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Erich Ribolits Die Arbeit hoch? Berufspädagogische Streitschrift wider die Totalverzweckung des Menschen im Post-Fordismus Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage Profil

Die Arbeit hoch? Berufspädagogische Streitschrift wider die Totalverzweckung des Menschen im Post-Fordismus

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Bildungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Arbeitsethos

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Page 1: Die Arbeit hoch? Berufspädagogische Streitschrift wider die Totalverzweckung des Menschen im Post-Fordismus

Erich Ribolits

Die Arbeit hoch?

Berufspädagogische Streitschrift wider die

Totalverzweckung des Menschen im Post-Fordismus

Zweite, durchgesehene und

ergänzte Auflage

Profil

Page 2: Die Arbeit hoch? Berufspädagogische Streitschrift wider die Totalverzweckung des Menschen im Post-Fordismus

Anschrift des Autors:

Univ. Doz. Dr. Erich Ribolits

Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung

der Universitäten Innsbruck, Klagenfurt und Wien

Westbahnstraße 40

A-1070 Wien

Anschriften der Reihenherausgeber:

Univ. Prof. Dr. Werner Lenz

Institut für Erziehungswissenschaften

der Universität Graz

Abteilung für Erwachsenenbildung

Merangasse 70/II

A-8010 Graz

Ass. Prof. Dr. Michael Schratz

Institut für Erziehungswissenschaften

der Universität Innsbruck

Innrain 52/V

A- 6010 Innsbruck

Die Deutschen Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Ribolits, Erich:

Die Arbeit hoch?: Berufspädagogische Streitschrift wider die Total-

verzweckung des Menschen im Post-Fordismus /Erich Ribolits. - 2.,

durchges. und erg. Aufl. - München; Wien: Profil, 1997. (Bildung-Arbeit -Gesellschaft; Bd. 18)

Zugl.: Wien, Univ., Habil.-Schr., 1995

ISBN 3-89019-415-X

© 1997 Profil Verlag GmbH München Wien

Umschlaggestaltung: Gisela Scheubmayr, Wien

Druck nach Typoskript

Satz: Erich Ribolits, Wien

ISBN 3-89019-415-X

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Die Arbeit hoch? 7

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Zum Zusammenhang von Arbeit, Bildung

und politisch-ökonomischem System . . . . . . . . . . . . .

18

2. Die Krise des Fordismus und das

endgültige „Zur Ware Werden“ der Bildung . . . . . . . .

57

3. Von der tayloristischen Modernisierung zur

heutigen „Postmodernisierung“ der Arbeitswelt . . . . .

90

4. Unternehmenskultur, Lean production,

Ganzheitlichkeit, Flexibilisierung … die

Unternehmensstrategien des Post-Taylorismus . . . . . .

119

5. Schlüsselqualifikationen – der zentrale

berufspädagogische Ideologiebegriff des Post-Fordismus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

6. Entfremdung – das unveränderte Merkmal

der Arbeits- Freizeit-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Die Arbeit hoch? Oder: Die erstaunliche Karriere

eines historisch schwer belasteten Begriffs . . . . . . .

II. Freizeit – Fluchtpunkt der Arbeitsgesellschaft? . . . .

188

188

210

7. Muße – die vergessene Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

8. Ohne Muße keine (berufliche) Bildung . . . . . . . . . . . . 263

9. Anstatt einer Zusammenfassung:

Heinrich Böll:

Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral . . . . . . . . . . .

294

10. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

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VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches sind knapp mehr als

zwei Jahre vergangen. Die Entwicklungen in dieser Zeit haben die

dem Buch zugrundeliegende Annahme einer gegenwärtigen, existen-

tiellen „Krise der Arbeitsgesellschaft“ leider vollinhaltlich bestätigt.

Viele der in diesem Zusammenhang angesprochenen Trends sind in

der Zwischenzeit sogar erst zur vollen Deutlichkeit gelangt. Kaum

mehr angezweifelt kann heute werden, daß der Arbeitsgesellschaft

zunehmend ihr namensgebendes Gut – die Lohnarbeit in ihrer „klassi-

schen“ Ausprägungsform – ausgeht. An ökonomische Verwertbarkeit

geknüpfte Arbeit wird unübersehbar auch in den Industrieländern zu

einem „Luxusartikel“, der für immer weniger Menschen zur Verfü-

gung steht.

Zugleich – und im engsten Zusammenhang damit – findet gegen-

wärtig auch eine deutliche Machtverschiebung im gesellschaftlichen

Kräftespiel von „Kapital“ und „Arbeit“ statt. Die in Europa allerorts

hohen und noch weiter steigenden Arbeitslosenzahlen, der anwach-

sende Zwang für viele Amerikaner, sogenannte „Mc-Jobs“ anzuneh-

men – Tätigkeiten gegen eine Entlohnung mit der sich nicht einmal

die grundsätzlichen Lebenshaltungskosten abdecken lassen – und der

sinkende Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen bei

steigenden Kapitalgewinnen sind insgesamt unübersehbare Indikato-

ren einer massiven „Entwertung“ des Faktors Arbeit. Durch die Glo-

balisierung der Wirtschaft, die Liberalisierung der Finanzmärkte und

die Möglichkeiten neuer Technologien hat sich das Kräfteverhältnis

von „Kapital und Arbeit“ in den letzten Jahren massiv zugunsten der

Kapitalbesitzer verschoben.

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Vorwort zur zweiten Auflage 5

Die Folgen sind zum einen ein weltweiter Rückgang des Anteils

den die Lohnbezieher vom gesellschaftlichen Reichtum für sich ver-

buchen können und ein rapides Weniger-werden des Beitrags, den die

Vermögensbesitzer zur Finanzierung der staatlichen Ausgaben leisten,

was die bekannten Budgetprobleme in faktisch allen Industriestaaten

mitverursacht. Zum anderen bewirkt die Machtverschiebung zwischen

Kapital und Arbeit, daß Arbeitnehmer an der technologisch bedingten

erhöhten Produktivität in Form von Arbeitszeitverkürzungen nicht

bloß nicht partizipieren können, sondern sogar gezwungen sind, Ar-

beit immer häufiger auch unter Bedingungen anzunehmen, die weit

unter den Standards der letzten Jahre und Jahrzehnte liegen. Die Zahl

der Menschen, die anwachsende Phasen ihres Lebens ohne Lohnarbeit

auskommen müssen, wird zunehmend größer und zugleich ist die

kollektive Macht der verbleibenden „Träger der Ware Arbeitskraft“

einer massiven Erosion ausgesetzt.

Diese Entwicklung macht die im vorliegenden Buch aufgestellte

These von der drängenden Notwendigkeit, für das Leben einen ande-

ren Sinn zu finden als die Vernutzung in Arbeit und Konsum, nur

umso bedeutsamer. Denn bevor das unserer Gesellschaft immanente

Arbeitsethos nicht grundsätzlich relativiert wird, besteht überhaupt

keine Chance, die Situation des Weniger-werdens der Lohnarbeit

dafür zu nützen, um gesellschaftspolitische Alternativen jenseits der

Lohnarbeit zu entwickeln. Das verinnerlichte Arbeitsethos kettet die

Bewohner der industrialisierten Welt an die mit Ausbeutung, Zerstö-

rung und Ungleichheit verbundene Arbeitsgesellschaft und macht sie

zu „Mittätern“. Solange Arbeit zum Definitionsmerkmal der mensch-

lichen Existenz hochstilisiert und in der durch äußere Zwänge vorge-

gebenen Arbeit das wesentliche Strukturmerkmal humanen Lebens

gesehen wird, gibt es kein Entrinnen aus der Arbeitsideologie. Das

krampfhafte Festhalten am Arbeitsfetisch ist es, wodurch verhindert

wird, daß die Spaltung der Gesellschaft in Menschen, die sich um

Arbeitsplätze immer heftiger konkurrieren müssen, und in solche,

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6 Die Arbeit hoch?

deren Profite genau dadurch anwachsen, nicht als „politisch-

ökonomischer Skandal“ wahrgenommen und entsprechend bekämpft

werden kann. In diesem Sinn werden heute zwar von allen Seiten

„neue Arbeitsplätze“ gefordert aber kaum je eine gerechtere Auftei-

lung des gesellschaftlichen Reichtums.

Das gegenwärtige Offensichtlich-werden der Tatsache, daß jene

„Voll-beschäftigung“, wie wir sie hierzulande einige Jahrzehnte ge-

kannt haben, nicht wiederherzustellen ist, birgt in sich aber auch die

Chance eines grundsätzlichen Infragestellens des allgemein anerkann-

ten Arbeitsethos. In jüngster Zeit lassen sich in verschiedenen Publi-

kationen und Veranstaltungen tatsächlich erste Ansätze einer diesbe-

züglichen Diskussion erkennen. Das vorliegende Buch konnte – wie

sich in einer Reihe von Veranstaltungen, zu denen der Verfasser in

den letzten beiden Jahren eingeladen war, gezeigt hat – ein klein we-

nig zur beginnenden Suche nach Lösungen jenseits der ideologischen

Vernebelung durch den Arbeitsfetisch beitragen. Die Hoffnung, die

diesbezügliche Diskussion noch weiter zu treiben, motivierte zur

nunmehr vorliegenden zweiten Auflage. Denn worum es heute geht,

ist nicht das Schaffen neuer Arbeit, sondern das Herstellen von gesell-

schaftlichen Bedingungen, die allen Menschen maximale kulturelle

Teilhabe bei einem Minimum an geforderter Arbeit ermöglichen.

Unter emanzipatorischen Gesichtspunkten kann – wie ein Rezensent

treffend formuliert hat – das Ziel nicht sein, daß die Menschen voll

beschäftigt sind, sondern daß sie weniger beschäftigt werden, damit

sie sich beschäftigen können, womit sie sich beschäftigen wollen.

Wien, Februar 1997 Erich Ribolits

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EINLEITENDE BEMERKUNGEN

Wenn ich nicht im Grunde ein sehr arbeitsamer

Mensch wäre, wie wäre ich je auf die Idee ge-

kommen, Loblieder und Theorien des Müßiggangs

auszudenken. Die geborenen, die genialen Müßig-

gänger tun dergleichen niemals.

Hermann Hesse

Der bekannte österreichische Theologe und Religionsphilosoph

Adolf Holl meinte vor einiger Zeit in einem Interview, daß der Kapi-talismus gewissermaßen als die erste tatsächliche „Weltreligion“ be-zeichnet werden kann. Er stellt sich als ein weltumspannendes „Glau-bensbekenntnis“ dar, dem heute mehr Menschen anhängen als jemals in der Geschichte irgendeiner anderen Religion. Und daß alle derzei-tigen Gegenbewegungen zum Kapitalismus unter einer im wesentli-chen religiösen Motivation antreten – sich zum Beispiel als funda-mentalistische, okkultistische oder ähnliche Bewegungen artikulieren –, ist die logische Konsequenz dieses „religiösen Charakters“ des Kapitalismus. Wenn man das provokante Bild von der „kapitalisti-schen Religion“ weiterentwickelt, dann müßte die Verausgabung des

Menschen durch (ökonomisch verwertbare) Arbeit als der „Gottes-

dienst des Kapitalismus“ bezeichnet werden; und die Opfergaben, die im Rahmen dieses Gottesdienstes dargebracht werden, wären dann wir selbst – die Bewohner der kapitalistischen Gesellschaften – sowie unsere natürlichen Lebensgrundlagen.

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8 Die Arbeit hoch?

Wenngleich eine solche Gleichsetzung der politisch-ökonomischen Formation Kapitalismus mit Religion vermutlich auf heftige Ableh-nung bei den meisten gläubigen Menschen stößt und höchstwahr-scheinlich auch nur von wenigen Kollegen des angesprochenen Reli-gionsphilosophen geteilt wird, läßt sich doch ein wesentliches Ele-ment der skizzierten Metapher nur schwer leugnen: Die menschliche Arbeit ist in den industriewirtschaftlichen Gesellschaften – die zwi-schenzeitlich ja allesamt konkurrenzlos von der kapitalistischen Öko-nomie dominiert werden – heute mit einer geradezu kultischen Be-wertung belegt. Sie nimmt eine zentrale Stelle im gesellschaftlichen Normen- und Wertegefüge ein und kann ohne Übertreibung als der Kristallisationspunkt allen gesellschaftlichen Geschehens bezeichnet werden. Über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg wird Arbeit heute als die grundlegende Bestimmungsgröße des Menschen gese-hen, ja sogar unsere gesamte Sozietät wird stolz als eine „Arbeitsge-sellschaft“ definiert. Diese zentrale Stellung der Arbeit in den Indust-riegesellschaften läßt leicht vergessen, daß die ethische Überhöhung der Arbeit historisch gesehen eine nur sehr kurze Karriere hinter sich hat. Erst das neuzeitlich-bürgerliche Postulat, daß die gesellschaftli-che Positionsverteilung nicht durch geburtsständische Determinierun-gen, sondern über die Fähigkeit und Bereitschaft zur Leistungsver-ausgabung bestimmt sein soll, hat die menschliche Arbeit ja in einen solchen überragenden gesellschaftlichen Rang befördert.

Zugleich mit der neuzeitlichen Karriere der Arbeit hat die Loslö-sung des Menschen von der ständischen Gebundenheit auch einen gewaltigen Bedeutungsgewinn für das gesellschaftliche Subsystem Erziehung und (Aus-)Bildung ausgelöst. Nachdem die Arbeit ihren Makel als „ein von Gott auferlegtes Übel“ abgeschüttelt hatte und zur Lebensbestimmung des Menschen avanciert war – zum bestmögli-chen Weg, um zu sich selbst zu finden –, galt es, zur Arbeitsverausga-bung zu erziehen. Arbeit wurde zur primären Bezugsgröße für Erzie-hung und die Vorbereitung der Heranwachsenden auf die Übernahme

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Einleitende Bemerkungen 9

von Positionen in der Berufs- und Arbeitswelt durch Erziehung und (Aus-)Bildung zu einer zentralen Aufgabe der Gesellschaft. Damit war der Grundstein gelegt für ein Verständnis von Pädagogik, das auf die Optimierung von Lernprozessen in Hinblick auf deren Relevanz für ökonomisch verwertbare Arbeit abgestellt ist. Die Pädagogik war damit nicht nur zur zentralen Agentur für die Vermittlung arbeitsrele-vanter Einstellungen, Kenntnisse und Fähigkeiten geworden, die strukturellen Bedingungen des Arbeitens unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen selbst hatten die Pädagogik eingeholt und ihr in weiterer Folge zunehmend einen das Arbeitsverausga-bungssystem stabilisierenden Charakter aufgedrängt.

Gegenwärtig befindet sich die Formation bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in der Anfangsphase einer tiefgreifenden Krise. Gewalti-ge technologische Innovationsschübe, die fortschreitende Internatio-nalisierung des wirtschaftlichen Geschehens und die anwachsenden ökologischen Probleme im Gefolge der Profitökonomie haben das in den kapitalistischen Kernländern etwa ein halbes Jahrhundert lang relativ gut funktionierende Zusammenspiel von Produktivität, Ar-beitskräftebedarf und Konsum völlig aus dem Gleichgewicht gekippt. Just in jenem historischen Moment, in dem mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der großen, einander feindlich gegenüber-stehenden Machtblöcke der Traum eines Lebens in Freiheit und Wohlstand für alle in greifbare Nähe gerückt schien, wurde unüber-sehbar, daß auch der Kapitalismus – der „Sieger des historischen Sys-temstreits“ – an einem krisenhaften Punkt seiner Adaptionsfähigkeit angelangt ist. Der augenscheinlichste Indikator dieser Krise zeigt sich in der abnehmenden Fähigkeit zur Vernutzung menschlicher Arbeits-kraft im Rahmen der wirtschaftlichen Prozesse. In der gesamten in-dustrialisierten Welt können heute hohe und – über längere Zeiträume betrachtet – durchwegs steigende Arbeitslosenraten beobachtet wer-den. Parallel zu diesem Ansteigen der statistisch ausgewiesenen Ar-beitslosigkeit läßt sich auch ein rasantes Anwachsen der „Langzeitar-

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beitslosen“ verzeichnen. Schließlich wächst auch noch die Zahl soge-nannter „prekärer Arbeitsverhältnisse“ (Teilzeitjobs, befristete und arbeitsrechtlich wenig abgesicherte Beschäftigungen, „Arbeit auf Abruf“, Beschäftigungen mit Bezahlungsbedingungen an der Armuts-grenze und ähnliches) rapid an.

