeintli-chen Hypersubjekt(Welsch 1995) vorgeschriebenen Entscheidungsprinzips, devotund auf Dauer unterwirft, knnten Kennzeichnungen geliefert werden, die einer mini-malen Moral der wechselseitigen Achtung frderlich scheinen. Pdagogisch gilt esdeshalb, den ethischen Gehalt einer Kultur der Imperfektibilitt zu ntzen, die den di-lettantischen Charakter des Menschen als Quelle von Freiheit und Anla fr wechsel-seitige Achtung erkennt.

    Die Arbeit ist in vier Teile und neun Kapitel gegliedert. Im ersten Teil, Prliminarien,erfolgen zwei einfhrende Kapitel, (1) zur Bildung im Lichte soziologischer Signatu-ren der Moderne und (2) zur sptmodernen Skepsis und ihrer anthropologischen Ak-tualitt. Im ersten Kapitel geht es um einen Abri relevanter Aspekte und Dimensio-nen des Bildungsbegriffs, um soziologische Diagnosen der modernen Situation undschlielich um eine (vorlufige) Problematisierung des Bildungsgedankens im Hinblick

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    auf die mehr oder weniger dramatischen Charakterisierungen der Moderne. Dieses Ka-pitel liefert einige Ausgangspunkte, welche sich in der weiteren Argumentation immerwieder bemerkbar machen und weiter verdeutlicht werden; unter anderen wird eineDefinition des Bildungsbegriffs herausgeschlt, auf den Sachverhalt verwiesen, daBildung nicht nur ein modernes Glck darstellt, sondern auch mit Unglck verbundenist, und da der klassische Bildungsbegriff der Moderne im Lichte zeitgenssischer,soziologischer Modernediagnosen, welche auch als dramaturgisch berspitzt kritisiertwerden, einerseits problematische Seiten aufweist, andererseits ein kritisches Potentialvorweist, das aufzugeben fr die demokratische Lebensform kaum wnschenswert seinkann.Im zweiten Kapitel werden neben einer kurzen Diskussion zu den Begriffen der Post-moderne und der Sptmoderne mit Helmuth Plessner und Eugen Fink zwei moderneAnthropologien in Erinnerung gerufen, die auch als Anthropologien der Moderne fun-gieren. Beide Autoren lassen sich politisch kaum ideologisieren, was sich fr die wei-teren berlegungen zum demokratischen Selbstm.E. als ntig und fruchtbar erweist.Mit dem Denken Plessners und Finks kann erkannt werden, wie diffus die Rede eineswahren Selbstim Grunde ist, die einen groen Teil des populren psychologischenDiskurses lebensweltlich zu bestimmen scheinen, und wie problematisch die Idee derSelbsterkenntnis als Selbstdurchsichtigkeit ausfallen mu. Sowohl Plessner als auchFink liefern Indizien fr einen Freiheitsbegriff, welcher vor zu schnen, d.h. zu ein-deutigen Interpretationen der Freiheit im Erziehungsdenken schtzen hilft.Der zweite Teil, Demokratisches Leben, umfat drei Kapitel. Im dritten Kapitel, De-mokratie als Erziehungsprojekt, werden zunchst kritische Skizzen drei der bedeu-tendsten Klassiker der politischen Erziehung wiedergegeben, namentlich Platon, Rous-seau und Dewey, auf deren Werk im weiteren Verlauf immer wieder zurckgegriffenwird. Weiter wird die demokratische Erziehung im Lichte kantischer Ethiken, insbe-sondere mit Bezug auf die Arbeiten von Lawrence Kohlberg diskutiert und beim letzte-ren kritisiert, da dort, wie schon bei Dewey, moralische und demokratische Erziehungscheinbar als zusammenfallend gedacht werden. Anschlieend werden Konturen klas-sischer und zeitgenssischer Demokratietheorien einander gegenbergestellt und ge-fragt, welche Konsequenzen sich daraus jeweils fr demokratische Erziehung ergeben.Die teilweise aporetischen Folgerungen aus dieser Diskussion werden mit der Behand-lung des in Mode gekommenen Konzeptes der deliberativen Demokratiewenigstensein Stck weit entschrft. Ziel des Kapitels ist es, herauszuschlen, da die Bewertungder Demokratie wesentlichen Einflu auf entsprechende Erziehungsprogramme hatund da die Verbindung von Erziehung und Demokratie nicht eindeutig ausfallenkann.Eine vertiefte Darstellung der demokratischen Dimension des Lebens erfolgt im viertenKapitel, Konturen demokratischer Kultur. Zunchst geht es darum, zwischen Staats-form und Lebensform zu unterscheiden und die Idealisierungen der demokratischenStaatsform und die damit korrespondierenden Enttuschungen zu thematisieren. Da-nach erfolgt eine Bestimmung der Frage, was unter demokratischen Lebensformenverstanden werden kann. Die diesbezglichen Kennzeichnungen haben fr den weite-ren Diskussionsverlauf weitreichende Konsequenzen: demokratische Lebensformenwerden als gegen innen und auen offene Wesen betrachtet, in welchen Partizipations-und Distanzierungsrechte als normativ gleichwertig gelten. Damit deutet sich an, daeine dezidiert demokratische Erziehung ein paradoxes Unterfangen ist (Kapitel 8). An-

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    schlieend wird die elementare Unterscheidung von ffentlicher und privater Sphrefokussiert, fr deren Illustration das Werk von Hannah Arendt kaum zu bertreffen ist.Zustzlich werden mit Richard Sennett die moderne Konfundierung der beiden Le-bensbereiche und die milichen Konsequenzen diskutiert, die sich daraus ergeben.Schlielich erfolgen Errterungen zum Begriff des Politischen und seinen Arenen undzur Frage nach der Unterscheidung zwischen politischen Tugenden und politischenKompetenzen.Im fnften Kapitel, Zum moralphilosophischen Hintergrund, finden die Unterschei-dungen zwischen Privatsphre und ffentlichkeit und zwischen Gemeinschaft und Ge-sellschaft sozusagen Eingang in die politisch-ethische Debatte zwischen Kommunita-riern und Liberalen. Diese Errterungen orientieren sich stark an den Arbeiten vonCharles Taylor, welche m.E. sowohl fr die Erziehungs- als auch die Bildungsreflexi-on fruchtbar zu machen sind. Wiewohl davon ausgegangen wird, da die Kommunita-rismusdebatte im Grunde nicht zu entscheiden ist, wird hier meist anti-liberalistischargumentiert, besser: im Sinne eines liberalen Kommunitarismus. Mit Taylor wird dieSicht vertreten, da das Selbst eine moralische Kategorie ist und da es sich modernim Streit zwischen Hypergternbefindet, den auch liberales Denken, welches demGerechtigkeitsgesichtspunkt vor dem Guten den Vorrang gibt, nicht aufzulsen ver-mag. Mit Christoph Menke soll die berzeugung plausibel gemacht werden, da es vorallem zwischen (rechtlichen) Autonomieansprchen und (individuellen) Authentizi-ttsansprchen als gleichberechtigte Ausgestaltungen subjektiver Freiheit eine konfli-gierende Beziehungsgrundstruktur zu beachten gilt, welche die Selbstinterpretations-probleme des modernen Menschen mageblich mitbestimmt. Mit diesem Kapitel solldeutlich gemacht sein, da sich das Denken demokratischer Erziehung und Bildungnicht allein vor dem Hintergrund liberaler Gerechtigkeitstheorie entwickeln kann, son-dern immer auch danach fragen mu, worin das Residuum des Zusammenhalts demo-kratischer Lebensformen liegt. Da aber demokratische Gemeinschaftenselber dieQuadratur des Kreises darzustellen scheinen, wird erst im achten Kapitel ausfhrlicherthematisiert.Der dritte Teil, Selbst und Subjekt, widmet sich im sechsten Kapitel dem Selbst undseiner Entwicklung. Zunchst werden allgemein-psychologische und sozialpsychologi-sche Annherungen an das Selbst diskutiert, aber auch eine Definition des Selbst pr-sentiert, und vor allem auch Vorstellungen aus strukturgenetischer Sicht problemati-siert, mit welcher die Entwicklung des Selbst ber qualitativ unterscheidbare, zuneh-mend reifere Stufen postuliert wird. Kritisiert wird die Idee eines universellenSelbst, mit welcher die Defiziteder unteren Stufen sowie die Entwicklungslogikdes Selbst mageblich bestimmt werden. Im Unterschied zu diesen prekren Beschrei-bungen des Selbst wird anschlieend mit Foucault ein scheinbar oberflchlichesSelbst fokussiert, dessen konzeptionelle Bestimmungen im antiken Konzept der Selbst-sorge ihren Ausgang nehmen, welches heute im Sinne einer Kunst der Lebensfh-rung(Schmid 1992, 1998) aktuell gemacht werden kann. Das Selbst wird weiter imKampf der Anerkennung(Honneth 1994) diskutiert; damit kann eine Brcke ge-schlagen werden zwischen der Bedeutung der Erziehung als moralischer Kommunika-tion(Oelkers 1992) und der Entwicklung des Selbst. Diese Diskussion erweist sichfr das letzte Kapitel, welches der Bedeutung der demokratischen Bildung in derSptmoderne gewidmet ist, als fruchtbar.

