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Der Todesengel von Agadir

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Eve Tarbot

Der Todesengel von Agadir

Irrlicht Band 318

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»Haben Sie Angst vor dem Tod?« fragte der blinde Seher. Barry räusperte sich. »Fragen Sie mich das aus einem bestimmten Grund?« Mohammed Hassan begann heftig zu atmen. »Ich sehe Schwärze, eine tiefe, häßliche, bedrohliche Schwärze. Es ist die Farbe des Bösen, des Unheils, des Hasses, der Rache, des Todes.« »Bringen Sie diese Schwärze mit mir in Zusammenhang?« fragte Barry nervös. Der Seher antwortete nicht. »Ich sehe Flügel. Schwarze Flügel. Die Flügel eines Todesengels. Er schwebt schon über der Stadt.« Oh, mein Gott, dachte Sandra entsetzt. Er sieht den Todesengel von Agadir. Wie ist das möglich. »Sehen Sie auch eine Frau?« wollte Barry wissen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Der Alte nickte. Er zog die Augenbrauen zusammen und sagte schleppend: »Nehmen Sie sich vor ihr in Acht, denn sie – sie ist der Todesengel.«

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Der alte Mann war blind. Mit seinen weißen Augäpfeln blickte er in die Welt, konnte nichts sehen – und sah doch mehr als jeder andere.

Deshalb nannten sie ihn den ›Seher‹, und sie verehrten ihn wie einen Heiligen. Sein Burnus war so weiß wie sein langer, wallender Bart.

Er saß im Staub der Straße. Man schrieb das Jahr 1960, und der Seher sprach – umringt von Menschen, die bereit waren, zu glauben, was er sagte – von einer schrecklichen Vision.

»Der Tod wird Einzug halten in Agadir«, verkündete er mit rasselnder Stimme.

»Wann?« wurde er gefragt. »Bald. Sehr bald schon.« »Was siehst du, alter Mann?« »Ich sehe Blut. Ich sehe Leid. Ich sehe Tränen. Und ich sehe

eine grauenvolle verwüstete Stadt.« »Wodurch wird sie verwüstet?« wollte einer der

Umstehenden wissen. Mohammed Hassan, der Blinde, ging nicht auf diese Frage

ein. Er ›blickte‹ mit seinen glänzenden weißen Augäpfeln in die Runde und sagte leise: »Verlaßt Agadir, meine Freunde.«

»Wohin sollen wir gehen? Wo sind wir sicher?« »Geht nach Taroudant. Geht nach Marrakesch. Geht nach

Quarzazate. Ihr seid überall sicher. Nur nicht hier.« »Wirst auch du die Stadt verlassen?« »Ja«, nickte der Seher. »Wann?« »Noch heute.« »Wohin wirst du gehen?« »Nach Tafraout«, gab Mohammed Hassan zur Antwort. »Dürfen wir uns dir anschließen?« »Ich habe nichts dagegen«, sagte der blinde Weissager.

Wenig später brach er auf. Sein Esel trug ihn aus der Stadt, und

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eine kleine Gruppe von Männern und Frauen folgte ihm nach Tafraout.

Sie kamen dort am 29. Februar an. In der Nacht zum 1. März wurde Agadir durch das schwerste Erdbeben seit Menschengedenken fast völlig zerstört.

15.000 Menschen fanden innerhalb weniger Augenblicke den Tod. Die Schreckensmeldungen gingen um die ganze Welt.

Wieder einmal war eine Prophezeiung des Sehers eingetroffen…

Die Koffer standen gepackt in der Halle. Barry Carpenter rief seine Frau: »Schatz!«

»Ich bin hier!« kam es von oben aus dem Bad. Carpenter seufzte. Nie wird sie rechtzeitig fertig, dachte er.

»John wird gleich eintreffen!« rief er. John Malloy war sein Agent. Der siebenundvierzigjährige Barry Carpenter war Drehbuchautor. Er hatte einige Filme geschrieben, die international sehr erfolgreich gewesen waren.

»Ich bin in einer Sekunde fertig«, versprach Sandra Carpenter ihrem Mann.

»Ich kenne deine Sekunden.« »Och, dräng mich bitte nicht, Schatz, sonst dauert es noch

länger.« Auf einem lisch lagen die Reisedokumente. »Wo ist dein

Paß?« wollte Barry Carpenter wissen. »Wie bitte?« »Dein Paß. Wo ist er? Er ist nicht bei den Tickets!« rief der

Autor. »Er ist in meiner Handtasche.« »Bist du sicher?« »Ich glaube schon.« »Ich sehe besser nach«, sagte Barry Carpenter und öffnete die

Handtasche seiner Frau. »Hast du ihn gefunden?« rief sie.

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»Noch nicht.« Er begann zu wühlen. »Was du alles mitnimmst.«

»Je größer die Tasche, desto mehr tut man hinein.« »Du solltest sie mal ausmisten.« »Ich fürchte, dafür wird die Zeit nicht mehr reichen. Ich

mache das in Marokko. Wieso fliegen wir eigentlich nicht direkt nach Agadir.«

»Ich kann die Zwischenlandung in Casablanca leider nicht verhindern, Schatz.«

»Zweimal starten, zweimal landen. Wo ich ohnedies so ungern fliege.«

»Es war dein Wunsch, in Marokko Urlaub zu machen.« Carpenter fand den Paß. »Ich habe ihn, Schatz!« meldete er seiner Frau.

»Wen?« »Deinen Paß.« »Ach so.« »Ich nehme ihn zu den Tickets.« »In Ordnung.« Der gutaussehende Autor warf einen Blick auf seine

Armbanduhr. »Die Sekunde ist um, Schatz.« »Ich bin fertig.« Sandra Carpenter erschien. Langbeinig,

schlank und blond wie ein Engel. Sie war zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, doch der Altersunterschied war in dieser, von inniger Liebe, geprägten Ehe kein Thema.

Quirlig lief Sandra die Treppe hinunter. Sie trug ein elegantes Designerkostüm, und Barry konnte nicht umhin, ihr zu sagen: »Du siehst hinreißend aus. Das Warten hat sich gelohnt.«

Draußen fuhr ein Wagen vor, eine Tür wurde zugeschlagen, und Schritte näherten sich der Haustür. Gleich darauf ertönte der melodische Gong. Der Autor ließ seinen Freund und Agenten ein. John Malloy war ein Schlitzohr allerersten Ranges, und genau so jemand mußte Barry Carpenters

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Interessen vertreten, denn Barry konnte zwar gute Geschichten erfinden, aber als Kaufmann taugte er überhaupt nichts. Er ließ sich viel zu leicht über den Tisch ziehen. Bei John versuchte man das erst gar nicht, weil es sich in der Branche schon längst herumgesprochen hatte, daß dies nicht möglich sei.

John Malloy verzog seinen breiten Mund zu einem noch breiteren Grinsen. »Na, seid ihr soweit? Kann’s losgehen?«

»Hilfst du mir mit dem Gepäck?« fragte Barry Carpenter. »Erst noch ein Kuß für Sandra«, sagte der Agent. »Soviel

Zeit muß sein.« Er drückte der Frau seines Freundes mit seinen wulstigen Lippen einen dicken Kuß auf die Wange. »Sandra-Baby, du siehst bezaubernd aus.«

»Danke, John«, sagte die junge Frau. »Solltest du mal von Barry genug haben – meine Tür steht

immer für dich offen.« Der dunkelhaarige Autor wiegte mit grimmigem Blick den

Kopf. »Du bist mir vielleicht ein Freund.« John Malloy hob die Hände. »Ich wollte es nur für den Fall der Fälle gesagt haben.« »Zur Strafe mußt du Sandras Koffer tragen«, sagte Barry

Carpenter. »Mit dem größten Vergnügen. Welcher ist es?« »Der da«, antwortete Barry. »Natürlich der größte und

schwerste.« »Für Sandra bin ich jederzeit bereit, mir einen Bruch zu

heben.« »Ja, ja, schon gut«, brummte Barry. »Quatsch nicht soviel.

Nimm endlich den Koffer und trag ihn zum Wagen.« »Schade, daß ich nicht mitkommen kann«, seufzte John

Malloy. Barry Carpenter zog die Mundwinkel nach unten. »Ich glaube

nicht, daß wir dich vermissen werden.«

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Jetzt wiegte der Agent mit grimmigem Blick den Kopf und erwiderte: »Du bist mir vielleicht ein Freund.«

Sie trugen das Gepäck zu Johns Bentley, und wenig später waren sie zum Heathrow Airport unterwegs.

Sie hatten London vor einer halben Stunde verlassen. Das monotone Brausen der Düsen erfüllte die Maschine. Eine junge Stewardeß der Royal Air Maroc verteilte Zeitungen.

In der Abflughalle hatte John Malloy das Ehepaar umarmt und an sich gedrückt (Sandra ein wenig inniger als Barry) und gesagt: »Ich wünsche euch eine schöne Zeit in Marokko.«

»Danke, John«, hatte Barry Carpenter erwidert. »Erholt euch gut.« »Das tun wir«, hatte Barry gesagt. »Vor allem von dir«, hatte

er grinsend hinzugefügt. John hatte mit dem Zeigefinger gegen Barrys Brustbein

gestochen. »Mach deiner Frau kein Baby, hörst du?« »Warum denn nicht?« hatte Barry irritiert gefragt. »Weil sich ein so unleidlicher Mensch wie du nicht

vermehren soll.« Die Carpenters waren durch die Paßkontrolle gegangen, und

nun waren sie seit dreißig Minuten unterwegs nach Marokko. Barry Carpenter blätterte die Zeitung durch, die ihm die

Stewardeß gegeben hatte. Die Meldungen verwunderten ihn sehr. Es wurde berichtet, daß Konrad Adenauer im nächsten Jahr zum drittenmal zum Kanzler gewählt werden wollte, daß sich der israelische Staatschef David Ben-Gurion mit seinem Landwirtschaftsminister Moshe Dayan zu einem Vier-Augen-Gespräch getroffen hatte, daß der Bestseller von Truman Capote, ›Frühstück bei Tiffany‹, verfilmt worden war und demnächst in die Kinos kommen sollte, daß Muhammad Ali sich bei den Olympischen Spielen im Halbschwergewicht die Goldmedaille geholt hatte…

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»Die Stewardeß hat sich mit mir einen Scherz erlaubt«, sagte Barry Carpenter zu seiner Frau.

»Wieso?« fragte Sandra. »Sie hat mir eine Zeitung aus dem Jahr 1960 gegeben.« »Das ist doch nicht möglich.« »Sieh auf das Datum.« »Das muß ein Druckfehler sein.« »Und die ganzen Uraltmeldungen? Auch Druckfehler?« Die Stewardeß befand sich drei Reihen vor ihnen. Sie wandte

ihnen den Rücken zu und sprach mit einem Passagier. Barry Carpenter beugte sich über seine Armlehne und rief sie. Sie drehte sich langsam um – und im gleichen Augenblick war ihm, als würde ihm ein Eissplitter ins Herz fahren. Verstört riß er die Augen auf, und er spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich.

»Edna!« stieß er fassungslos hervor. »Barry! Barry!« Jemand rüttelte an seiner Schulter. Er schreckte hoch und

starrte seine Frau entgeistert an. Es war keine Stewardeß in der Nähe, und er hatte auch keine Zeitung in seinen Händen.

»Bist du okay, Liebling?« fragte Sandra Carpenter besorgt. Er antwortete nicht. »Bist du okay?« wiederholte Sandra. »Ja«, nickte er. »Ja, ich bin in Ordnung.« »Du bist ganz blaß.« »Es geht mir gut.« »Du hast geschlafen.« »Ja?« »Hattest du einen Alptraum?« fragte Sandra. Sie nahm ein

Latextuch und wischte damit behutsam die großen Schweißperlen von seiner Stirn.

»Ich glaube ja«, antwortete der Autor. Seine Hände waren kalt und feucht.

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»Was hast du geträumt?« Barry Carpenter zuckte mit den Achseln. »Ich kann mich

nicht erinnern«, antwortete er. »Oder doch. Die Stewardeß hatte mir eine Zeitung aus dem Jahr 1960 gegeben.«

»Und das hat dich dermaßen erschreckt?« »Scheint so.« »Was hat in der Zeitung gestanden?« wollte Sandra wissen. Er sagte es ihr. »Diese Meldungen können dich doch wohl nicht besonders

erschreckt haben«, meinte Sandra. »Ich weiß nicht, was mich geschockt hat«, erwiderte der

Autor. »Sieht so aus, als würdest du es verdrängen. Erinnerst du dich an weitere Einzelheiten?«

Barry Carpenter schüttelte den Kopf. »Nein.« »Wer ist Edna?« wollte Sandra unvermittelt wissen. »Edna?« Barry sah sie verdattert an. »Wieso fragst du mich

das?« »Du hast diesen Namen genannt.« »Das kann nicht sein.« »Ich hab’s doch gehört.« »Du mußt dich irren«, sagte Barry heiser. »Okay«, sagte Sandra eingeschnappt. »Ich weiß zwar, was

ich gehört habe, aber – ich irre mich.« Sie drehte den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster.

Unter ihnen glitzerte der Atlantik. Sie flogen in zehntausend Metern Höhe, und der Tanker, den Sandra entdeckte, hatte die Größe einer Ameise.

Sandra liebte ihren Mann, wenngleich er manchmal etwas eigenartig war. Künstler kann man nicht mit normalen Maßstäben messen, sagte sie sich immer wieder. Sie sind anders als andere Menschen, und sie brauchen das wohl für ihre Kreativität.

Barry hatte zum Beispiel keine Vergangenheit.

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Selbstverständlich hatte er eine, aber er wollte nicht darüber reden, und Sandra hatte das zu respektieren. Das Leben, das er früher geführt hatte, lag für sie in undurchdringlichem Dunkel. Sie wußte nicht, was vor ihrer Zeit gewesen war, und hatte keine Ahnung, warum ihr Mann seine Vergangenheit so beharrlich abschottete. Liebe und Vertrauen halfen ihr, damit fertigzuwerden. Barry Carpenter war ein anständiger Mensch. Er hatte in seinem früheren Leben bestimmt nichts Unrechtes getan, und nur das war ihr wichtig.

Aber wer ist Edna? ging es Sandra durch den Sinn. Jemand aus seiner geheimnisumrankten Vergangenheit? Warum will er nicht über sie reden?

Irgendwann würde Barry es ihr sagen müssen. Das und noch vieles mehr. Sie waren seit drei Jahren verheiratet, und Sandra hätte gerne, was ihrer Ansicht nach nur zu verständlich war, mehr von ihrem Mann gewußt.

Eines Tages muß er sein Schweigen beenden und mir alles, alles erzählen, dachte sie.

*

Die Zwischenlandung in Casablanca hatte ihr, sie hatte es befürchtet, nicht gutgetan. Als die Maschine etwa eine Stunde später auf dem Flugplatz von Agadir aufsetzte, machte sie nochmal einiges mit, aber als sie dann neben ihrem Mann im Taxi saß, ging es ihr schon wieder besser.

Barry erkundigte sich nach ihrem Befinden. »Ich bin wieder auf dem Damm«, nickte Sandra. Sie zwang

sich zu einem Lächeln. »Diese dumme Flugangst. Wann werde ich sie endlich ablegen?«

»Es geht vielen Menschen wie dir«, tröstete ihr Mann sie.

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»Obwohl Flugzeuge zu den sichersten Verkehrsmitteln unserer Zeit gehören.«

»Wir werden in Zukunft öfter verreisen, damit du dich ans Fliegen gewöhnst.«

Der Taxifahrer fuhr, als wäre er vor irgend etwas auf der Flucht. Er überholte Eselskarren und Autobusse, und aus dem Autoradio dudelte marokkanische Musik.

Der Tag vor genau zwei Monaten fiel Sandra Carpenter ein. Damals hatte ihr Mann sich auch recht seltsam benommen. Am Vormittag hatte er zu ihr gesagt: »Mein neues Drehbuch ist fast fertig.«

»Meinen Glückwunsch«, hatte Sandra erwidert und ihm einen zärtlichen Kuß auf den Mund gegeben.

»Ich bin noch nicht hundertprozentig zufrieden«, hatte Barry gemeint. »Einige Szenen funktionieren noch nicht so, wie ich es mir vorstelle, aber das kriege ich bis zum Drehbeginn schon noch hin.«

»Und was nimmst du danach in Angriff?« hatte Sandra sich erkundigt.

»Nichts.« »Nichts?« Er hatte mit beiden Händen nach ihr gegriffen und sie auf

seine Knie gezogen. »Was hältst du von einem mehrwöchigen Urlaub?«

»Sehr viel.« »Ausspannen. Faulenzen. In der Sonne liegen. Mit der Seele

baumeln… Liebe machen.« »Hört sich großartig an. Und wo soll das alles stattfinden?« Barry hatte mit den Achseln gezuckt. »Wo immer du

möchtest.« Sandra war also ins Reisebüro gegangen und mit Prospekten

von Marokko wiedergekommen. »Marokko«, hatte Barry gesagt. »Warum nicht?«

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Aber sie hatte ihn angesehen, daß er nicht sonderlich begeistert gewesen war. Und noch eigenartiger war sein Benehmen geworden, als sie ihm gesagt hatte, daß sie mit ihm in Agadir Urlaub machen wollte.

»Muß es ausgerechnet Agadir sein?« hatte er heiser gefragt. »Was hast du gegen Agadir?« »Wir könnten nach Tanger fliegen. Oder nach Rabat. Oder

nach Casablanca…« »Der junge Mann im Reisebüro hat mir Agadir empfohlen.« »Agadir.« Barry hatte schwer geseufzt. »Na schön.« Sandra hatte ihm mehrere Hotels gezeigt. Er hatte sich die

Fotos kaum angesehen. Es war ihm gleichgültig gewesen, für welches sie sich entschied. Eines schien ihm genauso wenig recht zu sein wie das andere.

Warum ihr Mann sich mit Agadir als Urlaubsziel nicht anfreunden konnte, wußte Sandra bis heute nicht.

Sie betrachtete ihn jetzt während der rasanten Taxifahrt heimlich. Er wirkte angespannt und nervös. Und seine Erregung steigerte sich offenbar von Minute zu Minute. Er schien sich aus irgendeinem Grund zu wünschen, Agadir nie zu erreichen.

Sandra legte ihm die Hand sanft auf den Arm. Er zuckte wie unter einem Stromstoß zusammen und sah sie mit zuckenden Augenlidern an.

»Ich liebe dich«, sagte Sandra. »Ich liebe dich auch«, gab Barry irgendwie mechanisch

zurück. »Ich freue mich auf diese unbeschwerte Urlaubszeit mit dir.« »Ich freue mich auch«, sagte Barry, doch seine Frau hatte

einen anderen Eindruck. »Wo bist du mit deinen Gedanken?« erkundigte sich Sandra. »Nirgendwo«, antwortete Barry. »Bedrückt dich irgend etwas?«

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Der Autor schüttelte den Kopf. »Nein.« »Bestimmt nicht?« »Bestimmt nicht«, versicherte Barry Carpenter seiner jungen,

attraktiven Frau. Sie erreichten die Stadtgrenze. Vor ihnen lag die große

Hafenstadt, die schon vor dreißig Jahren der mondänste Badeort des Landes gewesen war. Fünfzigtausend Einwohner hatte die Stadt gezählt, als das furchtbare Erdbeben sie fast völlig zerstört hatte. Heute war von dieser Katastrophe nichts mehr zu sehen. Agadir war neu erblüht, und die Touristen strömten in Massen herbei, um in den schönen, gut geführten Hotels von internationalem Standard ihre Ferien zu verbringen. Selbst im Winter konnte man hier baden, denn das Thermometer sank nie unter sechzehn Grad Celsius.

»Wiedergeburt«, sagte Barry mit einem Mal. »Glaubst du an Wiedergeburt, Sandra?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Eigentlich nicht.« »Ein Mensch stirbt und kommt wieder auf die Welt.« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Was tot ist, ist tot und

bleibt tot. Jedenfalls sehe ich das so.« »Wieso können sich manche Menschen dann aber in

Hypnose an ein früheres Leben erinnern?« Sandra zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht

glauben sie auch nur, sich zu erinnern.« »Sie wissen Dinge, die sie vor der Hypnose nicht wußten.« »Weil es aus irgendeinem Grund in ihrem Kopf verschüttet

war.« Sandra Carpenter sah ihren Mann prüfend an. »Wieso kommst du plötzlich auf dieses Thema?«

»Ich weiß es nicht.« »Glaubst du, schon mal gelebt zu haben?« »Ich würde es zumindest nicht so vehement ausschließen wie

du.«

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Schon mal gelebt – wann? grübelte Sandra. Schon mal gelebt – wo? Vielleicht hier? In Agadir? Hat Barry sich deshalb unbewußt dagegen gesträubt, hier Urlaub zu machen? Gott, was soll ich davon halten?