Diese Entwicklung wurde über viele Jahre damit relativiert, daß sich das kapitalistische Wirtschaftssystem offensichtlich in einer sei-ner periodisch auftretenden Krisen befinde und die Dinge nach einiger Zeit mehr oder weniger von selber wieder ins Lot geraten würden. Zunehmend müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, daß die derzei-tige „Krise der Arbeitsgesellschaft“ keine vorübergehende, konjunk-turbedingte Erscheinung darstellt. Auch bei Wachstumsdaten der Wirtschaft – die bis jetzt immer von einem Anwachsen des Arbeits-kräftebedarfs begleitet waren – wächst die Zahl der („mehr oder we-niger“) Arbeitslosen derzeit weiter an. Zugleich werden Kompensati-onseffekte, auf die man in der Vergangenheit zählen konnte, heute immer unwahrscheinlicher. Da sich die technologische Entwicklun-gen zunehmend auch im Dienstleistungssektor arbeitskräfteeinsparend auswirken und der Ausbau eines „persönlichen Dienstleistungssek-tors“ eine nicht vorhandene, ausreichend große Zahl von Personen voraussetzen würde, die sich solche Dienstleistungen überhaupt leis-ten können, kann heute auch nicht mehr erwartet werden, daß der Dienstleistungssektor die freigesetzten Arbeitskräfte aus anderen Wirtschaftssektoren in größerem Umfang aufnehmen wird. Der seit der ersten industriellen Revolution andauernde Prozeß, daß der durch die permanente Erhöhung der Produktivität ausgelöste relativ andau-ernd sinkende Arbeitskräftebedarf durch einen anwachsenden Bedarf an lebendiger Arbeit aufgrund der fortschreitenden Ausweitung der Produktion und des Angebots an Dienstleistungen konterkariert oder zumindest kompensiert wird, ist offensichtlich an seine „natürlichen“ Grenzen gestoßen. Heute ist kaum mehr zu übersehen, daß das immer weitere Anwachsen der Masse der produzierten Güter eine Zerstörung

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Einleitende Bemerkungen 11

der ökologischen Grundlagen der menschlichen Existenz nach sich zieht. Neben die Produktivitätssteigerung, als den traditionellen Job-killer der auf Profit programmierten kapitalistischen Ökonomie, tritt damit heute zunehmend der „Jobkiller Überlebenschance der Menschheit“. Damit impliziert die angedeutete Entwicklung jedoch wesentlich mehr als „bloß“ dramatisch verschlechterte Lebensbedin-gungen für die vielen bereits unmittelbar von Arbeitslosigkeit oder verschlechterten sozial- und arbeitsrechtlichen Bedingungen betroffe-nen Menschen. Sie bedeutet in letzter Konsequenz das Ende des My-

thos, daß es uns durch Arbeit gut geht und durch mehr Arbeit besser

geht. Wenn heute darüber diskutiert wird, wie unter ökonomischen und

sozialen Gesichtspunkten dem Problem der anhaltend hohen Arbeits-losigkeit in den Industriestaaten begegnet werden soll und ob durch Arbeitszeitverkürzung wieder Arbeit für mehr Menschen geschaffen werden kann, dann geht diese Diskussion am Kern des Problems weitgehend vorbei. Der Mensch der spätkapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft arbeitet ja keineswegs nur deshalb, um ökonomisch zu überleben, er definiert sich über die Arbeit, sie ist das strukturierende Merkmal seiner Existenz, und sie vermittelt ihm sein Selbstverständ-

nis als Mensch. Ohne gesellschaftlich honorierte Arbeit ist er nicht „bloß“ in seinem materiellen Dasein gefährdet, ohne eine derartige Arbeit verliert der heutige Bewohner der industrialisierten Länder faktisch seine gesamte ideelle Existenzbasis. Wodurch unsere Sozietät überhaupt erst zu dem geworden ist, was wir heute mit dem Begriff Arbeitsgesellschaft zusammenfassen, ist die – mit jedem Generations-schritt reibungsloser ablaufende – allgemeine Verinnerlichung eines „aus sich selbst“ begründeten Werts des Arbeitens jenseits „bedürf-nisorientierter Notwendigkeiten“. Die gegenwärtige Verringerung des Gesamtausmaßes der zur Verfügung stehenden, gesellschaftlich hono-rierten Arbeit ist – um noch einmal am anfangs erwähnten Bild vom „Kapitalismus als Religion“ anzuschließen – somit mit dem Verbot

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einer identitätsstiftenden Kulthandlung vergleichbar und kann dem-entsprechend von den Gesellschaftsmitgliedern nur im Sinne einer massiven psychischen Destabilisierung wahrgenommen werden.

Somit bleibt – selbst wenn es durch einen sozialen Umbau der Ge-sellschaft möglich wäre, die materiellen Probleme, die mit der sukzes-siven Verringerung der Arbeitsplätze verbunden sind, in den Griff zu bekommen – die Tatsache bestehen, daß wir allesamt „verlernt“ ha-ben, ohne Arbeit und in Muße zu leben. Denn auch das, was wir heute als Frei-Zeit bezeichnen, unterliegt ja in jeder Hinsicht denselben Strukturen wie die Arbeitserbringung im Rahmen der Profitökonomie. Es handelt sich dabei keineswegs um eine unverzweckte Muße-Zeit, die einem „inneren Bedürfnis“ folgend gelebt wird – Freizeit unter-liegt im selben Maß wie die Arbeit den Bedingungen der Entfrem-dung. In der Arbeitsgesellschaft ist die von entlohnter Arbeitsveraus-gabung freigehaltene Zeit in hohem Maß gleichzusetzen mit Konsum, stellt damit aber auch bloß die Kehrseite der Vernichtung der ökologi-schen Lebensgrundlagen durch Arbeit dar. Es ist wohl unbestreitbar, daß eine Ausweitung der extensiven Freizeitgewohnheiten von Euro-päern und Amerikanern auf die restliche Menschheit genauso katast-rophale ökologische Auswirkungen hätte wie die Verallgemeinerung dessen, was wir Lebensstandard nennen. Auch im Hinblick auf ihre „ökologische Unverträglichkeit“ können Freizeit und Arbeit als sia-mesisches Zwillingspaar bezeichnet werden. Die Freizeit ist in jeder Hinsicht bloß die präsentable Kehrseite der Arbeit, sie ist mit ihr un-trennbar verbunden und bietet in ihrem heutigen Verständnis sicher keinen Ansatzpunkt, das durch die Strukturen der Arbeitsgesellschaft ansozialisierte Selbstverständnis des Menschen als „homo laborans“ zu relativieren.

Das was weiter vorne als Krise der bürgerlich-kapitalistischen Ge-sellschaft angesprochen wurde, bedeutet also wesentlich mehr als eine ökonomische Umbruchssituation, es handelt sich dabei um eine kaum mehr kaschierbare Krise des gesellschaftlichen Systems selbst. Wenn

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Einleitende Bemerkungen 13

der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, beziehungsweise ökologi-sche Notwendigkeiten es dem Menschen verunmöglichen, „sein Heil“ weiter in der Arbeit zu suchen, dann wird damit das neuzeitliche Weltbild vollständig aus den Angeln gehoben. Spätestens an diesem Punkt muß ersichtlich werden, daß durch das Problem der Verringe-rung des Gesamtvolumens der gesellschaftlich honorierten Arbeit auch massiv die Pädagogik betroffen ist. Pädagogik beschäftigt sich mit Erziehung und Bildung, ihr geht es um die Frage, „wie der Mensch zum Menschen wird“, welche Begleitumstände es sind, die ihm helfen, sein humanes Potential zur Entfaltung zu bringen. Eine Pädagogik, die dabei von der Annahme ausgeht, daß Arbeit eine „conditio sine qua non“ für den Menschen ist und zum menschlichen Leben gehört wie „das Salz zur Suppe“ ist untrennbar mit der Ar-beitsorientierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verbun-den. Sie ist Agent des Arbeitsethos und nicht in der Lage, bei der Suche nach Orientierungen für eine „Post-Arbeitsgesellschaft“ behilf-lich zu sein – sie ist paralysiert angesichts der Tatsache, daß Arbeit in Zukunft immer weniger der organisierende Lebensmittelpunkt der Menschen wird sein können.

Noch herrscht heute weitgehend der Glaube vor, daß durch ein besser, das heißt „arbeitsmarktgerechter“ qualifiziertes Humankapital, durch mehr Engagement, Flexibilität und Mobilität der Arbeitskräfte, durch neue Arbeitszeitmodelle und ähnliche Maßnahmen die Gefahr, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit – ihr bestimmendes Gut – aus-geht, gebannt werden könne. Noch sind alle Lösungsmodelle für die Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft getragen vom Ar-beitsethos und orientieren sich am Modell: „Mehr arbeiten bringt Segen“. Noch wird ja auch überwiegend die Illusion aufrechterhalten, daß die Arbeitslosigkeit nur ein temporäres und randständiges gesell-schaftliches Problem sei und man den heute schon Arbeitslosen durch geeignete Maßnahmen mittelfristig wieder Arbeit anbieten wird kön-nen. Neben Schritten zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums

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lauten wesentliche diesbezügliche Rezepte: Weiterbildung und Um-schulung. Auf diese Art ist die Pädagogik in höchstem Maße in die Krisenstrategien zur Aufrechterhaltung des Systems der Arbeitsver-ausgabung eingebunden. Ihr wird heute geradezu die Schlüsselrolle bei der Modernisierung des „Humankapitals“ zugewiesen – sie soll leisten, was Politik längst schon nicht mehr zustandebringt: Indem sie Handlungsanweisungen für Erziehung und (Aus-)Bildung liefert, die gewährleisten, daß möglichst schnell (wieder) ein optimal brauchba-res Arbeitskräftepotential zur Verfügung steht, soll sie den Bestand des Systems und damit Wohlstand und wirtschaftliche Prosperität absichern.

Aber wäre es nicht heute, angesichts der Tatsache, daß immer schwerer an der Erkenntnis vorbeigegangen werden kann, daß die derzeit heranwachsende Arbeitslosigkeit keine konjunkturellen son-dern strukturelle Ursachen hat und daß ein Aufrechterhalten der Ar-beitsverfallenheit der Menschen geradewegs in die ökologische Ka-tastrophe führt, allerhöchste Zeit, daß die Pädagogik endlich das Denkkorsett der Arbeitsgesellschaft verläßt? Wäre es nicht höchste Zeit, daß die Pädagogik ihre eigene Arbeitsorientiertheit kritisch re-flektiert und sich der Erkenntnis besinnt, daß der Mensch sich nicht als arbeitender Konsument vom Tier unterscheidet, sondern als den-kendes, reflexionsfähiges Wesen. Lange können sich die Menschen in den Industrieländern wohl nicht mehr um die Erkenntnis drücken, daß es heute nicht bloß um irgendwelche ökologische Teilkorrekturen des ökonomischen Systems geht, sondern daß – wenn die Überlebens-chancen auf diesem Planeten nicht endgültig verspielt werden sollen – es mit dem Ende der Ära des energie- und ressourcenvergeudenden, exzessiven Konsums auch notwenig wird, von der Arbeitsgesellschaft

endgültig Abschied zu nehmen. Für die Bewohner der Industriegesell-schaften gilt es heute, eine Orientierung zu finden, die jenseits der Verzweckung durch Arbeit und Konsum liegt. Die Pädagogik als jene Disziplin, in deren Zentrum die Frage nach den Bedingungen der

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Einleitende Bemerkungen 15

Möglichkeit von „Bildung“ steht – einer Größe, die zwar nie losgelöst von gesellschaftlichen Bedingungen gefaßt werden kann, aber den-noch nur Sinn gibt, wenn sie in ihrer konkreten Auswirkung über den gesellschaftlichen Status quo hinausweist –, ist aufgerufen, ihren Bei-trag zu dieser notwendigen Neuorientierung zu leisten. Dazu wird es erforderlich sein, den pädagogischen Stellenwert des Arbeitens radi-kal zu hinterfragen und sich im Gegenzug des pädagogischen Stel-lenwerts der Muße (neu) zu besinnen. Für eine Pädagogik, die sich in ihrer Aufgabe als Hebamme humaner Entwicklung ernst nimmt, scheint es heute hoch an der Zeit, sich von der „Ideologie der Arbeit“ zu emanzipieren.

Allerdings darf dabei auch nicht so getan werden, als ob, unabhän-gig vom ökonomisch vermittelten Arbeitszwang, der Mensch sein Verhältnis zur Arbeit frei definieren könne. Ein heute anstehendes Besinnen der Pädagogik auf den Wert der Muße für die Entwicklung des autonomen Individuums muß dementsprechend verbunden sein mit einer Reflexion der gesellschaftlich-ökonomischen, also der poli-

tischen Rahmenbedingungen, unter denen die Sozialisierung zum „Arbeits- und Konsumtier“ erfolgt. Ein bloßes pädagogisches Neu-entdecken der „Muße als bildende Kraft“ ist genauso scheinheilig wie eine Pädagogik, die sich unkritisch in den Dienst der Requalifizierung der Krisenopfer stellen läßt, ohne gemeinsam mit den Betroffenen nach Antworten auf die zugrundeliegenden, systembegründeten Ursa-chen der Krise zu suchen. Ein idealistisch-wertfreies pädagogisches Besinnen auf die Muße bleibt zahnlos und heuchlerisch angesichts der Tatsache, daß die (Über-) Lebensmöglichkeiten der Menschen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf das engste mit Lohnarbeit verbunden sind. Das Denkkorsett der Arbeitsgesellschaft zu verlassen bedeutet mehr als ein appellatorisches Einfordern einer Mußeorientie-rung des Menschen, es bedeutet, die „politische Funktion“ der Ar-beitsgesellschaft in den Focus einer, auch die eigene Disziplin selbst-

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kritisch durchleuchtenden pädagogischen Reflexion zu nehmen und die Arbeitsgesellschaft auf ihre Nutznießer zu hinterfragen.

Im vorliegenden Buch soll ein Ansatz in diese Richtung unter-nommen werden. Es wird versucht, ein Hinterfragen der Arbeitsorien-tiertheit der Pädagogik mit einer kritischen Reflexion der diese be-stimmenden politisch-ökonomischen Verhältnisse zu verknüpfen. Grundlage der Überlegungen ist die Annahme (die durchaus auch auf die im gegenständlichen Buch vertretenen Gedanken anzuwenden ist), daß die Entwicklung und Durchsetzung von pädagogischen Theorien nicht allein aus dem Binnenraum der Pädagogik begriffen werden kann, sondern daß zu ihrer Deutung immer auch die Mitberücksichti-gung der je parallel auftretenden historisch-politischen Konstellatio-nen erforderlich ist. Pädagogik und gesellschaftliche Verfaßtheit wer-den zueinander in einer dialektisch vermittelten Beziehung wahrge-nommen; eine Wechselbeziehung, die allerdings dann in politische Verzweckung der Pädagogik umschlägt, wenn sich diese ihrer politi-schen Bedeutung nicht bewußt ist und ihr Erkenntnisinteresse nicht selbst unter politischen Gesichtspunkten reflektiert. In diesem Sinn wird die Tatsache, daß gerade heute unter wohlklingenden Stichwör-tern wie „Schlüsselqualifikationen“, „Handlungsorientierung“ oder „Ganzheitlichkeit“ am (berufs-)pädagogischen Theoriegebäude weit-gehende Um- und Neubauten vorgenommen werden, als Herausforde-rung ersten Ranges zur Reflexion (berufs-)pädagogischer Begrün-dungsprämissen gesehen. Dies insbesondere deshalb, als die neuen pädagogischen Paradigmen nahezu ausschließlich unter dem Aspekt des Reagierens auf politisch-ökonomische Veränderungsprozesse legitimiert werden, was nichts anderes als ein verstecktes Bekenntnis zur anwachsenden Verzweckung von Bildungsprozessen für die Auf-rechterhaltung des ökonomisch-gesellschaftlichen Ist-Zustands und somit einen (weiteren) Verlust an pädagogischer Legitimation signa-lisiert.

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Einleitende Bemerkungen 17

Nach dem vorher Gesagten braucht kaum mehr darauf hingewie-sen werden, daß der vorliegende Text in Anerkenntnis einer „kriti-schen Pädagogik“ verfaßt wurde und getragen ist von der Vision einer

radikalen Humanisierung und Demokratisierung der gesellschaftli-

chen Verhältnisse, die ohne ein gleichzeitiges Interesse an einer Ver-änderung der ökonomischen Prämissen der Arbeitsgesellschaft bloße Ideologie wäre. Er stellt einen Versuch dar, Ansätze für die Lösung pädagogischer Grundfragen im gesellschaftlichen Kontext zu entwi-ckeln. In diesem Sinn kann er auch als ein Beitrag dafür verstanden werden, der Bildungsidee jene politische Brisanz wiederzugeben, die sie beim letzten großen Umbau des politisch-ökonomischen Systems – am Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – innehat-te.

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1. ZUM ZUSAMMENHANG VON ARBEIT, BILDUNG

UND POLITISCH-ÖKONOMISCHEM SYSTEM

Es gibt kein Land und kein Volk, meine ich, das dem Zeitalter der Muße und des Überflusses ohne Furcht entgegensehen könnte. Denn wir sind zu lange dazu erzogen worden, nach Leistung zu streben; wir haben nicht gelernt, wie man das Da-sein genießt.

John Maynard Keynes

Unbestreitbar stellen „Arbeit“ und „Arbeiten“ in den industriali-

sierten Gesellschaften heute zutiefst positiv besetzte Begriffe dar. Die Bereitschaft zur Arbeitsverausgabung gilt als ein ganz wesentliches Kennzeichen eines „achtenswerten“ Menschen, und für die Majorität der Bewohner der Industriegesellschaften stellt Arbeit gewissermaßen auch jenes selbstverständliche „Geländer“ dar, an dem entlang ihr Leben organisiert ist. Unsere durch Arbeit artikulierte Tüchtigkeit sowie die der Generationen vor uns erscheint uns gemeinhin als die Basis des gesellschaftlichen Wohlstands und dient uns zugleich als Abgrenzung gegenüber Kulturen, in denen Arbeit (noch) nicht jene herausragende Bedeutung genießt wie bei uns. Insgesamt können wir heute konstatieren, daß in unserer Gesellschaft eine Entwicklung ihre Erfüllung gefunden hat, die in der frühen Neuzeit ihren Anfang ge-nommen hatte, mit den bürgerlichen Revolutionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ihre grundlegende gesellschaftliche Legitimation erhalten hatte und schließlich um die Wende des neun-zehnten zum zwanzigsten Jahrhundert unter tatkräftiger Unterstützung

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Arbeit, Bildung und politisch-ökonomisches System 19

der Arbeiterbewegung endgültig zum Durchbruch gelangt war – der Sieg des bürgerlichen Leistungsstrebens gegenüber der feudalen, pa-rasitären Faulheit.