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    Im siebenten Kapitel, Das Bildungs- und Erziehungssubjekt, wird in Kontrast zur Ideedes autonomen Subjekts, welche den pdagogischen Diskurs der Moderne so stark be-einflut, ein Subjektbegriff diskutiert, der auf den ersten Blick vielleicht polemischerscheinen mag: das dilettantische Subjekt. Wie erwhnt, soll plausibel gemacht wer-den, da zwischen Freiheit, Demokratie und Dilettantismus intime Affinitten beste-hen. Dem dilettantischen Subjekt soll aus anthropologischer, psychologischer und mo-ralischer Sicht eine Wrde und Qualitt zugeschrieben werden, die dem Wesen derdemokratischen Lebensform Rechnung trgt und andeutet, da sich die Strken einesschwachenSubjekts gegenber den Schwchen eines starkenSubjekts sehen lassenund da das erstere dem letzteren in puncto Demokratietauglichkeitin nichts nach-steht. Autonomie wird damit nicht als anzustrebende Kompetenz, sondern als Selbst-zumutung des Subjekts gefat, die sich kaum naturalistisch interpretieren lt.Schlielich wird diskutiert, inwiefern sowohl Erziehung als auch Bildung als Dilet-tantismusinterpretiert werden knnen.Im vierten und letzten Teil, Demokratische Erziehung und Bildung, geht es darum, dievorausgehenden Bestimmungen fr die Errterung der sptmodernen Bedeutung vondemokratischer Erziehung (Kapitel 8) und demokratischer Bildung (Kapitel 9) einzu-bringen. Demokratische Erziehung wird zunchst als Einfhrung in ein Ethos des de-mokratischen Kampfes und als Einfhrung in den Preis der Freiheit diskutiert. Demo-kratische Erziehung wird als Negotiation und Kampf um Gter und Hypergter begrif-fen. Neben dieser martialischen Metaphorik, mit welcher angedeutet wird, da wederErziehung im allgemeinen noch demokratische Erziehung im besonderen als partner-schaftliche und/oder souverne Prozesse angeschaut werden knnen, wird unterdem Stichwort der Citoyenitt die Bedeutung von demokratischen Umgangsformenbetont. Weiter interessiert die heikle Freiheitsdialektikfr demokratische Erziehung.Es wird behauptet, da Erziehung als dezidiert demokratische Erziehung vor allem imHinblick auf die Gemeinschaft nur paradox gedacht werden kann, da Erziehung nie-mals nur demokratisch sein kann und da sie als demokratische deswegen regel-mig scheitert. Diesem Scheitern wird eine besondere Funktion zugebilligt, welcheder abschlieenden Errterung zur Bedeutung der Scham (der Erziehenden) fr denErziehungsproze und die benannte Kultur der Imperfektibilittentnommen werdenkann.Im neunten und letzten Kapitel wird die Bedeutung der demokratischen Bildung zu-nchst daran diskutiert, inwiefern sich eine ateleologisch argumentierende Bildungs-theorie den (beliebten) Beliebigkeitsvorwurf gefallen lassen mu. Anschlieend wirdherausgeschlt, da sich das Ethos der Transformation auch der Fhigkeit des Subjektszur Selbstirritation und dem spezifischen, nmlich ironischen Umgang mit kitschigenBedrfnissen und Sehnschten in einer imperfekten Welt verdankt. Dann wird unterdem Stichwort Skandal des Lebensgefragt, welche Kraft es ist, die das Selbst poli-tisch werden lt, die es ffentlichkeit konstituieren lt. Es wird behauptet, da esder demokratischen Bildung heute um die Fhigkeit gehen mu, die Welt (noch) alsAnsto und rgernis wahrzunehmen und das politischste aller Gefhle, die Emprung,zu nutzen, indem der Diskurs gesucht wird, in welche sich das skandalisierte Selbsttransformiert und korrigieren lt. Die Argumentation scheut sich nicht davor, hiereine Brcke zu einem verblichenenNihilismus zu schlagen, welcher sich gerade ineiner transzendenzverlustigen Sptmoderne, die sich das (nicht-privatistische) Stellenvon groen metaphyischen Fragenabgewhnt hat, immer wieder meldet. Diese Be-

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    merkungen mnden in den Schlu, mit welchem die Intuition einer Parallelitt vonsptmodernem Selbst und demokratischer Lebensform eine Abrundung finden soll.Sowohl Demos als auch Selbst, so die abschlieenden Postulate, leben vom Wider-streit, von widerstreitigen Identifikationen und Interpretationen demosorientierter undethnosorientierter Ziele, vom Streit zwischen Imperativen der Herkunft zumindestErinnerungsverpflichtungen gegenber den Bedingungen der eigenen Gewordenheit und geforderten Zuknften. Sowohl Selbst als auch Demos beweisen ihr demokrati-sches Ethos durch die Bereitschaft, sich irritieren zu lassen und sich damit zu trans-formieren, sie leben vom Dialog, in welchem auf rigide Wahrheitsansprche undSelbsterkenntnisvorhaben verzichtet wird.

    Dieser berblick zum Argumentationsaufbau gibt zu erkennen, da es vorliegend we-der um staatsbrgerliche noch politische Erziehung und Bildung im engeren Sinnegeht. Das Ziel der Exploration liegt auch nicht in der Begrndung von Angaben dar-ber, wie Bildung und Erziehung demokratischoder demokratischergestaltet wer-den knnten. Vielmehr interessiert die Frage, wie Erziehung und Bildung im Hinblickauf Charakteristiken der demokratischen Lebensform gedeutet werden knnen. Dabeiwird hervorzuheben sein, da Bildung, Erziehung, Moral und Demokratie nur sehrbedingt Begriffe fr Merkmale eines zivilisatorischen Hypergutesstehen, die sichgegenseitig voraussetzen oder untersttzen wrden. Die anti-tragische Zuversicht(Menke) liberaler Aufklrungspdagogiken wird hier nicht geteilt, auch nicht die An-sicht, wonach es erziehungs- bzw. bildungsrelevante Technologienzu erkennen g-be, mit welchen die tragischen Seiten des modernen Lebens und Zusammenlebens, dienicht nur kontingent sind, sondern auch in der demokratischen Lebensform selbstgrnden knnen, besser bewltigt werden knnten. Mag auch der Ansicht zuge-stimmt sein, da die (moralischen) Konflikte zwischen den Subjekten und im Selbstdemokratisch gelstwerden sollen, so wird hier argumentiert werden, da das de-mokratisch verfate Leben letztlich weniger hilft, Probleme zu lsen, als vielmehr dieHoffnung berechtigt erscheinen lt, da mit den unlsbaren Problemen auf halbwegsgesitteteWeise gelebt werden kann. Die demokratische Lebensform ist selber einzivilisatorisches Gut, sie braucht nicht instrumentalisiert zu werden. Doch wie jedesGut liegt auch die demokratische Lebensform im Streit mit anderen und gleichbe-rechtigten Gtern (z.B. der Erziehung und Bildung). Die Annahme, da das Gut derdemokratischen Lebensform mit allen gleichberechtigten Gtern der Moderne in Ein-klang gebracht werden kann, ist grundlos; sie entspricht einem Wunschdenken, dasauch unter liberaler Perspektive nicht ntig ist. Das freiheitlicheLeben ist nicht trotzder Konflikte zu bejahen, denen es sogar zum Durchbruch verhilft, sondern weil es dieKonflikte ausdrcken hilft, die sich zwischen den Selbst- und Weltinterpretationen derMenschen ergeben: Demokratische Lebensformen weisen ebenso intime Affinitten zuDissens und Dissensrechten wie zu Konsens und entsprechend geforderten Konsens-kompetenzen auf. Dies macht sie zu ausgesprochen fragilen Wesen, welche mit derRhetorik von Grundwertedebatten kaum erhellt werden, in welche auch pdagogischesNachdenken hineinfallen kann.Die moralisch-dilemmatischen Konflikte, in denen sich das sptmoderne Selbst befin-det, bezeugen die Nicht-Souvernitt des Menschenlebens, welche aufklrerischeberwindungspdagogiksowohl so attraktiv als auch so unbescheiden erscheinenund werden lt. Doch wenn die demokratische Lebensform weniger dem Lsen von

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    Konflikte als vielmehr dem gewaltlosen Leben mit Dissens entgegenkommt und ver-pflichtet ist, dann drfte sich auch das Denken ber demokratische Bildung und Erzie-hung mitunter fragen, wie es selber gegenber (vermeintlichen) moralischen Gewi-heitenenthaltsam sein kann und die Praxis der Freiheitnicht pdagogisch domes-tizieren will. Demokratie ist nicht nur das, was die Gemeinschaft durcheinan-derbringt(Rancire 1994), sondern auch Bildungs- und Erziehungsdenken, welchessich der sthetik des ganzen und einheitlichen Subjekts verpflichtet sieht.Die vorliegende Exploration lt sich von der Frage irritieren, ob das Gut der demo-kratischen Lebensform nicht auch mit Recht eine Zgelung der pdagogischen Sehn-schte nach Eindeutigkeit, Ganzheit und Verwendbarkeit gebietet.

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    I.

