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66 Schöpferisches Denken Der Zwang, kreativ zu sein In früheren Zeiten wurden Schöpferkraft und Kreativität auf göttliche Eingebung zurückgeführt. Heute wird Ideenreichtum zunehmend im Individuum selbst verortet – jeder gilt als „potenziell Kreativer“. Das hat auch eine dunkle Seite: Auf dem Arbeitsmarkt wird Fantasie vielfach eingefordert – und gerade dadurch häufig verhindert. Eva Hakes

Der Zwang, kreativ zu sein - WordPress.com · kreative Gehirn funktioniert, ist heut-zutage vielleicht eine notwendige, offen-bar jedoch keine hinreichende Bedin-gung für erfolgreiche

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66 Schöpferisches Denken

Der Zwang, kreativ zu seinIn früheren Zeiten wurden Schöpferkraft und Kreativität auf göttliche

Eingebung zurückgeführt. Heute wird Ideenreichtum zunehmend im

Individuum selbst verortet – jeder gilt als „potenziell Kreativer“. Das hat

auch eine dunkle Seite: Auf dem Arbeitsmarkt wird Fantasie vielfach

eingefordert – und gerade dadurch häufig verhindert.

■ Eva Hakes

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Kreativität steht hoch im Kurs und ist insbesondere am Ar-beitsmarkt zu einer unverzicht-

baren Ressource geworden. Nicht um-sonst versprach vor einiger Zeit ein Anbieter von Kreativitätstrainings sei-nen Kunden, sie würden bald „schneller erfinden, als die Chinesen kopieren können“. Die zu Werbezwecken über-spitzte Formulierung transportiert eine Wahrheit, die nachdenklich stimmt.

Galt Kreativität oder Schöpferkraft in früheren Zeiten als eine dem Numi-nosen entstammende Gabe, rückt heu-te vor allem ihr funktionaler Aspekt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So wur-de die Schöpferkraft in der Antike dem Wirken eines Geistwesens, dem daimon oder genius zugeschrieben, während man sie in der christlichen Kultur über Jahrhunderte auf göttliche Eingebung zurückführte. Von der Renaissance an wird die schöpferische Kraft, welche den Künstler charakterisiert, zunehmend im Individuum selbst verortet. Sie weist je-doch über die Erfahrungen der Alltags-welt hinaus und macht den Künstler in seiner Spontaneität und Originalität zum Inbegriff menschlicher Selbstver-wirklichung. Lange Zeit wurden die kre-ativen Fähigkeiten des Menschen, für die vor allem Kunst und Wissenschaft Zeugnis ablegen, fast ausschließlich im Kontext des Geniebegriffs diskutiert und waren somit auf einen kleinen, eli-tären Kreis begrenzt. Im 20. Jahrhundert kommt es jedoch mit zunehmender De-mokratisierung der Gesellschaft zu einer Erweiterung des Kreativitätsbegriffs. Nicht nur Politik und Wirtschaft sind nun einbezogen, das kreative Hand-lungsfeld erstreckt sich in den Alltag ei-nes jeden Menschen.

Kreative Neigungen zu leben gilt wei-terhin als Königsweg zur Selbstverwirk-lichung, den man kochend und stri-ckend ebenso wie malend und musizie-rend beschreiten kann. Die Tatsache,

dass heute jeder Mensch als „potenziell Kreativer“ gilt, hat jedoch auch eine dunkle Seite: Im Zuge des unaufhörli-chen Konkurrierens um die ersten Rän-ge im Innovationswettkampf gilt Krea-tivität in einer auf Beschleunigung aus-gerichteten Arbeitswelt weniger als Ga-be denn als Bringschuld. In diesem Sinne scheint das Einfordern von Kre-ativität in vielen Fällen weniger zur Selbstfindung des Individuums beizu-tragen als zur Entfremdung von seinem schöpferischen Potenzial. Mit Sicherheit kann man sagen, dass kreative Prozesse im Kontext wirtschaftlicher Notwen-digkeiten allzu oft mit einem Gefühl von Leistungsdruck und Getriebensein ein-hergehen, das sich als kontraproduktiv erweist.