Die Wurzeln der heutigen Wertschätzung der Arbeit reichen bis in die Renaissance zurück. Damals begann in den entwickelten Kulturen Europas ein Prozeß, der sich als Emanzipation des Menschen von der

Vorstellung eines schicksalhaften Ausgeliefertseins an Natur und

Vorsehung bezeichnen läßt. Es kam zu einer Abkehr vom bis dahin dominierenden augustinischen Menschenbild, wo wahre Tugend jen-seits dessen angesiedelt war, was der Mensch aufgrund eigener Kraft erreichen kann und tugendhaftes Verhalten demgemäß nicht als Effekt eigenen Bemühens, sondern nur als Ausfluß göttlicher Gnade denkbar erschien. Im Rückgriff auf antike Vorstellungen begann sich zuneh-mend ein „Vertrauen in die Freiheit und Stärke der menschlichen Natur“ durchzusetzen. Das Besondere am Menschen wurde nun im-mer weniger in seiner unsterblichen Seele gesehen, sondern „in seiner Fähigkeit, sein Schicksal durch Intelligenz und Willenskraft zu bestimmen“1. Die damit implizierte Vorstellung von der Machbarkeit menschlicher Geschichte – das wesentliche Kennzeichen der Moderne – ist jener Hintergrund, auf dem eine zunehmende Verteufelung der Faulheit und die Würdigung der Arbeit Platz greifen konnte. Aktivität,

im Sinne des Herstellens gewünschter Wirklichkeit, begann sich als anstrebenswerte Seinsform zu etablieren. Zunehmend setzte sich das Bewußtsein der Notwendigkeit durch, die – vordem als endgültig angesehene – „Schöpfung“ nach menschlichem Willen umzugestalten und zu verbessern. An die Stelle „der »Natürlichkeit« der Wahrheit trat die Wahrheit als Ergebnis von »Arbeit«“2.

1 Vgl.: Bauer, L./Matis, H.: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktge-

sellschaft. München 1988, S. 171f. und 174f. 2 Blumenberg, H. Zit. nach: Fischer, Der Mensch – animal laborans? Philosophi-

sche und pädagogische Rückfragen zur neuzeitlichen Karriere der „Arbeit“. In: Fischer: Unterwegs zu einer skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik. Sankt Augustin 1989, S. 183.

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20 Die Arbeit hoch?

Als Folge davon, daß der Mensch die real vorfindbare Welt nun nicht mehr als die – entsprechend unbegreiflich-göttlichem Ratschluß – vollkommenste aller möglichen Welten interpretierte, hatte er sich zwar befreit von der Unterworfenheit unter die Bedingungen der Vor-sehung, war nun jedoch genötigt, durch vorausschauende Erkenntnis und tätiges Tun in diese Schöpfung einzugreifen. Die Aufgabe des Menschen stellte sich nicht mehr darin dar, das Joch der vorfindbaren Bedingungen akzeptierend zu (er-)tragen, sondern darin, sich in der Welt zu bewähren, indem er diese „nach seinem Willen“ gestaltet. Die vorfindbare, von Gott dem Menschen zur „Vervollkommnung“ über-lassene Welt galt es ab nun zu verbessern. Damit erschloß sich aber für die vormals eher geschmähte Arbeit eine völlig neue Dimension. Galt sie im Mittelalter als ein Aspekt der von Gott auferlegten, dies-seitigen Existenz, als unausweichliche Notwendigkeit des Überlebens, aber dem geistlichen Leben und der Frömmigkeit selbstverständlich untergeordnet, tritt sie nun in das Zentrum der menschlichen Sinnsu-che.

„Wenn die gegebene Welt nur ein zufälliger Ausschnitt aus dem unendlichen Spielraum der Möglichkeiten ist, wenn die Sphäre der natürlichen Fakten keine höhere Rechtfertigung und Sanktion mehr ausstrahlt“ und es dementsprechend als Aufgabe erscheint, „nicht nur das Wirkliche vom Möglichen her zu beurteilen und zu kritisieren, sondern auch durch Realisierung des Möglichen […] das nur Fakti-sche aufzufüllen“3, also ordnend in die gegebene Welt einzugreifen, dann wird Arbeit zur Schlüsselgröße des Lebens. „Durch Arbeit recht-fertigt sich das Leben als einbezogen in den Prozeß, das Vorfindliche und Ereignishafte […] nicht länger letztlich hinzunehmen als Gewäh-rung oder Heimsuchung, sondern […] rückhaltlos in den Griff zu bekommen und aus oder mit ihm das zu machen, was dem Glück des Menschen oder was auch immer als kollektives oder individuelles

3 Ebda., S. 186.

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Fortschrittsziel angepeilt wird, zustattenkommt.“4 Die Bestimmung des Daseins erfüllt sich dann über Arbeit; durch sie – und letztendlich nur durch sie – erhält das menschliche Leben dann Sinn, allerdings „in der Paradoxie, daß Arbeit stets auf etwas bezogen ist, was ihr in der Zukunft vorausliegt“5.

Mit dem Ziel des Herstellens gewünschter Wirklichkeit tritt so-wohl der Begriff „Fortschritt“ als auch die „Erziehung“ im modernen Sinn in die Welt. Indem die am Jenseits orientierte Teleologie an Be-deutung verliert, wird der traditionelle Tugendbegriff seines ursprüng-lichen Sinns entleert und erfährt eine radikale Veränderung im Hin-blick auf die nunmehrige Orientierung an einer wünschenswerten Welt. Er wandelt sich zu einer, den jeweiligen gesellschaftlichen Zielvorstellungen geschuldeten, lehr- und lernbaren Moral. Die Selbstbefreiung des Menschen aus der Begrenztheit durch die Vorse-hung kann somit als die „Geburtsstunde von Erziehung und Erzie-hungstheorie“6 bezeichnet werden. Sowohl unter quantitativen als auch unter qualitativen Gesichtspunkten läßt sich „Erziehung“ dem-entsprechend eindeutig als ein den Paradigmen der Neuzeit verhafte-tes Phänomen charakterisieren, ihr Bedeutungsgewinn erfolgte paral-lel zur „Entdeckung der Kindheit“ in der sich zunehmend herausbil-denden bürgerlichen Gesellschaft7. Nun erst wurde die Kernfrage der Pädagogik, „wer der Mensch ist, wie er sein kann und sein soll“ zu einer gesellschaftlichen Problemstellung, und nun wurde es auch wichtig, daß Menschen lernen, ihr Verhalten im Sinne einer gesell-

4 Ebda,, S. 186. 5 Ebda., S. 186. 6 Vgl. Erich Weniger, der die „Geburtsstunde der pädagogischen Theorie“ sinn-

gemäß in der „Loslösung des Menschen aus der ständischen Gebundenheit“ or-tet. Weniger, Zur Geistesgeschichte und Soziologie der Pädagogischen Fragestel-lung. In: Röhrs (Hg.), Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, 19672, S. 358.

7 Vgl. Rutschky, Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerli-chen Pädagogik. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1977, S. XXI.

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schaftlich festgelegten Zielvorstellung von Fortschritt zu modifizie-ren. Der moderne Begriff von Erziehung ist untrennbar mit der Idee des durch aktives Eingreifen in die Geschichte vermittelten Fort-schritts – und somit auch mit der neuzeitlichen Einstellung zur Arbeit – verknüpft.

Die durch das Heraustreten aus der „Begrenzung durch Natur und Vorsehung“ gewonnene Freiheit zwingt den Menschen, sich nun

selbst unter das Diktat von Arbeit und Leistung zu stellen sowie He-ranwachsende durch „Erziehung“ zur Übernahme der jeweiligen ge-

sellschaftsrelevanten Werte, Normen und Verhaltensmuster zu brin-gen. Erziehungstheorie stand dementsprechend auch – wie zum Bei-spiel durch Katharina Rutschky nachgewiesen – von Anfang an unter der Not, Rechtfertigungslehre für die den jeweiligen „Fortschrittsvor-stellungen“ geschuldete Erziehungspraxis zu sein. Der Rekurs darauf, „was die pädagogischen Begriffe von Anfang an versprochen haben: daß Erziehung geschehe um des »Ausgangs des Menschen« »aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« (Kant) willens“8 kettet sie untrennbar an die je gültige Vorstellung des „befreiten“ Menschen und macht sie damit zum Agenten des „Über-Ichs“. Rutschky führt in diesem Zusammenhang aus: „Noch ihre kritische Kraft gegenüber gesellschaftlichen Forderungen und Mißständen, jene Differenz von Erziehung und Gesellschaft, auf die sich fortschrittliche Pädagogik immer wieder beruft – hat sie jeweils gewonnen aus der lediglich avancierteren beziehungsweise rigideren Interpretation der naturwüchsig von der Gesellschaft produzierten Normen, nicht aus der Parteinahme für die von jenen Mißständen Betroffenen.“9

Die radikale Neuinterpretation der Bedeutung der Arbeit im Rah-men der menschlichen Existenz schuf die Voraussetzung dafür, daß Arbeit in den Rang der zentralen Bezugsgröße für Erziehung aufrük-ken konnte. Wenn Arbeit nicht den Überlebensnotwendigkeiten ge-

8 Ebda., S. XXIII. 9 Ebda., S. XXIV.

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schuldetes Übel, sondern Bestimmungsmerkmal des Menschlichen am Menschen ist, wenn – wie es Friedrich Engels später pointiert ausgedrückt hat – es die Arbeit ist, die „den Affen zum Menschen“ macht, dann ist die logische Konsequenz, daß Arbeit und ihre Anfor-derungen zum Bezugspunkt der Zielbestimmung von Erziehung be-ziehungsweise Bildung10 werden. Dementsprechend war die Ge-schichte des neuzeitlich-pädagogischen Denkens auch von Beginn an untrennbar verbunden mit der sich seit Ende des Mittelalters heraus-bildenden Veränderung des Stellenwerts der Arbeit im Bewußtsein der Menschen.

Schon im siebzehnten Jahrhundert war Bildung durch Johann A-mos Comenius in ein untrennbares Naheverhältnis zu „Arbeit“ und „Zucht“ gesetzt worden. In seiner „Großen Didaktik“ forderte er 1657, daß Schulen „nichts anderes sein [sollen] als Werkstätten, in denen tüchtig gearbeitet wird“ und man demgemäß „die Kinder zur Arbeit und beständiger Beschäftigung anhalten [muß], damit sie Mü-ßiggang nicht mehr ertragen können“.11 Er, dessen Denken durch die von den Hussiten ausgelöste Emanzipationsbewegung beeinflußt war und sich deutlich von der mittelalterlichen Vorstellung der „Prädesti-nation“ des Menschen abhob, entwikkelte die Überzeugung, daß das

10 Der Bildungsbegriff wurde zwar verschiedentlich dafür verwendet, um – im

Gegensatz zur Unterordnung des Menschen unter die Arbeitszucht durch Erzie-hung – die kritische Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten von Welt und Gesellschaft, die Emanzipation zu Freiheit und Eigengestaltung als primäres pä-dagogisches Ziel herauszustellen. Diese begriffliche Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung, die im wesentlichen auf den klassischen Bildungsbegriff von Humboldt Bezug nimmt, kann jedoch durchaus nicht als pädagogisch-begrifflicher Standard bezeichnet werden. Genauso wie die beiden Begriffe fall-weise synonym verwendet wurden, gab es auch Phasen einer Betonung des einen oder anderen Begriffs, wobei der Bildungsbegriff durchaus nicht immer von der Orientierung am Arbeitsethos befreit war.

11 Comenius, J.A.: Große Didaktik (1657), zit. nach Nahrstedt, W.: Arbeit – Muße – Mündigkeit. Perspektiven für eine „dualistische“ Anthropologie zur Überwin-dung der „Krise“. In: Zeitschrift für Pädagogik, 19. Beiheft, Weinheim und Basel 1985, S. 115.

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Reich Gottes nicht „ad hoc, als Spontanvorgang“ erreicht werden kann, sondern „über Mühe und Arbeit erworben werden [muß], die der Lernprozeß widerspiegelt“.12 Comenius kann damit als ein erster Wegbereiter kapitalistisch-bürgerlichen Leistungsdenkens bezeichnet werden, wenngleich in anderen Teilen seines Werkes nur allzu deut-lich erkennbar ist, daß seine Utopie wesentlich weiter ging und „im Untergrund einer Erwartung“ bleibt, „die den Konkurrenzkapitalis-mus hinter sich läßt“.13

In der Epoche der Aufklärung rückt Arbeit in den Rang einer zent-ralen anthropologischen Größe auf. Die Fähigkeit des Menschen zu arbeiten, also „etwas Nützliches mit Einsicht und Vorsatz zu tun“14, wurde als emanzipatorische Möglichkeit erkannt – die Verknüpfung von Arbeit und Bildung war die logische Folge. Für das Bürgertum, das nur über den Abbau der Vorstellung von der vorherbestimmten gesellschaftlichen Positionsverteilung an die politische Macht gelan-gen konnte, wurde Bildung im Sinne eines Beförderns des „Vernunft-prinzips“ zum wesentlichen Motor seiner Emanzipationsbestrebun-gen. „Der Bildungsbegriff […] war die Fortsetzung des politischen Kampfes des Bürgertums mit pädagogischen Mitteln.“15 Eine dem an die Macht drängenden Bürgertum „vernünftig“ geltende Gesell-schaftsordnung war eine solche, in der die Arbeitsleistung, die der einzelne für das Gemeinwohl zu erbringen bereit ist, über die erreich-bare gesellschaftliche Position bestimmt und nicht die durch Geburt determinierte Standeszugehörigkeit. „Vernünftig“ wurde damit zum Synonym für Quantifizierbares, Meß- und Zählbares und eine Bil-dung, in deren Mittelpunkt ein derart „ökonomisiertes“ Vernunftprin-

12 Koneffke G./Heydorn H.J.: Pädagogik der Aufklärung. München 1973, S. 22. 13 Ebda., S. 25. 14 Villaume, Peter: Geschichte des Menschen. Leipzig 1788. Zit. nach: Heydorn,

H.J.: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Bildungstheoretische Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M. 1979.

15 Gamm, H.J.: Einführung in das Studium der Erziehungswissenschaft. München 1974, S. 149.

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zip steht, tendenziell zu einer Bildung, bei der es um die Vermittlung von Qualifikationen und Verhaltensweisen geht, die in Arbeitsprozes-sen „verwertbar“ sind. Das ist gemeint, wenn Herwig Blankertz fest-stellte, daß die Aufklärungspädagogik „eo ipso Berufserziehung“ war – nicht in bezug auf die Installierung von Berufsausbildung in unse-rem heutigen Verständnis, sondern im Hinblick darauf, „daß Fragen der ökonomischen Nützlichkeit, verbunden mit Fragen der staatsbür-gerlichen Verläßlichkeit, hier erstmals eine größere pädagogische Relevanz erhielten“16. Bildung mutierte zur Förderung der Bereit-schaft zur Arbeitsverausgabung.

Ganz in diesem Sinne postulierten die „Aufklärungspädagogen“ des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, daß menschliche Voll-kommenheit durch Erziehung zu industriöser Tüchtigkeit, zu Brauch-barkeit und Nützlichkeit zu erreichen sei. Die Integration des Men-schen unter die Bedingungen der frühen Industrie wurde von ihnen damit – ohne jede Relativierung im Hinblick auf Art und Ziel des Arbeitens in diesem System – zur Zielsetzung pädagogischen Bemü-hens hochstilisiert.17 Damit war endgültig der Grundstein für eine pädagogische Denktradition gesetzt, die mit der Vorstellung von der „Bildung durch Arbeit“ das griechische „scholé“ – das Wort für Muße (das, trotz einer zwischenzeitlichen Realität, die dem Begriff hohn spricht, in unserem Begriff „Schule“ fortlebt) – radikal in sein Gegen-teil wendete. In den populärpädagogischen Schriften der damaligen Zeit wurde das neue Erziehungsziel dann entsprechend deutlich unters Volk gebracht. So hieß es beispielsweise im „Erziehungsratgeber“ Robinson der Jüngere von Joachim Heinrich Campe: „Eltern, wenn ihr eure Kinder liebt, so gewöhnt sie ja frühzeitig zu einem frommen,

16 Gruber, E.: Bildung zur Brauchbarkeit? Berufliche Bildung zwischen Anpassung

und Emanzipation. München/Wien 1995, S. 122. 17 Vgl. insbesonders: Blankertz, H.: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Auf-

klärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, S. 56ff., sowie Gruber, a.a.O., S. 161ff.

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mäßigen, arbeitsamen Leben!“ und weiter: „Kinder […] hütet euch – o hütet euch – vor Müßiggang, aus welchem nichts als Böses kommt!“18; Jean-Jacques Rousseau formulierte in seinem Erziehungs-roman Emile: „Arm oder reich, mächtig oder schwach, jeder müßige Bürger ist ein Schmarotzer“; und die beiden ersten der 1849 formu-lierten „Zehn Gebote“ der „Arbeiterverbrüderung“ lauteten strikt: „Du sollst arbeiten“ und „Du sollst keinen Müßiggang neben dir dulden“19.

Bis etwa zur Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert war die Arbeit in die Position der zentralen gesellschaftlichen Be-zugsgröße aufgestiegen. „Fleiß war nun nicht mehr allein eine Tugend der kleinen Leute, auch die Oberschichten hatten, wenngleich auf andere Weise, zu arbeiten. Es begann jener merkwürdige Wettlauf um die Visitenkarte des Arbeitenden. Auch Tätigkeiten, die bisher kein Mensch als Arbeit angesehen hatte – künstlerische Produktion, wis-senschaftliche Forschung, Liebesgeschäfte, artistische und sportliche Leistungen –, rückten in den Kreis der »Arbeit« ein.“ Die geistige Arbeit – „verbunden mit der Übertragung des Arbeitsrhythmus und Arbeitsstils der industriellen Handarbeit auf die Tätigkeiten des Arz-tes, Pfarrers, höheren Beamten, Kaufmanns und selbstverständlich auch des Unternehmers“20 – war entdeckt. Wesentlichen Anteil an der gesellschaftlichen Verankerung des bürgerlichen „Emanzipationsbeg-riffs“ Arbeit hatte Bildung, die in diesem Sinn von Hans-Jochen Gamm auch als „Kampfparole“21 des an die Macht drängenden Bür-gertums bezeichnet wird .