»Mir ist, als wäre ich schon einmal hier gewesen«, sagte Barry leise.

*

Ihr Hotel befand sich direkt am Strand. Ein moderner Glaspalast mit allem Drum und Dran – Cafe, Bar, Nachtklub, Tennis, Minigolf… Nachdem der Page das Gepäck abgestellt und sich mit einem fetten Trinkgeld zurückgezogen hatte, trat Sandra auf den Balkon hinaus. Vor ihr erstreckte sich die weite Bucht von Agadir mit ihrem acht Kilometer langen Sandstrand. Sandra sagte sich, daß sie eine gute Wahl getroffen habe. Ihr gefiel es hier.

Barry trat hinter sie und schloß sie in seine Arme. »Nun bist du da, wo du hinwolltest«, flüsterte er in ihr Ohr.

Sandra schmiegte sich an ihn. »Wir werden hier eine sehr glückliche Zeit verbringen.«

»Das hoffe ich.« Sandra drehte sich in seiner Umarmung langsam um und

hauchte ihm einen Kuß auf die Lippen. »Wo wären wir gelandet, wenn du das Urlaubsziel ausgesucht hättest«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, gab Barry zur Antwort. »Aber bestimmt nicht hier.« »Ich weiß es nicht«, sagte Barry. »Hast du irgend etwas an Agadir auszusetzen?« fragte

Sandra.

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Er ließ seinen Blick über die Bucht schweifen. »Nein.« Sie lächelte. »Und so wird es auch bleiben. Laß mich nur

machen. Ich werde dafür sorgen, daß dies der schönste Urlaub deines Lebens wird.«

Sie ahnte nicht, daß sie dieses Versprechen nicht würde halten können.

Barry Carpenters Handy läutete, als sie am zweiten Tag in einem der gemütlichen Strandcafes bei Bier und Wein auf den Sonnenuntergang warteten.

»Entschuldige«, sagte der Autor zu seiner Frau. »O nein«, protestierte Sandra, »warum hast du dieses Ding

mitgenommen?« »Tut mir leid, Schatz, aber ich muß verfügbar sein.« »Wir sind im Urlaub.« Barry hakte das Mobiltelefon von seinem Gürtel los, nahm

den Anruf aber noch nicht entgegen. »Ich habe John versprochen, daß er mich jederzeit erreichen kann, falls es irgendein Problem gibt.«

»Damit er dich zurückholen kann?« »Wir fliegen nicht zurück«, versprach der Autor seiner Frau.

»Hab keine Angst. Was immer John auf dem Herzen hat – ich werde es telefonisch regeln, okay?« Er drückte auf die grüne Taste und meldete sich.

Am andern Ende war tatsächlich sein Agent, aber er überfiel Barry mit keinem Problem. Er wollte lediglich wissen, wie es seinen Freunden in Marokko gefiel.

»Ist alles zu eurer Zufriedenheit?« fragte er, als fühlte er sich für Sandras und Barrys Unterbringung verantwortlich.

»Wir können nicht klagen«, antwortete der Autor. »Wie ist denn das Wetter bei euch?« »Es könnte nicht besser sein.« »Verdammt«, knurrte der Agent. »Wieso?«

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»Weil es hier nämlich wie aus Eimern schüttet.« Barry Carpenter lachte. »Deshalb geht der gebürtige

Londoner nie ohne Schirm aus dem Haus.« Während Barry das Gespräch mit seinem Freund und

Agenten fortsetzte, betrachtete Sandra die vorbeiflanierenden Menschen. Ihr fiel dabei ein Mann auf, ein Einheimischer mit olivfarbener Haut, Raubvogelnase und stechenden Augen, die wie Kohlenstücke glänzten. Er trug eine schmuddelige Djellabah und starrte Sandra so feindselig an, daß ihr unwillkürlich der Atem stockte. Als er sah, daß sie ihn bemerkt hatte, wandte er sich um und verschwand mit raschen Schritten.

»Ich soll dich ganz herzlich von John grüßen«, sagte Barry Carpenter und klemmte sein Handy wieder an den Gürtel.

Sandra reagierte nicht. »Schatz.« Sandra sah ihn nicht an. »Schatz, was ist mit dir?« fragte der Autor besorgt. Sandra richtete ihren Blick auf ihn. »Großer Gott, Liebling, du siehst aus, als wäre dir ein Geist

erschienen.« »Da – da war ein Mann…«, stammelte Sandra. »Ein Mann? Was für ein Mann?« »Ein Marokkaner.« »Ja? Und? Das ist in diesem Land nicht ungewöhnlich.« »Er hat mich angestarrt, als wäre ich seine größte Feindin.« »Du? Das gibt’s doch nicht. Wo ist er?« »Weggelaufen«, antwortete Sandra mit belegter Stimme. »Warum hast du mich nicht gleich auf ihn aufmerksam

gemacht?« »Du hast telefoniert.« »Wie sah der Mann aus?« Sandra beschrieb ihn.

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Barry Carpenter ballte die Hände zu Fäusten. »Sollte der Mistkerl in den nächsten Tagen noch mal unseren Weg kreuzen, kann er was erleben.« Er legte Geld auf den Tisch und stand auf. »Komm, Schatz, wir gehen.«

Auf dem Rückweg zum Hotel drehte sich Barry immer wieder um und hielt nach dem Marokkaner mit den stechenden Augen und der Raubvogelnase Ausschau, aber der Unbekannte ließ sich nicht mehr blicken.

Im Hotel händigte der Empfangschef Barry mit dem Zimmerschlüssel ein Kuvert aus.

»Eine Nachricht?« fragte Sandra überrascht. »Von wem?« Barry riß den Umschlag auf und entnahm ihm ein völlig

leeres Blatt Papier. »Sehr lustig«, knurrte er ärgerlich. »Ich könnte mich kranklachen. Da hat mir jemand nichts zu sagen.« Er knüllte das Papier zusammen und warf es in den Mülleimer, dann ging er zum Empfang zurück und fragte: »Wer hat Ihnen den Umschlag für mich gegeben?«

»Eine Frau«, antwortete der Marokkaner. »Eine Frau?« staunte Barry Carpenter. Der Empfangschef nickte. »Marokkanerin?« fragte Barry. Der Empfangschef schüttelte den Kopf. »Nein, Mr.

Carpenter.« »Wohnt sie hier im Hotel?« »Nein, Mr. Carpenter«, wiederholte der Empfangschef. »Haben Sie sie schon mal gesehen?« »Nein, Mr. Carpenter.« »Na schön. Ich danke Ihnen«, sagte der Autor und verließ mit

seiner Frau die große Marmorhalle. Kaum waren sie in ihrem Zimmer, läutete das Telefon. »Gehst du bitte ran, Schatz?« sagte Barry, während er sein

Handy auf den Schreibtisch legte und die Jeans auszog. Sandra nahm den Hörer ab. »Ja, bitte?«

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»Zimmer dreihundertvier?« fragte eine dunkle Frauenstimme. Vielleicht jemand vom Hotel?

»Ja«, antwortete Sandra, während ihr Mann sein Poloshirt über den Kopf zog.

»Mrs. Carpenter?« fragte die Frau. »Ja.« »Ist Ihr Mann bei Ihnen?« »Ja«, sagte Sandra. Barry trug nur noch seinen

mitternachtsblauen Slip. »Möchten Sie ihn sprechen?« fragte Sandra.

»Nein«, sagte die Frau am andern Ende der Leitung. »Ich habe vorhin Ihren Namen nicht verstanden.« »Ich habe meinen Namen nicht genannt.« »Und warum nicht?« fragte Sandra spröde. Sie hatte etwas

gegen Leute, die am Telefon anonym bleiben wollten. »Ich habe meine Gründe«, erklärte die Unbekannte. »Verraten Sie sie mir«, verlangte Sandra. »Sie sind sehr jung, Mrs. Carpenter«, stellte die Fremde

unvermittelt fest. »Ihr Mann… Er könnte Ihr Vater sein.« Ein jäher Ruck ging durch Sandras Körper. »Was geht Sie

das an?« fragte sie gereizt. »Lieben Sie Barry?« Sandra antwortete nicht. »Wenn Sie ihn lieben, geben Sie gut auf ihn acht, damit ihm

nichts zustößt«, empfahl ihr die Unbekannte. »Wer – sind – Sie?« fragte Sandra mit belegter Stimme. »Ich?« gab die Fremde frostig zurück. »Ich bin der

Todesengel von Agadir.«

*

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»Liebling!« stieß Barry Carpenter erschrocken hervor. Sandra war blaß geworden und zitterte. Er eilte zu ihr und nahm ihr den Telefonhörer aus der kraftlosen Hand. »Hallo? Hallo, wer ist da?«

Es war niemand mehr dran. Die Leitung war tot. Barry legte auf. Er drängte seine Frau zum Bett und zwang sie mit sanfter Gewalt, sich zu setzen. Sandra starrte verstört die Wand an.

»Wer war das, Schatz?« fragte der Autor besorgt. »Mit wem hast du gesprochen?«

»Mit einer Frau«, antwortete Sandra, ohne ihn anzusehen. »Die, die mir dieses vielsagende Schreiben zukommen ließ?« »Das hat sie nicht erwähnt.« »Was wollte diese Frau? Hat sie ihren Namen genannt?« »Nein.« »Was hat sie gesagt?« Sandra erzählte es ihm stockend. Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Die

Frau ist verrückt.« »Wieso rät sie mir, ich soll auf dich achtgeben, damit dir

nichts zustößt? Wieso nennt sie sich ›Todesengel von Agadir‹? Woher kennt sie dich? Was führt sie gegen dich im Schilde?«

»Sie muß geisteskrank sein«, erwiderte Barry Carpenter. Ein ängstlicher Schluchzer entrang Sandras Kehle. »Ich

mache mir Sorgen, Barry.« »Das brauchst du nicht. Vergiß die Irre.« Der Autor rief die

Zentrale an und sagte, man solle keine Anrufe mehr nach 304 durchstellen.

Sandra sah ihren Mann beunruhigt an und flüsterte: »In dieser Stadt leben Menschen, die uns hassen.«

*

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Den nächsten Vormittag verbrachte das Ehepaar in der großen, von einer roten Mauer umgebenen Kasba. Sie ließen sich mit bunt gekleideten Wasserträgern fotografieren, feilschten mit redegewandten Lederhändlern und tranken in einem einfachen Lokal stark gesüßten Pfefferminztee.

Ein magerer Junge sprach sie in mehreren Sprachen an, bis er herausfand, daß sie Engländer waren. »Sind Sie an Ihrer Zukunft interessiert?« fragte er sie in ihrer Muttersprache.

»Kannst du sie uns etwa voraussagen?« fragte Barry Carpenter lachend zurück.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich nicht, aber Mohammed Hassan kann es. Er ist sehr alt. Und sehr weise. Obwohl er blind ist, kann er in die Zukunft sehen. Er ist ein Heiliger. Man nennt ihn den Seher. Er hat schon vieles prophezeit.«

»Und wieviel davon ist eingetroffen?« wollte Barry wissen. »Alles«, gab der Junge zur Antwort. »Für zehn Dirham

bringe ich Sie zu ihm.« Barry Carpenter sah seine Frau an. »Wollen wir zu

Mohammed Hassan gehen?« »Lieber nicht«, antwortete Sandra unangenehm berührt. »Warum nicht?« fragte Barry verwundert. »Wer weiß, was der Seher uns erzählt.« Barry lächelte. »Vielleicht, daß wir steinalt und bis an unser

Ende miteinander glücklich sein werden.« »Ich bin nicht so versessen darauf, zu erfahren, was die

Zukunft bringt«, meinte Sandra mit leicht belegter Stimme. »Vielleicht sieht dieser Blinde etwas Unerfreuliches.«

»Dann können wir uns rechtzeitig davor schützen.« »Was der Seher sieht, muß passieren, sonst kann er es nicht

sehen«, hielt Sandra dagegen. »Dann können wir uns immerhin beizeiten seelisch darauf

vorbereiten«, sagte Barry unnachgiebig.

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Sandra zögerte noch. »Komm schon«, drängte ihr Mann sie, »auch das gehört zu

einem Besuch der Altstadt.« Der geschäftstüchtige Junge streckte ihm die Hand entgegen.

»Zehn Dirham. Zehn Dirham.« Barry gab ihm das Geld, und der Junge führte sie durch die

engen, winkeligen Gassen der Kasba zu einer schäbigen Wellblechhütte.

»Was nimmt eigentlich Mohammed Hassan für seine Weissagungen?« wollte der Autor wissen.

»Was Sie gerne geben«, antwortete der Junge. »Was ist, wenn ich ihm zuwenig gebe? Sagt er mir dann eine

schlechtere Zukunft voraus?« »Er nimmt, was er bekommt. Mal ist es mehr, mal ist es

weniger. Auf seine Weissagung hat das keinen Einfluß.« »Kommt es vor, daß der Alte auch mal nichts sieht?« fragte

Barry Carpenter. Der Junge hob die schmalen Schultern. »Alles ist möglich.« »Dann habe ich umsonst bezahlt.« Der Junge lächelte. »Ist es nicht besser, nichts, als etwas

Schlechtes zu hören, Sir?« »Wie alt bist du, Kleiner?« »Dreizehn, Sir.« »Und schon so weise«, sinnierte Barry. »Wissen Sie von dem großen Erdbeben, das Agadir zerstört

hat?« Barrys Miene verfinsterte sich. »Ja, natürlich.« »Auch das hat Mohammed Hassan vorhergesehen. Er konnte

rechtzeitig fliehen.« Die Wellblechhütte stand im Schatten der hohen, roten, mit

breiten Zinnen versehenen Mauer. Ein Vorhang aus großen Holzkugeln verdeckte den Eingang. Der Junge zeigte darauf und forderte Sandra und Barry auf, einzutreten.

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»Spricht Mohammed Hassan Englisch?« fragte Barry. »Er spricht jede Sprache dieser Welt«, antwortete der Junge. Barry teilte den Perlenvorhang und betrat das Schattenreich

des Sehers. Tag. Nacht. Hell. Dunkel… Das machte für den Blinden keinen Unterschied. Er konnte nur hören, riechen, schmecken und fühlen. Sandra betrat die Hütte des Wahrsagers widerstrebend. Wenn Barry nicht ihre Hand gehalten hätte, wäre sie vielleicht sogar wieder hinausgegangen. Sobald ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie einen klapperdürren Mann mit schneeweißem Vollbart. Auch sein Burnus war weiß. Mit verschränkten Beinen hockte er auf einem schäbigen Teppich. Seine Augen hatten weder Iris noch Pupille. Beim Anblick dieser feucht glänzenden weißen Kugeln in Mohammed Hassans Augenhöhlen lief es Sandra kalt über den Rücken. Eine kunstvoll bemalte Tonschale stand vor dem Seher auf dem Boden. Barry warf einige Geldscheine hinein, überlegte kurz – und legte zwei weitere Banknoten dazu. Er hatte Mitleid mit dem Alten.

Mohammed Hassan forderte das Ehepaar auf, sich zu setzen. Sandra und Barry ließen sich auf dem schäbigen Teppich nieder. Der Seher leerte die Tonschale, und Sandra vermeinte, einen zufriedenen Ausdruck auf seinem bärtigen Gesicht zu sehen. Barrys Spende war ziemlich hoch ausgefallen. Mehr hatte der Alte bestimmt noch nicht oft bekommen, wenn überhaupt.

Es fiel Sandra nicht leicht, sich an seine toten Augen zu gewöhnen. Mein Gott, warum trägt er keine schwarze Brille wie viele andere Blinde? dachte Sandra schaudernd. Warum peinigt er uns Sehende mit diesem Anblick?

»Möchten Sie, daß ich meine Augen schließe?« fragte der Alte unvermittelt. Sein Gesicht war dabei Sandra zugewandt.

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Sie zuckte heftig zusammen. Himmel, er kann auch Gedanken lesen, durchfuhr es sie. »Nein«, stieß sie krächzend hervor. »Nein, das ist nicht nötig.«

Mohammed Hassan drehte sein Gesicht in Barrys Richtung. »Warum sind Sie hier?«

»Ein Junge sprach uns an«, gab der Autor Auskunft. »Er sagte, Sie könnten in die Zukunft sehen.«

Der bärtige Alte nickte bedächtig. »Das kann ich. Das kann ich. Manchmal. Nicht immer. Ist die junge Lady Ihre Frau, Sir?«

»Ja«, antwortete Barry Carpenter. »Darf ich fragen, wie alt Sie sind?« »Ich bin siebenundvierzig.« »Und die Lady?« » Siebenundzwanzig.« »Ich bin siebenundachtzig«, sagte Mohammed Hassan

bedächtig. Er sieht wie hundert aus, dachte Sandra. »Viele halten mich für älter, weil mein Gesicht so faltig und

mein Körper so knöchern ist«, sagte der Seher. Er hat mich schon wieder ertappt, dachte Sandra verlegen.

Ich muß vorsichtiger sein. »Ich spüre Liebe«, sagte der Blinde rasselnd. »Ein festes

Band umschließt Sie beide.« »Wird es allen Zerreißproben des Lebens trotzen?« wollte

Barry Carpenter wissen, doch der Alte gab ihm darauf keine Antwort.

Er fragte statt dessen: »Waren Sie schon einmal in Agadir, Sir?«

»Nein«, antwortete Barry. Sandra fiel ein, daß er von Wiedergeburt gesprochen hatte,

als sie die Stadt erreicht hatten. »Mir ist, als wäre ich schon einmal hier gewesen«, hatte er gesagt.

Page 25: Der Todesengel von Agadir

»Was sind Sie von Beruf?« wollte der Blinde von ihm wissen.

»Ich schreibe Filme«, sagte Barry. »Filme?« wunderte sich der Alte. »Sie laufen im Kino und im Fernsehen, auch hier in

Marokko. Vielleicht spielt in meinem nächsten Film jemand wie Sie mit. Das ist durchaus möglich.«

»Haben Sie Angst vor dem Tod, Sir?« Barry räusperte sich. »Fragen Sie mich das aus einem

bestimmten Grund?« Mohammed Hassan begann heftig zu atmen. »Ich sehe

Schwärze«, sagte er unruhig. »Eine tiefe, häßliche, bedrohliche Schwärze. Es ist die Farbe des Bösen, des Unheils, des Hasses, der Rache, des Todes.«

»Bringen Sie diese Schwärze etwa mit mir in Zusammenhang?« fragte Barry nervös.

»Und mit Ihrer jungen Frau«, sagte der Blinde. Sandra gab es unwillkürlich einen Stich. »Da ist eine schwere Prüfung«, fuhr der Alte fort. »Leid.

Schmerz. Vergeltung. Hände, die einst um Hilfe bettelten, wenden sich jetzt gegen Sie.«

»Hände?« fragte Barry heiser. »Ich weiß nichts von Händen. Von welchen Händen sprechen Sie denn?«

Der Seher antwortete nicht. »Darf ich ehrlich sein?« sagte Barry rauh. »Ich weiß mir mit

dem, was Sie sagen, nichts anzufangen.« »Ich sehe Flügel«, sagte der Blinde. »Schwarze Flügel. Die

Flügel eines Todesengels. Er schwebt schon über der Stadt.« O mein Gott, dachte Sandra entsetzt. Er sieht den Todesengel

von Agadir. Wie ist so etwas möglich? »Sehen Sie auch einen Mann?« fragte Barry gespannt. »Einen

Marokkaner mit stechenden schwarzen Augen und einer Raubvogelnase?«

Page 26: Der Todesengel von Agadir

»Ich sehe einen Mann«, sagte Mohammed Hassan. »Er trägt eine schmutzige Djellabah.«

Das ist er, dachte Sandra aufgewühlt. »Aber ich sehe ihn nur von hinten«, berichtete der Alte. »Wo kann ich ihn finden?« wollte Barry Carpenter aufgeregt

wissen. »Er wird Sie finden«, erklärte der Seher. Barry schluckte trocken. »Wann?« »Wenn die Zeit reif ist.« »Reif wofür?« Der Blinde antwortete wieder nicht. »Sehen Sie auch eine Frau?« wollte Barry wissen. Schweiß

glänzte auf seiner Stirn. Der Alte nickte. »Wie sieht sie aus?« fragte der Autor mit einer Stimme, die

ihm selbst fremd vorkam. »Sie ist sehr schön.« »Ist sie jung? Ist sie alt?« »Sie ist in Ihrem Alter«, sagte Mohammed Hassan. »Wie heißt sie?« »Ich sehe keine Namen«, antwortete der Bärtige. Er zog die

Augenbrauen zusammen und sagte schleppend: »Nehmen Sie sich vor ihr in acht, Sir, denn sie ist der Todesengel.«

Wir hätten uns das ersparen sollen, dachte Sandra höchst unangenehm berührt, während sie mit ihrem Mann die Wellblechhütte des Alten verließ. Ich wollte nicht zu dem Seher gehen, aber Barry war ja nicht davon abzubringen. Dieser Blinde hat es mit seinem düsteren Geschwafel geschafft, uns den Tag zu vermiesen. Hoffentlich nur diesen einen und nicht die ganze Woche – oder gleich den ganzen Urlaub.