Prominentes Beispiel eines Falles, in dem der kreative Anspruch sich selbst ad absurdum führt, ist der amerikani-sche Bestsellerautor Jonah Lehrer. Mit seinem hochgelobten Buch Prousts Ma-

deleine. Hirnforschung für Kreative be-rühmt geworden, als sein 30. Geburtstag noch in weiter Ferne lag, sah sich der junge Starschriftsteller offenbar irgend-wann außer Stande, mit stetig steigender Arbeitslast und größer werdendem Er-folgsdruck souverän umzugehen. Ergeb-nis: Im Jahr 2012, kurz nach der Veröf-fentlichung seines dritten Buches Ima-

gine! Wie das kreative Gehirn funktio-

niert, wurde der Experte für Kreativität und Hirnforschung nicht nur überführt, Zitate gefälscht, sondern auch in ande-ren Veröffentlichungen immer wieder plagiiert zu haben. Zu wissen, wie das kreative Gehirn funktioniert, ist heut-zutage vielleicht eine notwendige, offen-bar jedoch keine hinreichende Bedin-gung für erfolgreiche kreative Arbeit.

Aufgrund ihrer wechselnden Erschei-nungsformen und ihres schillernden Charakters wurde bis heute keine allge-meingültige Definition für Kreativität gefunden. Fast scheint es, als ob sich die

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„Schöpferkraft“ als tiefmenschliche Ei-genschaft sowohl der totalen Funktio-nalisierung als auch einer endgültigen Festschreibung entziehen wolle. Deshalb lohnt sich der Versuch einer Annähe-rung, die im Sinne der Hirnforschung einige Bedingungen aufzeigt, die dem kreativen Prozess förderlich sind, diese jedoch möglichst losgelöst vom derzeit gängigen Kontext der Funktionalisie-rung betrachtet.

Wirft man einen Blick auf das Leben und Wirken von Künstlern und Krea-tiven, denen genau diese Loslösung ge-lungen ist, stößt man auf unterschied-liche Verhaltensmuster und Sichtweisen, die uns nicht nur zu kreativeren, sondern vor allem auch zu zufriedeneren Men-schen machen können. Umgekehrt er-wachsen große kreative Leistungen häu-fig aus dem klugen Umgang mit per-sönlichen Schwächen oder leidvollen Erfahrungen, die in der künstlerischen Be- und Verarbeitung transzendiert werden. Insofern führt der gern benutz-te Begriff der „kreativen Köpfe“ in die Irre. In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle ist es eben nicht der Kopf be-ziehungsweise der Intellekt allein, der kreativ ist, sondern der Mensch in seiner Körperlichkeit und Emotionalität sowie seiner untrennbar mit all diesen Aspek-ten verbundenen persönlichen Ge-schichte.

In Abhängigkeit davon, wie wir unser Gehirn nutzen, welche Erfahrungen wir machen, welche Aufgaben wir uns stel-len und welche Denkstile wir kultivie-ren, werden bestimmte Hirnareale stär-ker oder weniger stark miteinander ver-netzt, wie Forschungen zur Neuroplas-tizität belegen. Praktisch heißt dies: Die Wahrscheinlichkeit, kreative Leistun-gen zu erbringen, wird größer, je öfter

wir uns an kreative Aufgaben heranwa-gen und unser Gehirn in jenen Modi arbeiten lassen, die der Freisetzung kre-ativen Potenzials förderlich sind.

Die beiden Hirnhälften

und die Synthese ihrer Denkstile

Eine Minimaldefinition, die auf jeden kreativen Prozess zutrifft, lautet: „Kre-ativität ist die Neukombination von In-formationen.“ Wie unter anderem der bereits erwähnte Jonah Lehrer in seinem vieldiskutierten dritten Buch zeigt, kommt es zu den sprichwörtlichen „Geistesblitzen“ dann, wenn die linke, vorwiegend analytisch arbeitende und die rechte, eher ganzheitlich ausgerich-tete Hirnhälfte gleichermaßen in einen Problemlösungsprozess eingebunden sind und sich durch eine Synthese beider Denkstile eine neue Sicht auf die Dinge und damit auch eine Einsicht ergibt. Dem „Geistesblitz“ geht in der Regel ei-ne Phase der Entspannung voraus, die sich im EEG in Form von Alphawellen manifestiert. Offenheit für unterschied-liche Denkstile und ein Zustand ent-spannter Wachheit, bei dem das Gehirn auf der Alphafrequenz arbeitet, sind al-so zwei Aspekte, die dem kreativen Den-ken förderlich sind.