18 Campe, J.H.: Robinson der Jüngere. Ein Lesebuch für Kinder, 1. und 2. Teil,

Dortmund 1978 (1860), S. 202. 19 Zit. nach Asholt, W./Fähnders, W. (Hg.): Arbeit und Müßiggang 1789-1914.

Dokumente und Analysen. Frankfurt a.M. 1991, S. 10. 20 Wilhelm, Th.: Das Arbeitsethos der Gegenwart im Lichte der deutschen Bil-

dungsüberlieferung. In: Straatmann/Bartel (Hg.): Berufspädagogik. Ansätze zu ihrer Grundlegung und Differenzierung. Köln 1975, S. 97.

21 Gamm 1974, a.a.O., S. 145.

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Parallel und in Abgrenzung zur „Theorie der Bildung durch Ar-beit“ entstand jedoch auch der konträre Ansatz – die Vorstellung, daß die (frühzeitige) Verzweckung des Menschen unter die Notwendig-keiten der Arbeit seiner Bildung hinderlich und seine Entfaltung nur „durch Muße in Freiheit“ möglich sei. Der „klassische Bildungsbeg-riff“ Wilhelm Humboldts ist wesentlicher Ausdruck und Grundlage dieser pädagogischen Denktradition. Durch ihn und andere Exponen-ten des Neuhumanismus wurde der in der Aufklärungspädagogik ver-tretene Anspruch einer Einheit von Arbeit und Bildung entschieden zurückgewiesen. In Orientierung am Ideal des klassisch-griechischen Menschentums, von dem postuliert wurde, daß es durch allseitige Entfaltung seiner Anlagen und Kräfte zu seiner vollkommenen Gestalt gelangt sei, wurde eine Erziehung zur menschlichen Vollkommenheit, die eben nur in Freiheit von den Ansprüchen der Welt, der Zwecke und der Nützlichkeit zu erreichen sei, proklamiert.

Kritische Auseinandersetzung, nicht bloße Anpassung an Welt und Gesellschaft, Emanzipation zu persönlicher Freiheit und Mündigkeit war das deklarierte Ziel der neuhumanistischen Pädagogik – mit äs-thetischer und literarischer (Allgemein-)Bildung sollte der Weg dort-hin geebnet werden. Allgemeinbildung wurde zur Bildung schlechthin erklärt und eine Orientierung an der Welt der Arbeit dementsprechend rigoros abgelehnt.22 Statt dessen wurde für jeden Menschen eine an-fängliche allgemeine Bildung gefordert, die Voraussetzung und

22 Nicht ohne Sarkasmus weist Dikau (unter Bezugnahme auf Blankertz) allerdings

darauf hin, daß die Ablehnung des Neuhumanismus gegenüber der aufklärungs-pädagogischen Zielsetzung, einer „Erziehung zu Brauchbarkeit und Nützlich-keit“, ihren pointiertesten Exponenten, Wilhelm von Humboldt, allerdings nicht hinderte im „Litauischen Schulplan“ zu formulieren, „daß »jede Beschäftigung« (also beispielsweise auch das Tischemachen) »den Menschen zu adeln« vermö-ge: »Nur auf die Art, wie sie betrieben wird, kommt es an«, und auf die Mög-lichkeit, damit humane Vollendung zu bewirken.“ Dickau, J.: Zum Verhältnis von Arbeit und Bildung in historischer Perspektive. Referat auf dem 9. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft am 27. März 1984 in Kiel, Vortragsmanuskript, S. 14.

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Grundlage sowohl für die spätere berufliche Ausbildung als auch für die verantwortliche Mitgestaltung an der Welt durch mündige Indivi-duen sein sollte. Mit dieser kritischen Qualität des Bildungsbegriffs einerseits, verbunden mit der Abschottung von Bildung gegenüber berufsrelevanten Inhalten andererseits, war der Weg geebnet für die begriffliche Trennung von Bildung und Ausbildung; Bildung verstan-den als Befähigung zu freiem Urteil und zu Kritik – Voraussetzung für Emanzipation und Personalisation, Ausbildung als Anpassung an vorgegebene Lebensverhältnisse – Grundlage für Entfremdung und Ausbeutung. Die Distanz des Neuhumanismus zu gesellschaftlichen Herrschaftsansprüchen und das idealistisch-humanistische Postulat der Abschirmung der Bildung von gesellschaftlicher Verzweckung hatte den der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden „Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft“23 freigelegt.

Noch heute wird das Bildungsideal des Neuhumanismus in der gymnasialen Allgemeinbildung tradiert, und die humanistischen Bil-dungsvorstellungen sind bis in die Gegenwart Orientierung und Aus-gangspunkt unzähliger pädagogisch-theoretischer Erörterungen. Den-noch kann festgestellt werden, daß nicht die Idee von der Entfaltung des Menschen durch die zweckfreie Beschäftigung mit dem Wahren, Guten und Schönen die gesellschaftliche Realität der Bevölkerungs-mehrheit in den letzten beiden Jahrhunderten geprägt hat, sondern die Vorstellung, daß es die Arbeit ist, die den Menschen zum Menschen macht und daß demgemäß auch die Zielsetzungen für Erziehung und Bildung aus den gesellschaftlichen Arbeitsanforderungen herzuleiten seien.

Wie schon skizziert, war die Überhöhung der Arbeit zum Garanten für Fortschritt, Vernunft und Aufklärung, für gesellschaftliches und individuelles Glück24 die grundlegende ideologische Basis der sich im achtzehnten Jahrhundert herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft

23 Heydorn, a.a.O. 24 Vgl. Asholt/Fähnders, a.a.O., S. 9f.

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und ein wesentlicher Aspekt ihrer Abgrenzung vom „Ancien règime“. Müßiggang wurde als Lebensform der feudalen Klasse gebrandmarkt, Arbeit zu „des Bürgers Zierde“25 hochgelobt und Fleiß und Leistung zu den Grundwerten des durch Arbeitszucht konstituierten „homo faber“ idealisiert. Zum gesellschaftlichen Leitbild wurde der arbeit-same Mensch, der danach trachtet, aus innerem Antrieb jede Gele-genheit zur unnützen Muße zu vermeiden. Allerdings wurde im Ge-folge des wirtschaftlichen Erstarkens des Bürgertums im neunzehnten Jahrhundert die Idealisierung und die Orientierung an der Arbeit bald wieder relativiert. Die Muße, vordem Privileg des bekämpften Adels, wurde als das Statussymbol der politisch Mächtigen nun auch vom Bürgertum entdeckt und – weitgehend jedoch reduziert zur prestige-trächtigen Dekoration – für sich beansprucht. Aufbauend auf dem Gedankengut des Neuhumanismus zeigten sich deutliche Tendenzen einer Renaissance der positiven Bewertung von Muße und Müßiggang – Texte von Thorsten Veblen, Heinrich Mann oder „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von Johann Wolfgang Goethe geben dafür Beispiele ab. „Mußeerziehung wurde zum Privileg der bürgerlichen Eliten im aka-demischen Bildungswesen, die Gestaltung von »Muße« in »Freiheit« wurde Herrschaftswissen, Herrschaftsfähigkeit und Herrschaftsgrund-lage“26.

Die bürgerliche Gesellschaft brachte, nachdem sie unter emanzipa-torischen Losungen wie „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ er-kämpft worden war und das „unvernünftig-ungerechte“ (selbstver-ständlich nur unter „aufgeklärt-bürgerlichen“ Bewertungsmaßstäben!) Feudalsystem beseitigt war, aus sich sehr rasch eine neue privilegierte Klasse hervor. Und genauso wie unter dem Begriff „Aufklärung“ das Gedankengut zusammengefaßt werden kann, das die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft legitimiert hatte, gab die neuhumanisti-sche Erweiterung des Aufklärungsdenkens jene Ideologie ab, mit der

25 Friedrich Schiller: „Das Lied von der Glocke“ 26 Nahrstedt, a.a.O., S. 115.

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die in ihrer Position nun gefestigte bürgerliche Klasse die Privilegien ihrer Macht sicherte. Dem emanzipatorischen Instrument für die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft, der „Freisetzung der Vernunft durch Bildung“ – was ja nichts anderes bedeutet als die Be-fähigung zum Hinausdenken über die Fesseln des Status quo der durch die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen eingeforderten Werte, Normen und Verhaltensweisen –, war genau durch die Befrei-ung von utilitaristischer Verzweckung und der daraus folgenden Re-duzierung von Bildung zu einer „wertfreien“ Allgemeinbildung die politische Sprengkraft genommen worden. Bildung – Waffe im Kampf gegen feudalistisches Unrecht und Leitstern im Streben um eine Gesellschaft von Freien und Gleichen – war mutiert zur Legiti-mation bürgerlicher Vormachtstellung.

Der ehemals revolutionäre Charakter von Bildung war damit in Ketten gelegt – entstanden als Instrument des Widerstands gegen gesellschaftliche Unvernunft, war Bildung nun selbst zur systemstabi-

lisierenden Kraft geworden. Die von allen Bezügen auf die realen politisch-gesellschaftlichen, ökonomischen und technologischen Ver-hältnisse freigehaltene „Allgemein-Bildung“ war zur Agentur einer zahnlosen Kritikfähigkeit verkommen; „die Auseinandersetzung mit der Welt [nahm] nunmehr den Charakter von ritterlichen Kampfspie-len an, von »Turnieren des Geistes« allerdings“27. Während die so-zioökonomischen Strukturen der Gesellschaft – und damit ganz spe-ziell auch die Organisationsform von Arbeit sowie Fragen nach der Zielsetzung und den Nutznießern des Arbeitens in der heranwachsen-den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – der „vernünftigen“ Reflexion durch Bildung entzogen wurden und Bildung in den wert-freien Raum der Beschäftigung mit dem „Wahren, Guten und Schö-nen“ entrückt wurde, konnten die gegebenen Strukturen der Arbeits-welt um so sicherer als nicht hinterfragbarer Sachzwang für die Aus-

27 Stütz, G.: Berufspädagogik unter ideologiekritischem Aspekt, Frankfurt a.M.

1970, S. 26.

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bildung gelten. Die politische Kritik von gesellschaftsstützender Ideo-logie und technologischer Entwicklung – den wesentlichen Instru-menten gesellschaftlicher Herrschaft, zu der Bildung auch in der bür-gerlichen Gesellschaft führen müßte, sofern ihr Vernunftbegriff an einer Bedürfnistheorie des Menschen angekoppelt und nicht auf öko-nomische Verwertbarkeit verkürzt ist – wurde damit sowohl für (All-gemein-)Bildung als auch für die (Berufs-)Ausbildung exekutiert.

Diese Entwicklung stellte den Hintergrund dar für die kritische Bewertung des Neuhumanismus durch die „Berufsbildungstheoreti-ker“ des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.28 Nur zu deutlich erkenn-bar war die herrschaftsstabilisierende Doppelzüngigkeit der bürger-lich-humanistischen Anthropologie, die zwar auf Muße zielte, dabei jedoch weitestgehend die Tatsache ignorierte, daß diese nur einer privilegierten Minderheit – genau auf dem von Arbeit gekrümmten Rücken der Bevölkerungsmehrheit – möglich war. Der Bildungsan-spruch des Neuhumanismus war zur bürgerlichen Ideologie, im Sinne einer bloßen gesellschaftlichen Rechtfertigungslehre einer Kaste von „Gebildeten“, verkommen, die sich ihre überhebliche Distanz gegen-über der Arbeitswelt nur deshalb leisten konnte, weil ihre gesell-schaftlich privilegierte Stellung durch die „Arbeitszucht“ der Mehr-heit ökonomisch immer wieder aufs neue abgesichert wurde. Deshalb kann, „wo Humboldt mit Bildung die höchstmögliche Humanität je-

des einzelnen Menschen gemeint hatte (Königsberger und Littaui-scher Schulplan 1809: »Das neue Schulwesen bekümmert sich daher um keine Kaste« und zielt »ziemliche Gleichheit« an), Nietzsche [ein wenig mehr als ein Jahrhundert später] nur noch ihre Entartung im »Bildungsphilister« seiner Zeit sehen, dem er die »übergehängte mo-

28 Insbesondere sind hier zu nennen G. Kerschensteiner, E. Spranger und A. Fi-

scher. Nur Kerschensteiner nimmt allerdings die „radikale“ Position ein, daß be-rufliche Arbeit „Voraussetzung und Einstieg“ für Menschenbildung sei, Spranger sieht in der Berufsbildung eine notwendige „Durchgangsstufe“, und Fischer strebt eine „Synthese von Fachbildung und Allgemeinbildung“ an. Vgl. Dickau, a.a.O., S. 35.

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derne Bildungshaut abziehen« möchte, da »die allergemeinste Bil-dung eben die Barbarei« sei.“29

Genau die Vertreter der Berufsbildungstheorie waren es allerdings, die den Stachel, der auch der neuhumanistischen Variante des Bil-dungsbegriff im Kern noch immer anhaftete, dann endgültig ent-schärften. Indem sie zwar das humanistische Postulat menschlicher Selbstverwirklichung aufnahmen, es allerdings reduziert um die kriti-sche Distanz des ursprünglichen neuhumanistischen Bildungsansatzes gegenüber allem Vorfindbaren verwendeten, verfestigten sie das in der Zwischenzeit um sich greifende integrative Bildungsverständnis. Zwar vollzogen sie eine pädagogische Rehabilitation der Berufsaus-bildung und stilisierten diese zur „Pforte der Menschenbildung“ (Ker-schensteiner) hoch, machten jedoch genau damit die Integration in die bürgerlich-kapitalistisch strukturierte Arbeitswelt zum Ziel von Bil-dung und entzogen diese damit zugleich endgültig der kritischen Re-flexion durch Bildung. Nicht um Bildung aus Anlaß des Berufs – also um die Freisetzung der Vernunft zum Zwecke des kritischen Durch-dringens der Bedingungen des Arbeitens im (Früh-)Kapitalismus – ging es ihnen, sondern um Bildung durch den Beruf. Dem Erwerb berufsrelevanter Fähigkeiten und Kenntnisse wurde per se bildender Charakter zugesprochen. Wohl selbst die „bloß“ idealistisch ausge-richtete humanistische Bildung hätte unter den frühindustriellen Be-dingungen des neunzehnten Jahrhunderts noch einiges an Sprengkraft besessen; eine „Bildung durch den Beruf“ dagegen – die Anbindung der Bildung an den durch Leistungs- und Konkurrenzprinzip untrenn-bar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbundenen Arbeitsbegriff also – mußte zwangsläufig integrierend wirken.

Wie schon in der Aufklärungspädagogik ging es auch den Vertre-tern der Berufsbildungstheorie gar nicht so sehr um den Inhalt der

29 Zit. nach Wehnes, Franz-Josef: Theorien der Bildung – Bildung als historisches

und aktuelles Problem. In: Roth (Hg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. München 1991, S. 263/264.

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Arbeit, für die „gebildet“ wird, sondern um den Arbeitsakt, um die Verinnerlichung der Selbstverständlichkeit regelmäßigen Arbeitens unabhängig von konkret-sinnlichen Bedürfnissen, um Arbeitsfleiß und gehorsames Verhalten. Dementsprechend orientiert sich die von ihnen propagierte Berufs-„Bildung“ auch nicht an den realen berufli-chen und arbeitsorganisatorischen Voraussetzungen ihrer Zeit, son-dern an einer organisatorischen Strukturierung des Arbeitslebens im Sinne einer in der Zwischenzeit weitgehend anachronistisch geworde-nen Berufsordnung, die an handwerklich-kleinbetrieblichen Leitbil-dern der vorindustriellen Ständeordnung ausgerichtet ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund war das (berufs-)schulische Ausbildungssystem, das ja auf dem dergestalt orientierten Berufsbildungsbegriff aufbaut und ein entsprechend statisch-reaktionäres Gesellschaftsverständnis transportiert, auch immer wieder als besonders ausgeprägtes rück-schrittliches Relikt obrigkeitsstaatlichen Denkens kritisiert worden.30

War die Arbeit im Zeitalter der Reformation aus der „Unschuld“ des menschlichen Unterworfenseins unter die Notwendigkeiten der

Natur befreit und zum Beruf als offizium, einer von Gott gestellten

Aufgabe, umgewandelt worden, wurde sie von den Vertretern der Berufsbildungstheorie am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts säku-larisiert und zur staatsbürgerlichen Pflicht umgemünzt. Nun galt es nicht mehr zum Wohlgefallen Gottes zu arbeiten, sondern zum Nut-zen des vorgeblichen „Gemeinwohls“. Die Leistung der Berufsbil-dungstheoretiker bestand darin, die pädagogische Verfemung der Berufsausbildung und den Odem des Utilitarismus, der ihr seit der Aufklärung anhaftete31, aufzulösen und Beruf und Arbeit in einer neuen Form zu „heiligen“. Die nunmehrige Botschaft lautete: Indem

30 Vgl. insbesonders: Blankertz, H.: Der Begriff des Berufs in unserer Zeit. In:

Arbeitslehre in der Hauptschule; hg. v. H. Blankertz. Essen 1967, S 75 ff., sowie Stütz, a.a.O.

31 Blankertz, H.: Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule und Berufsbildung im 19. Jahrhundert, Hannover 1969, S. 139.