    PRLIMINARIEN

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    1. Bildung im Lichte soziologischer Signaturen derModerne

    Die Menschen treten stndig in einen Proze ein, der sieals Objekte konstituiert und sie dabei gleichzeitig

    verschiebt, verformt, verwandelt und der sieals Subjekt umgestaltet

    Michel Foucault (1996/1978, S. 85)

    Die Erluterungen in diesem Kapitel sind drei Aufgaben gewidmet. Zunchst soll derBildungsbegriff aus mehreren Blickwinkeln in einem allgemeinen und gewi zunchsttraditionellen Sinne beleuchtet werden (1.1). Mit dieser Darstellung wird nicht der An-spruch erhoben, in irgendeiner Weise abschlieend zu sein, vielmehr ist es das berge-ordnete Ziel der Arbeit, konstitutive Elemente eines sptmodernen Begriffs demokrati-scher Bildung zu diskutieren. Die in diesem Kapitel wiedergegebenen Bemerkungenzur Bildung seien in den Rahmen soziologischer Signaturen der Moderne gestellt (1.3),welche mit den Autoren Beck, Mnch und Touraine umrissen werden (1.2). Zu dieserDarstellung gehrt eine Diskussion zum Begriff der Moderne (1.2.1) und zu der fr diemoderne Situation aufdringlichen Kontingenzproblematik (1.2.5).Die Gegenberstellungklassischer Konturierungen des Bildungsgedankens mit so-ziologischen Signaturen der Moderne ist nicht unproblematisch; sie scheint dem Ver-such zu entsprechen, auf zwei heterogenen Diskurshochzeiten zu tanzen. Doch wennhier berhaupt auf soziologische modernediagnostische Anstze eingegangen wird,dann nur deshalb, weil mit diesen Wissen und Erfahrungen systematisiert und zu ver-stehen versucht werden, welche pdagogische Reflexion kaum ignorieren kann, um somehr als diese Erfahrungen die Lebenswelt moderner Menschen betreffen. Die be-kannte Aussage von Anthony Giddens (1995), wonach die Moderne selbst in ihreminneren Wesen zutiefst soziologischsei (1995, S. 60), bezeichnet den plausiblenSachverhalt einer Verschrnktheit von Moderne und sozialwissenschaftlichem Diskurs.Das immer neue Wissen und das damit einhergehende Bewutsein um gesteigertesNichtwissen, welches die Moderne ber sich erwirbt, verndert diese selbst, weil es zueiner permanenten Revision sozialer Praktiken auffordert (S. 57). Moderne Reflexivitttangiert Pdagogik, weil sie deren Hauptgegenstand die Bildung, Erziehung undEntwicklung des Menschen in zentralen Bereichen prgt. Auch wenn man fr dieAutonomie der pdagogischen Disziplin votiert, kann sich diese modern nicht als au-tarke Theoriekonstituieren, sondern nur in Interaktion mit benachbarten Disziplinen,gegen die sie sich in mancher Hinsicht abgrenzen kann und soll und bei denen sie inanderer Hinsicht Anleihen machen mu, um sich im unabweisbaren Selbstverstndi-gungsdiskurs zu situieren.

    1.1 Bildung

    Grundlegende Bestimmungen sollen in diesen umstrittenen, manchmal tot gesagten,dann wieder bis zur Banalitt transformierten, hufig aber mit gutem Grund geschtz-

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    ten und geachteten Begriff einfhren, von welchem sich einige fast alles, andere bei-nahe berhaupt nichts erwarten. Bekanntlich handelt es sich um einen ausgeprgtdeutschenBegriff, der sich nur auf unbefriedigende Weise in andere Sprachen ber-setzen lt und deshalb etwa im frankophonen oder anglophonen erziehungsphiloso-phischen Diskurs mit gutem Grund als Bildungbernommen wird. Dieses peripheranmutende Faktum verweist auf ein mgliches Problematischsein des Begriffs selbst,aber auch auf seinen Reiz und eine eigentmliche Tiefendimension.

    1.1.1 Zur Vielfalt eines Begriffs

    Mit Bildung wird traditionell die Verschrnkung allgemeiner Bestimmungen desSelbst- und Weltverstndnisses mit besonderen Bestimmungen konkreter Individualittvon Personen gemeint (vgl. Langewand 1994, S. 69). Unter die allgemeinen Bestim-mungen werden Begrifflichkeiten wie Vernunft, Rationalitt, Humanitt und Moralittsubsumiert, die als Flankierungen und Grundrichtungsorientierungen die Biographieund Persnlichkeit des Menschen formen, ohne ihm seine Einzigartigkeit und Unver-wechselbarkeit nehmen zu sollen. Der Proze dieser Verbindung von Einheit (Allge-meinheit) und Differenz (Besonderheit) wird in der Regel als zwanglosvorgestellt(ebd.). Bildung bezeichnet nicht nur den Proze als Formierung oder Entwicklungs-gang der Person -, sondern auch das Ergebnis, die abschlieende Gestalt. Der Bil-dung wird eine objektiveund eine subjektiveSeite zugeschrieben. Whrend dieerstere im weitesten Sinne auf Kultur(als philosophische, wissenschaftliche, stheti-sche, moralische, kurz: vernnftigeWeltdeutung) rekurriert, bezieht sich letztere aufdie je spezifische Aneignung des objektiven Gehalts von Kultur (ebd.). Mit von Hentigknnte diese Beziehung so betrachtet werden: Was fr ein Volk die Kultur ist dasLeben nach bedachten und gewollten Prinzipien und das Schaffen der hierfr bekmm-lichen Ordnungen -, ist fr den einzelnen die Bildung. Sie ermglicht ihm, in seinercivitas zu leben, sie weist ihm seine Aufgabe in ihr an(1996, S. 206).Im Verlaufe der letzten zwei Jahrhunderte ergaben sich bedeutsame Vernderungen imKonnotationsfeld des Bildungsbegriffs (vgl. Hrster 1995). Whrend Bildung im 18.Jahrhundert mit den Gedanken der Humanittund der Vollkommenheit(Perfekti-on) eng verbunden war, und Aufklrung, Tugend und Geist mit Bildung zusammenfal-len, wird Bildung am Ende des 19. Jahrhunderts als Gut und Wert begriffen. Seit Mittedes 20. Jahrhunderts wird der Bildungsbegriff im Zuge der breiten Etablierung der So-zialwissenschaften im pdagogischen Diskurs mit Konzepten wie Enkulturation, Sozia-lisation, Ich-Identitt, Entwicklung und Qualifikation zu ersetzen versucht (vgl. Lan-gewand, a.a.O., S. 69f.). Offensichtlich ist der (ursprngliche) Begriff von Bildung alsder Verschrnkung von Allgemeinheit und Besonderheit, die sich nur als Entwicklungvon Subjektivitt (Subjektivation) versteht, nicht mehr gemeint, wenn von Bildungs-katastrophe, Bildungssystemoder Bildungsratgesprochen wird. Der Bildungs-begriff hat, mit anderen Worten, auch eine Trivialisierung und teilweise vollstndigeTransformierung erfahren, deren Grnde in hier nicht nachzuzeichnen mglichen vielfltigen philosophischen, wissenschaftlichen, sozio-kulturellen und politischenEntwicklungen und Krisen der letzten 150 Jahre liegen. Hrster spricht in diesem Kon-text von einer Profanisierung des Bildungsproblems zu Beginn des 20. Jahrhunderts(a.a.O., S. 44).

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    Die Vieldeutigkeit und Angreifbarkeit des (ursprnglichen) Bildungsbegriffs hat je-doch nicht zur Folge gehabt, da der Bildungsgedanke auf befriedigende Weise vonverschiedenst vorgeschlagenen Surrogaten angemessen htte entproblematisiert oderaufgehoben werden knnen (vgl. Pleines 1989, S. 1). So kritisiert z.B. Hansmann(1988) berzeugend, wie vorgeschlagene theoretische quivalente wie Wissen-schaftsorientierung, Sozialisation, Qualifikation, Erziehungoder Unterrichtjeweils zu kurz greifen. Schweitzer (1988) argumentiert einsichtig gegen die Gleich-setzung von Identitt und Bildung. Der Begriff der Bildung scheint vielmehr auch heu-te noch am ehesten in der Lage (...), Entwicklungsprozesse des Natrlichen, Seeli-schen und Geistigen sowie deren Gestalten und Produkte in ihrer subjektiven wie ob-jektiven Bedeutung darzustellen, die fr das Verstndnis des Menschen und seinerKultur unabdingbar sind(Pleines, ebd.). Dennoch kann nicht bersehen werden, dader Begriff sich nur notwendig umstndlich(von Hentig, a.a.O., S. 73) definierenlt, vielleicht weil die Idee der Bildung eine zentrale gesellschaftliche Idee ist unddeshalb in vielen Gebruchen und Interpretationen Verschiedenes bedeutet(Musolff1989, S. 9). So hat man sich mit Posner damit abzufinden, da Bildung, einer derzentralen Begriffe der philosophischen Anthropologie und der Pdagogik, (...) zugleicheiner der verschwommensten(1988, S. 23) ist. Brezinka geht noch weiter und be-zeichnet den Begriff als nahezu leer(1972, S. 62).Die Schwierigkeit, den Begriff der Bildung zu fassen, und das Bemhen, es doch im-mer wieder in Angriff nehmen zu wollen, hat mit seiner gesellschaftlichen Bedeutungzu tun. Bildung ist nach Tenorth ein Schlsselbegriff, d.h. ein Begriff unserer Sprache,in welchem praktische Probleme und theoretisches Wissen, politische Kontroversenund gesellschaftliche Kompromisse konzentriert berliefert werden(1986, S. 7). DerAutor nennt als Beispiele fr solche Schlsselbegriffe: Demokratie, Sozialismus,Gleichheit, Emanzipation, Freiheit und Mndigkeit. In der Bildungs-Politik fast schonzur Alltagsware verschlissen, erweist der Begriff seine unersetzbare Funktion dochimmer wieder schon darin, da er folgenreiche Differenzen artikulieren hilft: ZwischenBildung und Ausbildung oder Gebildeten und Ungebildeten, zwischen klassischer undmoderner, hoher und niederer, gelehrter und volkstmlicher, gymnasialer oder realisti-scher Bildung(ebd.). Auch wenn der Bildungsbegriff wie andere Schlsselbegriffepolitisiert und ideologisiert wird, erscheint er fr eine systematische Diskussion immerdann unentbehrlich, wenn nicht allein die partikularen Ansprche der Fachqualifizie-rung, sondern universalisierbare oder mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung auf-tretende Erwartungen an das Bildungswesen behandelt werden(a.a.O., S. 9).