In einem Beitrag in der New York

Times „Über das Schreiben“ hat Joyce Carol Oates diese Erkenntnisse an der bei Schriftstellern überaus beliebten Tä-tigkeit des ausgiebigen Gehens oder Jog-gens exemplifiziert – freilich ohne dabei Bezug auf die Erkenntnisse der Hirn-forschung zu nehmen: „Beim Laufen fliegt der Geist mit dem Körper, das ge-heimnisvolle Wachsen und Erblühen der Sprache scheint im Gehirn in einem Rhythmus mit den Füßen und dem Schwingen der Arme zu pulsieren. Ide-

alerweise läuft der Jogger, der Schrift-steller ist, durch die Landschaften und Städte seiner Fiktion (…)“, schreibt Oa-tes. Das Gewirr struktureller Probleme im Schreibprozess, das sich ihr an einem Arbeitsvormittag präsentiere, lasse sich in der Regel durch einen Lauf am Nach-mittag auflösen. Vermutlich schwingt ihr Gehirn beim mühelosen Joggen in jenem Zustand des entspannten Wach-träumens in der Alphafrequenz, die der Problemlösung vorausgeht, und nach einem anstrengenden Vormittag links-hirnigen Arbeitens treten die tendenzi-ell rechtshirnigen Verarbeitungsmecha-nismen auf den Plan und leisten ihren Beitrag zum erfolgreichen Schreibpro-zess. Sicher ist, dass moderates Ausdau-ertraining positiv auf Gehirn und Psyche eines jeden Menschen wirkt, da durch die Muskelaktivität vermehrt Wachs-tumsfaktoren produziert werden, wel-che die Durchblutung und den neuro-nalen Umbau erleichtern.

Die Anbindung an körperliche Akti-vitäten, die den Menschen in direkten Kontakt oder gar in Interaktion mit sei-ner Umwelt bringt, ist Voraussetzung unterschiedlichster Arten kreativer (Er-kenntnis-)Prozesse. So ist es oft die be-sonders feingestimmte Wahrnehmung, welche Künstler und Kreative von vielen anderen Menschen unterscheidet. Die-se ist jedoch kein angeborenes Talent, sondern eine Fähigkeit, die im Laufe des Lebens mehr oder weniger bewusst trai-niert und kultiviert wird.

Die Designerin Inge Druckrey, die im Laufe ihrer 40-jährigen Tätigkeit als Kunstdozentin unter anderem an der Yale School of Art und der Rhode Island

School of Design unterrichtete, sagt von sich selbst, dass sie am Anfang ihrer Kar-riere ihre visuellen Fähigkeiten langsam

Auch Kreativität benötigt Übung und Erfahrung. Sie wächst in dem Maße,

in dem wir uns an kreative Aufgaben heranwagen

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entwickeln musste. Dieser sehr bewusst erlebte Prozess hat ihre Unterrichtsme-thode stark beeinflusst, bei der es zu Beginn in allererster Linie darum geht, die Studenten das „Sehen“ zu lehren. Im Dokumentarfilm Teaching to See, der Inge Druckreys Methode, „das Sehen zu lehren“, in Szene setzt und dabei auch dem Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes die Augen öffnet, heißt es ganz zu Beginn: „Du lernst wirklich zu sehen. Und das zahlt sich aus, denn plötzlich beginnst du in deinem täglichen Leben wundervolle Dinge zu sehen, die du nie bemerkt hast. Und ich würde sagen, die Fähigkeit, das Sehen zu genießen, ist ei-nes der wunderbarsten Geschenke, die du im Kunststudium erhältst.“ Ist die Fähigkeit zu sehen noch nicht ausrei-chend entwickelt, fehlt die Basis für ei-ne theoretische Auseinandersetzung mit der Materie, glaubt Druckrey. Und die-se Ansicht, welche die emeritierte Pro-fessorin für Grafikdesign auf die Inhal-te des Studiums bezieht, lässt sich auf weitere Lebenszusammenhänge aus-dehnen und erhält dann eine beunru-higende Brisanz: Was wäre, wenn uns für eine theoretische Auseinanderset-zung mit persönlichen und globalen Problemen die Voraussetzungen fehlen, bevor wir gelernt haben, unser Auge zu trainieren und wirklich zu sehen?