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der einzelne durch seinen unermüdlichen Arbeitseinsatz der Gemein-schaft dient, gewinnt er sich selbst als Mensch im emphatischen Sinn, nämlich als Persönlichkeit.32 Genau dieser Versuch, den klassischen Persönlichkeitsbegriff in die Berufsbildungstheorie hinüberzuretten – also die Entfaltung der individuell-menschlichen Möglichkeiten als Bildungsziel aufrechtzuerhalten –, verunmöglichte allerdings die Aus-richtung des Berufs-Bildungsbegriffes an den gegebenen Arbeitsbe-dingungen der industriellen Arbeitswelt und zwang zu einer Orientie-rung an der (angeblich) nicht entfremdeten Arbeitssituation des vorin-dustriellen Handwerkers. Im Sinne einer unkritischen Idealisierung überholter Arbeits- und Lebensformen postulierten die Vertreter der Berufsbildungstheorie, daß „die unmittelbare Beziehung des Hand-werkers zu dem von ihm hergestellten Gegenstand, seinem Werk, und das patriarchalische Verhältnis des Meisters zu seinem Lehrling […] die Entfaltung individueller Möglichkeiten, die Bildung der Per-son“33, zulassen.

Damit war Berufsausbildung zwar einerseits in einem idealisti-schen Sinn als „Bildung“ rehabilitiert; Bildung aber andererseits end-gültig ihrer gesellschaftskritischen Potenz beraubt und – in utilitaristi-scher Anbindung an den Status quo – vollständig zur Agentur des Arbeitsethos, der zentralen Größe der bürgerlich-kapitalistischen Ge-sellschaft, reduziert. In seiner berühmten Preisschrift für die Königli-che Akademie zu Erfurt hat der Gründungsvater der Berufsbildungs-theorie, Georg Kerschensteiner, die von ihm propagierte berufsbezo-gene „Fortbildungsschule“ (die spätere Berufsschule) auch dement-sprechend deutlich mit den Aspekten des bürgerlichen Arbeitsethos: „Fleiß, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Beharrlichkeit, Aufmerksamkeit, Ehrlichkeit, Geduld, Selbstbeherrschung, Hingabe an ein festes, außer

32 Stütz, a.a.O., S. 31. 33 Ebda., S. 32.

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uns liegendes Ziel“34 verknüpft – Zielsetzungen, die er als die „wich-tigsten staatsbürgerlichen Tugenden“ (im bürgerlichen Staat!) charak-terisierte. Die im Frühjahr 1890 von der Akademie gestellte Preisfrage hatte gelautet: „Wie ist unsere männliche Jugend von der Entlassung aus der Volksschule bis zum Eintritt in den Heeresdienst am zweck-

mäßigsten für die staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen?“35 Und Kerschensteiner hat den ausgeschriebenen Preis wohl dadurch ge-wonnen, daß es ihm gelungen war, die utilitäre Verzweckung des einzelnen im Sinne der bürgerlichen Leistungsideologie zum Königs-weg der Persönlichkeitsbildung umzudeuten. Einerseits hatte er in der systematischen Berufsausbildung den „zweckmäßigsten“ Weg zur Herstellung von Massenloyalität gegenüber der bürgerlichen Gesell-schaft im Hinblick auf deren grundlegendes Ideologieelement, der

Selbstzwecksetzung der menschlichen Arbeit, erkannt. Zugleich war es ihm aber gelungen, die Unterordnung unter das bürgerliche Arbeits-ethos als den Weg zum entfalteten Menschentum hochzustilisieren, zu einer, wie er sich ausdrückt, „ethischen Verschmelzung des Ego-zentrismus mit dem Altruismus auf Grund der Veredlung der beiden Grundtriebe der Seele“36.

Dabei ging Kerschensteiner vom Gedanken aus, daß bei der „Aus-

beutung der Arbeit als Erziehungsfaktor“ an den privaten Interessen der Heranwachsenden anzuknüpfen sei, und erkannte, daß deren Inte-ressen „gar nicht in der Richtung der allgemeinen Bildung liegen“ (einer im „wertfreien Raum“ schwebenden Allgemeinbildung, deren inhaltliche und strukturelle Ausrichtung ja tatsächlich total an der Lebensrealität der heranwachsenden Arbeiter-Jugendlichen vorbei-ging), sondern praktisch-beruflicher Natur seien, motiviert durch die ökonomisch-produktive Arbeit, die sie zu leisten hätten. Diese priva-

34 Kerschensteiner, G.: Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend. Erfurt

193110, S. 36. 35 Hervorhebung E.R. 36 Ebda., S. 34.

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ten Interessen gelte es auszunützen, um das vorgebliche „Gemein-wohl“ durch „die steigende Einsicht in den Wert guter Arbeit, die Stärkung des Bewußtseins der Arbeitspflicht und vor allem die Zu-

rückdämmung des Strebens nach übertriebenem arbeitsfeindlichem

Genuß durch die erwachende Arbeitsfreudigkeit“37 zu fördern. Die Notwendigkeit einer Berufsausbildung für die zum Überleben auf den „Verkauf ihrer Arbeitskraft“ Angewiesenen wurde damit quasi zur „List“, um deren eventuelle Relativierung des Werts einer Arbeit jen-seits konkret-sinnlicher Bedürfnisse hintanzuhalten und sie dazu zu bringen, ihre Arbeitsverausgabung als Dienst an der Gemeinschaft zu empfinden.

Genau in dieser Anbindung der beruflichen Erziehung am „Primat der Gemeinnützigkeit“ liegt – wie schon Blankertz aufgezeigt hat – der utilitaristische und somit der Entfaltung der Persönlichkeit zuwi-derlaufende Charakter der Berufsbildungstheorie. „Die schicksalhafte Verknechtung des Menschen in den Forderungen der täglichen Arbeit wird begründet mit der […] übergreifenden Interessenverknüpfung“. Nachdem sich aber „Wohl und Wehe des einzelnen Menschen in un-mittelbarer Weise als abhängig vom Gemeinwohl manifestiert, bedarf es in der utilitaristischen Berufserziehung nicht einmal der ausdrück-lichen Vergegenwärtigung dieser Beziehung. […] Die berufliche Leistung, belohnt nach dem Grad ihrer Gemeinnützigkeit, ist das Inte-resse des einzelnen selbst, so daß das Gemeinwohl im Appell an den Egoismus gemeint sein darf.“ Eine solche Berufserziehung nimmt sich – so führt Blankertz weiter aus –, „indem sie die Notwendigkeit der beruflichen Leistungsfähigkeit des einzelnen um des Gemeinwohl willens befördert […] das Recht, den Blick des Zöglings streng auf das im jeweiligen Fall »Nützliche« zu beschränken, und sei es um den Preis möglicher menschlicher Entwicklung und Vervollkommnung. Das Opfer, welches der Mensch der ihn bedingenden Gemeinschaft

37 Ebda., S. 39 und 40. Hervorhebung E.R.

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unter Umständen zu bringen hat, wird […] überlagert durch die im Vordergrund wirkende These, eben diese Erziehung sei für den Zög-ling selbst so ungemein »nützlich«. Damit aber, daß die Erziehung hier in stellvertretender Verantwortung für den Zögling das Opfer der Person vorwegnimmt, entschwindet die wie auch immer behauptete Begründung. Denn nicht die Person opfert in der Einsicht ihrer Ver-pflichtung, sondern die Personwerdung wird auf der Schlachtbank des gemeinsamen Wohls geopfert.“38

Die in der Berufsbildungstheorie vorgenommene Adaptierung des liberalökonomischen Glaubensbekenntnisses von Adam Smith (das ja auch die Grundlage der Marktwirtschaft, die auf dem freien Spiel der Kräfte aufgebaute liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung, dar-stellt), daß das Gemeinwohl besser aufgehoben ist, wenn jeder einzel-ne seinem eigenen Vorteil nachgeht, als wenn das Gemeinwohl selbst zur Maxime des Handelns erhoben wird, bedeutete somit den Ab-schied vom Bildungsziel der mündigen Person. Wenn das Verfolgen egoistischer Einzelinteressen zur idealen Basis eines wie auch immer definierten „Gemeinwohls“ erklärt wird, mutiert eine am Gemeinwohl orientierte Bildung – trotz aller eventuellen gegenteiligen Beteuerun-gen – zur Beförderung des Egoismus. Der „kategorische Imperativ“ ist damit außer Kraft gesetzt und Bildung auf ihren qualifikatorischen Aspekt reduziert; sie wird zum Hilfsmittel dafür, die Chancen im allumfassenden Konkurrenzkampf um günstige gesellschaftliche Posi-tionen (und um Arbeitsplätze) zu verbessern. Damit ist der Grundstein gelegt für eine Sichtweise von (beruflicher) Bildung, in deren Fokus jenes Individuum steht, das sich mittels permanenter, marktgerechter (Weiter-) Qualifizierung selbst um seine erfolgreiche Vermarktung im Prozeß der Arbeitskraftvernutzung bemüht, ohne jemals die Frage nach dem Sinn eines Arbeits- und Wirtschaftssystems zu stellen, wel-ches ihm solches abverlangt. Der nächste Schritt war nur noch eine

38 Blankertz, H.: Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Untersu-

chungen. Weinheim und München 1985, S. 114/115.

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Frage der Zeit: das Ident-Werden dessen, was weiterhin als Bildung

etikettiert wird, und der Arbeit; bald schon sollte die zur Qualifikation degenerierte Bildung nicht mehr bloß Vorbereitung für die lebenslan-ge Arbeitsverausgabung jenseits konkret-sinnlicher Bedürfnisse sein, sondern selbst den Stellenwert sinnloser lebenslanger Arbeit bekom-men.

Doch noch war es nicht soweit, noch galt es jenen seit Beginn der Industrialisierung in Gang befindlichen, gewaltigen Prozeß der sozia-len Disziplinierung zu Ende zu bringen und aus dem „naturwüchsigen Knecht vom Lande“ und den „durch das Handwerk bereits vordres-sierten Gesellen“39 den „neuen Menschen“ zu formen, der den Ar-beitsanforderungen des Industriekapitalismus entsprach. Es galt bei den Angehörigen des parallel zur Herausbildung des Kapitalismus entstandenen Proletariats durch „Arbeitserziehung“ in den Volksschu-len, den Industrieschulen und den nun neu hinzugekommenen „Be-rufsschulen“ die Ideologie zu verankern, daß die ihnen abverlangte Arbeitsleistung heilige Pflicht an der Gemeinschaft ist, daß also die Bereitschaft zur Arbeitsverausgabung schon einen Wert an sich ver-körpert, unabhängig vom Grad der Entfremdung, unter dem die Arbeit zu leisten ist. Neben dem Denkkorsett eines von jeder Frage nach Sinn und Nutznießern befreiten Arbeitsethos mußte dazu noch eine weitere Ideologie in den Köpfen der Benachteiligten verankert wer-den: nämlich jene, daß für höhere berufliche Positionen eine geringere und vor allem auch spätere Koppelung zwischen Bildung und Arbeit notwendig ist. Das zweigeteilte Bildungswesen, in dem sich die An-nahme widerspiegelt, daß – je nach angeblicher Begabung – der Weg zu der als Bildungsmythos aufrechterhaltenen „entfalteten Persönlich-keit“ sowohl über berufliche Verzweckung als auch über eine wert-freie Beschäftigung mit dem „Wahren, Guten und Schönen“ möglich sei, mußte zur allgemein akzeptierten Ideologie werden. Nur so konn-

39 Nahrstedt, a.a.O., S. 115.

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te Allgemeinbildung zur beruflichen Bildung für die Herrschenden und Berufsbildung zur allgemeinen Bildung für die Beherrschten (F. Engels) werden.

Im Sinne einer Stabilisierung der bürgerlich-kapitalistischen Ge-sellschaft war es am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts vor allen Dingen aber auch noch notwendig, gegen das Infragestellen der struk-turellen Rahmenbedingungen des Arbeitens anzukämpfen. Kein ge-sellschaftliches System kann ja auf Dauer nur mit Gewalt aufrechter-halten werden, für eine bleibende Verankerung ist die Loyalität von zumindest der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder notwendig. Dem-entsprechend wichtig war es, die am Marxistischen Gedankengut orientierte Kritik der frühen Arbeiterbewegung an den Entfremdungs-bedingungen der Arbeit im Kapitalismus zu brechen. Zwar hatte ja auch Marx die Arbeit zum entscheidenden Medium humaner Selbst-verwirklichung erklärt, aber anders als in der Berufsbildungstheorie nicht im Rückgriff auf eine bestimmte historische Erscheinungsform, sondern im Hinblick auf ihren politisch-ökonomischen Bezug. Er hat den Ansatz Hegels, der den Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit definiert hatte, aufgegriffen und ihn um eine politische Dimen-sion erweitert.

Das Postulat von Hegel hatte gelautet, daß der Mensch sich nur dadurch, daß er arbeitet, also die Natur gestaltet und sie so in mensch-liche Kultur verwandelt, über die Natur erhebt; daß er sich dadurch seiner selbst, als Nicht-Natur, als Geistwesen, bewußt werden kann, indem er sich in seinem geschaffenen Werk selbst erkennen und damit den grundsätzlichen Aspekt der Menschlichkeit, die Möglichkeit, Selbst-Bewußtsein zu entwickeln, entfalten kann.40 Marx hat diesen Gedankengang mit der Kritik an den realen Strukturbedingungen des Arbeitens im Kapitalismus verknüpft. Zwar konstituiert sich für ihn der Mensch ebenfalls über Arbeit, er definiert sie als „eine von allen

40 Vgl.: Wehnes, a.a.O., S. 262.

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Gesellschaftsbedingungen unabhängige Existenzbedingung des Men-schen“41; unter den Bedingungen entfremdeter Lohnarbeit im Kapita-lismus kann sie jedoch, so sein Postulat, nur im Kontext eines politi-schen Kampfes um die Befreiung der Arbeiterklasse Ansatzpunkt und Möglichkeit von Menschenbildung sein. Berufsbildung kann – als Konsequenz dieses dialektischen Ansatzes für den Arbeitsbegriff – damit nur als politische Bildung gefaßt werden, die primär auf Aufhe-bung der entfremdenden Arbeitsbedingungen ausgerichtet ist. Arbeit wird begriffen als Anlaß für eine Bildung, die auf politisches Bewußt-sein zielt.

Marx stellt sich damit gewissermaßen in die Tradition der Aufklä-rung, er gibt dem in die Richtung der unverbindlichen Zielsetzung einer „entfalteten Persönlichkeit“ entrückten Bildungsbegriff wieder seinen gesellschaftlichen Bezug zurück. Bildung soll Motor sein für gesellschaftliche Entwicklung, ihr kritisches Potential soll sie aus der vernünftigen Reflexion der vorfindbaren (Arbeits-)Bedingungen schöpfen. Eine so verstandene (Berufs-)Bildung hat allerdings mit der Ideologie des wertfreien Arbeitsbegriffs gebrochen, bestreitet, daß Arbeiten, unabhängig von den politisch-ökonomischen Bedingungen, unter denen die Arbeitsleistung zu erbringen ist, das Menschliche am Menschen zur Entfaltung bringt, und stellt damit die ideologische Grundlage der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft radikal in Fra-ge. Für die wissenschaftliche Pädagogik, die – wie skizziert – gegen-über dieser Gesellschaft in der Zwischenzeit ja einen immanent sys-temstabilisierenden Charakter angenommen hatte, konnte eine solche Wendung des Bildungsbegriffs (noch dazu aus dem „außerpädagogi-schen“ Raum kommend) nur außerhalb ihres Horizonts bleiben. Die pädagogische Dimension der Marxschen Theorie wurde dementspre-chend auch jahrzehntelang völlig ignoriert und erst in den sechziger

41 Marx, K.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Marx/Engels: Gesam-

melte Werke, Bd. 23. Berlin (Ost) 198817, S. 57.

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Jahren dieses Jahrhunderts einer Reflexion durch die wissenschaftli-che Pädagogik unterzogen.42

Zwar läßt sich für die Pädagogik insgesamt somit nur feststellen, daß die pädagogische Relevanz der Theorie der Arbeiterbewegung lange Zeit nicht erkannt wurde, für die Anhänger der „Theorie der Bildung durch den Beruf“ muß allerdings durchaus mehr als eine bloße „Beschäftigungsabstinenz“ gegenüber dem sozialistischen The-oriegebäude postuliert werden. Die Vorstellung, daß berufliche Aus-bildung ein gangbarer – beziehungsweise sogar der optimale – Weg zur Bildung ist, steht in einem spezifischen gesellschaftlichen Kon-text, sie wurde „im historischen Gleichschritt mit gesellschaftlichen Interessensgegensätzen“43 entwickelt und kann sicher nicht ohne Be-rücksichtigung ihrer politischen Funktion gesehen werden. Mit der Vorstellung vom „Beruf als Ordnungsmacht“ spielten die Berufspä-dagogen der ersten Stunde – ob bewußt oder unbewußt – jedenfalls massiv den Unternehmerinteressen in die Hände. Unübersehbar ist, daß die Vermittlung fachlicher Qualifikationen immer nur eine Seite der beruflichen Bildung war, von Anfang an intendierte sie auch poli-

tische Erziehung, jedoch nicht im Marxschen aufklärerischen Sinne, sondern eine solche, „mit der Arbeitende dazu gebracht werden soll-ten, allgemeine Ordnungsgebote zu respektieren und im Betrieb mög-lichst selbstlos zu dienen.“44

Dementsprechend finden sich in der schon erwähnten Preisschrift von Kerschensteiner nicht zufällig neben Textstellen, wo er die „Be-deutung des Werts wahrhafter Arbeit für die staatsbürgerliche Erzie-hung der großen Massen des Volkes herausstreicht, auch mehrere

42 Vgl. dazu insbesondere: Groth, G.: Die pädagogische Dimension im Werk von

Karl Marx. Neuwied/Darmstadt 1978, S. 5ff. 43 Seubert, R: Berufserziehung und Politik, Ein Beitrag zur Geschichte eines aktu-

ellen Konflikts. In: Lisop/Markert/Seubert: Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Eine problemorientierte Einführung. Kronberg/Ts 1976, S. 69.