    1.1.2 Vom Gutzur permanenten Aufgabe

    Pleines (1971) hat einen bis heute berzeugenden Systematisierungsversuch der pda-gogischen Bedeutung des Bildungsbegriffs vorgeschlagen, wohlwissend, da einevoreilige Eingrenzung seiner Bedeutungen oder die strukturelle Verkrzung seinesursprnglichen Sinnszu dessen Verarmung und damit zur Nivellierung der in ihmehemals gedachten Inhalte fhren(S. 12). Pleines nennt a) Bildung als anzustreben-des, wertvolles Gut, b) Bildung als Zustand des Bewutseins, c) Bildung als Pro-ze des Geistes, d) Bildung als permanente Aufgabe, e) Bildung als Selbstverwirk-lichung des Menschen in Freiheitund verweist schlielich auf f) den Gebildeten und

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    seine Verstandes- und Herzensbildung(vgl. S. 12-38). Dazu im folgenden (mit Aus-nahme des letzten Verstndnis) einige Erluterungen.Im ersten Verstndnis (a) verweist Pleines auf Otto Willmann, der in seinen Kleinenpdagogischen Schriften schreibt: Die Eigenschaften des Gebildeten knnen wir aberauch als einen Besitz fassen; er mu Kenntnisse, Fertigkeiten, Lebensformen haben,damit ausgestattet sein. Dieser Besitz ist ein individueller und doch geteilt mit anderen:ein Mitbesitzen, ein Teilhaben; gebildet sein heit: an den Gtern der Bildung teilha-ben, gebildet werden geschieht durch Bildungserwerb(zit. nach Pleines, a.a.O., S.12). In diesem Sinn verfgt die Person schon ber (ein bestimmtes Ma an) Bildungoder sie mu sie erst noch erwerben. Als zu erwerbende kann sie nicht auferzwungenwerden und als erworbene kann Bildung nicht durch uere Gewalt wie ein uerli-ches Eigentum weggenommen werden (S. 14). Das Verstndnis von Bildung als Gut,das sich die Person zu eigen machen kann, durchdringt das pdagogische Denken seitder Aufklrung: Etwas aus sich selbst zu machen, d.h. sich selbst zu erziehen, durchinnere Selbstttigkeit das zu ergreifen, was ergriffen oder begriffen werden soll, dieszu erreichen, ist die hohe Aufgabe des Unterrichts, die mit der Erziehung in dem Er-ziehungsprinzip bereinstimmt und mit ihr gegeben scheint (Wilhelm Braubach,1841, zit. nach Pleines, a.a.O., S. 15). In diesem Sinne ist es (allein) dem Menschengegeben, sich zu bilden, d.h. dort zu jener zweiten Geburt(Hegel) zu kommen, wodie Naturmit ihren letzten Mglichkeiten und ihrem Recht aufhre(ebd.). Bildungist hier als Abhebung von Natur gedacht, sie bedeutet Individualitt durch Transzen-denz ber Naturgegebenheit und Schicksalhaftigkeit1.Als anzustrebendes Gut (b) meint Bildung einen Zustand des Bewutseins, dessen Ges-talt Pleines (a.a.O., S. 17) durch zwei Merkmale gekennzeichnet sieht. Einerseits wirdBildung demjenigen zugesprochen, der einen Reifungsprozehinter sich und einenZustand erreicht hat, in welchem alle besonderen Talente des Geistes und das Insge-samt der im Menschen ursprnglich angelegten Krfte und Vermgen, allseitige entfal-tet und erprobt, eine unauflsliche Einheit eingegangen sind2. Andererseits meint dasEnde dieser Reifezeit eine nicht mehr zu berholende Konstellation von Bewutsein,den Zustand der Vollendung(ebd.). Pleines verweist auf Schleiermacher, der vomzeitlichen Ende der Bildungspricht, wenn die innere Kraftgro genug gewordensei, um selbstndig entscheidenzu knnen (ebd.). Doch auch die Idee eines vollen-deten, absoluten Bewutseins als ein im Prinzip unerreichbares Ziel der Bildung be-nennt im Grunde nur die eine Bedeutung des Bildungsbegriffes, nmlich jener derFormung, d.h. des Prozesses. Pleines zitiert Kerschensteiner (1921), der mit Bildungals Formung (Verfahren) dem eigenen Wachstum der Seele zu ihrer vollendeten Ges-talt nach einem bestimmten Plane zu verhelfenmeint, whrend mit Bildung als Zu-stand (Form) die erreichte, in ihrer ganzen Handlungsweise in die Erscheinung tre-tende seelische Gestalt bezeichnet wird(S. 18). Aus dem nicht nur individuell be- 1 Pleines verweist auf Hegel, der durch diesen Gedanken inspiriert, folgende Definition der Pda-

    gogik uert: Die Pdagogik ist die Kunst, die Menschen sittlich zu machen; sie betrachtet denMenschen als natrlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebren, seine erste Natur zu einer zwei-ten geistigen umzuwandeln, so da dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird(zit. a.a.O., S.15). Bildung wird so zur Macht ber die bloe Naturbestimmtheitund ber die durchschauteund deshalb verfgbar gewordene Umwelt (S. 16).

    2 Natrlich wird Reifunghier nicht als Gegenbegriff zu Lernenverstanden, wie etwa in derLernpsychologie blich.

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    deutsamen Gutder Bildung ist ein Zustand des Bewutseins geworden dessen Ge-schlossenheit in sich gegenber dem langen Weg der Reifung und dessen prinzipiellnicht mehr berbietbarer Vollendung die Bildung jetzt als etwas erscheinen lt, demnichts mehr fehlt, ohne da sie damit freilich fr weitere Erfahrungen unaufgeschlos-sen oder in sich unwandelbar und leblos geworden wre(S. 19).Bildung als Proze des Geistes (c) bezeichnet nun nicht einen dem Wandel der Zeitennicht unterworfener Wert(S. 21), sondern den angetnten unabschliebaren Proze,dem der Mensch zunchst als nur bedrftiges Lebewesen und darber hinaus in denBestimmungen der Seele oder des Geist unterliege (S. 21f.)3. Mit der These der Bil-dung als permanenter Selbstberwindung wird verstndlich, warum der kontinuierlicheErwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten nicht (mehr) als Garant von Bildung be-trachtet werden kann. BloesWissen und nackteKompetenzen knnen aus dieserPerspektive auch dem Ungebildetenzugebilligt werden. Bildung als Proze des Gei-stes verweist jedoch vielmehr auf eine Seinsweise, eine Existenzform und kann sich ausdiesem Grund nicht in Wissensinhalten erschpfen. Bildung liegt nach in dieser Auf-fassung, die Max Scheler betonen sollte, also weder im Nachvollzug des Wissensnoch im unmittelbaren Erleben, vielmehr wird sie als apriorische Strukturgedacht,die vielleicht unthematisch alle Formen des Wissens immer schon berholt hat(Pleines, a.a.O., S. 24). Wissen, das zur Bildung geworden ist, zitiert Pleines Scheler,ist Wissen, von dem man gar nicht mehr wei, wie man es gewann(ebd.).Bildung kann, nachdem ihr Prozecharakter hervorgehoben worden ist, als (d) perma-nente Aufgabe bzw. unendliches Streben betrachtet werden, dessen Ursache imSelbstbewutsein, d.h. in der Erkenntnisfhigkeit liegt. Der Mensch findet sich selbstvor vermittels des erwachten Selbstbewutseins; er findet sich als etwas gesetzt vonder Natur; und indem er das findet, findet er zugleich, da er noch etwas werden soll;er findet ein Sein, das im Werden begriffen ist. Er ist nur angefangen und soll vollen-det werden; er findet sich auf einen Weg gesetzt, auf dem er weitergehen soll(Brau-bach, 1841, zit. nach Pleines, a.a.O., S. 25). Diese Zeilen erinnern stark an PlessnersAnthropologie (vgl. 2.3.1) bzw. die postulierte exzentrische Position des Menschen,nur da Braubachs Worte eine Semantik der Geborgenheitund des Sinnsvorfh-ren, whrend Plessner vielmehr die Bodenlosigkeitder menschlichen Stellung in derWelt (und der damit implizierten Bildungsnotwendigkeit) illustrierten. Wenn Bildungdem Individuum nur noch permanente Aufgabe sein und damit prinzipiell zu keinemEnde kommen kann, dann greift sie ber den Lebenshorizont und die den gegebenenUmstnden wandelnden Ziele der Selbsterhaltunghinaus. Die in diesem Sinne zeit-losgewordene (nicht als raumgebunden gedachte) Idee der Bildung fut damit in denIdeen der Wahrheit, der Schnheit, der Sittlichkeit, ja der Heiligkeit. Das Grundlegen-de der Bildungstheorie wird demzufolge nicht in geschichtlich bedingten Bildungsidea-len lokalisiert, wie Kerschensteiner postulierte (vgl. Pleines, a.a.O., S. 26), sondern inder bergeschichtlichen Idee von Bildung, d.h. in einem (vermeintlich) universalenIdeal. Mit der These der Bildung als permanenter Aufgabe kann Bildung weder als je 3 Pleines spricht auf Nietzsche verweisend von einem stndigen Sichberschreiten, das jeden

    Zustand und Bestand hinter sich lasse. Ein bestndiger berstieg in die je eigene Zukunft, dasmeine bewut gewordenes und schpferisches Leben: Das Wort Pico della Mirandolas, derMensch sei sein eigener freier Bildner und berwinder, sollte nicht berhrt werden und fandschlielich in Nietzsches Lehre von der Selbstberwindungund vom bermenschenseine mo-derne, vielleicht zweifelhafte Vollendung(Pleines, a.a.O., S. 23).