Ein Händler zeigte einladend auf seine Ware und sagte: »Nur schauen. Nicht kaufen.«

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»Laß uns in Ruhe!« schnauzte Barry ihn an. »He, warum bist du so wütend auf mich, mein Freund?«

fragte der Marokkaner. »Entschuldigung«, sagte Barry reumütig. »Es tut mir leid.« Der Händler war nicht nachtragend. Er lächelte gleich wieder

freundlich und zeigte abermals auf seine Ware. »Wollen Sie schauen?«

»Ein andermal«, sagte der Autor. »Nicht heute.« »Sir!« holte die Stimme des Alten ihn ein. Barry und seine Frau blieben stehen und drehten sich um.

Mohammed Hassan stand vor seiner schäbigen Hütte. »Ja?« gab Barry Carpenter zurück. Der Seher schüttelte ganz langsam den Kopf und sagte: »Sie

hätten nicht zurückkommen sollen.« Er sagte es noch einmal: »Sie hätten nicht zurückkommen sollen.«

Sandra fühlte sich von fremden Blicken förmlich durchbohrt. Ihre Augen suchten nervös die Person, die sie so intensiv anstarrte, und einen Moment später sah sie den Marokkaner wieder, der sie schon auf der Strandpromenade so sehr erschreckt hatte. Ohne daß sie es merkte, gruben sich ihre sorgfältig gefeilten Fingernägel in den Handrücken ihres Mannes.

Der Schmerz veranlaßte Barry, sie anzusehen. Als er ihren verstörten Gesichtsausdruck bemerkte, folgten seine Augen ihrem Blick.

»Da ist er ja, der Mistkerl!« stieß er aggressiv hervor. Der Mann in der schmuddeligen Djellabah verschwand

zwischen den vielen kleinen Basarläden. Barry wollte ihm nachlaufen, doch Sandra hielt seine Hand fest.

»Laß los, ich schnapp’ ihn mir!« knurrte der Autor. »Er muß uns sagen, was er von dir will.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Wenn er um Hilfe ruft, hast du alle Marokkaner gegen dich.«

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»Ich muß wissen, warum er hinter dir her ist.« Barry riß sich von ihr los.

»Barry…« »Bleib hier stehen.« Er stürmte davon. »Du kannst mich doch nicht allein lassen!« rief sie ihm nach,

aber das hörte er wahrscheinlich schon nicht mehr. Das Jagdfieber schien ihn gepackt zu haben.

Er wieselte zwischen den Touristen und den Einheimischen, die den großen Sook von Agadir bevölkerten, hindurch. Obwohl Barry gesagt hatte, Sandra solle da, wo er sie verlassen hatte, stehen bleiben, lief sie ihm nach.

Doch sie verlor ihn schon bald aus den Augen. Und dann verirrte sie sich auch noch in dem weitverzweigten Basargewirr. Sie kam immer wieder an Läden vorbei, die sie bereits zu kennen glaubte. Bewegte sie sich etwa im Kreis?

Keuchend blieb sie stehen. Marokkaner umringten sie sogleich und wollten ihr etwas verkaufen.

Schmuck, Schuhe, Gewürze, einen Kaftan, einen Teppich… Sandra war nahe daran, hysterisch zu werden. »Gehen Sie

weg! Weg! Herrgott, so lassen Sie mich doch in Ruhe!« schrie sie zornig.

»Haben Sie sich verirrt?« fragte plötzlich eine Frauenstimme. Sandra drehte sich um und sah sich einer weiblichen Gestalt

gegenüber, die von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war. Auch das Gesicht der Frau verbarg sich hinter einem schwarzen Schleier.

»Ja«, sagte Sandra, erleichtert, daß sich jemand ihrer annahm, der ihr nichts verkaufen wollte.

»Möchten Sie die Kasba verlassen?« fragte die Frau in völlig akzentfreiem Englisch.

»Ja.« Endlich war da ein Wesen, dem Sandra vertrauen konnte.

»Kommen Sie.«

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»Sind Sie Engländerin?« »Nein.« »Wieso sprechen Sie so perfekt meine Sprache?« »Kommen Sie.« Sandra blickte sich suchend um. »Mein Mann muß hier

irgendwo sein.« »Folgen Sie mir«, sagte die Frau, und Sandra ging mit ihr –

vorbei an Kinderbekleidung, T-Shirts und nachgemachten Renommieruhren, Töpfereien, Färbereien und Metzgerläden, vor denen abgeschlagene Rinderschädel hingen, über und über mit pechschwarzen Fliegen bedeckt.

Die Frau kannte sich in dem Gewirr von kleinen und kleinsten Gassen sehr gut aus. Mal wandte sie sich nach links, mal nach rechts, dann ging sie ein Stück geradeaus – eine ortskundige Führerin.

Zwischen zwei überdachten Verkaufsständen leuchtete plötzlich die rote Mauer durch. Sandra sah ein großes offenes Tor und atmete auf. Wenn sie diesen Alptraum aus Lärm, unbekannten Gerüchen und fremden Menschen endlich hinter sich hatte, mußte sie sich überlegen, wie sie Barry wiederfand. Die Frau ging zwei Schritte vor ihr. Sie sagte kein Wort mehr, führte Sandra nur noch zielstrebig aus diesem Labyrinth. Als sie das Tor fast erreicht hatten, hörte Sandra auf einmal ihren Namen.

»Barry!« Sie drehte sich um. Ihr Mann drängte sich durch die Menschenmassen. »Wieso

hast du nicht auf mich gewartet?« fragte er vorwurfsvoll, als er sie endlich erreichte.

»Ich bin dir gefolgt, habe dich aber aus den Augen verloren und mich in diesem Netz aus Gassen und Gäßchen rettungslos verirrt. Hast du den Marokkaner erwischt?«

»Nein, er ist mir entkommen. Wo wolltest du hin?«

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»Raus aus diesem Irrgarten«, antwortete Sandra. »Diese Frau war so nett, mich zu führen.«

»Welche Frau?« Sandra warf einen Blick über ihre Schulter. Barrys Frage

hatte ihre Berechtigung. Es war nämlich keine Frau mehr da.

*

Wieder im Hotel, tranken sie Kaffee auf der Terrasse. Der in der Bucht von Agadir recht zahme Atlantik rollte mit sanften Wellen heran, die sich schwach schäumend am Sandstrand verloren.

Barrys Blick war in die weite Ferne gerichtet. »Woran denkst du?« fragte Sandra ihren Mann. »An diesen Kerl mit der Raubvogelnase«, antwortete Barry.

»Ob sein Erscheinen ein Ablenkungsmanöver war?« »Ein Ablenkungsmanöver?« »Vielleicht war es seine Aufgabe, mich von dir

fortzulocken«, sagte der Autor. »Wozu?« »Damit diese schwarze Frau dich aus der Kasba führen

konnte.« »Sie wollte mir nur helfen.« »Bist du sicher?« fragte Barry Carpenter zweifelnd.

»Vielleicht stecken sie und dieser Bursche mit den stechenden Augen unter einer Decke.«

»Das halte ich für ausgeschlossen.« »Während der Typ in der schmuddeligen Djellabah mich

veranlaßt, ihm nachzurennen, macht die schwarz gekleidete Frau sich an dich heran und hat es sehr eilig, dir den Weg aus

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der Kasba zu zeigen. Wer weiß, vielleicht hatte sie die Absicht, dich zu entführen.«

»Jetzt mach aber einen Punkt, Barry.« »Warum hat die Frau sich so plötzlich in Luft aufgelöst,

hm?« »Vielleicht merkte sie nicht, daß ich stehenblieb.« »Sie hat sich abgesetzt«, behauptete Barry überzeugt. »Warum sollte sie das tun?« »Sie hatte ein schlechtes Gewissen.« »Das bildest du dir ein. Sie hätte in der Kasba alle

Gelegenheit gehabt mich zu entführen und brachte mich statt dessen hinaus.«

Barrys Augen wurden schmal. »Gegen uns ist irgendeine große Schweinerei im Gange, Schatz. Wenn wir nicht unter die Räder kommen wollen, müssen wir herausfinden, was da läuft.«

Mich entführen, dachte Sandra noch zwei Stunden später. So ein Unsinn. Sie duschte. Ihr Mann sah fern. Nach dem Duschen fönte sie ihr blondes Haar und zog ein paar reizvolle Dessous an. Barry lag auf dem Doppelbett. Er nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ab. Sandra setzte sich neben ihn.

»Mir geht nicht aus dem Kopf, was Mohammed Hassan gesagt hat«, murmelte Barry. »Warum fragte er mich, ob ich Angst vor dem Tod habe?«

»Vielleicht aus persönlicher Neugier«, nahm Sandra an. »Mit siebenundachtzig macht man sich bestimmt so seine Gedanken über das Ende.«

»Er hat eine tiefe, häßliche und bedrohliche Schwärze gesehen«, bemerkte der Autor versonnen. »Er nannte sie die Farbe des Bösen, des Unheils, des Hasses, der Rache und des Todes. Er sprach von einer schweren Prüfung. Von Leid. Von Schmerz. Von Vergeltung. Von Händen, die einst um Hilfe

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bettelten, und sich jetzt gegen mich wenden. Er sah schwarze Flügel. Die Flügel eines Todesengels, der über der Stadt schwebt. Und er erwähnte eine sehr schöne Frau in meinem Alter.« Barry sah seine Frau ernst an. »Weißt du noch, was er über sie gesagt hat?«

Sandra nickte. »Er sagte wörtlich: ›Nehmen Sie sich vor ihr in acht, Sir, denn sie – sie ist der Todesengel.‹«

»Der Todesengel von Agadir«, kam es dumpf über Barrys Lippen. »Eine schöne Frau in meinem Alter. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau, die an der Rezeption eine Nachricht ohne Nachricht hinterließ. Die Frau, mit der du kürzlich telefoniert hast und dir riet, gut auf mich achtzugeben, wenn du mich liebst, damit mir nichts zustößt. Die Frau, die dir heute so hilfsbereit den Weg aus der Kasba zeigte.«

Sandra fröstelte. »Barry, du machst mir mit deinen Überlegungen Angst.«

Während des Abendessens im Hotelrestaurant fragte Sandra ihren Mann: »Was können wir jetzt tun?«

»Wir dürfen auf keinen Fall mehr einfach unbeschwert in den Tag hineinleben, sondern müssen ständig auf der Hut sein«, erklärte der Autor. »Irgend jemand will uns Böses antun. Wir müssen versuchen, herauszufinden, wer das ist und was er gegen uns hat. Vielleicht hat er Handlanger. Wir wissen nicht, wie viele, deshalb sollten wir uns sicherheitshalber vor jedermann in acht nehmen.«

»Vor jedermann?« Barry nickte. »Vor jedermann.« »Entschuldigen Sie, dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« fragte

in diesem Moment ein Mann mittleren Alters. Ein Brite. Barry und Sandra saßen an einem Tisch für vier Personen.

Barry musterte den Mann und die Frau, die neben ihm stand, setzte ein freundliches Lächeln auf und antwortete: »Aber selbstverständlich.«

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Sandra gab ihrem Mann mit heimlichen Blicken zu verstehen, er möge ihr zum Büfett folgen. Bei den verlockend aussehenden Desserts fragte sie ihn dann: »Müssen wir uns auch vor den Leuten in acht nehmen, die sich eben zu uns gesetzt haben?«

»Ich denke, wir werden das von Fall zu Fall mit der nötigen Gewissenhaftigkeit entscheiden«, gab Barry zurück.

Sandra nahm sich ein Erdbeertörtchen. »Wieso sagte Mohammed Hassan, du hättest nicht zurückkommen sollen?«

»Ich weiß es nicht.« »Als er dich fragte, ob du schon mal in Agadir warst, hast du

nein gesagt.« »Das stimmt«, sagte Barry. »Warum hätte ich lügen sollen?« »Am Tag unserer Ankunft hast du gesagt: ›Mir ist, als wäre

ich schon einmal hier gewesen.‹« »Vielleicht war ich in einem anderen Leben schon mal hier.« »Fang nicht schon wieder mit diesem Wiedergeburtsunsinn

an«, bat Sandra. »Nur weil du nicht daran glaubst, muß es noch lange kein

Unsinn sein«, hielt Barry dagegen. Er lächelte. »Zwei Menschen, zwei Meinungen. So ist das nun mal im Leben. Deshalb fällt es den Politikern ja auch immer so schwer, auf einen grünen Zweig zu kommen.«

Das Ehepaar, das sich zu Sandra und Barry gesetzt hatte, kam aus Brighton. Carol und Frank Baxter – zwei überaus nette, unterhaltsame Menschen. Sympathisch und vertrauenerweckend. Vor ihnen brauchten die Carpenters nicht im mindesten auf der Hut zu sein, das merkten sie sehr schnell.

Frank Baxter, ein schlaksiger blonder Mann, war in der Computerbranche tätig. Seine hübsche rothaarige Frau ebenfalls. Sie hatten schon viel von der Welt gesehen: Kuba, Kenia, Australien – und natürlich auch Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland und die Türkei. Algerien war ihnen zur

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Zeit zu unsicher, deshalb kam es für sie als Reiseziel nicht in Frage, aber Tunesien stand auf ihrer Liste, und sie hofften, es noch in diesem Jahr abhaken zu können.

Als die Baxters hörten, daß Barry Drehbuchautor war, leuchteten ihre Augen. Wieder einmal konnte Barry Carpenter feststellen, daß der Film auf die meisten Menschen eine ganz besondere Faszination ausübte.

Die Ehepaare gingen nach dem Abendessen noch auf einen Drink in die Bar. Zwei Marokkaner spielten zum Tanz. Ihre musikalische Palette bot für jeden etwas.

»Ich tanze für mein Leben gern«, sagte Carol Baxter und wiegte sich, ein versonnenes Lächeln auf den Lippen, im Takt.

Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Ich nicht.« Sandra sah ihn überrascht an. »Können Sie nicht tanzen?« »Doch«, gab Frank Baxter zur Antwort, »aber mehr schlecht

als recht. Mir tun immer die Zehen meiner Tanzpartnerinnen leid, wenn sie meinen, imstande zu sein, mir etwas beibringen zu können. Ich habe sie noch alle enttäuscht.«

Sandra lächelte. »Sie machen mich neugierig, Frank. Würden Sie mit mir tanzen?«

Frank Baxter hob die Hände. »Nur, wenn Sie unbedingt darauf bestehen. Aber sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« Er erhob sich, schloß sein Jackett, verneigte sich und sagte: »Darf ich also bitten?«

Sandra stand auf und meinte lachend. »Bis hierher ging’s doch schon ganz gut.«

Frank wiegte den Kopf. »Das dicke Ende kommt erst.« Er zuckte mit den Achseln. »Der eine kann schlecht tanzen – « Er richtete seinen Blick auf Carol » – der andere schlecht schwimmen.«

Barry Carpenter wandte sich an die rothaarige Frau. »Sie schwimmen nicht gut?«

Carol Baxter lachte. »Ich schwimme wie eine Ente aus Blei.«

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»Liebling, es gibt Arbeit«, sagte Sandra schmunzelnd. »Mein Mann ist ein ausgezeichneter Schwimmlehrer.«

»Und meine Frau ist eine hervorragende Tanzlehrerin«, behauptete der Autor.

Sandra sagte: »Wenn wir diesen Urlaub beenden…« »… kann Frank tanzen und Carol schwimmen«, vollendete

Barry den Satz. »Oh«, lachte Carol Baxter wieder, »wenn Sie sich da bloß

nicht zuviel vornehmen.«

*

»Nette Leute, die Baxters«, sagte Barry Carpenter, als er mit seiner Frau kurz vor Mitternacht Zimmer 304 betrat.

»Sehr nett«, pflichtete Sandra ihm bei und schüttelte die Stöckelschuhe von den Füßen.

»Tanzt Frank wirklich so schlecht?« Sandra seufzte. »Wenn ich Glück habe, kann ich ihn von

›ganz miserabel‹ auf ›einigermaßen akzeptabel‹ steigern. Der Mann hat absolut kein Taktgefühl.«

»Hoffentlich schwimmt Carol besser, als ihr Mann tanzt, sonst komme ich zu keinem Erfolgserlebnis.«

Die Baxters waren für Sandra und Barry eine willkommene Ablenkung. Die düsteren Schatten, die in letzter Zeit auf sie gefallen waren, hatten sich gelichtet.

Ihre Gedanken kreisten nicht mehr pausenlos um die mysteriösen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit – und um den Todesengel von Agadir.

Während Sandra sich für die Nacht zurechtmachte, sah Barry noch ein wenig fern. Er platzte mitten hinein in Vittorio de Sicas Meisterwerk ›Fahrraddiebe‹. Da er den Streifen aber

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schon mindestens fünfmal gesehen hatte, fiel es ihm nicht schwer, sich in der Handlung zurechtzufinden.

Sandra kam aus dem Bad. Sie trug ein kurzes Nightie, das so durchsichtig war wie der Flügel einer Libelle. Barry knipste den Film aus und sagte rauh: »Du bist wunderschön, Schatz. Komm, komm zu mir.«

Er streckte ihr die Arme entgegen. Sie glitt hinein, schmiegte sich ganz eng an ihn, spürte, wie sehr er sie begehrte, und bot ihm ihre warmen, vollen Lippen zum Kuß… Nachdem sie sich heiß und wild geliebt hatten, schlief Sandra glücklich und angenehm erschöpft in den Armen ihres geliebten Mannes ein. Irgendwann rollten sie auseinander, ohne es zu merken, und schliefen jeder für sich allein.

Sandra träumte von einem unübersehbaren Blumenmeer. Von hohen, schneebedeckten Bergen. Von kristallklaren Seen. Doch obwohl die Welt sich ihr von ihrer schönsten Seite präsentierte, war sie nicht glücklich. Warum nicht? Sie sah sich um und erkannte den Grund: Es war niemand da, mit dem sie all das Schöne teilen konnte. Sie war allein, und das stimmte sie unendlich traurig. So traurig, daß sie weinen mußte.

Schluchzend erwachte sie. Sie wußte nicht, wie spät es war. Stille herrschte im Hotel. Selbst die passioniertesten Nachtschwärmer hatten sich inzwischen zur Ruhe begeben.

Barry lag neben ihr und schlief mit tiefen, regelmäßigen Atemzügen.

Und neben ihm stand, wegen der tiefen Dunkelheit kaum zu erkennen, eine schwarze Gestalt!

Eine Eishand schien sich um Sandras Herz zu legen und gnadenlos zuzudrücken, und ihre Kehle war so eng, daß sie keinen Ton herausbrachte.

Barry war in Gefahr!

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Vor wenigen Stunden hatte er gesagt: ›Irgend jemand will uns Böses antun. Wir müssen versuchen, herauszufinden, wer das ist und was er gegen uns hat. Vielleicht hat er Handlanger. Wir wissen nicht, wie viele, deshalb sollten wir uns sicherheitshalber vor jedermann in acht nehmen.‹

In acht nehmen… In acht nehmen… In acht nehmen… hallte es in Sandras Kopf. Sie war nicht in der Lage auch nur einen Ton herauszubringen. So warf sie sich auf ihren Mann und rüttelte ihn wach.

Er riß die Augen auf und schreckte hoch. »Sandra… Um Himmels willen… Was ist…«

Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Barry! Barry!« schrie sie.

Er machte Licht und sah sie verstört an. »Mein Gott, Sandra, was hast du denn?«

Er nahm sie in seine Arme. Sie zitterte, als würde sie ganz schrecklich frieren.

»Barry…«, krächzte sie. »Was ist denn, mein Schatz?« Seine Hände strichen

beruhigend über ihren zuckenden Rücken. »Der Todesengel…« »Hast du von ihm geträumt?« »Nein, er war hier.« »Wo – hier?« »Er stand neben deinem Bett… Er wollte dich holen…« Niemand außer ihnen befand sich im Zimmer. Dennoch

sprang Barry aus dem Bett. Er riß die Schranktüren auf, schaute ins Bad und öffnete die Tür, die auf den Flur hinausführte.