44 Ebda., S. 65.

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Passagen, in denen er gegen die „Irrlehren der Sozialdemokratie“45 wettert und eine in seinem Sinne verstandene Berufsbildung als einen Weg propagiert, um die Arbeiterjugend von diesen „Irrlehren“ fern-zuhalten. Er beweist mit solchen Aussagen seine Linientreue gegen-über dem zu diesem Zeitpunkt noch vollständig von bürgerlichen Kräften gesteuerten Staat. Nur allzu deutlich hatte ja auch hinter der von der königlichen Akademie gestellten Aufgabe die Frage durchge-schimmert, wie Schule und Unterricht in den Kampf gegen die Sozi-aldemokratie einzubinden seien. Etwa im Sinn des 1889 durch Kaiser Wilhelm II. in Deutschland herausgegebenen Erlasses, wonach die Schule bestrebt zu sein habe, „schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokraten nicht nur den gött-lichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, son-dern in Wirklichkeit unausführbar sind“.46

Es ist aber wahrscheinlich auch nicht nur mit opportunistischen Gründen erklärbar, daß Kerschensteiner diese Passagen bei den späte-ren Neuauflagen seiner Schrift nach 1909 wieder ausgemerzt hat. Die polemische Abgrenzung war offenbar kaum mehr notwendig, die Arbeiterbewegung hatte schon begonnen, die Ideologie der von poli-tisch-ökonomischen Bedingungen losgelösten Idealisierung der Arbeit zu integrieren. Das geknechtete Proletariat war daran gegangen, seine Not zu einer Tugend umzufunktionieren und damit der bürgerlichen Arbeitsideologie zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen. Sie hat – in einer beispiellosen Überhöhung der Ideologie ihrer Unterdrücker – den geknechteten und unterdrückten Arbeiter zum Heroen der Ge-schichte und die entfremdete Arbeit zum Hohelied des Industriezeital-ters umgedeutet. Die geradezu kultische Überhöhung der Arbeit zeigt sich wohl am deutlichsten an den Plakaten und Motivbildern und in den Schriften der damaligen Gewerkschaftsbewegung und der sozial-

45 Blankertz 1969, a.a.O., S. 208. 46 Zit. nach Lisop I.: Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik in Wissenschaft und

Praxis. In: Lisop/Markert/Seubert. a.a.O., S. 14.

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demokratischen Parteien, die eine geradezu frappante Ähnlichkeit mit Heiligenbildern aufweisen. Sie können nur als Kultbilder zur „Vereh-rung“ der Arbeit interpretiert werden und sollten offensichtlich dazu dienen, tief verwurzelte Erlösungswünsche der Menschen auf die Arbeit zu projizieren. Ganz in diesem Sinn konnte es schon vorkom-men, daß in einschlägigen Texten die „Arbeit“ tatsächlich zum „Hei-land der neuen Zeit“ hochstilisiert wurde und erwartet wurde, daß sie „vollbringen kann, was kein Erlöser vollbracht hat“47.

Wieweit die Mystifikation der Arbeit – trotz der Kritik an den Be-dingungen der „Klassengesellschaft, in der den Arbeitern das Produkt ihrer Arbeitsverausgabung durch die Besitzer der Produktionsmittel vorenthalten wird“ – in den Schriften der damaligen Arbeiterbewe-gung ging, soll ein Textbeispiel aus einem diesbezüglichen, 1905 erschienenen Buch zeigen. Das Werk, das von einer der großen und bedeutenden sozialdemokratischen Teilorganisationen Deutschlands, dem „Zentralverband der Maurer Deutschlands“, herausgegeben wur-de, sollte, wie es im Vorwort heißt, „die Belehrung und Aufklärung der Verbandsmitglieder“ fördern und gegen eine „den Geist verder-benden, das selbständige, freie Denken verhindernde Dressur im Inte-resse der privilegierten Selbstsucht“ zu Felde ziehen. Unter der Über-schrift „Arbeit und Ethik“ wird ausgeführt: „Die Arbeit adelt den Menschen, wie sie die unversiegbare Quelle des Menschtums, der Humanität im besten und reinsten Sinne des Wortes überhaupt ist. Der Menschheit Würde und Menschheit Los ist bei ihr, offenbart und ges-taltet sich nur durch sie. Schon auf den untersten primitivsten Stufen tritt ihr veredelnder Einfluß hervor, sie entwickelt alle natürlichen Anlagen des Menschen, stählt und diszipliniert seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten, weist dem Denken bestimmte Richtungen an und weckt und fördert bestimmte Begriffe, die man als »sittliche« und

47 Dietzgen, J.: Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit (1869) Zit. nach

Klopfleisch, R.: Die Pflicht zur Faulheit. Düsseldorf/Wien/New York 1991, S. 29.

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»ethische« bezeichnet und als Norm des menschlichen Handelns er-klärt.“ Und auf dieser euphorische Bewertung der Arbeit aufbauend wird gefordert: „Es muß mit den wirtschaftlichen Einrichtungen dem Selbstzweck der Arbeit, nämlich der Erhaltung, Veredelung und Ver-schönerung des menschlichen Daseins, Genüge geleistet werden; es muß praktische Geltung haben die unanfechtbare Wahrheit, daß Ar-beit des Menschen höchste und heiligste Pflicht, eine vernünftiger-weise und gerechtermaßen unabweisbare Selbst- und Nächstenpflicht ist […]. Die Arbeit soll geachtet sein, als Quelle aller Kultur, als die Mutter der Humanität, als die Seele des Staats- und Gesellschaftskör-pers, als Inbegriff der natürlichen Bestimmung des Menschen und als schönster Ausdruck seiner Würde.“48

Die Arbeiterbewegung übernahm zunehmend die von Max Weber als begründende Ideologie der bürgerlichen Moderne charakterisierte „Auffassung der Arbeit als Selbstzweck, als »Beruf«, wie sie der Ka-pitalismus fordert“.49 Die von Marx am Begriff der Entfremdung ge-brochene Bewertung der Arbeit rückte zunehmend in den Hinter-grund; der befreiende Wert der Arbeit „aus sich selbst“ erhielt dage-gen immer mehr an Bedeutung. Im Gothaer Programm der zur „So-zialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ verschmolzenen großen deutschen politischen Arbeitervereinigungen wurde schon 1875 die Arbeit euphorisch nicht nur zur „Quelle allen Reichtums“, sondern auch gleich zur „Quelle aller Kultur“ erklärt – eine Formulierung, die sich ja auch im oben zitierten Text wiederfindet. Und wenn sich auch Marx selbst in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ von den an die Arbeit geknüpften Heilserwartungen deutlich absetzt, so geht die Vor-stellung von der „Erlösung der Menschheit durch Arbeit“ doch im

48 Frohme. K.: Arbeit und Kultur. Eine Kombination naturwissenschaftlicher,

kulturgeschichtlicher, volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Studien. Ham-burg 1905, S. 81/82.

49 Weber, M.: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Hrsg. von Jo-hannes Winckelmann. Gütersloh 19847.

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wesentlichen auf ihn zurück. Sein paradoxes Postulat lautete ja: Be-freiung von der Arbeit durch Arbeit. Im Gegensatz zur bisherigen Geschichte der Menschheit, wo die Freiheit von Wenigen immer nur durch die Arbeit von Vielen möglich gewesen war, vermeinte er in der Industrialisierung jene historische Situation zu erkennen, wo die Möglichkeit besteht, durch die endgültige Entfesselung der Arbeit – dadurch, daß sie zur vollen Höhe ihrer Möglichkeiten getrieben wird, sie also quasi „totalisiert“ wird – die Arbeitsnotwendigkeit des Men-schengeschlechts insgesamt ein für allemal aufzuheben. Marx siedelt wahre „ Freiheit“ damit zwar jenseits der Arbeitsnotwendigkeit an, sieht allerdings im Weg der Arbeit den einzigen gangbaren Weg zum „Reich der Freiheit“.

Auf dem Hintergrund dieser Vorstellung war es möglich, auch die unter entwürdigendsten Umständen zu erbringende Arbeit in der in-dustriellen Frühphase im Sinne einer für die Menschheit insgesamt positiven Entwicklung zu interpretieren. Damit ergab sich für die Arbeiterbewegung zwar das politische Ziel, die ungerechtfertigten Nutznießer der Arbeitsverausgabung der Massen, die Eigentümer der Produktionsmittel, zu entmachten und der Arbeiterschaft den gerech-ten Anteil ihrer Arbeitsleistung zukommen zu lassen, aber nicht, die Verzweckung des Menschen unter die Arbeit anzuzweifeln. Denn die Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit des Arbeitens stellt sich in diesem Sinn nicht primär als eine politische Aufgabe, sondern ist als Effekt der historischen Entwicklung zu erwarten. Die zuneh-mende Verwissenschaftlichung von Produktion und Arbeit – möglich durch die Verbreiterung des gesellschaftlich verfügbaren Wissens – sowie die damit mögliche endgültige Entwicklung des Maschinensys-tems wurden als der Schlüssel angesehen für eine unermeßliche Stei-gerung der Produktivität der menschlichen Arbeitskraft und eine da-mit mögliche sukzessive Entlastung des Menschen von der Arbeit. Nicht die Arbeit als historisches Faktum gilt es zu relativieren, son-dern die Tatsache, daß den Arbeitern ein Teil des von ihnen erarbeite-

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ten Mehrwerts von den Unternehmern vorenthalten wird. Dement-sprechend wenig unterschieden sich in der positiven Bewertung der Arbeit auch die (ja erst vor kurzem weitgehend von der politischen Landschaft verschwundenen) „realsozialistischen“ Gesellschaftsfor-mationen von denen des kapitalistischen Westens.50 Die Notwendig-keit des Kampfes um Arbeitszeitverkürzungen erklärt sich im Gefolge der Vorstellung eines „Arbeitens um der Überwindung der Arbeit willen“ bloß daraus, daß die sich aus dem Produktivitätsfortschritt ergebende Erhöhung des erarbeiteten Mehrwerts sonst zur Gänze vom Kapital (also den Unternehmern) beansprucht werden würde.

Was durch diese Idee jedoch legitimiert wurde, war die Entfesse-lung der Produktivkräfte, also die radikale Beförderung des technolo-gischen Fortschritts. Die technische Entwicklungsdynamik avancierte im allgemeinen Bewußtsein zunehmend zur Voraussetzung für die Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen.51 Der Begriff „Fortschritt“ mutiert in diesem Sinn im „sozialdemokratischen Jahrhundert“ zur aktuellen Vermittlungsgröße des Arbeitsethos. Damit verbunden war aber auch ein gewaltiger Bedeutungszuwachs der technisch-

50 Robert Kurz, ein radikaler „Kritiker der letzten Stunde“ am warenproduzieren-

den System der Moderne, faßt diesbezüglich zusammen: „Wenn Alexej Stacha-now, jener Mensch, der in der Nacht zum 31. August 1935 im Donezbecken während einer Schicht von fünf Stunden und 45 Minuten 102 Tonnen Kohle ge-fördert haben soll, zum sowjetischen Vorbild und Arbeitsmythos geworden ist, so verkörpert er damit gerade das kapitalistische Prinzip abstrakter Arbeitskraft-verausgabung, in dessen Bann Arbeit als tautologischer Selbstzweck gesetzt wird.“ […] „Daran ändert nichts, daß die Motivation der Menschen unter die Ar-beitsmaschine von den Individuen auf den Staat und dessen nationalökonomi-sche Metaziele übertragen wurde; die Abstraktion erscheint darin nur umso roher und rigider, weil noch nicht einmal mit dem bloßen Schein individueller Zweck-setzung versehen.“ Kurz, R.: Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammen-bruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Frankfurt a.M. 1991, S. 12 und 14.

51 Auch Marx hatte einen entwicklungsautomatischen Zusammenhang zwischen technischer Fortschrittsdynamik und individueller Selbstentfaltung schon in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ postuliert. Berlin (Ost) 1953, S. 592ff.

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ökonomischen Rationalität – die Frage nach einem transzendenten Sinn gesellschaftlichen Handelns tritt weit in den Hintergrund, als sinnvoll gilt, was dem (technologischen) Fortschritt dient und die Leistungsfähigkeit der industriellen Megamaschine steigert. Diesem Fortschritt hat sich auch Bildung unterzuordnen, das durch Bildung vermittelte Arbeitsethos zielt auf Leistungssteigerung, gefragt ist die an technisch-ökonomischem Wachstum orientierte Intelligenz. Nicht mehr die bloße Verwertung des Leistungspotentials der vorhandenen menschlichen Arbeitskräfte gilt als die wesentliche Grundlage des gesamtgesellschaftlichen Reichtums, sondern die gezielte Verbreite-rung des gesellschaftlich verfügbaren Wissens, die Aktivierung der „Produktivkraft“ Mensch zur maximalen Steigerung der Produktivität.

Die unter dem Namen „wissenschaftliche Betriebsführung“ und „Wirtschaftspädagogik“ ab den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts auftretenden neuen industriepädagogischen Strömungen konnten neben ihrer Anbindung an die „Berufsbildungstheorie“ auf dieser positiven Wendung in der Bewertung des industriellen Fort-schritts aufbauen. Sie waren eindeutig an technisch-ökonomischem Denken und Handeln orientiert, und ihre Vorschläge bezüglich einer Humanisierung der Arbeitsplätze und einer Neugestaltung der Ar-beitsorganisation lassen sich klar dem Ziel einer Steigerung der Leis-tungsbereitschaft der Industriearbeiter zuordnen. „Die Festigung der »Betriebsgemeinschaft« wird für sie zur entscheidenden Vorausset-zung einer Stabilisierung des Produktionssystems – durchaus eine neofeudalistische Variante der kleinbetrieblich-ständischen Meister-lehre –, die sich nicht nur auf die stärkere Verinnerlichung des Leistungsbewußtseins und des verbreiteten Fortschrittsglaubens stüt-zen kann, sondern auch auf die Forderung nach absoluter Loyalität der Beschäftigten gegenüber einer Betriebsleitung, die sich – mit wel-chem Recht auch immer – vor allem als sachverständig und primär

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dem Gemeinwohl verpflichtet darzustellen versucht.“52 Arbeit und Bildung sind in diesem Gedankengebäude denselben betriebswirt-schaftlichen Kalkülen untergeordnet – der Imperialismus der fort-schrittsorientierten Wirtschaftsordnung fungiert als Legitimation der Gleichsetzung von Arbeitserziehung und Menschenbildung.

Dem gesellschaftlichen Konsens der Idealisierung des „Fort-schritts“ entsprechend, erreichte „Arbeit“ im Verlauf der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts dann schließlich ihre heutige, umfassende und von allen gesellschaftlichen Gruppierungen mitgetragene Wertschät-zung. Diese arbeitsgesellschaftliche Grundlage wurde zum Kriterium, um in den Kreis jener Gesellschaften aufzurücken, die sich gegensei-tig das Etikett „zivilisiert“ verleihen. Der Mythos „Fortschritt“ stellt auch heute noch die Legitimationsgrundlage für eine, entsprechend den jeweiligen Verwertungsbedingungen zwar modifizierte, aber grundsätzlich immer weiter voranschreitende, Verausgabung von

Arbeitskraft, losgelöst von konkreten subjektiv-sinnlichen Bedürfnis-

sen, dar. Die Perspektive eines sich über die Arbeit verwirklichenden Fortschreitens in die Richtung einer zukünftigen arbeitsfreien Gesell-

schaft gilt allerdings längst als obsolet und ist heute abgelöst vom „Zwang zum wirtschaftlichen Wachstum“. „Fortschritt“ – zunehmend nur mehr verstanden als die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen eines Wirtschaftsraumes – entpuppte sich unter den öko-nomischen Sachgesetzlichkeiten des Kapitalismus als untrennbar ver-knüpft mit permanentem Wirtschaftswachstum – eine Tatsache, die den ideologischen Rechtfertigungszwang bezüglich der Arbeitsnot-wendigkeit schließlich gänzlich zum Verschwinden brachte. Kein Glaube an eine von Gott gestellte Aufgabe, nicht der Wunsch, der Gemeinschaft dienen zu wollen, und auch nicht die Vision eines „Reichs der Freiheit jenseits der Arbeitsnotwendigkeit“ sind heute erforderlich, um die Menschen zur Arbeitsverausgabung zu motivie-

52 Dickau, a.a.O., S. 16.

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ren. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und damit auch der Partizipationsmöglichkeit am gesellschaftlichen Reichtum ist Trieb-kraft genug – gearbeitet wird heute, um morgen überhaupt noch einen Arbeitsplatz zu haben.

Denn die wachstumsabhängige kapitalistische Wirtschaft stößt zu-nehmend an ihre Grenzen; allenthalben wird heute eine „Krise der Arbeitsgesellschaft“ konstatiert. Und es handelt sich dabei nicht nur um eine der auch schon bisher periodisch aufgetretenen ökonomi-schen Krisen als Folge von Konjunkturschwankungen – die kapitalis-tische Produktionsweise selbst in ihrer Struktur und ihren grundsätzli-chen Zusammenhängen scheint heute in Frage gestellt. Gemeint ist damit, daß jenes etwa vier Jahrzehnte lang relativ gut funktionierende Zusammenspiel von Massenproduktion, Massenbeschäftigung, wach-sendem Massenwohlstand und permanent steigenden Profitraten zu-nehmend außer Tritt gerät und es dadurch zu einem zwar periodisch immer wieder unterbrochenen, aber insgesamt kontinuierlichem An-steigen der Arbeitslosigkeit in allen Industriestaaten kommt. Das völ-lig Neue dabei ist, daß das bisherige Generalrezept für kapitalistische Krisen – das Ankurbeln der Wachstumsspirale – nur mehr vorüberge-hend und nur in Teilbereichen des wirtschaftlichen Geschehens greift53 sowie, daß heute kaum mehr darüber hinweg gesehen werden kann, daß dieses Lösungsmuster nur eine noch viel ausweglosere, global-ökologische Krise beschleunigt.