Dass Erfindungen und Neuentwick-lungen auch bei Produktdesignern kei-

ne „Kopfgeburten“ sind, zeigt zum Bei-spiel das Innovationsberatungsunter-nehmen IDEO. „Denken mit den Hän-den“ nennt Firmengründer David Kelley, der auch Lehrstuhlinhaber an der Stan-

ford Design School ist, eine Arbeitstech-nik, bei der Designer innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl relativ grober Proto-typen schaffen. Unter anderem entwi-ckelte IDEO eine Computermaus der ersten Generation und ließ sich dabei von der Funktionsweise eines Deorollers inspirieren. Die Prototypen fungieren als „Verkörperung“ von Ideen, die eine konkrete – und eben auch taktile – Aus-einandersetzung mit dem jeweiligen Problem ermöglichen. Neben den of-fensichtlichen Pluspunkten, dass auf diese Art die Praxistauglichkeit einer Idee von Beginn an auf die Probe gestellt wird und die konkrete Referenz den Ge-dankenaustausch mit Kollegen und Kunden über einen Lösungsansatz er-leichtert, bietet diese Methode noch ei-nen weiteren Vorteil: Studien belegen, dass bereits das Gestikulieren „beim Denken helfen kann“. So zeigt sich, dass das Arbeitsgedächtnis von Probanden eine höhere Leistung erbringt, wenn die-se beim Erläutern eines Problemlö-sungsprozesses neben der Sprache auch durch Gesten ihren Gedankengang zum Ausdruck bringen dürfen. Gestikulieren reduziert die kognitive Belastung bezie-hungsweise setzt kognitive Ressourcen

frei. Das Denken mit den Händen im Sinne von David Kelley dürfte ähnliche, wenn nicht noch stärkere Wirkungen auf die kognitive Verarbeitung haben.

Der Dichter als Gärtner

In jedem Fall liegt die Annahme nahe, dass in dem Moment, in dem unter-schiedliche Hirnzentren an der Lösung einer Aufgabe beteiligt sind, die kogni-tive Verarbeitung ganzheitlicher und der Output ein anderer ist, als wenn der Denkansatz auf die rein abstrakte, ana-lytische Komponente reduziert bleibt.

Es überrascht nicht, dass dieser An-satz sich im Falle des Produktdesigns als sehr erfolgreich erweist. Weniger na-heliegend scheint, dass die sinnliche und taktile Auseinandersetzung mit der äu-ßeren Welt nicht nur Weltsicht und Ge-danken eines Dichters formt, sondern auch die Herangehensweise an sein Werk sowie dessen Form und Inhalt beein-flusst. Ein gutes Beispiel hierfür ist Stan-ley Kunitz, vielfach preisgekrönter Ly-riker, der sich im Laufe seiner hundert Lebensjahre vor allem zwei Tätigkeiten mit Leidenschaft hingab: der Dichtung und dem Gärtnern. In seinem letzten Buch, The Wild Braid, illustriert der Dichter, wie beide Tätigkeiten sich ge-genseitig nähren und beeinflussen. Das beginnt mit der Formgebung – etwa wenn ein Gedicht wie ein Baum vor-sichtig „beschnitten“ wird, bis nur noch das Wesentliche, die Essenz übrigbleibt – oder mit der Vorstellung, dass die Ter-rassenfelder seines Gartens wie die Stro-phen eines Gedichts sind: jede für sich vollständig und doch in ihrer Ganzheit mehr als die Summe ihrer Teile.

Für Kunitz ist der Garten „der Kos-mos in Miniatur“ und eine „verdichte-te Parabel menschlicher Erfahrung“. Eines der immer wiederkehrenden The-men im Werk des Dichters ist die Gleich-zeitigkeit von Leben und Tod. „Tod und Leben sind untrennbar miteinander ver-bunden“, sagt Kunitz. „Wenn ich das Land (als Gärtner) bearbeite, habe ich das Gefühl, ein Ritual von Tod und Wie-derauferstehung zu zelebrieren. Ich ha-

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be dieses Gefühl jeden Frühling. Ich bin dem Wunderbaren niemals näher, als wenn ich in der Erde grabe.“ An anderer Stelle hat er einmal geschrieben: „Im Tiefsten weiß ich, dass ich gleichzeitig lebe und sterbe (…), das ist ein eher er-schreckender Gedanke, der die Wurzel vieler meiner Werke bildet.“

Der Überlebensinstinkt,

letzte Fragen zu stellen

Oft sind es grundlegende Fragen, die Künstler umtreiben, und die kreative Arbeit erweist sich dabei in vielen Fällen als Suche nach den Antworten. Die ame-rikanische Schriftstellerin Amy Tan sieht eine familiäre Tragödie als ein aus-lösendes Ereignis für ihre Entwicklung hin zu einer Karriere als Schriftstellerin. Als sie 14 Jahre alt war, starben ihr Vater und ihr Bruder im Abstand von sechs Monaten an Hirntumoren. In dieser Form mit dem Tod konfrontiert, der – so glaubte sie – auch ihr selbst und ihrer Mutter bald bevorstünde, werde man sehr kreativ, so Tan, „schon allein aus einem Überlebensinstinkt heraus“. Zu jener Zeit habe sie begonnen, sich jene Fragen zu stellen, die bis heute ihr Werk strukturieren und formen, sagt die Schriftstellerin. „Warum passieren die Dinge?“, „Wie passieren sie?“ – und ins-besondere: „Wie beeinflusse ich die Ge-schehnisse, wie kann ich Dinge gesche-hen lassen?“