Weit und breit keine Menschenseele. Barry atmete erleichtert auf. Was immer Sandra gesehen

hatte, es konnte nicht real gewesen sein. Die Nacht kann einem

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mit ihren gespenstischen Schatten so manches vorgaukeln, dachte er, während er zu seiner entsetzten Frau zurückkehrte.

Er nahm sie wieder in die Arme. »Es ist alles in Ordnung, Liebes«, sagte er sanft. »Beruhige dich. Es ist niemand hier.«

»Aber ich habe sie gesehen«, kam es dünn über Sandras bebende Lippen.

»Wen hast du gesehen?« fragte Barry. »Die schwarz gekleidete Frau.« »Die aus der Kasba?« »Ja.« »Was hat sie getan?« wollte Barry wissen. »Sie hat neben deinem Bett gestanden.« »Du mußt das geträumt haben.« »Ich war ganz bestimmt wach.« »Sieh dich doch um«, sagte Barry. »Die Frau ist nicht hier.«

Er strich zärtlich über ihr blondes Haar. »Manchmal spielen uns unsere Sinne einen Streich. Es ist Nacht. Es war dunkel. Du bist aufgewacht, hast einen Schatten gesehen und ihn für diese Frau gehalten, doch es war, wie du siehst, zum Glück nur eine Täuschung.«

Sandra klammerte sich an ihn. »Ich hatte solche Angst um dich. Ich dachte, diese unheimliche Person wollte dir etwas antun.«

Barry küßte sie innig. »Es ist sehr lieb von dir, daß du dir um mich Sorgen machst, aber in diesem Fall waren sie – Gott sei’s gedankt – unbegründet.«

Sandra beruhigte sich allmählich. Hatte sie wirklich jemanden gesehen, der gar nicht vorhanden gewesen war? Hatte ihre Begegnung mit der schwarzen Frau in der Kasba eine so intensive Nachwirkung ausgelöst?

»Leg dich hin«, sagte Barry. Sie gehorchte. »Versuch weiterzuschlafen«, riet Barry ihr.

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»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« »Möchtest du reden?« Sandra schüttelte den Kopf. Barry legte sich neben sie. »Soll ich das Licht anlassen?« Sie schüttelte abermals den Kopf, und er löschte das Licht.

Sandra schaute sehr, sehr lange in die Dunkelheit. Irgendwann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief ohne Unterbrechung, bis die Sonne über Agadir aufging.

*

Sie trafen die Baxters beim Frühstück und verbrachten mit ihnen den Tag am Hotel-Pool. Barry gab sich redlich Mühe, Carol die Grundbegriffe des Schwimmens beizubringen. Erfolg hatte er damit allerdings keinen.

»Das macht nichts«, sagte er geduldig. »Wir sind ja noch ein Weilchen hier. Ich bin zuversichtlich, daß Ihnen irgendwann das Licht aufgehen wird.«

Sie verließen das Schwimmbecken. Carol hatte eine wunderbare Figur, doch Barry schenkte ihr keine besondere Beachtung. Sandra gefiel ihm besser.

Sie legten sich unter den Sonnenschirm. »Na, Kleines«, sagte Frank Baxter zu seiner Frau. »Machst

du Fortschritte?« »Ich glaube, was Barry sich netterweise mit mir antut, ist

vergebliche Liebesmühe, aber er will es nicht wahrhaben.« Frank lachte. »Es wird den Carpenters noch leid tun, daß sie

sich vorgenommen haben, uns etwas beizubringen, wofür wir einfach nicht geschaffen sind.«

»Abwarten, mein Lieber«, sagte Sandra. »Wenn ich mit Ihnen fertig bin, sind Sie ein zweiter Fred Astaire.«

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»Na, da bin ich aber mal gespannt.« Frank wandte sich an Barry. »Ich habe mich vorhin mit Ihrer Frau über Marrakesch unterhalten.«

»Frank würde da gerne hinfahren«, sagte Sandra. »Ist nicht besonders weit«, meinte Frank. »Morgens hin,

abends zurück. Ein Hüpfer über den großen Atlas. Wir könnten beim Reiseleiter eine Busfahrt inklusive Stadtrundfahrt, Führung durch die Souks, Mittagessen und marokkanischem Abend mit Bauchtanz buchen. Es wäre aber auch möglich, einen Wagen zu mieten und die Königsstadt zu viert aufzusuchen, oder mit dem Taxi zu fahren.«

Barry sah seine Frau an. »Möchtest du da hin, Schatz?« »Es wäre eine interessante Abwechslung«, antwortete

Sandra. »Also ich muß die Stadt auf jeden Fall sehen«, sagte Frank

Baxter. »Wer nicht in Marrakesch war, kennt Marokko nicht.« Barry Carpenter nickte. »Okay, wir kommen mit.« »Und womit fahren wir?« wollte Frank wissen. »Bus?

Leihwagen? Taxi?« »Da die Menschen in diesem Land wie die Henker fahren,

bin ich für den Bus«, sagte Barry. »Ist uns recht«, nickte Frank. »Wissen Sie, worauf ich mich

am meisten freue?« Er lachte. »Sie werden mich vielleicht für verrückt halten, aber ich kann es kaum erwarten, die Schlangenbeschwörer auf dem Platz der Gaukler zu sehen.«

»Schlangen«, sagte Carol Baxter und schüttelte sich angeekelt.

Ihr Mann grinste. »Ich verstehe nicht, daß so viele Menschen etwas gegen Schlangen haben.«

»Es muß einen Grund haben, warum der Teufel Adam und Eva im Paradies ausgerechnet in Gestalt einer Schlange erschienen ist«, sagte Carol.

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Frank Baxter winkte ab. »Ach, Darling, diese Paradiesgeschichte ist doch bloß ein Märchen.«

*

Nachdem sie beim Reiseleiter das volle Marrakeschprogramm gebucht hatten, kehrten Sandra und Barry nach Zimmer 304 zurück, und Barry legte seine Geldbörse in den kleinen Schreibtischtresor.

»Freust du dich auch auf die Schlangen?« fragte er seine Frau.

»Ich kann mich beherrschen«, antwortete Sandra. »Und du? Freust du dich auf die Bauchtänzerinnen?«

Barry schmunzelte. »Kein Kommentar.« Auf dem Fernsehapparat lag eine halbe Fotografie. Jemand

hatte die Aufnahme von oben nach unten auseinandergerissen. Sandra nahm das Bild und sah es sich an. Es zeigte einen jungen Mann, der lebensfroh in die Kamera grinste.

»Was hast du da?« fragte Barry. »Ein zerrissenes Foto.« »Darf ich mal sehen?« Sandra gab ihm das halbe Bild. »Der junge Mann sieht dir

ähnlich«, sagte sie. »Könnte eine alte Aufnahme von dir sein.« »Du hast recht«, staunte Barry. »Wie kommt dieses Bild

hierher?« »Keine Ahnung.« »Wer hat es zerrissen?« Sandra hob die Schultern. »Ich war es nicht. Bist du das

wirklich auf dem Foto?«

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Barry antwortete nicht. Er lief zur Tür und riß sie auf. Das Zimmermädchen, eine kleine, scheue Marokkanerin, befand sich auf Zimmer 312.

»Hallo! Sie!« rief er. Das Mädchen sah ihn fragend an. »Ja, Sie!« nickte er. »Würden Sie bitte mal herkommen?« Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle. »Es dauert nur einen Augenblick«, sagte Barry.

Sie stand reglos und sah ihn nur an. Er winkte sie zu sich. Sie setzte sich langsam in Bewegung, schien mit einer Beschwerde zu rechnen und machte ein unglückliches Gesicht.

»Wie kommt dieses Foto in unser Zimmer?« fragte Barry heftig.

Das Zimmermädchen zuckte zusammen, sagte aber nichts. »Das Foto«, sagte Barry laut. Er wedelte damit vor ihrer Nase

hin und her. »Es hat auf dem Fernsehapparat gelegen.« Er zeigte auf das TV-Gerät. »Haben Sie es da hingelegt?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Haben Sie jemanden in unser Zimmer gelassen?« Das Mädchen hob die Schultern. »Sie versteht dich nicht«, sagte Sandra. »Sprechen Sie Englisch?« fragte Barry. Das Zimmermädchen schüttelte wieder den Kopf. Barry nickte. »Ist gut«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie.« Er

zeigte auf ihren Arbeitswagen. »Sie können gehen.« Er machte eine Handbewegung, als wollte er sie verscheuchen. »Gehen Sie.« Er zwang sich, versöhnlich zu lächeln. »Es ist alles in Ordnung.«

Ratlos drehte das Mädchen sich um und entfernte sich. Ein altes Foto von Barry… War es zu Hause beim Packen

irgendwie zwischen seine Sachen gerutscht? War es dabei zerrissen? Hatte das Zimmermädchen das halbierte Bild auf dem Teppich liegen sehen und auf den Fernsehapparat gelegt?

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Ganz auszuschließen war das alles natürlich nicht, aber weder Sandra noch ihr Mann glaubten ernsthaft daran.

»Bist das auf dem Foto wirklich du?« fragte Sandra, nachdem ihr Mann die Tür geschlossen hatte.

»Ich glaube schon«, sagte Barry mit belegter Stimme. »Laß doch mal sehen.« Sie nahm ihm die Aufnahme aus der

Hand. Die Augen, dachte Sandra. Die Grübchen in den Wangen. Der Schwung der Augenbrauen. Daran hat sich nichts verändert. Er ist es. »Hast du mal solche Schuhe besessen?« fragte Sandra. Es waren schmale weiße Lederschuhe mit einer funkelnden Messingschnalle an der Seite.

Barry warf einen Blick darauf und meinte: »Ich erinnere mich nicht, aber möglich wäre es.« Er preßte die Kiefer zusammen. Seine Wangenmuskeln zuckten. »Verflucht, seit wir hier sind, kommen wir nicht zur Ruhe. Wann hört dieser verrückte Spuk endlich auf?«

»Gehen wir einmal davon aus, daß der junge Mann auf dem Bild du bist«, sagte Sandra. »Als die Aufnahme gemacht wurde, warst du nicht allein«, stellte sie fest. »Es fällt ein Schatten auf deine Schulter.«

Barry warf wieder einen Blick auf die Fotografie. »Ja, du hast recht.«

»Wessen Schatten?« Barry seufzte schwer. »Wenn ich das bloß wüßte.« Es

klopfte. Barry zuckte zusammen. »Ja?« rief er. »Frank Baxter steht vor der Tür!« Barry legte die Fotohälfte in die Schreibtischlade. »Kein

Wort davon zu Frank, okay?« sagte er hastig zu seiner Frau. Sandra nickte. Barry öffnete die Tür. »Was gibt’s, Frank Baxter?« »Mrs. Baxter möchte eine hübsche Ledertasche kaufen«,

sagte Frank. »Kommt ihr mit? Sandra kann Carol beraten, und wir beide – « Er zeigte auf Barry und sich » – werden

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anschließend den überhöhten Preis auf ein vernünftiges Maß senken. Handeln macht Spaß, sagen hier alle. Ich finde es albern, aber was soll man machen? Es ist in diesem Land nun mal üblich.«

»Wir kommen in zehn Minuten«, sagte Barry. »Wir warten in der Halle«, sagte Frank und tippte sich

grüßend an die Stirn.

*

Carol Baxter fand eine schöne Tasche aus weichem weißem Ziegenleder. Der Marokkaner nannte einen Preis, über den Frank herzlich lachte. »Hör mal, mein Freund…« Er wandte sich an Barry. »Die sagen hier immer ›mein Freund‹. Ist Ihnen das schon aufgefallen?«

Barry nickte. Frank Baxter wandte sich wieder an den Geschäftsmann.

»Hör mal, mein Freund, ich möchte nicht deinen ganzen Laden kaufen, sondern nur diese eine Tasche.«

Der Marokkaner hob die Schultern. »Gutes hat eben seinen Preis.«

»Für den Preis, den du verlangst, kriege ich in England drei Handtaschen«, behauptete Frank.

»Willst du ein anderes Modell, mein Freund?« fragte der Geschäftsmann. Er legte eine einfache, fast schon unansehnliche Tasche vor Frank hin. »Diese Handtasche kann ich dir billiger geben.«

»Meine Frau will keine andere Tasche«, sagte Frank. »Sie hat sich für diese entschieden.« Er zeigte auf die, die er kaufen wollte.

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»Deine Frau hat einen guten Geschmack, mein Freund«, sagte der Händler.

Frank grinste. »Das weiß ich. Sonst hätte sie mich nicht geheiratet.« Er schlug dem Marokkaner auf die Schulter. »Also komm, Junge, nenn einen vernünftigen Preis, und nicht wieder einen, über den ich Tränen lache.«

Der Geschäftsmann senkte seine Forderung um zwanzig Dirham.

Frank rollte die Augen. »Mann, du machst es einem wirklich nicht leicht. Der Preis ist immer noch viel zu hoch.«

»Ich hätte nicht zeigen sollen, daß mir die Tasche gefällt«, sagte Carol. »Das war ein Fehler. Jetzt wittert er natürlich seine Chance, viel Geld dafür zu bekommen.«

»Müssen Sie die Tasche unbedingt haben, Carol«, schaltete sich Barry Carpenter ein.

»Nun ja…« »Ich habe bei ›Uniprix‹ eine Handtasche gesehen, die dieser

sehr ähnelt…« »Zu welchem Preis?« fragte Carol Baxter. »Fast vierzig Prozent billiger«, behauptete der Autor. »›Uniprix‹ hat Massenware«, warf der Marokkaner hastig

ein. Er legte die Hand wie zum Schwur auf die Handtasche, die Carol haben wollte. »Dieses Modell gibt es kein zweitesmal auf der ganzen Welt.«

Barry rümpfte die Nase. »Mir hat die ›Uniprix‹-Tasche fast besser gefallen.«

»Die ist bestimmt aus Plastik, mein Freund«, stieß der Händler heiser hervor.

Barry lächelte. »Nein, mein Freund. Sie ist genauso aus Leder wie diese Tasche hier und mindestens ebenso gut genäht.« Er wandte sich an Carol. »Wollen wir nach ›Uniprix‹ gehen?«

»Ich denke, daß wir das sollten«, gab Carol zurück.

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Sie verließen das Geschäft. Der Marokkaner raufte sich die Haare. »Hallo, meine Freunde! Wieviel wollt ihr bezahlen? Sagt mir euren letzten Preis! Geht nicht weg! Geht doch nicht weg! Euren letzten Preis! Handeln macht Spaß!« Barrys Angebot lag so tief, daß der Händler erschrak. »Mein Freund, du machst dich über mich lustig«, ächzte er. »Ich habe viel mehr für diese Tasche bezahlt, als du mir geben willst.«

»Dann hast du eben schlecht eingekauft«, gab Barry kühl zurück.

»Ich habe Frau und Kinder. Wir müssen leben.« Barry erhöhte das Angebot um zehn Prozent, und der Händler

gab sich zähneknirschend geschlagen. Carol bekam die Tasche, und Frank sagte lachend, nachdem sie das Geschäft verlassen hatten: »Donnerwetter, dem haben Sie es aber gegeben, Barry. Es war gut, Sie und Sandra zu bitten, mitzukommen. Dadurch habe ich viel Geld gespart, und zur Feier des Tages gebe ich jetzt einen aus.«

Sie prosteten einander zu, und Barry schlug vor, sich von nun an zu duzen. Die Baxters nahmen den Vorschlag mit großer Begeisterung an. Auf dem Weg zum Hotel spielten die Männer den Handel dann noch einmal durch, wobei Frank die Rolle des Marokkaners übernahm und damit so sehr übertrieb, daß er zwischendurch immer wieder schallend lachen mußte.

Im Hotel holten sie sich ihre Zimmerschlüssel. »Wir sehen uns beim Abendessen«, sagte Frank Baxter. Dann trennten sie sich. Während Barry wenig später die

Zimmertür aufschloß, fiel Sandra wieder das zerrissene Foto ein. Wie ist es in unser Zimmer gelangt? fragte sie sich. Wer hat es kaputt gemacht – und warum? Wer war die Person auf dem Bild neben Barry? Warum hat sie sich von ihm getrennt, indem sie die Fotografie von oben nach unten auseinanderriß? Wie schwere Mühlsteine drehten sich die Gedanken in ihrem Kopf, und die unerklärlichen Worte des alten Sehers kamen ihr

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wieder in den Sinn. Mohammed Hassan hatte zu Barry gesagt: »Hände, die einst um Hilfe bettelten, wenden sich jetzt gegen Sie.«

Wie hat er das gemeint? dachte Sandra. Warum drücken sich diese Wahrsager immer so unklar aus? Damit man ihre Aussagen nach Belieben deuten kann?

Sie betraten ihr Zimmer. »Barry«, sagte Sandra. »Ja, Schatz?« Er schloß die Tür. »Was hältst du davon, noch einmal mit dem Seher zu reden?« »Wozu sollte das gut sein?« »Er hat uns nicht sehr viel gesagt.« »Eben. Er würde uns beim zweitenmal bestimmt nicht mehr

erzählen.« »Vielleicht doch«, sagte Sandra. »Vielleicht war er bei

unserem ersten Besuch nicht so gut drauf. Schlecht bestrahlt oder so. Man weiß ja nicht, was bei diesen Menschen im Hintergrund abläuft.«

Barrys Augenbrauen zogen sich zusammen. »Der alte Mann ist ein Halunke.«

»Das solltest du nicht sagen.« »Warum nicht?« »Er ist ein armer Blinder…« »Okay, er kann nicht sehen«, sagte Barry, »aber arm ist er

nicht. Ich habe ihm viel Geld für wenig Gegenleistung gegeben.«

»Ich meine arm im Sinne von bedauernswert.« »Das siehst du nicht ganz richtig, Schatz«, widersprach Barry

Carpenter. »Es gibt Menschen, die von Geburt an blind sind, und denen man mit einer Operation helfen könnte, aber sie lehnen das ab. Sie haben sich ihr eigenes Bild von der Welt geschaffen. Wenn sie plötzlich sehen könnten, wäre das ein schlimmer Schock für sie.«

Page 48: Der Todesengel von Agadir

»Du mußt Mohammed Hassan ja nicht wieder so viel Geld geben«, meinte Sandra. »Wirf ihm erst mal weniger in seine Schale, und wenn er dich mit weiteren Informationen zufriedenstellt, legst du noch was drauf.«

»Na schön«, nickte Barry. »Wir gehen noch einmal zu ihm.« »Wann?« »In den nächsten Tagen. Zufrieden? Aber Carol und Frank

nehmen wir nicht mit. Man weiß ja nicht, wie sie zu diesen Dingen stehen.«

Während sie sich für das Abendessen zurechtmachten, sagte Sandra: »Carols Handtasche ist wirklich sehr schön.«

»Möchtest du auch eine haben?« fragte Barry sofort. »Nein«, antwortete Sandra. »Ich besitze genug Taschen.« Sie

wandte ihrem Mann den Rücken zu, und er zog den Reißverschluß ihres hübschen Sommerkleides hoch. »Hast du tatsächlich bei ›Uniprix‹ eine gleich schöne Handtasche für weniger Geld gesehen?« fragte sie.

»Nein, das habe ich bloß gesagt, um den Marokkaner in die Knie zu zwingen.«

Sandra schmunzelte. »Wozu brauchst du einen Agenten? Du bist doch ein sehr cleverer Geschäftsmann.«

»Ich möchte nur schreiben«, gab der Autor zurück. »Mit allem andern möchte ich nichts zu tun haben.« Er lachte. »Wenn John Malloy mit dem Marokkaner gehandelt hätte, hätte er die Tasche umsonst gekriegt – nur damit er endlich das Geschäft verläßt.« Er schlüpfte in ein dezent gemustertes Seidenhemd. »Ich sollte John mal anrufen. Vielleicht tue ich es morgen.«

Sandra trug im Bad vor dem großen Spiegel ein wenig Lippenstift auf.

»Schatz!« rief Barry nebenan. »Ja?« antwortete Sandra.

Page 49: Der Todesengel von Agadir

»Hast du die Fotohälfte aus dem Schreibtisch genommen?« wollte Barry wissen.

»Nein. Wieso?« »Sie ist nicht mehr da«, sagte Barry. Nach dem Abendessen mühte sich Sandra Carpenter wieder

mit dem untalentierten Frank Baxter ab. Und tags darauf setzte Barry Carpenter seinen ganzen Ehrgeiz ein, um Carol Baxter beizubringen, wie man sich wenigstens ein paar Sekunden über Wasser hält. Aber das Ehepaar aus Brighton war, jeder für sich, ein hoffnungsloser Fall. Auf einen simplen Punkt gebracht, konnte man sagen: Frank tanzte so, wie seine Frau schwamm – und Carol schwamm so, wie ihr Mann tanzte.

Sandra und Barry gaben nur deshalb nicht auf, weil sie schlechte Verlierer waren.