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    erreicht noch erreichbar gelten, vielmehr besteht Bildung nun darin, da das Indivi-duum in seiner offenen Seinsstrukturden Aufforderungen zur Selbstverwirklichungmglichst nachzukommen versucht.Im Gegensatz zu natrlichen Ablufen und Reifeprozessen beansprucht der Bil-dungsgedanke (e) eine eigengesetzliche Kraft, die mit Freiheit und Selbstbestimmungzu tun haben msse(Pleines, a.a.O., S. 30), wobei das menschliche Handeln als wil-lentliches bzw. bewut gestaltendes freilich nicht mit Bildung gleichgesetzt werdenkann (S. 31). Bildung als zweite Geburtdes Menschen wird gewissermaen ausFreiheit erworben. Als vorstellendes, denkendes oder handelndes Wesen hat derMensch in diesem Verstndnis fr sich allein aufzukommenund sich die Freiheitein zweites Mal zu erwerben, indem er sich selber bestimmt und neben der Welt derNatur eine zweite Welt der Kulturhervorbringt. (S. 28). Auch diese Vorstellung erin-nert an das Plessnersche Postulat der menschlichen Natur als Kultur (vgl. 1982a). Oh-ne an dieser Stelle jedoch das Problem des freien Willens bzw. die Frage der Wil-lentlichkeitdes Gebildetenaufwerfen zu wollen, sei mit Pleines Adorno zitiert, derzu dieser Vorstellung kritisch schreibt: Denn Bildung ist eben das, wofr es keinerichtigen Bruche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Inte-resse (...). Ja, in Wahrheit fllt sie nicht einmal Anstrengungen zu, sondern der Aufge-schlossenheit, der Fhigkeit, berhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu las-sen und es produktiv ins eigene Bewutsein aufzunehmen, anstatt (...) damit, blo ler-nend, sich auseinanderzusetzen(a.a.O., S. 28f.).Mit diesen Erluterungen soll ein erster Einblick in das Verstndnis von Bildung gege-ben sein ein Einblick, der keinen Abri einer definitorischen oder hermeneutischenBegriffsgeschichte darstellen soll. Allerdings soll nicht unerwhnt bleiben, da dieberlegungen der vorliegenden Arbeit als ein Bearbeiten und Abarbeiten des letztge-nannten Bildungsverstndnis (e) begriffen werden knnen, ein Verstndnis also, dasdem Aspekt der menschlichen Freiheit ein besonderes Augenmerk schenkt, ohne wel-ches die Idee einer Bildung des demokratischen Selbstzahnlos wird, wenn der Sinndemokratischer Lebensformen in der Praxis der Freiheitliegen sollte, um hier eineArendtsche Begrifflichkeit vorwegzunehmen.

    1.1.3 Zur Aktualittdes Bildungsbegriffs

    Der Bildungsbegriff erhielt in den achtziger Jahren, nachdem er in eine Krise geratenschien (vgl. Pleines 1978), vielleicht gerade durch die damals gegenwrtigen, heute nurnoch zugespitzten gesellschaftlichen Herausforderungen in den Erziehungswissen-schaften einen beachtlichen Auftrieb. Beispielsweise sehen Hansmann & Marotzki(1988) den Begriff der Bildung als besonders geeignet dafr, zwei von ihnen als we-sentlich erachtete Problemzonen heutiger Zivilisation und damit der Pdagogik zu ver-ketten (S. 10). Es handelt sich um Problembereiche, die von den Autoren durch fol-gende Fragen gekennzeichnet werden: Wie kann der einzelne die auf ihn in Zukunftnoch strker hereinbrechende Informationsflut verarbeiten?Und in bezug auf moder-ne Transformationsprozesse, die noch zur Sprache kommen sollen (1.2): Wie kannangesichts einer solchen gesellschaftlichen Dynamik eine Persnlichkeitsentwicklungdes einzelnen stattfinden, die sich an den humanitren Zielen von Freiheit, Mndigkeitund Verantwortung orientiert und die einer vernnftigen Beurteilung sowohl im Rah-men einer scientific community als auch im lebenspraktischen Kontext standhlt?(S.

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    9f.). Die postulierte Revitalisierung des Bildungsgedankens gerade durch die Vernde-rungen in einer sich radikalisierenden Moderne(vgl. 2.2.2) bedeutet jedoch nicht,um es mit Klafki (1986, S. 456) zu sagen, da bei einem heutigen Versuch, den Bil-dungsbegriff neu auszulegen, aus der Problemgeschichte ausgestiegen werden knnte:Jeder heutige Beitrag zu unserem Problemkreis mte sich also schon um der Selbst-aufklrung willen seiner eigenen historischen Implikation zu vergewissern versuchen(ebd.). Dieser hier als Empfehlung im Konjunktiv formulierte Ansicht scheint die Dis-kussion de facto auch nachzukommen: Isokrates und Jean Paul werden heute zuKornzeugen aufgerufen, an Litt und Spranger wird angeknpft, Goethe wird zitiert,Lessings 'Erziehung des Menschengeschlechts' der Erwhnung fr wert befunden: dieeigene Allgemeinbildung wird unter Beweis gestellt um zu zeigen, da dort, wo Beg-riffe fehlen, sich wenigstens der rechte Name einstellt(Posner 1988, S. 22). ber dieGrnde des Umstandes, wonach der Bildungsbegriff wieder zugelassenist und auchauf der Ebene politischer Instanzen diskutiert wird (vgl. Posner, ebd.), soll an dieserStelle nicht spekuliert werden. Festgehalten sei jedoch, da der Bildungsbegriff in ei-ner reflexiven, radikalisiertenModerne (vgl. Giddens 1991, 1995; Welsch 1988,1995) sowohl einen Bedeutungsschub erlebt als auch im Grunde noch schwieriger zufassen ist. Man kann Bildung zwar als ein Universalthemader erziehungswissen-schaftlichen Theoriegemeinschaft (Miller-Kipp 1992, S. 18) betrachten, was jedochnicht heit, da der Begriff eindeutig zu definieren wre. Er ist vielmehr je neu kritischzu hinterfragen, weil er nicht logischer, sondern historischer Natur ist (ebd.). Als U-niversalthema wenn denn klar sein knnte, was das ist bleibt Bildung trotz der"Verschwommenheitihrer Definition solange aktuell, als Menschen berhaupt aufeine Version des Ideals der Selbstformung hin gefrdert und untersttzt werden sollen.Damit sind auch bestimmte anthropologische Vorannahmen impliziert. Denn die Aktu-alitt von ontologischen und normativen Bestimmungen des Selbst- und Weltverstnd-nisses ist nur solange gegeben, als der Mensch als selbst-interpretierendes Tier(Tay-lor 1985; vgl. 5.2.2.1) bzw. sich-selbst-deutendes Lebewesen (Fink 1970, S. 193; vgl.2.3.2.1) betrachtet wird. Da jeder Bildungsbegriff notwendigerweise Welt- und Men-schenbilder transportiert bzw. widerspiegelt, kann er sich aber vor dem Verdacht derIdeologisierbarkeit nicht gengend schtzen (vgl. Posner 1988). Er wird zweifelsohneimmer vom politischen und kulturellen Klima der Gegenwart beeinflut, was sowohlzu einem eher euphorischen und/oder elitren Bildungsdiskurs fhren kann (vgl. dassogenannte Bildungsbrgertum) als auch zur Marginalisierung, Tabuisierung undTrivialisierung des Begriffs (mit sogenannten realistischenWenden). So fhrte etwadie vom deutschen Brgertum des 19. Jahrhunderts geteilte Identifikation der Bildungmit einem engen Begriff von Kultur, die sich in Abhebung von Alltag und Zivilisationsieht, zur Empfindung einer groen Kluft zwischen Gebildetenund Ungebildetenbzw. Volk(vgl. Hrster 1995, S. 46f.). In Massengesellschaften konnten und knnensich de facto nur wenige und bestimmte Individuen beispielsweise an Idealen der grie-chischen Antike bilden. Ein so verstandenes Bildungskapital wirkt sich u.U. auch dannnicht egalisierendauf gegebene Sozialstrukturen aus, wenn Egalisierungseinzentrales Thema ist. Die Ungleichverteilung des Bildungskapitals bzw. der ungleicheZugang zu Bildung fhrt trotz individuellem Bildungserwerb zu analogen Trennungs-und Differenzierungslinien und, damit verbunden, zu subtilen oder weniger subtilenAusschlupraktiken wie im Bereich des konomischen oder sozialen Kapitals (vgl.Bourdieu 1988). Es gehrt allerdings zur Paradoxie einer Feststellung wie der hier ge-

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    ttigten, die nicht ohne bitteren Beigeschmack ist, da das in ihr kritisch zu betrach-tende, empirisch kaum widerlegbare Faktumweder dazu verleiten kann noch soll,die vermeintliche Ursache des Kritisierten (eine bestimmte Bildung) zu bekmpfen.Anders ausgedrckt: wenn gegen Aufklrung, d.h. gegen die unerwnschte Nebenfol-gen von Aufklrung, im Sinne von Habermas nur weitere Aufklrung hilft, dann trifftAnaloges auch auf Bildung zu, so da gegenBildung nur weitere Bildung hilft. Auf-grund der damit gedachten Unabschliebarkeit der Aufklrung bzw. der Bildung istdas Denken und Reden ber Bildung gewissermaen immer aktuell. Bildungstelltsich immer wieder als ungengend, vielleicht sogar falsch (zumindest bezglich Ne-benfolgen), dann wieder als unntig, schdlich oder zu teuer, spter wiederum als bit-ter ntig heraus. Ihre Aktualittist allerdings nur oberflchlich betrachtet erfreulich.Die Emphase und der moralische Impetus, die den Bildungsdiskurs oft begleiten, ma-chen eher darauf aufmerksam, wie bescheiden die modernen Selbstdiagnosen und wiebemitleidenswert das moderne Weltverstndnis im Grunde ausfallen mten. Das w-ren Einsichten, oder wenigstens berlegungen, die im gnstigen Fall den Inkompe-tenzerfahrungen des (modernen) Menschen eine besondere Wrde zubilligen knnten.Doch das ist vorgegriffen. Bildungsdenken will bekanntlich mehr, Bildung ist kein be-scheidener Begriff (vgl. 1.3.2).