Das Leben vieler kreativer Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass sie kei-ne Scheu haben, sich mit beängstigenden und schmerzhaften Erfahrungen aus-einanderzusetzen. Diese Fähigkeit, im Angesicht des Schmerzes offen zu blei-ben und sich einer Erfahrung hinzuge-ben, ermöglicht es, außergewöhnliche

Werke zu schaffen. Mehr noch, manch-mal beginnen sich die Dinge in neuem Licht zu zeigen, und aus der Zerstörung des Alten erwächst etwas Neues von son-derbarer Schönheit. So geschehen im Falle von Joel Meyerowitz. Nach dem 11. September 2001 fühlte der Fotograf die dringende Notwendigkeit, den Zu-stand des zerstörten World Trade Cen-ters in New York fotografisch festzuhal-ten, überzeugt, dass es ohne Fotografi-en auch keine Geschichte geben werde. Meyerowitz erhielt als einziger Fotograf die Genehmigung, am Ground Zero zu fotografieren. Sein World Trade Center

Archive dokumentiert eindringlich die Zerstörung und den Wandel des Ortes über die Monate nach 9/11.

Die Konsequenzen des kollektiven Traumas des 11. Septembers 2001 Tag für Tag zu dokumentieren hat Meyero-witz in einer Weise verändert, die er als sowohl politisch als auch spirituell be-schreibt. Nach einer langen Phase, in der er sich als Fotograf in erster Linie der „Kunst um der Kunst willen“ gewidmet hatte, erwachte im Zuge dieses Projektes in ihm der Wunsch, seine Fotografie als sozial engagierte Kunst wieder mehr in den Dienst der Menschen zu stellen.

In diesem Sinne kann es nicht nur die kreative Arbeit, sondern auch das Leben und die persönliche Entwicklung jedes Menschen bereichern, leidvolle Er-fahrungen anzunehmen und bewusst zu erleben, anstatt sie einfach nur schnell überwinden zu wollen.

Ein hoffnungsvoll stimmendes Bei-spiel dafür, dass dies auch für den Um-gang mit persönlichen Schwächen gilt, ist der Schriftsteller und Pulitzer-Preis-träger Richard Ford, dessen Romane und Kurzgeschichten sich insbesondere

durch die klanglichen Qualitäten ihrer Sprache auszeichnen. Auf seine Ent-wicklung zum Schriftsteller zurückbli-ckend, sagt Ford, dass es möglicherwei-se seine leichte Dyslexie war, die den Grundstein für seine Karriere legte. Als extrem langsamer Leser habe er eines Tages begonnen, sich auf die nichtana-lytischen Aspekte der Sprache, nämlich auf ihren Klang, ihren Rhythmus und ihre Melodik zu konzentrieren, wie er dies als Normalleser nie getan hätte. Sein Schreibstil verdanke sich möglicherwei-se eben dieser intensiven Beschäftigung mit der materiellen Seite der Sprache.

Es lohnt sich also, darüber nachzu-denken, ob man um jeden Preis versu-chen sollte, seine vermeintlichen Schwä-chen auszumerzen. In manchen Fällen mag es viel sinnvoller sein, eine Erfah-rung des Mangels anzunehmen, um he-rauszufinden, wohin sie führt. Wer die Stärke hinter seinen Schwächen ent-deckt, lebt nicht nur zufriedener, son-dern findet unter Umständen auch jenen einzigartigen Zugang zu einem Thema, der besondere kreative Leistungen er-möglicht. PH

Literatur

Jonah Lehrer: Imagine: Wie das kreative Gehirn

funktioniert. C. H. Beck, München 2014

Rainer M. Holm-Hadulla: Kreativität zwischen

Schöpfung und Zerstörung. Vandenhoeck & Rup-

recht, Göttingen 2011

Julie Burstein: Spark. How creativity works. Harper,

New York 2011

Susan Goldin-Meadow, Susan Wagner: How our

hands help us learn. Trends in Cognitive Science,

9/5, 2005

Manchmal sind Schmerz und furchtbares Leid ein Anstoß: Die Dinge zeigen sich in neuem Licht, und aus der Zerstörung des Alten erwächst etwas Neues