Während die Baxters den Fischmarkt besuchten, fuhren Sandra und Barry noch einmal zur Kasba. Bevor sie die engen Basargassen betraten, schärfte der Autor seiner Frau ein, so dicht wie möglich bei ihm zu bleiben.

Dann machten sie sich auf die Suche nach Mohammed Hassans schäbiger Wellblechhütte, und sie hielten gleichzeitig nach der schwarzen Frau und dem Mann in der schmuddeligen Djellabah Ausschau.

Sie fanden die Behausung des Sehers nicht. Jedesmal wenn sie dachten, auf dem richtigen Weg zu sein, stellte sich wenig später heraus, daß sie sich wieder geirrt hatten. Immer wieder wurden sie von Händlern angesprochen, die sie in ihr Geschäft locken wollten. Es gehörte sehr viel Selbstdisziplin dazu, stets freundlich zu bleiben und nie die Nerven zu verlieren, denn so mancher Geschäftsmann war geradezu penetrant beharrlich.

Barry blieb schwitzend stehen und versuchte sich zu orientieren. »Wie finden sich diese Leute hier zurecht?«

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Ein Mann mit verkrüppelten Beinen näherte sich ihnen auf selbstgemachten Krücken. »Braucht ihr einen Führer? Ich kann euch alles erklären.«

»Wir suchen Mohammed Hassans Hütte«, sagte Barry. Der Krüppel streckte ihm seine knotigen Finger entgegen.

»Gibst du mir zehn Dirham, mein Freund?« »Weißt du, wo sich die Hütte des Sehers befindet?« »Ich weiß alles. Ich bin hier geboren.« »Zeig uns den Weg.« »Zehn Dirham«, verlangte der Marokkaner. Barry gab ihm das Geld, und der Mann schleppte sich auf

seinen Krücken vor ihnen her. Zwei Minuten später waren sie am Ziel. Der Marokkaner hob eine Krücke, zeigte damit auf die unansehnliche Behausung und sagte: »Die Hütte des Sehers.«

Barry wandte sich an seine Frau. »Wir waren ganz nah dran.« »Wer weiß, wie oft wir schon daran vorbeigelaufen sind«,

sagte Sandra. Barry teilte die Holzperlenschnüre, die vor dem Eingang

hingen, und trat ein. Sandra folgte ihm. Weder mußten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen, und sobald dies geschehen war, erkannten sie, daß die Hütte leer war. Niemand hockte auf dem schäbigen Teppich.

»Der alte Vogel ist ausgeflogen«, sagte Barry. »Was nun? Wollen wir hier auf ihn warten?«

»Wer weiß, wann er zurückkommt«, antwortete Sandra. »Wie groß ist der Aktionsradius eines Blinden?« »Ebenso groß wie der eines Sehenden.« »Und der Aktionsradius eines Siebenundachtzigjährigen?« »Denk an Mr. Pommeroy«, erinnerte Sandra ihren Mann an

einen Nachbarn in London. »Er ist neunzig und läuft noch wie ein Wiesel.«

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»Sieht so aus, als hätten wir den Weg umsonst gemacht«, brummte Barry. »Wenn Mohammed Hassan Telefon hätte, hätten wir vorher anrufen und fragen können, ob er daheim ist.«

Sie verließen die Hütte des Sehers. Das grelle Sonnenlicht schmerzte in ihren Augen. Plötzlich stand der magere Junge vor ihnen, der sie das erstemal hierher gebracht hatte.

»Zehn Dirham – bitte«, sagte er. »He, Kleiner, erkennst du uns nicht wieder?« fragte Barry.

»Du hast uns vor ein paar Tagen zu Mohammed Hassan geführt.«

»Ich erinnere mich.« Der Autor zeigte auf die leere Hütte. »Weißt du, wo der alte

Mann ist?« »Ich weiß es.« »Sagst du es uns?« »Für zehn Dirham.« Barry Carpenter grinste. »In diesem Land muß das Geld

erfunden worden sein – lange, bevor die Phönizier daran dachten.« Er gab dem Jungen die Banknote. »Also, wo ist Mohammed Hassan?«

»Auf dem Friedhof.« »Was tut er da?« wollte Barry wissen. »Er ist tot«, sagte der Junge.

*

»Tot?« stieß Barry Carpenter fassungslos hervor. »Wieso ist er tot?«

Der Junge hob die schmalen Schultern. »Er war siebenundachtzig. Er hatte ein langes Leben.«

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»Woran ist er gestorben?« »Das weiß ich nicht.« »Ist er eines natürlichen Todes gestorben?« Der Junge sah den Autor unsicher an. »Ich verstehe diese

Frage nicht.« »Nun, er könnte ja einen Unfall gehabt haben.« »Er hatte keinen Unfall.« »Es könnte ihm auch jemand etwas angetan haben.« »Er war ein Heiliger. Einem Heiligen tut niemand etwas an«,

empörte sich der Junge. »Du kannst stolz sein auf deine Geschäftstüchtigkeit,

Kleiner«, sagte Barry Carpenter grollend. »Hast selbst aus Mohammed Hassans Tod noch Kapital geschlagen.«

»Wieso?« »Du hast für die Information, daß der alte Mann tot ist, zehn

Dirham genommen.« »Ich muß essen – wie Sie?« rechtfertigte sich der magere

Junge. »Möchtest du mehr verdienen?« fragte Barry. Der Junge war sofort interessiert. »Was soll ich tun?« »Als wir neulich hier waren, wurden wir von einem Mann

und einer Frau verfolgt«, sagte der Autor. »Der Mann hatte stechende Augen und eine Raubvogelnase und die Frau war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Kennst du so jemanden?«

Der Junge dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf. »Viele Menschen hier sehen so aus.«

»Wie ist dein Name?« wollte Barry wissen. »Kamal, Sir.« »Ich bin Barry Carpenter. Das ist meine Frau Sandra«, sagte

der Drehbuchautor. Er nannte das Hotel, in dem sie wohnten, und fuhr fort: »Es ist sehr wichtig für uns, zu erfahren, wer die beiden sind, Kamal.«

»Wie wichtig?« fragte Kamal gespannt.

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»Fünftausend Dirham wichtig«, sagte Barry, und die Augen des Jungen wurden so groß wie Tennisbälle.

»Wie war die Besichtigung des Fischmarkts?« fragte Barry. Die Baxters und die Carpenters hatten sich auf der Hotelterrasse auf einen Drink zusammengesetzt.

»Hochinteressant«, antwortete Carol. »Erstaunlich, was man hier so alles aus dem Meer holen

kann«, sagte Frank. »Und wo wart ihr?« fragte Carol. »In der Kasba«, gab Sandra zur Antwort. »Wart ihr da nicht schon mal?« fragte Carol. »Wir wollten das Leben und Treiben im Souk noch mal

hautnah mitkriegen«, erklärte Barry. »In Marrakesch ist das alles viel größer und

unübersichtlicher«, sagte Frank Baxter. »Ohne ortskundigen Führer sollte man sich da nicht hineinwagen, weil man sich sonst unweigerlich verirrt.«

Sandras Gedanken schweiften ab. Ob Kamal den Mann und die Frau ausfindig machen wird? ging es ihr durch den Sinn. Für fünftausend Dirham wird der Junge alle Hebel in Bewegung setzen – suchen, forschen, Fragen stellen. Hinter jeden Busch und unter jeden Stein wird er schauen, um sich das in Aussicht gestellte Geld zu verdienen. Vielleicht wird er uns schon bald sagen können, wo die beiden zu finden sind. Und dann? Was dann? Ich habe Angst vor dem, was dann kommt…

Am Abend hatte Frank Baxter dann eine weitere Tanzlektion. Er bewegte sich steif und zählte konzentriert den Takt mit, und als die Musik Pause machte, sagte er, es wäre ihm unbegreiflich, wie Tanzen für so viele Menschen ein Vergnügen sein könne, für ihn wäre es die reinste Knochenarbeit.

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Als Barry und seine junge Frau eine Stunde später ihr Zimmer betraten, ächzte Sandra: »Ich glaube, ich muß mich geschlagen geben. Frank ist mir heute dreimal so kräftig auf die Zehen gelatscht, daß mir beinahe die Tränen gekommen wären. Mir ist noch kein größeres Antitalent begegnet. Bei aller Freundschaft – ich muß ihm sagen, daß er es nie lernen wird.«

»Das wußte er schon vorher«, sagte Barry – und im nächsten Augenblick blieb er so abrupt stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

»Sieh nur!« preßte Barry Carpenter heiser hervor. Es zuckte unkontrolliert in seinem Gesicht. »Sieh nur!«

Seine Augen waren starr auf den Boden gerichtet. Sandra folgte seinem Blick und sah Schuhe vor Barrys Bett stehen. Jene Schuhe, die er auf dem zerrissenen Foto getragen hatte. Weiße Schuhe mit einer großen Messingschnalle.

Barry fuhr sich mit gespreizten Fingern verstört durch das dunkle Haar. »Ich werde verrückt! Ich schnappe über! Ich verliere den Verstand! Was soll das? Was soll das alles? Ich verstehe es nicht!«

Sandra ging an ihm vorbei und hob die Schuhe auf. Sie waren nicht neu. Die Absätze waren schon ein wenig abgetreten.

»Wie kommen sie hierher?« keuchte Barry fassungslos. »Wer hat sie vor mein Bett gestellt – und warum?« Er riß seiner Frau die Schuhe aus der Hand. Zorn funkelte in seinen Augen.

»Was hast du vor?« fragte Sandra besorgt. »Ich gehe zum Manager.« »Es ist schon spät.« »Das ist mir egal.« Barry stürmte aus dem Zimmer. Sandra lief ihm nach. Sie wollte ihn jetzt nicht allein lassen.

Wutentbrannt platzte Barry wenig später in das Büro des Managers.

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Er knallte dem kleinen, elegant gekleideten Marokkaner die Schuhe auf den Schreibtisch und brüllte: »Was soll das? Was wird hier gespielt? Wieso stehen diese Schuhe vor meinem Bett?«

Der Hotelmanager sah ihn verwirrt an. »Wieso? Sind das etwa nicht Ihre Schuhe?«

»Nein…«, schrie Barry. »Das heißt ja…« Er unterbrach sich, fuhr achselzuckend fort: »Mag sein, daß sie mir einmal gehört haben… Doch nun gehören sie mir nicht mehr…«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen, Sir«, sagte der Manager, um Fassung bemüht. Er glaubte wohl, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Man durfte die marokkanische Sonne nicht unterschätzen. Sie konnte einigen Schaden anrichten, wenn man sich ihr ohne Kopfbedeckung zu lange aussetzte.

»Ich habe diese Schuhe nicht mitgebracht«, polterte Barry. »Sie befanden sich nicht in meinem Gepäck, als wir hier ankamen. Meine Frau kann das bestätigen.«

»Aber, Sir«, entgegnete der Manager, »wer sollte Ihnen alte Schuhe vor Ihr Bett stellen?«

»Ich möchte wissen, wieso jeder in unser Zimmer hinein kann.«

»Welche Zimmernummer haben Sie?« »Dreihundertvier.« Der Manager bediente das vor ihm befindliche Keyboard und

schaute auf den Bildschirm. »Mr. und Mrs. Carpenter?« »Ganz recht.« »Sie meinen, jemand betritt hinter Ihrem Rücken – also ohne

Ihr Wissen und ohne Ihr Einverständnis – Ihr Zimmer?« »So ist es.« »Mehrmals?« fragte der Manager. »Mehrmals«, nickte der Autor.

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»Vermissen Sie etwas, Mr. Carpenter?« erkundigte sich der Manager besorgt, dem ein Auftritt wie dieser noch nie untergekommen war. »Hat man Sie bestohlen?«

»Nein, wir vermissen nichts, und man hat uns auch nicht bestohlen«, gab Barry scharf zurück. »Man hat etwas dagelassen: Und zwar diese Schuhe, die ich nicht haben will.«

»Nun, wenn Sie möchten, kann ich dafür sorgen, daß einer unserer Angestellten die Schuhe…«

»Darum geht es nicht, Mann«, herrschte Barry den Manager an. »Es geht darum, daß wir nicht jeden in unserem Zimmer haben wollen.«

»Ich kann Ihnen bedauerlicherweise kein anderes Zimmer anbieten, Mr. Carpenter«, sagte der Marokkaner achselzuckend. »Tut mir leid. Wir sind restlos ausgebucht.«

»Dann wechseln Sie wenigstens das verdammte Türschloß aus, das man mit jeder Haarklammer öffnen kann.«

»Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann«, versprach der Manager.

Barry sah seine Frau an. »Komm, Schatz, laß uns gehen.« »Mr. Carpenter, Ihre Schuhe!« rief ihnen der Manager nach,

als sie sein Büro bereits verlassen hatten. Barry drehte sich gereizt um. »Das sind nicht meine… Ach,

vergessen Sie’s.«

*

Sie bekamen ein neues Türschloß und einen anderen Schlüssel, aber Barry Carpenter blieb unzufrieden. »Das neue Schloß läßt sich genauso leicht öffnen wie das alte«, sagte er zu seiner Frau. »Was der Manager veranlaßt hat, ist reine Augenauswischerei. Unser Zimmer wird weiterhin jeder

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betreten können, der mit einer Haarnadel umgehen kann. Das braucht nicht mal ein richtiger Profi zu sein.«

Die Fahrt nach Marrakesch rückte näher. Die Carpenters versuchten vergeblich einen Erfolg bei ihren Lehrstunden herbeizuführen. So warfen sie schließlich das Handtuch. Die Baxters waren ihnen deshalb nicht böse.

Im Gegenteil. Sie hatten Verständnis dafür, daß die Carpenters resignierten und von ihrem Ehrgeiz abließen, ihnen das Tanzen beziehungsweise das Schwimmen beibringen zu wollen.

»Wir hatten von Anfang an gewußt, daß ihr es nicht schaffen würdet«, sagte Frank Baxter lächelnd. »Aber ihr wolltet es ja nicht wahrhaben.«

»Tut uns leid«, sagten Sandra und Barry. Frank winkte ab. »Macht doch nichts. Carol und ich können

damit leben, daß wir nicht perfekt sind.« Sie lagen am Pool in der Sonne. Frank stand auf und sprang

ins Wasser. Er schwamm zwei Längen, dann kam er zurück und streckte sich wieder auf der Liege aus.

»Frank hat mir das Schwimmen sogar schon unter Hypnose beizubringen versucht«, sagte Carol Baxter. »Aber auch damit ist er gescheitert.«

Sandra Carpenter sah Frank Baxter überrascht an. »Du kannst hypnotisieren?«

»Nur so für den Hausgebrauch«, antwortete Frank. »Ich würde von mir nicht behaupten, daß ich ein wirklich großer Hypnotiseur bin.«

»Aber Jim Wheeler hat sich mit deiner Hilfe das Rauchen abgewöhnt«, warf Carol ein, »und Doris Carey kam durch dich von ihrer Fettsucht los.«

Barry lachte. »Hör mal, warum hast du dir dann noch nicht per Autosuggestion das Tanzen beigebracht?«

»Selbsthypnose beherrsche ich leider nicht«, meinte Frank.

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»Könntest du mich hypnotisieren?« fragte Sandra. »Schon möglich«, gab Frank zur Antwort. »Wovon hängt es ab?« wollte Sandra wissen. »Du darfst dich nicht dagegen sperren. Und ich kann dir auch

nichts befehlen, was total gegen deinen Willen ist.« »Du könntest mich zum Beispiel nicht davon abbringen,

meinen Mann zu lieben.« »So ist es.« Sandra setzte sich auf und schaute Frank in die Augen.

»Okay, hypnotisiere mich.« »So einfach ist das nicht«, sagte Frank. »Wieso nicht? Brauchst du dazu irgendwelche Hilfsmittel?

Ein Pendel – oder so etwas in der Art?« »Keine Hilfsmittel«, antwortete Frank. »Aber Ruhe. Hier

sind zu viele Menschen. Hier kann ich mich nicht konzentrieren. Außerdem muß Barry damit einverstanden sein.«

»Barry ist einverstanden«, sagte Sandra. Sie legte die Hand auf seine Schulter. »Nicht wahr?«

»Ich habe nichts dagegen«, nickte der Autor. »Veranstalten wir dann heute abend auf dreihundertvier eine

Hypnosesitzung?« fragte Sandra gespannt. »Meinetwegen«, antwortete Frank. »Aber erwarte dir nicht

zuviel davon. Ich bin bisweilen ein ziemlich dilettantischer Amateur.«

Der Kellner kam vorbei. Die Männer bestellten Bier, die Frauen Cola ohne Eis. Als sie ihre Getränke bekamen, schlug Carol Baxter sich mit der flachen Hand auf die Stirn.

»Gott, was bin ich vergeßlich«, sagte sie. »Was hast du denn vergessen, Darling?« fragte Frank. »Da war so ein merkwürdiger Anruf.« »Ein Anruf?« sagte Frank. »Wann?«

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»Ich war allein im Zimmer. Du hast dir ein paar Zeitschriften geholt.«

»Ja? Und?« »Eine Frau sagte: ›Barry Carpenter ist Ihre Freundschaft

nicht wert. Er wird Sie im Stich lassen, sobald Sie in Not geraten.‹«

Frank sah seine Frau ungläubig an. »Das hat sie gesagt?« Carol nickte. »Und was noch?« wollte Frank wissen. Carol schüttelte den Kopf. »Sonst nichts. Danach hat sie

aufgelegt.« »Hat sie ihren Namen genannt?« wollte Frank wissen. »Nein.« »Sie muß sich einen schlechten Scherz erlaubt haben«,

knurrte Frank. Barry preßte die Kiefer fest zusammen und starrte in das

klare Wasser des Schwimmbeckens. »Dieser Lady scheint es nicht zu gefallen, daß wir uns mit

euch angefreundet haben«, sagte Frank mit gefurchter Stirn. Er ließ seinen Blick über die Hotelgäste schweifen, die um den Pool herum faulenzten. »Sie ist eifersüchtig, möchte einen Keil zwischen uns treiben.«

»Vielleicht beobachtet sie uns in diesem Augenblick«, sagte Carol mit belegter Stimme.

Frank sah die Carpenters an. »Habt ihr eine Ahnung, wer diese Frau sein könnte?«

Sandra und Barry schüttelten den Kopf, obwohl ihnen sofort die Frau eingefallen war, die sich am Telefon als Todesengel von Agadir vorgestellt hatte. Aber so starken Tobak wollten sie den Baxters nicht zumuten.

»Barry Carpenter ist Ihre Freundschaft nicht wert«, hatte die geheimnisvolle Frau gesagt. »Er wird Sie im Stich lassen, sobald Sie in Not geraten.«

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Sandra fielen dazu die Worte des alten Sehers ein: »Hände, die einst um Hilfe bettelten, wenden sich jetzt gegen Sie.«

In was für ein Rätsel waren sie da bloß geraten?

*

Barry öffnete die Minibar und nahm sich einen Scotch. »Einen Wermut für dich?« fragte er seine Frau.

Sandra nickte. »Ja, bitte.« Sie setzten sich in die bequemen Sessel, die vor der

Terrassentür standen, und nippten von ihren Drinks. »Der Spuk zieht unerfreuliche Kreise«, knirschte Barry.