    1.1.4 Dimensionen der Bildung

    Ein zentraler Aspekt von Bildung ist die von Bildungsverstndnissen unterschiedlichs-ter Provenienz explizit oder implizit geteilte Vorstellung der Bildung als Vermittlungzwischen Einheit des Individuumsund Totalitt der Welt(Posner 1988, S. 26).Wie oben angetnt, wird diese Vermittlung entweder als Proze oder als Zustand(bzw. Ziel) vorgestellt. Die Bildungszielideale (wie Mndigkeit, Selbstndigkeit,Selbstbestimmung, vernnftige Praxis etc.) verleihen dem Bildungsbegriff so seineeigentmliche Dignittund lassen Bildung zur regulativen Idee Allgemeiner Pda-gogik werden und die Bildungstheorie zum Ort normativer Verstndigung in ihr(Miller-Kipp 1992, S. 18 & 19). Wie auch immer der Begriff gebraucht wird, als kriti-scher Begriff, nach dem die Praxis beurteilt wird, oder als unkritischerBegriff, dersich ideologisieren und verzwecken lt (ebd.), gleich bleibt, da die reale Bezugsgr-e des Bildungsbegriffs das Subjekt als sich bildendes oder zu bildendes Individuumist: die Subjektvorstellungist der systematische Kern des Bildungsbegriffs und dieFrage nach dem Subjekt im Bildungsproze die grundlegende Bildungsfrage(a.a.O.,S. 19). Um Fragen der Subjektkonstitution nicht nur in philosophischer, sondernauch psychologischer und soziologischer Hinsicht kommt Bildungstheorie kaum her-um.Der Bildungsproze kann also als innersubjektives geistiges Geschehenbetrachtetwerden, wobei sich damit die Frage nach dem Aufbau geistiger Ordnung im Subjektstellt (ebd.). Die daran weiter anschlieende Frage betrifft die Dimensionen einer sol-chen geistigen Ordnung im Subjekt. Langewand (1994, S. 74) unterscheidet formalfnf Dimensionen, die eine akzeptierbare Systematik bieten, ohne da eine definitori-sche bereinstimmung zum Begriff der Bildung vorausgesetzt werden mu. Lange-wand zufolge vollzieht sich das Reden ber Bildungentlang einer a) sachlichen Di-mension, b) temporren Dimension, c) sozialen Dimension, d) wissenschaftlichen Di-mension und e) autobiographischen Dimension. Diese Dimensionen werden durch je

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    spezifische Differenzen gebildet, die jeweils unterschiedliche Bercksichtigung findenmgen (S. 74). An dieser Stelle seien nur zu den ersten drei Dimension einige Erlute-rungen gegeben, die fr den vorliegenden Kontext von grerem Interesse sind.

    ad a) Exemplarisch fr die erste Dimension, welche die Sache der Bildung betrifft unddamit die Differenz von Bildungsinhalt und Bildungsgehalt, nennt Langewand zu-nchst das Bildungsideal der Autonomiebei Humboldt, dessen Werk am Anfang derGeschichte der pdagogischen Bildungstheorie anzusiedeln ist. Humboldt bezieht sichmit der Bildungsidee (als Selbstbildung) auf Leibniz' Konzept der Monade undKants Moralphilosophie. Die Monade verkrpert als opake Einheit Individualitt undUnverwechselbarkeit, Kants kategorischer Imperativ jedoch die (gegenwirkende) For-derung nach unbedingter Befolgung von allgemeingltigen moralischen Grundstzen(Kant 1981; Hffe 1979). Analog zur Idee moralischer Autonomie postuliert Humboldteinen Bildungsbegriff, dessen Sachdimension sich auf allgemeine Geltungbezieht.Allgemein gesagt, die bildende Struktur der Lerninhalte, also das, was hier Bildungs-gehalt genannt wird, ist durch jene Selbstbezglichkeit charakterisiert, die fr denGrundsatz der Autonomie gilt(Langewand, a.a.O., S. 77)4. Die an diese Vorstellunganknpfende These impliziert, da sich der Bildungsgehalt von Lerninhalten an ihrerzur moralischen Autonomie analogen Struktur bemesse (ebd.). Hier darf gewisserma-en der Ursprung der Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller bzw. be-sonderer Bildung lokalisiert werden eine Unterscheidung, die bis heute relevantgeblieben ist (vgl. Tenorth 1986).Die Sache der Bildung kann in einer komplexen Welt nicht beispielsweise aus-schlielich jene des Ethischen sein, d.h. die Unterscheidung von Bildungsinhalt undBildungsgehalt kann nicht mehr nur aus einer Perspektive getroffen werden. Vielmehrmu die Differenz von einer Pluralitt von Aspekten her aufgeschlossen werden (Lan-gewand, a.a.O., S. 79). Klafki spricht hier bekanntlich von kategorialer Welt- undSelbstinterpretation, d.h. Bildung ist kategorial(ebd.; Klafki 1985); Inhalte werdenzu Bildungsinhalten, wenn sie beispielsweise einen allgemeinen Sinn- oder Sachzu-sammenhangaufschlieen, fr das Selbstverstndnisder lernenden Person eine be-stimmte Bedeutung haben oder eine groe Bedeutung fr die Zukunft des Kindes(ebd.). Bildungsinhalte und Bildungsgehalte unterliegen somit der Geschichtlichkeit.Eine weitere Mglichkeit, die Sachdimensionder Bildung zu beleuchten, ist ihreBeziehung zur Wissenschaft bzw. ihre Wissenschaftlichkeit. Die Einfhrung in wis-senschaftliches Denken (und Handeln) erweist sich fr Bildung als gehaltvoll, weildamit beispielsweise gelernt werden kann, da wissenschaftliches Wissen fallibilisti-scher Natur ist, hypothetisch und deshalb anti-dogmatisch gehandhabt werden sollte,weil die Geschichtlichkeit von Theorien und Methoden erkannt werden kann, und weilu.a. gemerkt wird, da nicht nur die innerszientifische, die historisch-gesellschaftlicheund die transzendentalkritische Ebeneins Gesprch gebracht werden, sondern auchdie praktische Fragegestellt werden mu, wie zu handeln sei (S. 82).Als Fehlformder bildungstheoretischen Reflexion habe man im letzten Dreiviertel-jahrhundertmateriale Bildungstheorien angesehen, d.h. die Identifikation von Bil-dungsinhalt und Bildungsgehalt (Langewand, a.a.O., S. 82). Ein bekanntes Beispiel

    4 In den Worten Humboldts: Verknpfung unseres ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, reges-

    ten und freiesten Wechselwirkung, zit. ebd.).

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    einer material verstandenen Bildungstheorie ist die sogenannte Theorie des Klassi-schen, wonach Bildung primr durch die Berhrung mit kulturellen Klassikern (Goe-the, Schiller, Beethoven...) zustande kommen knne bzw. solle. Ein anderes Beispielist die szientistische These, wonach Bildung allein durch wissenschaftliches Wissenzustande komme. Langewand bezweifelt entschieden, da diese oder jene Varianteeiner material gefaten Bildungstheorie den Ansprchen und Erwartungen gengenkann, die einer Bildungskonzeption gegenber bestehen wrden5.Neben der materialen Ausrichtung der Sachdimension mu die formale Ausrichtungeiner Bildungstheorie erwhnt werden (ebd.). Damit ist die Behauptung gemeint, wo-nach es bei der Bildung eigentlich gar nicht um spezifische Inhalte gehe, sondern um(eben formale) Gren wie (1) Krfte, Kompetenzen, Vermgenetc., die zuwahren und frdern seien, bzw. (2) um Fhigkeiten, Fertigkeitenund Verfahren,die sich der Lernende an Inhalten aneigne (S. 83). Die erste Ansicht wird in der RegelfunktionaleBildungstheorie genannt, die zweite methodische, d.h. auf Verfahrenausgerichtete Bildungstheorie (ebd.). Solche formalen Konzeptionen von Bildung ht-ten in der Geschichte einen groe Nhe zu Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Um-brche gehabt; wo das kulturelle, politische und moralische Selbstverstndnis einerGesellschaft gefhrdet sei oder zerbreche, ziehe man sich gern auf inhaltsneutralePositionen zurck. Das erspart rger und die Anstrengung des Begriffs(ebd.).Schlielich sei die radikalste Form der Sachausrichtung erwhnt, nmlich die Aufhe-bung des Bildungsbegriffes durch denjenigen der Lernfhigkeit. Unter der system-theoretischen Perspektive mag der Bildungsbegriff als veraltete Reflexionssemantikdes Erziehungssystemverstanden werden, das sich ber seine eigene Rolle gegenberder gesellschaftlichen Umwelt Klarheit zu verschaffen sucht (ebd.). Diese Ansicht seian dieser Stelle nicht weiter ausgefhrt, da auf unbefriedigende Versuche, den Bil-dungsbegriff zu ersetzen oder ganz zu verabschieden schon oben hingewiesen wordenist.

    ad b) Bezglich der Zeitdimension konstituiert sich der Begriff der Bildung durch dieDifferenz von Geschichtsverlauf und Richtungssinn der Geschichte (Langewand,a.a.O., S. 84). Die Fortschrittsidee bzw. der Fortschrittsglaube (Fortschritt durch Bil-dung) besteht im Grunde darin, da Bildung als normative und normierende Katego-rie in einer Welt der Widersprche, Gegenstze und Kontingenzen mit der Rcknahmedieser Differenzen (Widersprche etc.) gleichgesetzt wird. Es darf und soll, schreibtLangewand, angenommen werden, da die Differenzen mit der Zeit abnehmen undvergehen(S. 84)6.