53 Galt es bisher als ehernes Wirtschaftsgesetz, daß auf rezessionsbedingte Entlas-

sungswellen im Zuge des nächsten Wirtschaftsaufschwungs stets auch wieder ei-ne Erholung des Arbeitsmarkts folgt, tritt neuerdings in allen industrialisierten Ländern das Phänomen auf, daß auch gute Wirtschaftsdaten nicht in der entspre-chenden Form auf den Arbeitsmarkt durchschlagen. Der derzeit stattfindende dramatische Strukturwandel beruht genau darauf, die Anzahl der Arbeitsplätze der durch den Technologieschub dramatisch gestiegenen und noch deutlich wei-ter steigerbaren Produktivität anzupassen. Selbst dort, wo neue Produktionen entstehen, wirken sich die Investitionen kaum im Sinne einer Vermehrung der Arbeitsplätze aus. Vgl.: „Wirtschaftswoche“ Nr. 41/8. Okt. 1992.

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50 Die Arbeit hoch?

Die wachstumsfixierte Faszination gegenüber dem „Fortschritt“, mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft ein Immer-mehr an Waren produzieren zu können, hatte nämlich dazu geführt, daß etwas ganz Wesentliches übersehen worden war: Der Produktivitätsgewinn bezogen auf die Anzahl der Arbeitskräfte beruht nicht auf einer „un-schuldigen“, immer weiter fortschreitenden „wissenschaftlichen Durchdringung der Arbeitsprozesse“, sondern ist vom Handwerker bis zum Arbeiter der Automatisierungsgeneration nur möglich gewesen durch einen zunehmenden Raubbau an der Natur und das Unterlaufen ökologischer Gleichgewichte. Der Einsatz künstlich erzeugter Ener-gie, der weit über der Recyclingrate der Natur liegende Verbrauch von Rohstoffen und die Überlastung der Natur mit Zivilisationsabfall waren es, womit der einer ökonomischen Rationalität verpflichtete wissenschaftliche Geist die sprunghafte Produktivitätssteigerung der Industriegesellschaft vorangetrieben hatte. Bei den fortschrittsorien-tierten Arbeitstheorien war der Zerstörungsfaktor von Arbeit, im Sin-ne eines schlichten „Aufbrauchens von Umwelt“, völlig ausgeblendet worden. Walter Benjamin bemerkte diesbezüglich in seinen ge-schichtsphilosophischen Thesen pointiert: „Zu den korrumpierten Begriffen der Arbeit gehört als sein Komplement die Natur, welche […] »gratis da ist«“54.

Trotzdem wir, geblendet vor Stolz, kaum erkennen wollen, daß der uns umgebende (bei weitem nicht einmal gleichmäßig verteilte!) Wohlstand keineswegs nur unserem Arbeitsfleiß geschuldet ist, bleibt es uns heute nicht erspart, ängstlich auf die Rechnung für „durch Ar-beit“ von uns selbst weitgehend zerstörten natürlichen Lebensgrund-lagen zu warten. Und selbst wenn in einer „Heut’-ist-heut’-Mentalität“ versucht wird, die Erkenntnis der ökologischen Folgen der Arbeitsgesellschaft zur Seite zu schieben, bleiben die sozialen

54 Benjamin, W.: Einbahnstraße (1928). Zit. nach Guggenberger, B.: Wenn uns die

Arbeit ausgeht. Die aktuelle Diskussion um Arbeitszeitverkürzung, Einkommen und die Grenzen des Sozialstaats. München/Wien 1988, S. 41.

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Folgen einer Gesellschaft unübersehbar, in der das gesellschaftsadä-quate Überleben des einzelnen an einen Lohn-Arbeitsplatz gekoppelt ist. Daß das traditionelle, auch von der Arbeiterbewegung idealisierte Rezept, durch Wirtschaftswachstum die Sicherheit von Arbeitsplätzen zu garantieren, längst nicht mehr greift, zeigt heute ja bereits ein ein-facher Vergleich der Wirtschaftswachstumstrends mit der Entwick-lung der Arbeitslosenzahlen. Unübersehbar ist der zweifache Druck, unter dem die auf der Arbeitsideologie aufgebaute bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft heute steht. Dennoch wird erstaunlicher-weise bei nahezu allen Versuchen, die gegenwärtige „Strukturkrise“ auch nur theoretisch in den Griff zu bekommen, kaum über den Anteil der geradezu mythologischen Überhöhung von Arbeit und Leistung am gesellschaftlichen Status quo nachgedacht. Eine tiefe Angst scheint die Menschen daran zu hindern, die Wurzeln der gegenwärti-gen Krise endlich genau auf jener Ebene zu suchen, auf der alle bishe-rigen Gesellschaftssysteme der Moderne angesiedelt waren – in der

Selbstzwecksetzung der menschlichen Arbeit. Wie dargestellt, war die Pädagogik mehr als nur am Rande an der

Installierung der arbeitsethischen Grundlagen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beteiligt. Ihre Geschichte stellt sich über weite Strecken als ident mit der sukzessiven Durchdringung der Ge-sellschaft mit dem Geist der Arbeit dar, einer Arbeit, die uns heute schon allein „durch ihre überragende Nützlichkeit und die Sinnfällig-keit ihrer Funktionalität“55 rechtfertigungsfähig erscheint. Nur über den Zwischenschritt einer pädagogischen Anthropologie, die mit der Behauptung, daß der Mensch sich über Arbeit verwirklicht, die Frage nach einer übergeordneten Begründung menschlichen Tuns weitge-hend exekutiert hatte, war es möglich, daß die Arbeit eine so zentrale Stellung in der menschlichen Existenz einnehmen konnte. Wenn aber das gängige pädagogische Menschenbild Arbeit schlechthin als jene

55 Guggenberger, ebda.

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Größe definiert, durch die verwirklicht wird, worauf das pädagogische Geschäft – die Bildung – abzielt, dann kann die Pädagogik ohne Ü-bertreibung als der klammheimliche Förderer des gesellschaftlichen

Arbeitsethos bezeichnet werden; Arbeit und Bildung sind dann nur mehr zwei Erscheinungsformen desselben gesellschaftlichen Phäno-mens. Ganz in diesem Sinn stellt sich Arbeit und Bildung in der heu-tigen gesellschaftlichen Situation auch weitgehend ident dar. Einer-seits erscheint die zur Qualifikation reduzierte Bildung als die Vor-aussetzung, um in Arbeitsprozesse eingebunden zu werden, und ande-rerseits wird de facto allgemein davon ausgegangen, daß sich der Mensch primär über Arbeit bestimmt und daß Arbeit damit den Weg zu seiner Selbstentfaltung – dem pädagogischen Ziel der „entfalteten Persönlichkeit“ – darstellt56.

Heute, wo Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten immer mehr zu einem bestimmenden Phänomen der Gesellschaft wird und die Ideen für das Schaffen neuer Arbeitsplätze zunehmend an strukturellen

56 Überlegungen zu Erziehung Schule und Ausbildung sind in diesem Sinn – wie es

der amerikanische Erfolgsautor Neil Postman in seinem jüngst erschienenen Buch ausdrückt – gegenwärtig auch nahezu ausschließlich beherrscht vom „Gott der ökonomischen Nützlichkeit“, eines Gottes – wie er ausführt – nach dessen Regeln die Arbeit den Menschen definiert, man also ist, was man tut. (Postman, N.: Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung. Berlin 1995) Weitgehend un-hinterfragt gilt die unter den Prämissen von Wirtschaftswachstum, ökonomi-schem Konkurrenzkampf und quantitativ definiertem Fortschritt vorgenommene Orientierung pädagogischer Maßnahmen an der Bereitschaft zur Aneignung ar-beitsmarktorientierter Qualifikationen als sakrosankter Wert. Der Verführung er-legen, Schlüsselfunktion für das Funktionieren der Arbeitsgesellschaft zu besit-zen, ist die Pädagogik auf diese Art allerdings zu einem ohnmächtigen Anhäng-sel wirtschaftlichen Geschehens geworden. Zugleich damit wird die gegenwärtig kaum mehr kaschierbare „Krise der Arbeitsgesellschaft“ auch zu einer Krise der Pädagogik. Sie soll leisten, was Politik längst nicht mehr zustandebringt. Indem sie sich eilfertig darum bemüht, Rezepte für eine zukunftsträchtige Heranbildung von Arbeitskräften zu liefern – von denen heute allerdings niemand weiß, ob sie morgen überhaupt noch gebraucht werden – wirkt sie mit am Aufrechterhalten des rational längst unhaltbaren Mythos, daß es uns durch Arbeit gut geht und durch mehr Arbeit noch besser geht.

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Grenzen scheitern, könnte sich – als logischer gesellschaftlicher Sta-bilisierungseffekt – bald das Phänomen ergeben, daß Arbeit – in dem über die letzten zweihundert Jahre gewachsenen Verständnis von „Lohn-Arbeit“ – wieder eine ideologische Relativierung erfährt. Ein zunehmendes Infragestellen der parallel mit dem Heranwachsen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft installierten Wertorientierung an der Arbeit könnte die Folge sein. Wolfgang Müller hat in einem Referat am 9. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungs-wissenschaft darauf hingewiesen, daß es bei zunehmender Arbeitslo-sigkeit schnell darum geht, die Bedeutung des Arbeitsplatzverlustes für diejenigen herunterzuspielen, die ihren Arbeitsplatz schon verlo-ren haben oder diesbezüglich gefährdet sind. Für ihn zeigt sich diese Entwicklung derzeit schon am vermehrten Auftauchen der „beruhi-genden Rede“, daß Menschen ja auch ohne dauerhafte und gesicherte Berufsarbeit leben könnten und „vielleicht sogar besser als ihre be-rufstätigen Leidgenossen, die durch abhängige Arbeit, Lohnarbeit, entfremdete Arbeit an der Ausbildung ihrer genuin menschlichen Kapazitäten ohnedies gehindert würden“57 sowie daß es für jene, die keinen Lohnarbeitsplatz bekommen, ja sowieso im sozialen Sektor genügend sinnvolles zu „arbeiten“58 gebe.

57 Müller, C. W.: Von meiner eigenen Verlegenheit. In: Zeitschrift für Pädagogik,

19. Beiheft, Weinheim und Basel 1985, S. 99. 58 Diese Argumentation taucht häufig im Zusammenhang mit den sogenannten

„Reproduktionsarbeiten“ auf, die ja bis jetzt überwiegend von Frauen (Müttern, Ehefrauen, Töchtern, Schwiegertöchtern) – vielfach neben einem Lohnarbeits-verhältnis – unbezahlt erledigt werden. Bei einer solchen Ausweitung des Ar-beitsbegriffs wird allerdings das zentrale Definitionsmerkmal von Arbeit im Rahmen unserer Gesellschaft, nämlich der Entfremdungscharakter, negiert. Da es einen Arbeitsbegriff „an sich“ jedoch nicht gibt, sondern der Arbeitsbegriff nur einen Reflex auf die gegebene Gesellschaftsordnung darstellt, geht auf diese Art der Arbeitsbegriff schließlich überhaupt verloren, „die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit, zwischen Arbeit, Tätigkeit und sogar Leben zerfließen, [der Arbeitsbegriff] und arbeitsbezogene Bildung gerät in den Sog postmoderner Beliebigkeit“. Vgl. Drechsel, R.: Einwände gegen eine Erweiterung des Arbeits-

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Solange eine solche „Erkenntnis“ nicht begleitet ist von einer grundsätzlichen kritischen Auseinandersetzung mit den strukturellen Bedingungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung, kann sie nur als zynisch bezeichnet werden. Die Selbstzwecksetzung der Ar-beit ist im Rahmen unserer Gesellschaft weder ein marginales noch ein temporäres Phänomen, sondern das begründende Faktum und untrennbar mit dem (Weiter-)Bestand der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verbunden. Den Wert der Arbeit als Medium menschli-cher Sinnstiftung herunterzuspielen und davon zu schwärmen, daß ein „erfülltes Leben“ auch jenseits von (Lohn-)Arbeit möglich ist, ohne gleichzeitig die Tatsache zu thematisieren, daß Arbeit gegen Entgelt für nahezu alle Gesellschaftsmitglieder derzeit die einzige Möglich-keit ist, um überhaupt adäquat über-leben zu können, spiegelt den Versuch wider, das gegenwärtige System, möglichst unangetastet von Sockelarbeitslosigkeit und sozialstaatlichem Abbau, in die Zukunft zu retten. Bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und Arbeitsgesellschaft sind Synonyme für denselben gesellschaftlichen Status quo, und das bürgerliche Individuum hat nicht die Möglichkeit, auf die Vorteile einer Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft zu rekurrieren und sich dennoch für oder gegen seine Selbstdefinition über Arbeit zu ent-scheiden.

Pädagogik im allgemeinen und die Berufspädagogik im besonde-ren ist, wie in den weiteren Kapiteln der gegenständlichen Arbeit dargestellt wird, in höchstem Maße in die derzeitigen Krisenstrategien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eingebunden. Eine fortge-setzte und immer herrischer sich gebärdende Verberuflichung aller

Bildung, sogenannte „neue Methoden“ der (beruflichen) Bildung, die ein besseres Funktionieren der Ausgebildeten unter den um sich grei-fenden neuen arbeitsorganisatorischen Strukturen versprechen, wie beispielsweise „Projektausbildung“, „Lernstatt“ oder „Leittextmetho-

begriffs aus bildungstheoretischer Sicht. In: Abschied von der Lohnarbeit. Dis-kussionsbeiträge zu einem erweiterten Arbeitsbegriff. Bremen 1990, S. 195f.

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de“, die Ausrichtung des pädagogischen Handelns an berufsübergrei-fenden „Schlüsselqualifikationen“ oder einer arbeitsbezogenen „Handlungsorientierung“ sind dementsprechende Indikatoren. Im Zusammenhang mit den angesprochenen Maßnahmen wird heute faktisch durchwegs auf eine Begründung anhand eigenständiger, bil-

dungsimmanenter Ziele verzichtet; die neuen Ausbildungskonzepte werden in der Regel nur aus der Notwendigkeit hergeleitet, (zukünfti-gen) ArbeitnehmerInnen neue, sich aus den veränderten Bedingungen der Berufs- und Arbeitswelt ergebende – also im Sinne ihrer ökono-mischen Verwertung notwendige – Qualifikationen vermitteln zu müssen. Die Legitimation für neue Ausbildungsmaßnahmen wird eindimensional aus dem von der Wirtschaft formulierten Bedarf nach „verwertbarem Humankapital“ sowie dem „Verwertungszwang“ der Auszubildenden abgeleitet.

Pädagogen, die sich eine kritische Distanz gegenüber der Tatsache bewahrt haben, daß Bildung heute immer offenkundiger zur Qualifi-kation reduziert wird, versuchen oft in verzweifeltem Trotz, den auf Muße gegründeten neuhumanistischen Bildungsbegriff zu reanimie-ren. Das ist jedoch sicher zu wenig, um der die heutige pädagogische Theorie immanent prägenden Vorstellung von der „Bildung durch Arbeit“ wirklich etwas entgegenzustellen. Im Sinne des Vorhergesag-ten erscheint das nur Hand in Hand mit der Bereitschaft möglich, auch die in der Selbstzwecksetzung der Arbeit fundierte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in die kritische Analyse miteinzubeziehen. Ansonsten kommt die Pädagogik sehr schnell in das Fahrwasser, bloß die Rechtfertigungsideologie dafür zu liefern, daß die Arbeitsgesell-schaft – nach einer nicht einmal ein halbes Jahrhundert dauernden Periode ihres diesbezüglich leidlichen Funktionierens – aufs neue zunehmend nicht in der Lage ist, das durch einen Lohnarbeitsplatz abgesicherte Überleben aller Gesellschaftsmitglieder zu gewährleis-ten. Um sich dergestalt von der bürgerlich-kapitalistischen Gesell-schaft zu emanzipieren, wäre es für die Pädagogik allerdings auch

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erforderlich, die enge Nähe von Bildungsbegriff und bürgerlichem Arbeitsethos zu reflektieren. Damit ist nicht bloß die de facto Durch-setzung der arbeitszentrierten gegenüber der mußezentrierten pädago-gischen Anthropologie gemeint, sondern insbesonders auch die Tatsa-che der gemeinsamen Wurzeln von Bildungsbegriff und bürgerlichem Arbeitsethos.

Erst eine Pädagogik, die sich dieser Nähe zum bürgerlichen Ar-beitsethos bewußt ist, kann sich von ihrer „geburtsständischen Anbin-dung“ und ihren „familiären Verpflichtungen“ gegenüber einer gesell-schaftlichen Ordnung emanzipieren, die auf der Selbstzwecksetzung der Arbeit aufbaut. Nur durch ein solches selbstreflexives Quellenstu-dium läßt sich der „Zusammenhang zwischen Ökonomie und Bil-dungsideologie“59 aufdecken, und es kann möglich werden, daß sich mehr als bloß eine kritische Haltung gegenüber der Vorstellung, daß Arbeit bildet, entwickelt, sondern daß auch die Strukturen und die Folgen der arbeitszentrierten Gesellschaft selbst in den kritischen Fokus pädagogischer Theorie gelangen.