»Jetzt bezieht diese geistesgestörte Frau die Baxters schon in diesen Irrsinn mit ein.«

»Wieso macht sie dich bei unseren neuen Freunden schlecht?«

»Wenn ich das bloß wüßte. Wenn ich überhaupt wüßte, was das alles soll.«

»Als ich sagte, ich möchte in Agadir Urlaub machen, warst du nicht sonderlich begeistert. Erinnerst du dich? Dein Unterbewußtsein hat etwas gegen diese Stadt.«

Der Autor zuckte mit den Achseln. »Möglich.« »Vielleicht kann Frank dir helfen«, sagte Sandra. »Helfen?« »Vielleicht findet er heraus…« »Du meinst, ich soll mich von ihm hypnotisieren lassen?« fiel

Barry seiner Frau rauh ins Wort. »Ja.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Kommt nicht in Frage.« »Warum nicht?«

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»Frank ist auf diesem Gebiet doch ein Stümper. Das hat er selbst gesagt.«

»Entweder schafft er es, dich zu hypnotisieren, oder er schafft es nicht. Was ist schon dabei? Du hast doch nicht etwa Angst, dich in Trance eventuell lächerlich zu machen?«

»Das nicht…« »Wovor hast du sonst Angst? Daß etwas Unangenehmes an

die Oberfläche kommt? Laß uns offen reden, Barry. Es scheint in deiner Vergangenheit irgend etwas zu geben, das du nicht bewältigen konntest.«

Barry trank einen Schluck. »Du wolltest nicht hierher kommen«, fuhr Sandra fort. »Du

sagtest, dir wäre, als wärst du in einem anderen Leben schon mal hier gewesen. Ich aber denke, es war in keinem anderen Leben…«

»Wieso glaubst du das?« »Weil ich das Foto von dir gesehen habe«, sagte Sandra. »Du

mußt als ungefähr Zwanzigjähriger hier gewesen sein. Mohammed Hassan sagte, du hättest nicht zurückkommen sollen. Er sah eine tiefe, häßliche, bedrohliche Schwärze – die Farbe des Bösen, des Unheils, des Hasses, der Rache, des Todes. Und er sprach von Händen, die einst um Hilfe bettelten und sich jetzt gegen dich wenden.«

»Wirres Zeug. Ich kann damit nichts anfangen.« »Ich auch nicht«, sagte Sandra. »Noch nicht. Aber wenn du

dich von Frank hypnotisieren läßt, kommt vielleicht etwas zutage…«

»Na schön«, seufzte Barry, »er soll mich hypnotisieren. Ich würde mir an deiner Stelle aber nicht zuviel davon versprechen, weil Frank nämlich kein Profi ist.«

Nach dem Abendessen kamen die Baxters mit zu den Carpenters. Frank brachte eine Flasche Wein mit. Rotwein aus Meknes, dem fruchtbarsten und ertragreichsten Weinbaugebiet

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des Landes. Er hatte keine Mühe, Sandra zu hypnotisieren, ließ sie wie Charlie Chaplin im Zimmer umhergehen und Kinderlieder singen. Als er sie aufweckte, konnte sie sich an nichts erinnern. Sie lachte, als sie erfuhr, was sie alles getan hatte, und forderte Frank auf, nun ihren Mann zu hypnotisieren.

Frank und Barry saßen einander gegenüber. Frank legte die Hände auf sein Gesicht und atmete mehrmals kräftig durch. Dann ließ er die Hände auf seine Schenkel sinken und fragte: »Bist du bereit?«

Barry nickte. Er wirkte nervös. »Entspanne dich«, sagte Frank mit leiser, monotoner Stimme.

»Sei ganz locker. Laß dich fallen. Du darfst dich innerlich nicht sperren.«

»Ich sperre mich nicht.« »Gut«, sagte Frank. »Stell dir vor, du stehst vor einer Treppe,

die nach unten führt. Denk nur an diese Treppe und an nichts anderes. Du steigst die Stufen langsam hinunter. Eine angenehme Müdigkeit stellt sich ein. Du bist ruhig und entspannt. Am Ende der Treppe befindet sich eine Tür. Du öffnest sie und betrittst einen großen, leeren, stillen Raum. Es geht dir gut. Du fühlst dich wohl. Jetzt schließt du die Tür und bist allein. Du bist ganz allein, völlig ruhig und total entspannt. Du atmest tief und regelmäßig, deine Augenlider senken sich. Du schließt die Augen und fühlst dich unbeschreiblich wohl.«

Barry saß mit geschlossenen Augen da. »Befindet er sich jetzt in Trance?« fragte Sandra leise. »Ich denke ja«, antwortete Frank. »Kannst du ihn in der Zeit zurückführen?« »Wie weit?« »Drei Jahre.«

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»Du gehst zurück«, sagte Frank zu Barry. »Langsam, aber stetig schreitest du zurück. Ein Jahr. Noch ein Jahr. Ein drittes Jahr…«

Barry nickte kaum merklich. »Bist du am Ziel?« fragte Frank. Barry nickte wieder. »Sag mir, was du siehst«, verlangte Frank. »Sandra«, kam es dünn über Barrys Lippen. »Ich sehe

Sandra. Sie ist wunderschön. Sie ist die schönste Braut, die ich je gesehen habe.«

»Wir haben vor drei Jahren geheiratet«, erklärte Sandra. »Kannst du ihn noch weiter zurückschicken?« »Schon möglich«, antwortete Frank. »In die Zeit, als er zwanzig war«, sagte Sandra aufgeregt. »Ich werd’s versuchen.« Frank Baxter geleitete Barry Carpenter Schritt für Schritt und

Jahr um Jahr zurück, doch irgendwann blieb Barry stehen. Er ging nicht mehr weiter. Frank redete unermüdlich auf ihn ein. Es war Barry anzusehen, daß er gehorchen wollte, aber er konnte nicht. Es gab da eine Sperre, die er nicht überwinden konnte. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Seine Wangenmuskeln zuckten.

»Da ist ein Hindernis«, sagte Frank ernst. »Ein sehr großes Hindernis. Ich kann ihn nicht zwingen, es zu überwinden, und selbst wenn ich die Kraft dazu hätte, würde ich es nicht tun, weil die Gefahr besteht, daß ich ihn hinter dieser Barriere verliere und nicht mehr zurückbringe.«

»Worauf führst du diese Blockade zurück?« wollte Carol Baxter wissen.

Ihr Mann musterte den Autor besorgt. »Er muß in jungen Jahren ein ganz schreckliches Erlebnis gehabt haben, an das er sich nicht einmal in Trance erinnern möchte.«

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»Kannst du herausfinden, ob er schon mal gelebt hat?« fragte Sandra.

»Ich denke, es ist besser, wenn ich ihn so rasch wie möglich aufwecke«, gab Frank Baxter zurück. »Er steht im Moment unter ziemlich großem Streß. Das kann ich nicht länger verantworten.« Er wandte sich an Barry und befahl ihm, umzukehren. So behutsam wie möglich führte er den Autor zu jener Tür zurück, durch die er den großen, leeren, stillen Raum betreten hatte. Er befahl ihm, die Tür zu öffnen und den Raum zu verlassen. »So«, sagte er anschließend gedämpft. »Nun schließt die Tür. Sobald sie geschlossen ist, weißt du nicht mehr, wo du warst. Es geht dir gut. Du bist ruhig und entspannt. Ohne Eile steigst du die Stufen hinauf, und wenn du das obere Ende der Treppe erreichst, erwachst du und fühlst dich so gut wie nach einem langen, erholsamen Schlaf.«

Nervös wartete Sandra auf Barrys Erwachen. Als er die Augen öffnete, lächelte sie ihn an. »Da bist du wieder.«

»Konnte Frank mich hypnotisieren?« fragte Barry. »Ja.« »Und zu welchen Albernheiten hat er mich verleitet?« Sandra schüttelte den Kopf. »Zu keinen Albernheiten.« Barry atmete erleichtert auf. »Dann bin ich beruhigt.«

*

Tags darauf fuhren sie nach Marrakesch, und man zeigte ihnen die vielen Sehenswürdigkeiten der großen Königsstadt – Moscheen, Grabstätten und Paläste. Fünf Meter hoch und zwei Meter dick waren die roten Mauern, die die Altstadt in einer Länge von zwölf Kilometern umgaben. Ein imposanter Anblick. Das Mittagessen wurde in einem Vorort von

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Marrakesch in einem erstklassigen Hotel serviert. Anschließend ging es mit dem Bus zur Medina. In den Souks, die in keiner anderen marokkanischen Stadt so farbenprächtig und abwechslungsreich waren wie hier, mußte die Gruppe dicht beisammen bleiben, damit niemand verlorenging.

Anschließend hatte man zwei Stunden zur freien Verfügung, und diese Zeit wollte Frank Baxter natürlich unbedingt auf dem großen Platz der Gaukler verbringen.

Die Buntheit und Lebhaftigkeit des dort herrschenden Treibens, war in der ganzen orientalischen Welt einzigartig. Große Kreise von Zuschauern versammelten sich um Zauberer, Akrobaten, Märchenerzähler, Koranvorleser, Sänger und Musikanten. Und selbstverständlich waren da auch die Schlangenbeschwörer, auf die sich Frank schon so sehr gefreut hatte.

Trommel- und Flötenlärm veranlaßte die Kobras, sich mit geblähtem Hals drohend aufzurichten, und Frank durfte zum Fotografieren eine fast zwei Meter lange Schlange in seinen Händen halten.

»Hoffentlich ist sie nicht giftig«, sagte Carol, während sie immer wieder auf den Auslöser drückte.

Für Frank war es ein ganz großes Erlebnis. Seine Augen leuchteten noch, als sie sich schon längst in einem der Cafes auf einer lauschigen Dachterrasse erfrischten. Der Bauchtanz am Abend in einem typisch marokkanischen Restaurant vermochte ihn nicht einmal halb so sehr zu begeistern.

Nur für Sandra Carpenter war es bedauerlicherweise kein unbeschwerter Tag. Fremde Augen schienen sich in ihren Rücken zu bohren. Ständig blickte sie sich um. Sie konnte sich die ganze Zeit des Eindrucks nicht erwehren, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden. Ihr war so, als hätten die schwarze Frau und der Mann mit den stechenden Augen die Fahrt

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mitgemacht. Sehen konnte sie sie zwar nicht, aber sie war ziemlich sicher, daß sie da waren.

*

Vier Stunden dauerte die Rückfahrt nach Agadir. Hinter dem Bus tanzte ein Scheinwerferpaar durch die Nacht. War es immer derselbe Wagen? Folgte er dem Autobus, in dem die Carpenters saßen? Sandra versuchte nicht an das Fahrzeug zu denken. Sie lehnte sich müde an ihren Mann, ihr Kopf sank auf seine Schulter, die Augen fielen ihr zu und wenig später schlief sie.

Kurz bevor sie ihr Hotel erreichten, weckte Barry sie sanft. »Schatz«, flüsterte er. »Wir müssen gleich aussteigen.«

»Wie? Was? Sind wir schon da?« »In wenigen Minuten. Geht es dir gut?« »Ich bin furchtbar müde.« »Nicht mehr lange, dann liegst du im Bett.« Die unsichtbaren Verfolger fielen Sandra ein. Sie drehte sich

um und schaute zurück. Es war kein Wagen mehr hinter dem Bus zu sehen.

Sandra sah ihren Mann unsicher an. »Ich glaube, sie waren da.«

»Wer war wo?« fragte der Drehbuchautor. Der Bus hielt vor dem Sheraton-Hotel. Ein älteres Ehepaar

verabschiedete sich und stieg aus. »Die schwarze Frau«, sagte Sandra gepreßt, »und der Mann

in der schmuddeligen Djellabah… In Marrakesch… Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, sie würden uns keine Sekunde aus den Augen lassen.«

Page 67: Der Todesengel von Agadir

»Das kannst du dir auch eingebildet haben«, gab Barry zurück, darauf bedacht, daß außer seiner Frau keiner der Anwesenden hörte, was er sagte.

»Mir war, als würden sie auf eine Chance warten«, sagte Sandra verkrampft. »Wenn wir uns allein von der Truppe entfernt hätten – wer weiß, was dann passiert wäre.«

Der Bus fuhr zum Meer hinunter. Der große, fast volle Mond ließ das Wasser wie Silber glänzen. Es war eine wunderschöne klare Nacht.

Als der Bus das nächstemal stehenblieb, stiegen die Carpenters und die Baxters aus. Barry und Frank legten Geldscheine auf den Trinkgeldhaufen, den sich der Reiseleiter und der Fahrer später teilen würden.

»Gott, was bin ich müde«, ächzte Carol. »Ich auch«, sagte Sandra. »Ich habe im Bus geschlafen«, sagte Carol. »Ich auch«, nickte Sandra. Carol hängte sich bei ihrem Mann ein. »Ich kann nicht sagen,

wie sehr ich mich auf mein Bettchen freue.« Sandra lächelte matt. »Nicht mehr als ich.« Der Bus fuhr weiter. Carol kicherte. »Frank wird bestimmt von Schlangen

träumen.« Frank hob die Augenbrauen und sagte mit wichtiger Miene:

»Was auf diesem Platz der Gaukler passiert ist, war für mich ein ganz starkes Erlebnis. Dieses überschäumende Leben, dieses bunte Treiben – die vielen Schlangen… Ich hoffe, der Ausflug nach Marrakesch hat euch nur halb so gut gefallen wie mir.«

Die beiden Ehepaare betraten ihr Hotel. »Es war eine großartige Idee«, versicherte Barry dem neuen

Freund.

Page 68: Der Todesengel von Agadir

Sie holten die Zimmerschlüssel, wünschten einander eine angenehme Ruhe und trennten sich. Kurz darauf schloß Barry Carpenter die Tür von Zimmer 304 auf.

Er ließ seiner jungen Frau den Vortritt. Sie trat ein, machte Licht, ging an der Tür vorbei, die ins Bad führte, und prallte im nächsten Moment entsetzt zurück. Starr vor Angst stand sie einer großen Königskobra gegenüber, die sich auf dem Doppelbett drohend aufgerichtet hatte.

Gab es in Agadir Schlangen oder war dieses Reptil ein Souvenir aus Marrakesch? Unfähig, zu reagieren, starrte Sandra die Giftschlange an.

Barry wußte nicht sofort, was los war. Er schloß die Tür und meinte lächelnd: »Ich dachte, du bist müde, Schatz. Wieso siehst du nicht zu, ins Bett zu kommen?« Er ging zu ihr. Als er die Kobra erblickte, fuhr ihm ein eisiger Schrecken in die Glieder. »O mein Gott!« entfuhr es ihm.

Wie eine gespannte Stahlfeder stand das Reptil im Bett. »Wie kommt dieses Vieh in unser Zimmer?« stieß Barry

aufgewühlt hervor. Ihm fiel auf, daß die Balkontür offen war. Er griff hastig nach

den Schultern seiner Frau und riß sie zurück. Im gleichen Moment schnellte die Königskobra mit offenem Maul vor. Ihre Giftzähne verfehlten Sandra nur knapp.

Barry zog sich mit seiner Frau ins Bad zurück. Er ließ Sandra los, nahm ein Badetuch von der Ablage und bewaffnete sich mit dem Klosettbesen.

»Was hast du vor?« krächzte Sandra bestürzt. »Ich verscheuche dieses Biest.« Sandra krallte die Finger in Barrys Hand. »Das ist zu

gefährlich.« »Ich nehme mich schon in acht.« »Diese Schlange ist sehr giftig. Ihr Biß kann tödlich sein.« »Ich habe nicht die Absicht, mich von ihr beißen zu lassen.«

Page 69: Der Todesengel von Agadir

»Bitte bleib hier, Barry.« »Willst du die ganze Nacht in diesem Bad verbringen? Ich

muß raus. Ich muß sie verjagen.« Er öffnete ihre Finger mit sanfter Gewalt und trat aus dem Bad.

Er wickelte das Frotteetuch dick um seinen linken Arm und hob den Klosettbesen wie ein Kurzschwert. Auf dem Bett war die Königskobra nicht mehr.

Barry sah sich gespannt um. Wo befand sich die Schlange? Wo hatte sie sich verkrochen? Er legte sich auf den Bauch und schaute unter das Bett.

Er schob die Nachttische zur Seite, rückte die Sitzgruppe von ihrem Platz, sah in den Kleiderschrank und unter den Schreibtisch. Sogar alle Laden öffnete er.

Obwohl er mit allergrößter Vorsicht und Gewissenhaftigkeit nach dem gefährlichen Reptil suchte, konnte er es nirgendwo entdecken.

Die Schlange mußte sich über den Balkon davongemacht haben. Barry schloß die Tür und gab Entwarnung. »Sie ist weg, Schatz«, sagte er.

»Bist du sicher?« »Ja, du kannst aus dem Bad kommen.« Barry warf das

Badetuch auf das Bett, lehnte den Klosettbesen an die Wand und nahm den Telefonhörer ab. »Zimmer dreihundertvier«, sagte er, als am andern Ende sich eine müde Männerstimme meldete. »Barry Carpenter. In unserem Zimmer war soeben eine Kobra. Sie ist vermutlich über den Balkon verschwunden. Sie sollten sie suchen, bevor einer Ihrer Gäste zu Schaden kommt.«

Sandra trat bleich und zitternd aus dem Bad. Angsterfüllt huschte ihr Blick umher. Sie wagte nicht, dem Frieden zu trauen. Was, wenn Barry die Kobra übersehen hatte?

»Sie ist weg«, wiederholte ihr Mann. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Sie ist ganz bestimmt nicht mehr hier.«

Page 70: Der Todesengel von Agadir

Sandra sank in seine Arme. »Ich kann mich nicht in dieses Bett legen, Barry.«

»Willst du die ganze Nacht im Sessel sitzen?« »Ich kann nicht mehr schlafen.« »Aber du bist doch müde.« »Jetzt nicht mehr.« Sandra war felsenfest davon überzeugt, daß die Schlange

nicht zufällig hierher gelangt war. Da hatten die schwarze Frau und der Mann mit den stechenden Augen ihre teuflische Hand im Spiel, dachte sie aufgewühlt. Sie waren in Marrakesch, haben die Königskobra von da mitgebracht und kurz vor unserem Eintreffen in unser Zimmer gelegt.

Es klopfte. Sandra zuckte heftig zusammen. »Ist schon okay«, sagte Barry und begab sich zur Tür. »Ja?«

fragte er. »Mr. Carpenter?« sagte draußen jemand. »Wir haben vorhin

miteinander telefoniert.« Barry öffnete die Tür. Drei Marokkaner standen auf dem

Flur. Einer von ihnen hielt einen weißen Jutesack in seinen Händen. Ein anderer war mit einem Metallstock bewaffnet, an dessen Ende sich eine Drahtschlinge befand.

»Die Kobra ist nicht mehr hier«, sagte Barry. »Dürfen wir trotzdem reinkommen und nachsehen, Sir?«

fragte der Nachtportier. Barry nickte und gab die Tür frei. Die Marokkaner stellten

das Zimmer buchstäblich auf den Kopf. Die Schlange fanden sie aber nicht.

Nachdem sie gegangen waren, fragte Barry seine Frau: »Bist du nun beruhigt? Wagst du dich nun hinzulegen und zu schlafen?«

*

Page 71: Der Todesengel von Agadir

»Es gibt keine Königskobra in Marokko«, erklärte tags darauf Frank Baxter, der Schlangenexperte. »Diese Spezies wird drei bis viereinhalb Meter lang und lebt in Südostasien.«

»Und wieso kann nicht jemand so ein Exemplar nach Marokko gebracht haben?« fragte Sandra Carpenter.

»Nun, das wäre natürlich möglich«, mußte Frank zugeben. Sie hatten sich beim Frühstück getroffen, und Sandra sah so

müde aus, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Deshalb hatte Frank wissen wollen, ob ihr etwas fehle. Daraufhin hatten die Carpenters von ihrem mitternächtlichen Schlangenabenteuer erzählt.

»Ob sie das Biest erwischt haben?« fragte Carol Baxter schaudernd.

»Sie werden es nicht an die große Glocke hängen, daß sie eine Königskobra in ihrem Hotel hatten – oder vielleicht noch haben«, sagte ihr Mann.

Carol verdrehte die Augen. »Mich würde der Schlag treffen, wenn dieses Vieh plötzlich in unserem Zimmer auftauchen würde.« Sie sah Sandra anteilnehmend an. »Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie dir in der vergangenen Nacht zumute war.«

»Ich gehe nachher zum Manager«, sagte Barry. »Er wird dir auf jeden Fall versichern, daß seine Leute die

Schlange eingefangen und fortgebracht haben«, sagte Frank. »Ich werde es ihm ansehen, wenn er lügt«, knurrte Barry. Sandras Appetit war nicht sehr groß, deshalb war sie mit dem

Frühstück auch als erste fertig. »Ich werde mich noch ein wenig hinlegen«, sagte sie.

Barry nickte. »Du hast recht. Vielleicht kannst du noch ein wenig Schlaf nachholen.«

Page 72: Der Todesengel von Agadir

»Du wirst nichts versäumen«, warf Carol tröstend ein. »Nach dem ermüdenden Marrakeschausflug steht heute ohnedies nur Faulenzen auf dem Programm.«

»Wir sehen uns am Nachmittag«, sagte Sandra und zog sich zurück.

Carol sah ihr nach. »Armes Mädchen«, sagte sie. »Sie tut mir leid.«

»Sie wird schon wieder«, gab Barry Carpenter sich optimistisch. »In ein paar Stunden ist sie wieder frisch und munter.«

*

Sandra ging am Pool vorbei. Die ersten Sonnenhungrigen hatten sich eingefunden und machten es sich in den weißen Kunststoffliegen bequem.

Einer der Animateure kam ihr entgegen. Er lächelte sie freundlich an und sagte: »Hallo.«

»Hallo«, gab sie zurück. »Möchtest du bauchtanzen lernen?« »Ein andermal. Nicht heute.« »Okay.« Sandra betrat das Hotel. Lärmende Kinder liefen den Gang

entlang. Ihre Eltern ermahnten sie, sich gesittet zu benehmen, doch sie hörten nicht auf sie.