    5 Da in klassischen Werken sich eine Epoche ihr universales und zugleich individuelles Bild ge-

    schaffen hat, mag ja sein. Aber Klassiker sind meist ziemlich alt, und da mit ihnen die jeweiligeGegenwart angemessen aufgeschlossen werden kann, darf bezweifelt werden. Und ob z.B. derVorgang der Verwissenschaftlichung der Lebenswelt vor allem mit der kulturellen Semantik vor-wiegend agrarisch verfater Gesellschaften interpretiert werden kann, ist zumindest eine rechtkhne Behauptung(S. 82).

    6 Auf die Kritik dieser Ansicht wird noch gengend eingegangen werden. Die Gegenthese zu dieserFortschrittsidee von Bildung wurde in diesem Jahrhundert bekanntlich von Adorno formuliert,dies vor allem unter dem Titel der Halbbildung(vgl. Langewand, a.a.O., bzw. Adorno: Theo-rie der Halbbildung1972).

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    Unter dem Stichwort der temporren Dimension der Bildung erwhnt LangewandHumboldts Graecophilie, d.h. seine Bewunderung der griechischen Klassik. Der Bil-dung ist, anders als anderen gesellschaftlichen Schlsselbegriffen, ihr Blick zurcktypisch. Diese Rckbesinnung gibt der Bildung mitunter einen etwas melancholischenBeigeschmack. Glaube an Hherbildung, Kritik des Verfalls, wehmtige Erinnerungleben davon, da in ihnen der Lauf der Zeit und ihr Sinn divergierenschreibt Lange-wand unter dem Stichwort Geschichtlichkeit(S. 87). Wenn diese Differenz von Ver-lauf und Sinn negiert werde, gelange man zum Gedanken der Geschichtlichkeit allenGeschehens (ebd.), das bedeutet folglich, da es einen Richtungssinn von Geschichtenicht gibt. Langewand verweist neben Rousseau und Dilthey auf Weniger, der in sei-ner Didaktik als Bildungslehre festhlt, da was unter Bildung zu verstehen sei, nichtaus vermeintlich berzeitlichen Werten oder Normen (z.B. dem Autonomiegedanken),aber auch nicht aus philosophischen, anthropologischen oder auch pdagogischenTheorien ber den Menschen abgeleitet werden knne. Unter dem Aspekt der Histori-zitt mu Bildung in einer jeden historischen Situation einer Gesellschaft neu ausge-handeltwerden. Unter dieser zeitlichen Perspektive (Fokus auf Gegenwart) wird Bil-dung selbst zum radikal endlichen Unternehmen ohne hhere Absicherung und Ab-sichten(S. 88). Doch nach dem Niedergang geschichtsphilosophischen Denkens unabhngig davon, ob in der optimistischen, pessimistischen oder wehmtigen Varian-te und nach der bildungstheoretischen Entdeckung der Geschichtlichkeitkommedie Pdagogik in eine ambivalente Rolle(ebd.). Einerseits sehe sie, da sie sich aufdie Assistenz der historischen Bedingungen nicht (immer) verlassen knne, anderer-seits habe sie nur diese Bedingungen zum Anhalt. Sie suche Kompensation fr denverlorenen Geschichtssinn und erkenne zugleich, da sie zu einer solchen selbst unf-hig sei. In dieser Situation liege der Gedanke nahe, sich von der Bildung zu verab-schieden und jetzt beispielsweise Qualifikationenzu fokussieren, die der Bewlti-gung von Lebenssituationen dienen wrden. Doch die Pdagogen wren nicht Pd- agogen, lieen sie ab von ihren normativen Optionen: Die Bewltigung von Lebenssi-tuationen soll kritischerfolgen knnen, und hierfr wird nun erneut der alte Bil-dungsbegriff bemht(Blankertz, zit. nach Langewand, a.a.O., S. 89).

    ad c) Die Differenz in der sozialen Dimension betrifft diejenige von Lernen und Ver-bindlichkeit (Langewand, a.a.O., S. 89): Man kann (...) die Relation Lernen Ver-bindlichkeit, die fr den Bildungsbegriff mindestens so zentral ist wie die sachlicheund zeitliche Dimension, so thematisieren, da man fragt, wie in (nicht nur) pdagogi-scher Kommunikation, die dann auch noch bildende Ansprche an den Heranwachsen-den stellt, die Annahme und Geltung von kommunizierten Inhalten (Bildungsgehalten)mglich ist(S. 91). Hier schliet Bildungstheorie an die moderne Soziologie an undgleichzeitig verunmglicht sie sich damit tendenziell, dies sowohl im Rahmen derTheorie kommunikativen Handelns (Habermas) als auch systemtheoretisch (Luhmann).Die Differenz von Lernen und Verbindlichkeit betrifft die Frage, wie es zur Anerken-nung von Verbindlichkeit(en) kommt. Die moralische Schematisierung der Erziehungmit dem Dual Gut-Bse verunmglichte nach Langewand bis in unser Jahrhundert eineangemessene Lsung des Problems von Lernen und Verbindlichkeit. Es sei die Ein-sicht in die Geschichtlichkeitgewesen, die es der Pdagogik (der Dilthey-Nachfolge)ermglichte, einen akzeptierbaren Schlu zu folgern, nmlich da die Verbindlichkeitfr eine nachfolgende (gebildete) Generation sich nur in der Auseinandersetzung der

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    betreffenden Generation mit der jeweiligen Sache ergeben knne. Was gelernt ist, istgelernt; aber nur was in der Auseinandersetzung zwischen Schler, Sache und Lehrerzu bestehen vermag kann, wenn berhaupt, Anspruch auf einen bildenden Sinnma-chen. Was in der bildenden Begegnung als normativer Standard nicht zu bestehen ver-mag, kann auch auf fremde Autoritt zur eigenen Sttzung nicht hoffen(S. 90). DieDifferenz von Lernen und Verbindlichkeit kann freilich fundamentalistischunterlau-fen werden, d.h. wenn dem Kind absoluter Gehorsamund unbedingte Unterwer-fungabverlangt werden. Das kann auch unter den Fahnen der Freiheit und Selbstbe-stimmung geschehen (S. 92).

    Diese vorlufigen, freilich allgemein gehaltenen Kennzeichnungen zum Bildungsbeg-riff sollten zumindest aufgezeigt haben, da der Begriff vielfltig, umstritten und un-klar ist. Das ist natrlich weder ein hinreichender Grund dafr, ihn nicht zu bentzen,noch die Bildungsfrage in toto ad acta legen zu wollen. Die Fragen nach dem gutenLeben, nach dem guten Menschen und nach der guten Polis (vgl. von Hentig, a.a.O., S.27) sind fr demokratische Gemeinwesen nicht hintergehbar (vgl. Kp 4 & 5). Die Be-handlung dieser Fragen fhrt aber unausweichlich zur Thematisierung des Bildungs-mastabs und der Bildungsmglichkeit des Menschen. Denn zumindest ein Aspekt desBegriffs erscheint unbestreitbar klar: Bildung ist keine privatistische Angelegenheit,auch und gerade weil es um die Bildung des Subjekts geht. Subjektivitt ist nur unterder Bedingung menschlicher Pluralitt mglich, d.h. durch das Faktum, da die Men-schen immer in eine Welt der Menschen(Arendt) hinein geboren werden und ihreZeit unter anderen Menschen verbringen (vgl. 4.2.1). Bildung meint dann unabhn-gig davon, ob sie harmonisch oder tragisch gedacht wird immer die Konstitution desIchs im Wir. Da Bildung nicht ex nihilo erworben wird oder vllig zufllig, aber auchnicht durch systematische Belehrung oder Abrichtung (von Hentig, a.a.O., S. 23),macht sie nebst ihrem Reiz zu einem auch undankbaren Thema. Das subversiveElement im Bildungsproze, welches sich jeder Kontrolle (auch der Eigenkontrolle)entzieht, strt gegebenenfalls nicht nur ein im Grunde unntiges pdagogischesAllmachts- oder wenigstens Gestaltbarkeits- und Machbarkeitsgefhl, sondern gewiauch den Versuch, Bildung messerscharfzu denken. Es verleitet direkt dazu, Bas-tardstze, die sich zwangslufig blamieren mssen(Fischer 1998b, S. 136) zu formu-lieren. Subversivitt meint hier, da es letztlich in niemandes Macht steht, den anderenauch durch noch so raffinierten Unterricht und geschickte Erziehung zum Um- undWeiter-Denken zu bewegen (vgl. Fischer 1998a, S. 21) oder gar noch die Richtungdieses Denkens zu bestimmen. Bildung lt sich weder machen, mitteilen noch vermit-teln. Bildung ist immer Selbstbildung, d.h. aber keineswegs, da sie autonom oder sou-vern geschieht (vgl. Kp. 7 & 9).Mit dieser auch erfreulichen Subversivitt deutet sich an, da Bildung einen As-pekt des Menschen bezeichnet, der Freiheit genannt werden darf, die Freiheit nmlich,die den Menschen zur Person macht. Doch wo sich die Freiheit meldet, ergeht es, soscheint es jedenfalls, der Theorie schlecht. Und wenn kraft dieser Freiheit alles bildenkann d.h. auch die heruntergekommensten Formen von Kultur und entlegene undfragmentierte Erfahrungen und Wissensaneignungen dann ergeht es auch jeder Bil-dungstheorie schlecht, die partout dadurch berzeugen will, da sie die Freiheit nur inbestimmter Form akzeptiert, nmlich als moralische Autonomie, d.h. selbstgesetzge-bende Vernunft (vgl. Kant 1981). Doch woher soll dieses Wissen stammen, wonach