Sandra sehnte sich nach Stille. Damit das Zimmermädchen sie nicht weckte, falls sie – was sie hoffte – Schlaf fand, hängte sie das rote Kärtchen mit der Aufschrift ›Bitte nicht stören‹ an den Türknauf.

Sobald sie im Zimmer war, schlüpfte sie aus den Schuhen. Sie zog die schweren Übergardinen zu, damit es dunkel wurde,

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entkleidete sich und ging zu Bett. Sie schloß die Augen und versuchte an nichts zu denken. Barry würde später kommen und sich umziehen. Er würde rücksichtsvoll leise sein und das Zimmer so rasch wie möglich wieder verlassen. Vielleicht würde sie davon überhaupt nichts mitbekommen. Irgend etwas ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie drehte sich von einer Seite auf die andere und wieder zurück, seufzte, ächzte und fing an, sich zu ärgern, weil der Schlaf sich nicht einstellen wollte.

Als sich ihr aus einem unerfindlichen Grund mit einem Mal der Verdacht aufdrängte, sie wäre nicht allein im Raum, setzte sie sich erschrocken auf – und sah, daß ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte.

Am Fußende des Bettes standen zwei Gestalten: Die schwarze Frau und der Mann mit den stechenden Augen.

Der schon wieder, schien sich der Hotelmanager zu denken, als Barry Carpenter zur Tür hereinkam. Aber das sagte der Marokkaner natürlich nicht. Er setzte ein freundliches Lächeln auf und wünschte dem Briten einen schönen guten Morgen. »Man hat mir von Ihrem höchst unerfreulichen nächtlichen Erlebnis berichtet«, sagte der kleine Mann anteilnehmend. »Es muß ein schlimmer Schock für Ihre Frau und Sie gewesen sein, bei Ihrer Rückkehr von Marrakesch eine Schlange in Ihrem Zimmer vorzufinden. Ich werde mir für dieses bedauerliche Ungemach eine angemessene Entschädigung überlegen, Mr. Carpenter.«

»Haben Ihre Leute die Kobra gefangen?« »Selbstverständlich, Sir. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie

anderen Hotelgästen gegenüber nichts von diesem Vorfall erwähnen würden.«

»Wo ist das Reptil jetzt?« »Im Zoo von Agadir«, gab der Manager zur Antwort. Er

beugte sich etwas vor. »Zu Ihrer Beruhigung, Sir, die Kobra hatte keine Giftzähne. Ihr Leben und das Ihrer Frau war also

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nicht in Gefahr. Dennoch tut es mir sehr leid, daß es zu diesem Vorfall gekommen ist. Sie können mir glauben, so etwas ist in unserem Haus noch nie passiert.«

Das glaubte Barry Carpenter dem Marokkaner. Er nickte und verließ das Büro des Managers.

»Sie hören demnächst von mir, Mr. Carpenter«, versprach der kleine Mann und deutete eine leichte Verneigung an.

Im Zoo ist sie gelandet, ging es Barry durch den Sinn. Da ist sie gut aufgehoben. Der Marokkaner hat bestimmt die Wahrheit gesagt. Schließlich könnte ich es jederzeit überprüfen.

Die Baxters kamen des Weges. »Nun?« sagte Frank. Barry nickte. »Die Kobra ist auf Nummer Sicher.« »Sie haben sie eingefangen?« Barry nickte wieder. »Wo?« wollte Frank Baxter wissen. Barry zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht.« »Und wo ist das Reptil nun?« fragte Carol. »Im Zoo«, antwortete Barry Carpenter. »Bist du in zehn Minuten am Pool?« fragte Frank. »Das schaffe ich locker«, sagte Barry. »Soll ich die Pokerwürfel mitbringen?« fragte Frank. »Gute Idee«, sagte Barry. Lautlos betrat er das verdunkelte Zimmer. Ob Sandra bereits

schlief? Er hoffte es. Ohne ein Geräusch zu verursachen, stahl er sich ins Bad, entledigte sich seiner Janas und zog eine Badeshort an.

Ohne einen Blick auf das Bett zu werfen, verließ er das Zimmer nach wenigen Augenblicken wieder. Er würde kurz vor Mittag nach Sandra sehen. Oder vielleicht erschien sie bis dahin von selbst am Schwimmbecken – ausgeruht und bester Laune. Während Barry in die Sonne hinaustrat, ging ihm vieles

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durch den Kopf. Warum hatte er sich innerlich so gegen diese Reise gesträubt? War er tatsächlich schon einmal in Agadir gewesen? Wieso konnte er sich nicht erinnern?

Im Schatten einer Palme lag Christoph – ein prächtiges Kamel – und wartete auf Kundschaft. Für ein paar Dirham konnte man auf Christoph, der dann von seinem Besitzer geführt wurde, in der Anlage eine Runde reiten.

Barry Carpenter setzte sich unter einen der Sonnenschirme. Die Baxters gesellten sich gleich darauf zu ihm.

»Schläft Sandra?« erkundigte sich Carol. »Ich nehme es an«, sagte Barry. »Du weißt es nicht?« fragte Carol verwundert. »Ich habe nicht nach ihr gesehen.« Frank grinste. »Vielleicht war sie gar nicht da.« »Sie war da«, erwiderte Barry bestimmt. »Woher willst du das wissen, wenn du nicht nach ihr gesehen

hast?« sagte Frank. »Sie hat das Zimmer verdunkelt, um schlafen zu können«,

erklärte Barry. »Sie lag bestimmt im Bett. Ich habe mich nur ganz schnell umgezogen und bin gleich wieder verschwunden.«

»Das ist ein rücksichtsvoller Ehemann«, seufzte Carol. »Frank wäre wie ein Elefant durchs Zimmer getrampelt und hätte mit lauter Stimme gefragt: ›Weißt du, wo meine Badehose ist, Darling?‹«

»Ist doch gar nicht wahr«, erwiderte Frank. Carol lachte. »Ich kenne doch meinen lieben Mann.« Frank stellte den Lederbecher mit den Pokerwürfeln auf den

kleinen weißen Kunststofftisch, und sie begannen zu spielen. Sandra Carpenter öffnete die Augen. Sie war schwer

benommen. Ihr Geist war so träge, daß sie im Moment keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie lag auf hartem Geröll. Als

Page 76: Der Todesengel von Agadir

sie sich aufrichten wollte, bemerkte sie, daß ihre Arme und Beine zusammengebunden waren.

Gefesselt… Umgeben von Dunkelheit und feuchter Kälte… Wie kam sie hierher? Wo war sie?

Sandra kämpfte sich hoch und lehnte sich an eine steinige Wand. Wessen Unterwelt ist das? fragte sie sich völlig durcheinander.

Es dauerte lange, bis die ersten Schleier sich zu lichten begannen. Frühstück… Sie hatte gesagt, sie wolle sich nocheinmal hinlegen… Im Zimmer hatte sie die Übergardinen zugezogen… Und dann? Was war dann passiert? War sie zu Bett gegangen?

Ich glaube ja, dachte Sandra. Aber ich konnte nicht einschlafen. Und plötzlich war da jemand im Raum. O Gott, ja! Die schwarze Frau und der Mann mit den stechenden Augen. Ich wollte… Ich wollte um Hilfe schreien, aber das ließen die beiden nicht zu. Sie stürzten sich auf mich und preßten mir etwas auf Mund und Nase. Süßlicher Geruch. Chloroform vielleicht. Ich verlor das Bewußtsein. Und nun bin ich hier. Die Frau und der Mann haben mich verschleppt. Wie konnten sie mich unbemerkt aus dem Hotel schaffen? Wohin haben sie mich gebracht?

»Hilfe!« rief sie. »Hilfe!« Ihre Stimme hallte durch die Dunkelheit ihres unterirdischen Verlieses. »Hilfe!« Sie zerrte an ihren Fesseln. Die Stricke schnitten schmerzhaft in ihr Fleisch. Sie konnte sich nicht davon befreien. »Hilfe!« rief sie wieder. »Hört mich denn keiner?«

Sie hörte knirschende Schritte und verstummte, und eine kalte Angst fraß ihre Seele.

*

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»Okay«, sagte Barry Carpenter. »Die Mittagssnacks, um die wir gespielt haben, gehen auf meine Rechnung.«

Frank Baxter griente. »Du bist heute nicht gerade Fortunas liebstes Kind.«

»Kann ich wahrhaftig nicht behaupten«, seufzte Barry. »Du solltest jetzt mal nach deiner Frau sehen«, riet Carol

Baxter ihm. »Das hatte ich vor«, sagte der Drehbuchautor und erhob sich. Als er wenig später das Zimmer betrat, waren die

Übergardinen noch immer zugezogen. Er lächelte. Sandra schien doch Schlaf gefunden zu haben, aber nun reichte es.

Es war gleich zwölf. Barry schlich durch das Zimmer und zog die Gardinen

auseinander. »Schatz, es ist Zeit, aufzustehen. Den ganzen Tag darfst du nicht verpennen, dafür ist es zu schön.«

Er drehte sich lächelnd um, und im nächsten Moment nahm seine Miene einen überraschten Ausdruck an, denn seine Frau lag nicht mehr im zerwühlten Bett.

War sie hinter seinem Rücken ins Bad gehuscht, während er für Helligkeit im Raum gesorgt hatte?

»Schatz?« Sie antwortete nicht. »Sandra?« Keine Reaktion. Barry schaute ins Bad. Seine Frau war nicht da. Wann hatte

sie das Zimmer verlassen? War sie die Treppe hinuntergegangen, während er mit dem

Lift hochfuhr? Der Autor kehrte zum Schwimmbecken zurück. »Du kommst ohne Sandra?« fragte Frank Baxter. »Schläft sie etwa immer noch?« fragte Carol. »Sie ist nicht mehr im Bett«, antwortete Barry.

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»Dann erscheint sie wohl demnächst«, sagte Carol. »Sie war nicht mehr im Zimmer, als ich sie wecken wollte«,

berichtete Barry. »Habt ihr sie nicht gesehen?« »Nein«, antworteten die Baxters wie aus einem Mund. »Vielleicht ist sie in einem der Hotelshops«, nahm Carol an. »Was sollte sie denn da?« fragte Barry Carpenter. »Nun, vielleicht braucht sie irgend etwas«, sagte Carol. Frank feixte. »Frauen benötigen immer irgend etwas.« Barry wurde nervös. Kein Wunder. Seit sie in Agadir waren,

rissen die unerfreulichen Überraschungen nicht ab. »Entschuldigt mich«, sagte der Autor.

Frank zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Wir wollten in die Snackbar…«

»Ja, geht schon mal vor«, sagte Barry. »Ich komme mit Sandra in einigen Minuten nach.«

*

Knirschende Schritte… Ein Schloß wurde aufgesperrt… Eine schwere Tür bewegte sich ächzend und knarrend in den Angeln… Licht flutete in den fensterlosen Raum, in dem Sandra Carpenter auf dem Boden hockte… Jemand trat ein… Die schwarz gekleidete Frau!

Für Sandra war das kein erfreuliches Wiedersehen. »Hier können Sie schreien, soviel Sie wollen«, sagte die

Unbekannte. »Es wird Sie niemand hören.« »Wo bin ich?« »In einem sehr guten Versteck«, versicherte die Frau. »Sie haben mich entführt.« »So könnte man es nennen.« »Warum?«

Page 79: Der Todesengel von Agadir

»Sie sind Barry Carpenters Frau.« »Haben Sie vor, Lösegeld für mich zu verlangen?« »Nein.« »Nein?« Sandra war verwirrt. »Was wollen Sie dann?« »Das werden Sie schon noch erfahren.« »Sie wollten mich schon entführen, als wir uns im Basar

begegneten, nicht wahr?« »Sie sind ein kluges Kind.« »Nennen Sie mich nicht Kind. Ich bin eine erwachsene

Frau.« »Aber Sie sind jung, daß Sie meine Tochter sein könnten.« »Wer sind Sie?« wollte Sandra wissen. »Warum verstecken

Sie Ihr Gesicht unter diesem schwarzen Schleier?« Die Frau ergriff den Schleier mit beiden Händen und schlug

ihn zurück. Sie hatte schöne, ebenmäßige Züge und sah nicht älter als siebenundvierzig aus. Und sie war keine Marokkanerin.

»Wie heißen Sie?« fragte Sandra. »Ich bin die Witwe von Jakub Besir.« »Wer war Jakub Besir?« »Ein guter Mensch, der leider viel zu früh gestorben ist.« »Und wer ist dieser Mann mit den stechenden Augen?« »Das ist Jakubs Bruder Abdul.« »Sie sind Engländerin, nicht wahr?« »Ich bin marokkanische Staatsbürgerin.« »Aber geboren sind Sie nicht hier.« »Marokko ist meine Heimat.« »Warum tun Sie das alles?« fragte Sandra verständnislos.

»Was ist Ihr Motiv?« Das Gesicht der Frau zuckte. »Haß. Rache.« Sie spie die

Worte förmlich aus. Ein kalter Schauer überlief Sandra. »Wen hassen Sie? Wofür

wollen Sie sich rächen?«

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Ihr kamen die Worte des blinden Sehers in den Sinn. ›Ich sehe Schwärze‹, hatte Mohammed Hassan in seiner schäbigen Hütte unruhig gesagt. ›Eine tiefe, häßliche, bedrohliche Schwärze. Es ist die Farbe des Bösen, des Unheils, des Hasses, der Rache, des Todes.‹

Sie sah der Frau in die Augen und vermeinte Wahnsinn darin funkeln zu sehen…

Barry Carpenter suchte seine Frau in allen Hotelshops. Auch beim Coiffeur schaute er hinein, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß Sandra sich da um einen Termin bemüht hatte, ohne es ihm zu sagen. Sie war auch nicht beim Frisör.

»Ich suche meine Frau«, sagte der Autor wenig später zum Empfangschef. »Haben Sie sie gesehen?«

»Nein, Sir«, antwortete der Marokkaner. »Danke.« Barry Carpenter umrundete den Swimming-pool,

in der Hoffnung, daß Sandra sich inzwischen hier eingefunden hatte, doch er konnte sie nirgendwo entdecken. Seine Sorge um Sandra wuchs. Ihm fiel die schwarze Frau ein, die Sandra im Basar zu entführen versucht hatte, während er hinter dem Kerl in der schmuddeligen Djellabah her gewesen war. Barry war in Filmkreisen bekannt. Er war nicht unvermögend. Die Frau und ihr Komplice schienen das zu wissen.

Der Autor betrat die Snackbar. Die Baxters sahen ihn verwundert an. »Hast du Sandra noch immer nicht gefunden?« fragte Carol

mit gerunzelter Stirn. »Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt«, gab Barry zur

Antwort. »Wir suchen sie gemeinsam«, entschied Frank Baxter

spontan. »Komm, Darling.« Die Baxters erhoben sich und verließen mit Barry Carpenter

die Snackbar. Sie suchten Sandra in der gesamten Hotelanlage. Selbst auf der Sonnenterrasse für die Nudisten sahen sie sich

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um, obwohl niemand echt glaubte, Sandra da zu finden. Sie wollten nur so gründlich wie möglich sein.

»Sie wird das Hotel doch nicht verlassen haben, ohne dir etwas davon zu sagen«, meinte Frank.

Barry schüttelte den Kopf. »Das hätte sie bestimmt nicht getan.«

»Was nun?« fragte Frank. Barry seufzte. »Wenn ich das bloß wüßte.« »Warten, bis sie sich von selbst wiederfindet?« fragte Frank. »Ich weiß es nicht«, sagte Barry mit belegter Stimme. »Ich

weiß wirklich nicht, was ich tun soll.« »Vielleicht ist sie inzwischen in euer Zimmer

zurückgekehrt«, sagte Carol. »Sehen wir nach«, schlug ihr Mann vor. Sie sahen nach, aber Sandra war nicht da. Dafür machte

Barry Carpenter eine Entdeckung, die seinen Puls erheblich beschleunigte.

*

Ich befinde mich in den Händen einer Geisteskranken! schrie es in Sandra Carpenter. Mohammed Hassan hatte zu Barry gesagt: ›Leid. Schmerz. Vergeltung. Hände, die einst um Hilfe bettelten, wenden sich jetzt gegen Sie.‹ Nach wie vor vermochte Sandra die Worte des Sehers nicht zu deuten. Der Greis hatte für sie in Bildern und in Rätseln gesprochen.

»Ich lebe hier mein zweites Leben«, behauptete die schwarz gekleidete Frau. »Ich wurde in Marokko noch einmal geboren.«

»Erinnern Sie sich an Ihr erstes Leben?« »O ja. Sehr genau sogar.«

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»Wie ist das möglich?« »Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis.« »Wieso beschränkt es sich nicht auf Ihr jetziges Leben?« »Ich starb und wurde geboren – und die Erinnerung kam

mit.« Sandra verdrängte ihre Angst und versuchte die schmerzenden Fesseln zu ignorieren. Sie hoffte, die schwarz gekleidete Frau irgendwann überreden zu können, sie freizulassen.

»Erzählen Sie mir von Ihrem ersten Leben«, forderte sie sie auf.

»Ich war ein junges, lebenslustiges Mädchen«, sprach die Frau mit dunkler Stimme. »Ich war jünger als Sie, als der Tod mich ereilte.«

Sandras Kopfhaut zog sich zusammen. »Mit wie vielen Jahren sind Sie gestorben?«

»Mit zwanzig.« »Das tut mir sehr leid.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Oh, das braucht Ihnen nicht

leid zu tun. Ich lebe ja wieder.« »Ja, aber…« »Sie glauben mir nicht, hab’ ich recht?« »Nun ja…« »Sie denken, ich sauge mir das alles aus dem Finger.

Vielleicht halten Sie mich sogar für verrückt. Aber ich bin nicht verrückt. Ich bin genauso normal wie Sie oder irgend jemand anderer.«

»Ich habe nichts Gegenteiliges gesagt.« »Ich sehe Ihnen an, daß Sie mich nicht für voll nehmen.« »Ich würde niemals wagen…« »Halten Sie den Mund!« herrschte die Frau Sandra scharf an.

»Ich bin eine Auserwählte. Wer darf schon zweimal leben? Es sind nur ganz wenige, denen eine solche Gabe zuteil wird.«

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»Sie haben völlig recht«, bemühte Sandra sich, die Frau versöhnlich zu stimmen. Schließlich war sie ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. »Ich kenne überhaupt niemanden, der…«

Die Schwarzgekleidete schnitt ihr das Wort mit einer herrischen Handbewegung ab. »Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man die Schwelle zum Jenseits überschreitet. Sie können sich nicht vorstellen, welch unglaubliche Eindrücke da auf einen einstürmen. Es zerreißt einem die Brust. Es zerfetzt einem das Herz. Man wird wie kaputtgegangenes Kinderspielzeug von unsichtbaren Händen in seine Bestandteile zerlegt und ganz neu zusammengesetzt. Man kann es nicht begreifen, deshalb hat man Angst. Man schreit in Panik. Man wehrt sich verzweifelt. Doch man hat nicht die Kraft, irgend etwas zu verhindern. Man muß kapitulieren und alles, alles geschehen lassen.«

Sie redet wirres Zeug, dachte Sandra. Sie ist tatsächlich nicht normal.

Die Frau starrte Sandra an und gleichzeitig durch sie hindurch. »Da sind schwere dunkelgraue Wolken… Da sind Schreie… Da ist das wilde Hämmern des eigenen Herzens… Man will nicht fortgehen… Man will bleiben, hat eine tonnenschwere Last auf der Seele…« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Feuer… Rauch… Schmerzen… Man fühlt sich verraten und vergessen… Verzweiflung… Todesangst… Schwärze… Stunden… Tage… Wochen…« Sie schwieg einige Augenblicke. Dann fuhr sie fort: »Langsames Auftauchen… Neue Hoffnung… Gleichzeitig Enttäuschung, Verbitterung und Haß… Abgrundtiefer Haß und der unauslöschbare Wunsch nach Vergeltung…«

Sandra schluckte. »Bin ich deshalb hier?« Die Frau nickte grimmig. »Deshalb sind Sie hier.«

Page 84: Der Todesengel von Agadir

*

Barry Carpenter zog die Luft scharf ein. Das verschwundene Foto war wiederaufgetaucht. Es lag auf dem Schreibtisch, und es war nicht mehr halb, sondern ganz. Jemand hatte die zweite Hälfte dazugelegt.

Frank bemerkte Barrys flackernden Blick. »Was ist das für ein Foto?« fragte er. »Wer hat es zerrissen?«

Carol nahm die beiden Bildhälften in die Hand. »Bist das auf dem Foto etwa du?« fragte sie den Autor. »Wie alt warst du damals? Zwanzig? Und wer ist das hübsche Mädchen an deiner Seite? Sandra kann es nicht sein. Die war damals noch nicht auf der Welt.«

Barry hob die Schultern. »Ich weiß nicht, wer dieses Mädchen ist«, sagte er tonlos.

Frank grinste. »Hattest du als Zwanzigjähriger einen so großen Verschleiß an jungen Damen?«

Carol sah sich das Foto genauer an. »Der Hintergrund ist zwar unscharf, aber die Aufnahme könnte hier gemacht worden sein.«

»Hier?« fragte ihr Mann. »In Agadir«, sagte Carol. »Auf dem Bild ist Barry zwanzig«, überlegte Frank Baxter

laut. »Heute ist er siebenundvierzig.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Was ist in Agadir passiert vor siebenundzwanzig Jahren?«

»Die Stadt wurde von einem heftigen Erdbeben zerstört«, antwortete Carol wie aus der Pistole geschossen.

Frank zog die Augenbrauen zusammen. »Und Barry war dabei.«

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Carol sah ihn entsetzt an. »O mein Gott.« Sie richtete ihren Blick auf Barry, der wie zur Salzsäule erstarrt dastand und keinen Laut von sich gab.

»Als ich ihn hypnotisiert hatte, wollte Sandra, daß ich ihn siebenundzwanzig Jahre zurückführe, aber dagegen sperrte er sich«, erinnerte sich Frank. »Jetzt weiß ich, warum. Dieses schwere traumatische Erlebnis hat ihn bis zum heutigen Tag blockiert, und zwar so sehr, daß selbst sein Unterbewußtsein nichts mehr davon wissen will. Deshalb hat er auch keine Ahnung, wer das Mädchen an seiner Seite ist. Er hat alles vergessen. Alles, was mit Agadir und dieser furchtbaren Katastrophe zusammenhängt.«

Barry Carpenter war im Augenblick nicht ansprechbar. Er schien überhaupt nichts von dem, was die Baxters sprachen, mitzubekommen. Ihre Worte zogen ungehört an ihm vorbei.

»Sie werden mich töten, nicht wahr?« krächzte Sandra Carpenter. Die Fesseln gruben sich so tief in ihr Fleisch, daß sie in Händen und Füßen schon fast kein Gefühl mehr hatte.

»Ich bin nicht an Ihnen interessiert, sondern an Barry«, erklärte die schwarz gekleidete Frau eisig. »Sie sind mein Faustpfand. Der Speck, mit dem ich die Maus fange.«

»Sie wollen auch Barry fangen?« »So ist es.« »Und was machen Sie mit ihm, wenn Sie ihn haben?« »Das überlege ich mir, wenn es soweit ist.« »Warum hassen Sie Barry?« Die Lippen der schwarz gekleideten Frau wurden so schmal

wie zwei aufeinandergelegte Messerklingen. »Er ist es nicht wert, zu leben«, zischte sie aggressiv.

»Warum nicht? Was hat er Ihnen getan? Woher kennen Sie ihn?«

Die Frau lächelte kalt. »Sie wollen sehr viel wissen.«

Page 86: Der Todesengel von Agadir

»Ist das nicht verständlich?« gab Sandra zurück. »Waren Sie und Ihr Schwager gestern auch in Marrakesch?« fragte sie, einer Eingebung folgend.

»Ja«, gab die Frau unumwunden zu. »Haben Sie uns gesehen?«

Sandra schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe gespürt, daß Sie da sind.« Sie sah die Frau prüfend an. »Wann ist Ihr Mann gestorben?«

»Vor drei Jahren.« »Wovon leben Sie?« »Jakub war als Teppichhändler sehr erfolgreich. Er hat mir

Geld hinterlassen. Ich habe mein Auskommen. Abdul ist zwar nicht so tüchtig wie sein Bruder, aber ich habe ihn dennoch gebeten, das Geschäft für mich weiterzuführen.«

»Sie heißen heute Besir«, sagte Sandra Carpenter. »Das ist richtig.« »Wie haben Sie früher geheißen?« »Wann, früher?« »In Ihrem anderen Leben«, sagte Sandra. »In meinem ersten Leben hieß ich Pendrake«, antwortete die

Frau dunkel. »Edna Pendrake.« Obwohl Frank Baxter seine Hand ganz behutsam auf Barry

Carpenters Schulter legte, zuckte dieser heftig zusammen. »Sandra«, stieß er verwirrt hervor. »Ich muß Sandra finden.« »Mir scheint so, als müßtest du dich erst mal selbst finden«,

erwiderte Frank Baxter sanft. »Hast du mitgekriegt, zu welchem Schluß Carol und ich gekommen sind?«

Barry schüttelte den Kopf. »Nein.« »Das dachte ich mir«, sagte Frank. »Nun, Carol und ich

meinen, daß du vor siebenundzwanzig Jahren schön einmal in Agadir warst. Und zwar nicht allein, sondern mit dem Mädchen, das auf dem Foto neben dir steht.«

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»Wieso weiß ich das nicht?« fragte der Autor konfus. »Ich kann doch nicht so vergeßlich sein…«

»Du hast in dieser Stadt etwas ganz Schreckliches erlebt, Barry«, sagte Frank Baxter ernst.

»Was?« »Etwas, das deine Erinnerung total zugeschüttet hat.« »Ich weiß nicht, was du meinst, Frank.« »Du warst hier, als dieses furchtbare Erdbeben Agadir fast

völlig zerstört hat.« Barry Carpenter sah den neuen Freund ungläubig an. »Das ist

unmöglich, Frank. Eine solche Katastrophe kann man doch nicht vergessen.«

»Wenn für unseren Verstand etwas zu schlimm zu werden droht, zieht er gewissermaßen die Notbremse. In unserem Kopf brennt dann eine Sicherung durch, und wir können uns an das Schreckliche nicht mehr erinnern.«

»Aber du kannst es ausgraben, wenn du mich hypnotisierst, nicht wahr?«

»Ein richtiger Hypnotiseur könnte das – aber ich…« »Unterschätz deine Fähigkeiten nicht«, sagte Barry Carpenter

mit belegter Stimme. »Du hast mich doch schon mal hypnotisiert.«

»Ja, und ich habe mich dabei überhaupt nicht wohl gefühlt, wenn ich ehrlich sein soll.«

Barry griff nach Frank Baxters Schultern. Seine Finger drückten kräftig zu. »Du mußt es tun, Frank.«

»Barry«, erwiderte Frank Baxter ernst, »ich glaube, du weißt nicht, wie gefährlich das ist.«

»Das ist mir egal.« »Wenn ich dich verliere…« »Ich entbinde dich jeglicher Verantwortung.«

Page 88: Der Todesengel von Agadir

Frank schüttelte heftig den Kopf. »Das kannst du nicht. Meinem Gewissen gegenüber bleibe ich in jedem Fall verantwortlich.«

»Frank, ich muß mich endlich erinnern. Ich kann dir nicht sagen, wie wahnsinnig wichtig das für mich ist.«

Frank Baxter befreite sich von Barrys Händen. »Ich glaube, dir ist nicht klar, was du da von mir verlangst. Wenn meine Kraft nicht ausreicht, die Verbindung zu deinem Geist aufrechtzuerhalten, bleibt er in der Vergangenheit und ist vielleicht nie mehr zurückzuholen.«

Barry sah den Freund flehend an. Er empfand dieses Sich­nicht-erinnern-können als einen bösen Fluch, von dem er erlöst werden wollte. »Tu es, Frank«, sagte er eindringlich. »Ich bitte dich. Jetzt gleich.«

*

Abdul Besir, der Mann mit den stechenden Augen und der Raubvogelnase, erschien.

»Er sieht seinem Bruder, meinem verstorbenen Mann, überhaupt nicht ähnlich«, sagte die schwarz gekleidete Frau. »Jakub hatte edle, markante Züge. Er sah nicht so furchteinflößend aus wie Abdul. Aber Jakub hat die Welt der Lebenden bedauerlicherweise verlassen. Er ist eingegangen ins Reich der Toten, und deshalb lebe ich nun mit Abdul zusammen. Er liebt mich. Er begehrt mich. Er würde jederzeit alles für mich tun. Sogar töten.«

Frost setzte sich in Sandras Herz. »Ja«, sagte Edna Besir mit triumphierendem Grinsen. »Sogar

töten.«

Page 89: Der Todesengel von Agadir

Für Sandra stand fest, daß die beiden sie niemals freilassen würden. Sie werden Barry in die Falle locken und umbringen, dachte Sandra schaudernd. Und mich werden sie auch nicht am Leben lassen. Ich muß hier raus. O Gott, hilf mir! Steh mir bei! Gib mir eine Chance! Du darfst nicht zulassen, daß diese Verrückten meinen Mann und mich ermorden!

»Wir werden Barry jetzt ein Weilchen schmoren lassen«, sagte Ednar Besir. »Die Sorge um seine Frau wird ihn quälen. Die bohrende Ungewißheit wird ihn sehr schnell mürbe machen. Lebt sein geliebtes Weibchen noch? Ist es bereits tot?« Die schwarz gekleidete Frau trat zurück. »Wenn ich ihn heute abend anrufe, wird er alles tun, was ich von ihm verlange.« Sie wandte sich an ihren Komplicen. »Komm, Abdul. Lassen wir Mrs. Carpenter mit ihrer Angst allein.«

Sie verließen den unterirdischen Kerker. Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall zu, und eine undurchdringliche Dunkelheit umgab die Gefangene.

Tränen stiegen in Sandra hoch. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation war zum Verzweifeln. Wo war die Chance, um die sie ihren Schöpfer angefleht hatte? Hatte er sie nicht gehört? Sah er gerade in diesem Augenblick woanders hin?

Edna… Edna Pendrake hatte die schwarz gekleidete Frau in ihrem ›ersten Leben‹ geheißen. Sandra erinnerte sich an Barrys Alptraum im Flugzeug. Er hatte geträumt, die Stewardeß hätte ihm eine Zeitung aus dem Jahr 1960 gegeben, und er hatte deutlich und ziemlich fassungslos den Namen Edna hervorgestoßen. Hinterher hatte er das bestritten und gesagt, Sandra müsse sich geirrt haben. Aber sie war damals schon ganz sicher gewesen, daß sie sich nicht geirrt hatte.

Edna… Hatte er Edna Pendrake gemeint?

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Obwohl die Schmerzen in den Handgelenken kaum noch auszuhalten waren, begann Sandra ihre Fesseln an der scharfen Kante eines Steins zu scheuern.

*

Widerstrebend hatte Frank Baxter eingewilligt, Barry Carpenter noch einmal zu hypnotisieren. Er fühlte sich absolut nicht wohl bei diesem gefährlichen Experiment. Er war noch nie mit jemandem so weit zurückgegangen. Er hatte noch nie versucht, eine Barriere des Unterbewußtseins zu durchbrechen, hatte Angst, daß ihn die Folgen restlos überfordern könnten. Carol war dabei, als Frank den Freund in Trance versetzte und dann Jahr um Jahr zurückgeleitete. Als sie das große Hindernis erreichten, trat Schweiß aus Barrys Poren, und er zitterte so heftig, als würde Frank starke Stromstöße durch seinen Körper jagen.

Frank sah seine Frau unsicher an. »Ich weiß nicht, ob ich weitermachen soll, Carol. Mir ist, als würde er mir jetzt schon entgleiten. Wie wird das erst jenseits der Sperre sein?«

»Willst du wieder aufgeben?« »Er hängt über einem Abgrund«, sagte Frank ernst. »Ich

befinde mich über ihm und halte seine Hand fest. Aber sie ist nicht trocken und griffig, sondern ölig und rutschig. Ich weiß nicht, ob ich ein so hohes Risiko eingehen darf.«

»Die Entscheidung liegt bei dir«, sagte Carol. »Niemand kann sie dir abnehmen. Wenn du es nicht mehr vor deinem Gewissen verantworten kannst, brich die Sitzung ab und hole ihn zurück.«

Page 91: Der Todesengel von Agadir

»Das wäre vernünftig.« Frank atmete schwer aus. »Aber er hat mich händeringend gebeten, ihm zu helfen, den Schutt, der auf seiner Erinnerung liegt, wegzuräumen.«

»Dann mußt du weitermachen.« »Und wenn ich versage?« »Eine solche Möglichkeit darfst du erst gar nicht in

Erwägung ziehen«, erwiderte Carol energisch. Frank fuhr sich mit der Hand nervös über die Augen. »Alles, was ich bisher gemacht habe, war bloß ein Spiel, diente zur Erheiterung anderer…«

»Diesmal mußt du über dich selbst hinauswachsen.« »Ich bin nicht sicher, ob ich das kann.« »Du kannst es«, sagte Carol zuversichtlich, um ihm Kraft und

Halt zu geben. »Ich glaube an dich und deine hypnotischen Fähigkeiten, und du mußt das auch tun.«

Frank atmete schwer aus, drehte sich wieder zu Barry und machte weiter…

Sandras Herz raste. Sie hatte es schon fast geschafft. Ihre Armfesseln wurden mit jeder weiteren Scheuerbewegung lockerer. Jetzt rissen sie und ließen sich abschütteln. Sandra schnappte fast über vor Freude – obwohl eigentlich nicht allzuviel gewonnen war, denn sie war nach wie vor Edna Besirs Gefangene. Aber ihre Hände waren wenigstens nicht mehr gefesselt, und bald würden auch ihre Füße nicht mehr zusammengebunden sein. Dann würden die Schmerzen aufhören, und sie würde sich in ihrem Kerker frei bewegen können. Sandra bewegte ihre Finger und schüttelte die Hände, damit das Blut allmählich wieder richtig zirkulierte. Sobald sie wieder Kraft und Gefühl in ihren Fingern hatte, ging sie daran, die harten Knoten der Beinfesseln zu lösen. Sie massierte ihre schmerzenden Knöchel und stand langsam auf. Vorsichtig machte sie einen Schritt – und noch einen. Sie stützte sich dabei mit der Hand an der kantigen Steinwand ab. Wie lange

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befand sie sich schon hier? Zwei Stunden? Drei? Noch länger? Sie wußte es nicht, hatte jeglichen Zeitbegriff verloren. Durst begann sie zu quälen. Ehe der Mensch verhungerte, verdurstete er, ging es ihr durch den Sinn. Trocken klebte die Zunge an ihrem Gaumen. Sie schlich durch die Finsternis. Ihr Fuß stieß gegen einen Stein. Sie bückte sich und hob ihn auf. Er war faustgroß – ihre Waffe gegen den Todesengel von Agadir, wenn er wiederkam. Sie erreichte die Tür, tastete sie von oben bis unten ab, fand jedoch keine Möglichkeit, sie zu öffnen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Irgendwann wird Edna Besir wieder hier unten erscheinen, überlegte Sandra. Dann muß ich sie angreifen – überraschen – überrumpeln – ausschalten… Sie darf keine Gelegenheit haben, Abdul zu rufen, denn wenn er ihr zu Hilfe eilt, bin ich verloren.

Sandra setzte sich neben der Tür auf den Boden und wartete ungeduldig. Als sie wieder das Knirschen von Schritten vernahm, stand sie hastig auf und preßte sich neben der Tür an die Wand. Wessen Schritte sind es? fragte Sandra sich aufgeregt. Ednas? Abduls? Das Schloß klackte laut. Sandra hob die Hand mit dem Stein. Der erste Schlag muß sitzen! hallte es in ihrem Kopf. Aber, Grundgütiger, was tue ich, wenn beide durch die Tür treten? Ich kann nur einen niederstrecken. Die Tür öffnete sich, und es wurde unerträglich hell für Sandras Augen. Für einen Sekundenbruchteil war sie unfähig, zu handeln. In dieser winzigen Zeitspanne erkannte Edna, daß ihre Gefangene sich von den Fesseln befreit und ihren Platz verlassen hatte, und als Sandra dann angriff, reagierte Edna ohne Verzögerung. Sie drehte sich blitzschnell zur Seite. Der Stein verfehlte ihren Kopf um Haaresbreite. Sandra wurde von der Wucht des in die Leere gehenden Schlages nach vorn gerissen. Edna gab ihr einen derben Stoß. Sandra stürzte und verlor den Stein, und als sie aufsprang, um Edna noch einmal

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anzugreifen, blitzte ein scharfer Krummdolch in der Hand des Todesengels. Sandra erstarrte. Jetzt ist alles aus, dachte sie, als Edna Besir die Dolchspitze gegen ihr Herz richtete.

Sandra Carpenter schloß in diesem schrecklichen Augenblick mit ihrem Leben ab. Doch plötzlich nahmen die Ereignisse eine völlig überraschende Wendung: Barry stand mit einem Mal hinter Edna!

»Edna!« rief er schneidend. Die schwarze Frau zuckte wie unter einem Peitschenschlag

zusammen, packte Sandra, riß sie herum, preßte sie an ihre Brust und setzte ihr den Dolch an die Kehle.

»Keinen Schritt näher, sonst stirbt deine Frau!« fauchte der Todesengel.

»Bitte, Edna, tu ihr nichts«, flehte Barry. »Wie hast du mich gefunden?« »Ich habe einem Jungen namens Kamal fünftausend Dirham

in Aussicht gestellt, wenn er dich und deinen Schwager ausfindig macht. Er kam heute zu mir.«

»Und nun bist du hier. Schön, das erspart mir einen Anruf.« »Laß Sandra bitte gehen, Edna.« »Du wirst sterben, Barry Carpenter. Und deine Frau auch.« »Aber du willst dich doch nur an mir rächen.« »Ich habe nichts gegen Sandra«, sagte Edna Besir, »aber ich

kann sie nicht am Leben lassen. Sie weiß zuviel.« »Sie hat nichts mit deiner Rache zu tun«, sagte Barry

beschwörend. »Sie kam erst zwei Monate nach dem Erdbeben auf die Welt.«

»Du erinnerst dich an die Katastrophe?« Barry nickte. »In allen Einzelheiten.« »Wieso hast du mir nicht geholfen, als unser Hotel

einstürzte?« warf Edna ihm haßerfüllt an den Kopf. »Ich war verschüttet. Ich habe verzweifelt um Hilfe gebrüllt, aber du

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hast dich nicht um mich gekümmert, hast nur deine eigene Haut gerettet. Mich hast du sterben lassen.«

»Das ist nicht wahr. Ich habe versucht, dich zu erreichen, habe mir die Finger blutig gekratzt, kam aber nicht an dich heran. Eine Mauer fiel auf mich. Sie hätte mich beinahe erschlagen. Als ich zu mir kam, lag ich in einem Lazarettzelt und konnte mich an nichts erinnern.«

»Ich lag bei den fünfzehntausend Toten, die das Erdbeben gefordert hatte«, erzählte Edna bitter. »Ein Mann, ein Teppichhändler namens Jakub Besir, holte mich aus dem Massengrab, kurz bevor man es zuschüttete. Er hatte gesehen, daß ich mich bewegte. Ich hatte mein Gedächtnis verloren und alles, was ich besessen hatte. Ich wußte nicht mehr, wer ich war und wie ich hieß. Der Mann nahm mich in sein Haus. Er kümmerte sich um mich, pflegte mich gesund und nahm mich zur Frau. Es dauerte viele Jahre, bis die Nebel des Vergessens sich lichteten. Ich blieb bei Jakub, war ihm eine gute Frau. Und die ganze Zeit brannte in meinem Herzen die Flamme des Hasses für dich, Barry Carpenter. Für den Mann, der mich eiskalt neben sich sterben ließ. Als du vor einigen Tagen mit deiner jungen Frau nach Agadir kamst, erkannte ich dich sofort wieder – und seither brennt die Flamme der Rache in mir lichterloh.«

»Ich wollte dich retten, Edna, aber ich konnte es nicht.« »Lügner«, schrie Edna Besir mit haßverzerrtem Gesicht. »Ich

bin damals gestorben, und heute wirst zu sterben.« »Ich bin nicht allein hier, Edna«, sagte Barry gedämpft. »Ich

war bei der Polizei. Man hat deinen Schwager überwältigt. Er kann nichts mehr für dich tun. Du bist allein.«

»Du lügst«, schrie Edna außer sich vor Wut. Sie wurde immer unberechenbarer.

Zwei uniformierte Polizeibeamte traten neben Barry Carpenter.

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»Gib mir den Dolch, Edna«, verlangte der Autor. »Den Dolch willst du? Du kannst ihn haben – mitten ins

Verräterherz!« Edna ließ Sandra los und stürzte sich auf Barry, doch sie erreichte ihn nicht, denn die Polizisten griffen augenblicklich ein, überwältigten sie und führten sie ab, während sie kreischte und tobte und auf englisch, französisch und arabisch fluchte.

Zitternd und weinend sank Sandra ihrem Mann in die Arme. Er drückte sie an sich, streichelte sie und sagte leise: »Es ist vorbei, Schatz. Der Spuk hat ein Ende.«