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    sich Bildung nur in Verbindung mit der in diesem Sinne domestiziertenFreiheit den-ken lt, ohne welche der Kern des Bildungsgedankens scheinbar verfehlt wrde? Undwo sind sptmodern die Quellen, die noch glaubhaft machen sollen, da das gebildeteEinzelindividuum an einer universellen Vernunft partizipieren msse, um autonomzu sein? Wie sinnvoll ist es (noch), Autonomie im Sinne der Selbstbestimmung inFreiheit, als einer empirisch (...) sehr unwahrscheinliche(n) Lage von Menschen(Meyer-Drawe 1998, S. 31), zur sakrosankten Notwendigkeitsbedingung von Bildungzu erheben? Mu nicht viel eher eine nicht-autonome, nicht-souverne Freiheit vor-ausgesetzt werden, damit Bildungsprozesse berhaupt mglich sind? Und wre dieseFreiheit dann unterentwickelt, ungeformt, weniger wertvollals jene, die mit mo-ralischer Autonomie (sensu Kant, Habermas oder Kohlberg) gleichgesetzt wird, unddie berhaupt erst mit Kant zu einem ethischen Begriff geworden ist? Autonomie sowird in dieser Arbeit argumentiert werden ist eine fr demokratische Lebensformennotwendige Unterstellung oder Zumutung. Bildung kann sich jedoch nicht daran mes-sen, in welchem Grad das Autonomieideal individuell realisiert bzw. erreicht wird, dasich personale Autonomie als ein nicht-empirischer Begriff berhaupt nicht messenlt, von auenschon gar nicht; dies war Kant, als dem HauptverantwortlichendesDenkens moralischer Autonomie, vllig klar (vgl. Hffe 1979; Reichenbach 1994).Wenn sich Bildung berhaupt messenlt, dann nur am Umgang mit eben diesergesellschaftlichen, juristisch wie ethisch notwendigen, aber immer kontrafaktischenUnterstellung und Zumutung, ein autonomes Subjekt sein zu mssen (vgl. Kp. 7).Mit diesen Bemerkungen ist vorgegriffen worden. Sie sollen als berleitung in ein we-niger problematisches Verstndnis von Freiheit, wie es soziologisch mit der Moderne-diskussion in Verbindung gebracht wird, fungieren. Die Frage nach einem zeitgens-sisch adquaten Verstndnis des Begriffs der Bildung wird unter Punkt 1.3 wieder und wiederum vorlufig aufgenommen, nachdem die Moderne unter Punkt 1.2 ausder Perspektive soziologischer Theorien zumindest in Fragmenten diagnostiziertworden ist.

    1.2 Moderne

    Nebst kurzen Erluterungen zum Begriff der Moderne (1.2.1) seien in diesem Unter-kapitel drei soziologische entwicklungs- und bildungstheoretisch m.E. interessieren-de Deutungen der Moderne hervorgehoben. Namentlich sei mit Ulrich Becks Risiko-gesellschaft (1986) auf die Gleichzeitigkeitvon modernen Individualisierungs- undStandardisierungsprozessen hingewiesen und die Situation der Kinder der Freiheitproblematisiert (1.2.2), mit Richard Mnchs Dialektik der Kommunikationsgesellschaft(1991, 1995) seien vier moderne Paradoxien erwhnt, welche das Bildungsdenken inzentralen Punkten betreffen (1.2.3), und mit Alain Touraines Pourrons-nous vivre en-semble? sei auf eine besonders ernchternde Diagnose der vorangeschrittenen Moder-ne verwiesen, vor allem was die Mglichkeiten des Politischen bzw. Demokratischenbetrifft. Touraine sei ber die bloeDiagnose hinaus auch seinem Konzept des Sub-jekts und dessen Bildung ein Stck weit gefolgt (1.2.4). Diesen Darstellungen wird imHinblick auf die Diskussion unter Punkt 1.3 schlielich ein Einwurf in die Kontin-genzproblematik der Moderne angehngt (1.2.5).

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    1.2.1 Moderne als Diskurskonstrukt

    Wie Uhle (1993) ausfhrt, ist es fraglich, Moderneoder Modernittals Epochen-bezeichnungen zu gebrauchen, auer als Gegenbegriffe des Jetztgegen Vorherge-hendes oder Altes(S. 19), u.a. auch weil sehr unterschiedliche Chronologien festzu-stellen sind: So gilt die Moderne sowohl als Projekt der Aufklrungseit dem 18.Jahrhundert, als sthetik des 19. oder 20. Jahrhunderts, als Avantgarde-Bewegung des20. Jahrhunderts, als politische Bewegung des 18. Jahrhunderts oder auch als kono-mische Betrachtungsweise und Situation des 19. Jahrhunderts, wobei die Begriffe derModerne bzw. der Modernitt in solchen Kontexten sowohl Epochen wie Richtungen,Generationenwandlungen wie Bewutseinsvernderungenbezeichnen wrden (ebd.).Fr die soziologischen und philosophischen Disziplinen fungiere der Umkreis vonModerneeher als Deutungsmuster zum Begreifen der Gegenwart als einer, die mitbestimmten Problemlagen oder bestimmten sozialen Wandlungen zu tun hat, die inKonfigurationen von vormodern, modern und modernisiert diskutiert werden(ebd.).Solche Deutungsmuster stellen etwa die soziologischen Theorien der Moderne alsfunktionaler Ausdifferenzierung von (sozialen) Teilsystemen (Parsons, Luhmann), derLogik der Kapitalverwertung (Marx) oder des Rationalisierungsprozesses (Weber) dar,welche Grunddynamiken markieren sollen, die moderne Gesellschaften prgen (vgl.Beck 1997d, S. 384). Allerdings, und hier ist Giddens (1991) zuzustimmen, meint dieRede von Moderne als Deutungsmuster nicht, da es hierbei um typisches professio-nelles Wissen, Expertenwissen oder spezifische theoretische bzw. philosophische Ein-oder Ansichten handele, vielmehr knnen moderneDeutungsmuster als gesamtge-sellschaftliches Phnomen benannt werden (vgl. auch 3.1). Insofern kann die Moderneund ihre Attribute adquat als Diskurskonstrukt zur Kennzeichnung gegenwrtigerLebensformen, Zustnde, Systembedingungen, Attitden, Gesinnungen, Bewutseins-formen u.s.w.gelten (Uhle, a.a.O., S. 20). Uhle verweist auf Weimann, nach welchemdie Diskurse um die Moderne als Thematisierungen eines Autoritts-, Legitimations-,Geltungs- oder Aneignungsproblems gelesen werden knnen (S. 21). Innerhalb desmodern-postmodernen Diskurses (vgl. 3.1.1) bzw. des Diskurskonstruktes von Mo-derne und Postmodernehat sich bekanntlich insbesondere das Problem moderner Le-gitimationsweisen verschrft (Uhle, a.a.O., S. 23), auf welches in prgnanter WeiseLyotard (1993/1979) hingewiesen hat, dessen Arbeit ber das Wissen in den hchst-entwickelten Informationsgesellschaften die frheste und vielleicht bedeutendstepostmoderneUntersuchung darstellt. Danach steht die Moderne fr ein in Rahmen-erzhlungen (sogenannte Meta-Narrationenoder groe Erzhlungen) vereinheit-lichtes bzw. der Vereinheitlichung fhiges Wissen (der Emanzipation der Mensch-heit, der Teleologie des Geistesund der Hermeneutik des Sinns), welche ihrer-seits von Lyotard in ihren hegemonialen Ansprchenkritisiert werden (wissen-schaftliche und nicht-wissenschaftliche) Sprachspiele knnen sich danach wederselber noch mit Referenz auf eine bergeordnete Rahmenerzhlunglegitimieren, unddie Wissenschaft, welche ihr eigenes Spiel spiele, kann keine anderen Sprachspielelegitimieren, vor allem entgehe ihr das der Prskription (S. 119). Moderne bzw. diefrhe, klassische moderne Debatte (vgl. Baumann 1997, S. 316f.) kann aus dieser Per-spektive als spekulatives und theoretisches Bemhen gefat werden, die Hoffnung und

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    den Willen auf eine neue Ordnung als mglichst vernnftig und unabwendbar zu arti-kulieren, namentlich die Hoffnung bzw. den Willen, die Welt anders und besser zumachen und diese Vernderung und Verbesserung auf globale, die gesamte Menschheitumfassende Dimensionen auszuweiten(a.a.O., S. 317; kursiv R.R.). In dieser ein-dringlichen und appelativen Weise ist die Moderne freilich heute schon klassisch,alt, hat sich hufig berlebt(Albrow 1997, S. 288). Ironischerweise steht Moderneso sowohl fr Vorstellungen eines skularen, bergeordneten, und rational aufzeigba-ren Ganzen nmlich als groe Erzhlungenbzw. groe Entwrfe(Fischer 1992) als auch fr ihr Gegenteil, fr die Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft, frdie unfreiwilligen Konsequenzen, die etwa die neutrale Einsicht in ein grund-, zweck-wert- und vernunftloses Weltall(Geier 1997, S. 51) mit sich bringt, fr die Einsicht indie objektive Gleichgltigkeit der Welt, kurz: fr das Hinausfallen aus Selbstverstnd-lichkeit und Fraglosigkeit, welches vor-moderneLebensformen mglicherweise er-folgreicher verhindern. Fr die Moderne steht somit sowohl der Traum und die Hoff-nung der Vernunft als auch ihre radikale Kritik und bittere Skepsis. Im Bereich derEthik etwa sind der Versuch, moralische Normen letztzubegrnden, und der Versuch,zu zeigen, warum Letztbegrndungen nicht mglich sind, gleichermaen modern, sowie den einen (moralische) Autonomie als Voraussetzung und Preis der Moderne gilt,wo sie den anderen blo eine Variante des Versuchs ist, die Stimme Gottes zu skula-risieren (Murdoch 1993). In Bezug auf den ideellen Hintergrund der Moderne bzw.ihre Philosophie(in einem schwachen Sinn) darf mit guten Grnden eine Unber-sichtlichkeitbehauptet werden, die anders als im Jargon eines selbsts