59 Gamm 1974, a.a.O., S. 146.

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2. DIE KRISE DES FORDISMUS UND DAS ENDGÜLTIGE „ZUR WARE WERDEN“ DER

BILDUNG

Wenn ein Hungernder stiehlt, brauche ich keine

Psychologie. Ich benötige Psychologie, schließ-

lich auch Massenpsychologie, um zu erklären,

warum ein Hungernder nicht stiehlt, warum die

Menschen an der unmittelbaren Wahrnehmung

ihrer Interessen von unsichtbaren inneren Bar-

rieren gehindert werden.

Wilhelm Reich

In den sozialwissenschaftlichen Analysen herrscht heute weitge-

hend Einigkeit darüber, daß sich jene – in der neueren diesbezügli-chen Literatur pointiert als „Fordismus“ bezeichnete1 – „ökonomisch-gesellschaftliche Formation“, die sich in den USA im Gefolge der Weltwirtschaftskrise ab den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts und in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat, in der Anfangsphase einer tiefgreifenden und grundsätzlichen Veränderung befindet. Dieser Veränderungsprozeß wirft zwar schon seit den sieb-ziger Jahren deutliche Schatten voraus, aber erst seit Mitte der neun-ziger Jahre sind die Indikatoren des Wandels unübersehbar. Die ge-genwärtigen Veränderungen politischer, ökonomischer und techni-scher Natur sind so umfassend, daß für die meisten Menschen der

1 Vgl. Hirsch, J./Roth, R.: Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus

zum Post-Fordismus. Hamburg 1986.

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58 Die Arbeit hoch?

Sinn für Tempo, Ausmaß und vor allem Zusammenhang der verschie-denen Aspekte des Wandels kaum mehr herstellbar sind. Die fordisti-sche Ausprägungsform der kapitalistischen Gesellschaft, die seit mehr als einem halben Jahrhundert das Leben und die Arbeitsbedingungen der Menschen in der industrialisierten Welt geprägt hat, scheint insge-samt am Ende ihrer geschichtlichen Epoche angelangt zu sein. Ihre tragenden Säulen, tayloristische Arbeitsorganisation, permanente Steigerung der Arbeitsproduktivität, Massenproduktion von Konsum-gütern und immer rascherer Warenumlauf durch die Ankurbelung des Massenkonsums, beginnen heute rasant brüchig zu werden.

Der Begriff „Fordismus“, der sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur erst in den letzten Jahren als Bezeichnung für die von etwa 1920 bis 1980 dauernde Phase der modernen Warenproduktion einge-bürgert hat, knüpft an historische Wurzeln an. Er verweist auf die zentrale Symbolfigur der modernen Industrieproduktion, den Auto-mobilbauer Henry Ford. In der kurzen Spanne zwischen 1903 und 1926 war es diesem gelungen – auf der Basis eines für damalige Ver-hältnisse revolutionären Fertigungs- und Vermarktungskonzepts –, seinen vormals unbedeutenden Betrieb mit acht Beschäftigten zu ei-nem Konzern, bestehend aus 88 Fabriken mit 600 000 Beschäftigten und einem Produktionsvolumen von zwei Millionen Automobilen pro Jahr, auszubauen. Nicht nur dieser wirtschaftliche Erfolg, auch die vergleichsweise hohen Löhne und der Achtstundentag in den Ford-schen Fabriken sowie die „Demokratisierung“ des Automobils durch den Verbilligungseffekt der Serienfertigung führten in der Folge so-wohl bei Befürwortern als auch bei Kritikern der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformation zu geradezu euphorischen Auseinandersetzungen mit dem „Fordismus“2.

2 So schätzte der ehemalige Chef und Vordenker der Kommunistischen Partei

Italiens, Antonio Gramsci den „Fordismus“ als ein Fortschrittskonzept ein, von dem auch die Arbeiterbewegung profitieren könne, Bert Brecht meinte bewun-dernd, Fords Fabriken könnten auch dem Sozialismus entstammen, und Kurt Tu-

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Die Krise des Fordismus und das „Zur Ware Werden“ der Bildung 59

Die gegenwärtige Neuaufnahme des Begriffs „Fordismus“ trägt der Tatsache Rechnung, „daß das in den Fordschen Fabriken realisier-te produktionsorganisatorische Konzept mit dem sozialen und öko-nomischen Umfeld, das es erforderte, im Kern die Struktur der For-mation enthielt, die der Kapitalismus in den Jahrzehnten um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts weltweit ausgeprägt hatte“3. Weit über den Automobilbau hinaus wurde mit dem fordistischen Konzept das Modell der laufenden Produktionserhöhung durch eine permanente Ankurbelung des Massenverbrauchs auch in Bereichen möglich, die bis dahin dem betriebswirtschaftlichen Verwertungskalkül kaum zu-gänglich waren. Die neuen Massenindustrien schufen damit die Grundlage für eine in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus beispiellose Kapitalakkumulation sowie für ein neues „Gesellschafts-modell“, das sich in tiefgreifenden Veränderungen der Lebensweise der Bevölkerungsmehrheit zum einen, im Sinne einer „Totalisierung der abstrakten Arbeit“, und zum anderen einem Massenwohlstand, in Form einer „kompensatorischen, standardisierten »Freizeitkultur«“4 artikulierte. Insgesamt dient der Begriff „Fordismus“ somit als Syn-onym für die, auf dem Prinzip der Produktion von immer mehr Gütern durch die Vernutzung immer größerer Arbeitskraftmengen beruhende und etwa seit Beginn der achtziger Jahre zu Ende gehende Prosperi-tätsphase des Kapitalismus.

Derzeit stellen stagnierende Wachstumsraten sowie anhaltend hohe und vielfach noch steigende Arbeitslosenzahlen in fast allen OECD-Ländern die augenfälligsten Signale der Wirtschaftsentwicklung dar. Der fordistische Kapitalismus scheint just in der Epoche seines histo-rischen „Sieges“ über die „realsozialistische Konkurrenz“ an seine

cholsky drückte seine Bewunderung für das Fordsche Konzept damit aus, daß er „Fortschritt“ gelegentlich als „Fordschritt“ schrieb. Alle Zitate nach Hirsch/Roth, a.a.O.

3 Ebda, S. 45. 4 Kurz, a.a.O., S. 277.

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immanenten Grenzen gestoßen zu sein. Zunehmend müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, daß sich die ökonomisch-gesellschaftliche Formation der industrialisierten Welt in einer so tiefen und existen-tiellen Krise befindet, daß eine wachsende Anzahl kritischer Analyti-ker dieses Systems sogar überzeugt ist, daß wir uns derzeit in der An-fangsphase eines totalen Systemkollaps befinden.5 Die Krise des For-dismus hat ihre Wurzeln primär in einem weltweiten, völligem Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten von Produktivität, Arbeitskräftebedarf und Konsum und hängt zum Teil auch damit zusammen, daß die bis-herige hemmungslose Ausbeutung der Natur und ihre Zerstörung als Nebeneffekt der industriellen Produktion nun langsam beginnt, wirt-schaftlich kontraproduktiv zu wirken. Die Kombination von Markt-kräften und staatlicher Regulierung, die in der Nachkriegszeit – mehr oder weniger ausgeprägt – in allen Industrieländern etabliert worden war und zu einer einzigartigen Aufschwungsphase, begleitet von einer permanent steigenden Massennachfrage nach Waren und Dienstleis-tungen, geführt hat, stößt in dieser Situation zunehmend an ihre Gren-zen. Verstärkt wurde die krisenhafte Entwicklung in den letzten Jah-ren – zumindest für Europa – noch durch einen gewaltigen Struktur-bruch, bedingt durch das „In-den-Markt-Treten“ der ehemaligen Ost-blockländer6.

5 Vgl. dazu insbesondere Kurz, a.a.O. sowie Rieseberg, H.J.: Arbeit bis zum Un-

tergang. Die Geschichte der Naturzerstörung durch Arbeit. München 1992. 6 Daß es derzeit, aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus (und teilweise auch wegen

der geringeren Umweltauflagen), in verschiedenen Industriebereichen zu einem massiven Arbeitsplätzetransfer von Westeuropa in ehemalige Ostblockländer kommt, ist evident. Vgl. für die diesbezügliche österreichische Situation insbes. „Wirtschaftswoche“ 33/ 12. August 1993. Auch daß die dadurch billiger produ-zierten Produkte eine Konkurrenz für westeuropäische Firmen darstellen, leuch-tet ein. Ob der Arbeitsplatztransfereffekt nicht zumindest zum Teil wieder kom-pensiert wird durch das Entstehen neuer Arbeitsplätze im Westen gerade durch die „Ostöffnung“, darüber gehen die Meinungen der Fachleute auseinander. Fest steht, daß der Hinweis auf die geringeren Lohn- und Sozialkosten in Osteuropa (aber beispielsweise auch in den USA) heute sehr häufig dafür verwendet wird, um die sich laufend verschlechternde Situation am westeuropäischen Arbeits-

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Trotz des vor wenigen Jahren euphorisch proklamierten Sieges der (sozialstaatlich gezähmten) Marktwirtschaft ist derzeit nicht einmal mehr sicher, daß die Ausweitung dieses Systems auf den ehemaligen „Ostblock“ für die Betroffenen jemals die erhofften Vorteile zu brin-gen imstande sein wird.7 Daß für die „Nicht-Industrieländer“8 ir-gendwann ein „euro-amerikanischer Lebensstandard“9 möglich wer-den könne, glaubt heute sowieso kaum jemand mehr. Die Vorstellung von der Angleichung des Lebensstandards der „unterentwickelten“ Länder an den der industrialisierten Welt hat sich als absurd herausge-stellt – der Traum vom „universellen Warenparadies“ ist ausgeträumt. Heute, wo über Satellit und fast eine Milliarde Fernsehschirme nahezu alle Menschen dieser Erde – bis ins kleinste asiatische und afrikani-sche Dorf – permanent mit der Vorstellung vom Glück durch mate-

markt zu legitimieren beziehungsweise um Sozialleistungen (und zum Teil auch Umweltstandards) hierzulande in Frage zu stellen. Vgl. „Kurier“, 13. 4. 93, S. 7.

7 Dementsprechend erscheint es auch irreführend, heute zu erklären, daß der Ost-West-Konflikt durch den Nord-Süd-Konflikt abgelöst worden sei. Denn noch ist überhaupt nicht klar, auf welcher Seite des „neuen“ Gegensatzes die ehemaligen „Ostblockländer“ landen werden.

8 Die in den letzten Jahrzehnten häufig übliche Einteilung der Länder der Welt, in industrialisierte, marktwirtschaftlich orientierte Länder einer sogenannten „Ers-ten Welt“, in die planwirtschaftlich agierenden Länder der „Zweiten Welt“ und in industriell wenig entwickelte Länder der „Dritten Welt“ stellt heute aus ver-schiedenen Gründen nur mehr ein wenig sinnvolles Unterscheidungsmerkmal dar. Zum einen haben mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Wirt-schafts- und Gesellschaftssysteme ein Großteil der Planwirtschaften zu existieren aufgehört, und zum anderen ist der Begriff „Dritte Welt“ auf Grund der Vielzahl unterschiedlicher wirtschaftlicher Verhältnisse und Wirtschaftspotentiale, die un-ter ihn subsumiert werden, heute fast bedeutungslos geworden.

9 Gegenwärtig wird es allerdings sowieso immer absurder, sich auf einen solchen „euro-amerikanischen Lebensstandard“ zu beziehen. Immer deutlicher etabliert sich in den Industrieländern ein Nebeneinander von dramatisch unterschiedlichen Lebensrealitäten. Die sogenannte „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ ist längst gesell-schaftliche Tatsache – innerhalb der sogenannten „reichen Länder“ trennt eine unsichtbare, von der Seite der Ausgegrenzten allerdings immer unüberwindliche-re Grenze die Gewinner im allumfassenden Konkurrenzkampf von den an den Rand Gedrängten.

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riellen Wohlstand genährt werden, ist diese Verheißung längst an ihre Grenzen gestoßen.10 Die diesbezüglichen Versprechungen des seiner-zeitigen amerikanischen Präsidenten Harry Truman, der noch vor wenig mehr als vierzig Jahren von einer „wesentlichen Verbesserung des Lebensstandards“ in den „unterentwickelten Ländern“ durch die „Hebung der Industrieproduktion“11 – also durch eine Entwicklung für alle nach westlichem Vorbild – sprach, erweisen sich als völlig uneinlösbar. Heute wird der Alltag der benachteiligten drei Fünftel der Menschheit ganz sicher nicht durch Aufstieg und Wohlstand, son-dern immer mehr von Elend, Hunger, ökologischer Zerstörung und kultureller Degeneration bestimmt.

Aber auch die Menschen der „fordistischen Kernländer“ in West-europa, Nordamerika und Japan werden derzeit recht unsanft aus dem Traum vom gesicherten Leben in ständig steigendem Wohlstand ge-rissen. Der rasche Verfall ganzer Regionen zu „Industriefriedhöfen“, regelmäßige Meldungen über Industriezusammenbrüche und Massen-entlassungen, relativ hohe Arbeitslosenraten, ungünstige Konjunktur-werte sowie häufige Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit einer weite-ren Verschärfung dieser Situation signalisieren einen Bruch in der wirtschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit, der verschiedentlich Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre auf-kommen läßt. Wenn nicht alle Zeichen trügen, scheint jene Zeit, in der man sich auf den bisherigen, „kalkulierbaren“ Zyklus von Kon-junktur und Rezession einstellen und nach vorübergehenden mageren

10 Die Tatsache, daß den Bewohnern der „Dritten Welt“ zwar einerseits permanent

durch Fernsehen und Touristen der Lebensstandard der Industriestaaten vor Au-gen geführt wird, ihre realen Chancen, einen solchen Lebensstandard in ihren Ländern jemals zu erreichen, für sie heute jedoch ständig sinken, läßt in nächster Zukunft ein Völkerwanderungs-Szenario erwarten, demgegenüber die bisherige Migration aus den ehemaligen Ostblockländern vergleichsweise harmlos anmu-tet. „Millionen werden kommen“, prophezeit der Generalsekretär des Club of Rome, Bertrand Schneider, um die zynisch-resignative Frage anzuschließen: „Wer wird den Schießbefehl geben?“ „Spiegel“ Nr. 2/1993, .S. 103.

11 Zit. nach „Spiegel“ a.a.O.

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wieder mit fetten Jahren des Wachstums und der Vollbeschäftigung rechnen konnte, bis auf weiteres vorbei zu sein. Manche Wirtschafts-forscher sprechen heute auch tatsächlich recht unverblümt von einer „Wiederholung der dreißiger Jahre“ und davon, daß in den Industrie-staaten in den nächsten Jahren mit anhaltend hohen Dauerarbeitslo-senraten gerechnet werden muß, sich die Bewohner dieser Länder mit einem „Wohlstandsabbau“ abfinden müßten und von den Arbeitneh-mern „künftig mehr Leistung zu gleichen Löhnen“ gefordert werden würde.12 Die ökonomisch-gesellschaftliche Formation Kapitalismus hat offensichtlich jene Fähigkeit verloren, die ihr in der fordistischen Variante zu einer zunehmenden allgemeinen Akzeptanz und zugleich auch zur Attraktivität bei jenen Menschen verholfen hatte, die im seinerzeitigen „Konkurrenzsystem“, in den Ländern des sogenannten „realen Sozialismus“, leben mußten: Die erfolgreiche Koppelung der

Unterordnung der Bevölkerungsmehrheit unter das Lohnarbeitsdiktat

mit der Möglichkeit des „Konsums für alle“. Während in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen ja

noch kein allgemeines Motiv existiert hatte, das imstande gewesen wäre, eine kontinuierliche Produktivkraftentwicklung zu bewirken, setzte der Kapitalismus, durch die Freisetzung der Konkurrenz als

gesellschaftliches Grundprinzip, eine diesbezüglich unbändige Trieb-kraft frei. Die sukzessive Durchdringung der Gesellschaft durch das Konkurrenzprinzip stellte die grundlegende Voraussetzung für jenen technologischen und arbeitsorganisatorischen Entwicklungsschub dar, der – nach dem Ende der Phase der „Großen Depression“, etwa ab der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert – zu einem rasant wachsenden Arbeitskräftebedarf in der industriellen Produktion führte und schließ-lich die Grundlage für Massenbeschäftigung und zunehmenden Mas-senwohlstand in der Spätphase des Kapitalismus – dem Fordismus –

12 So zum Beispiel der renommierte Wirtschaftswissenschafter Fredmund Malik

von der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften in St. Gallen bei einem Sym-posium in Wien. Vgl. „Standard“, 13. 5. 1993.

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lieferte. Diese historische Leistung des fordistischen Kapitalismus, verbunden mit der Steigerung der Produktivität, einen gewaltigen Bedarf an lebendiger Arbeitskraft in Gang zu setzen, kehrt sich heute allerdings in ihr Gegenteil um. Denn etwa ein halbes Jahrhundert nach der „Erfindung des Fließbands“ brachte der nächste große Technolo-gieschub in der konkurrenzgepeitschten Produktivkraftentwicklung die Möglichkeit, lebendige Arbeitskraft in immer größeren Bereichen der Produktion durch elektronisch-mechanische Aggregate zu erset-zen. Die Massenproduktion funktioniert nun zunehmend auch ohne den Massenarbeiter – der Kapitalismus büßt immer mehr seiner „Ausbeutungsfähigkeit“ ein.

Für den radikalen Kritiker und „Untergangsvisionär“ des Kapita-lismus, Karl Marx, lag genau in der gesellschaftlichen Freisetzung der Konkurrenz das positive, fortschrittliche Moment und die „zivilisato-rische Mission des Kapitals“. Im Gegensatz zur damals in der Arbei-terbewegung verbreiteten moralischen Kritik an der Konkurrenz ist sie für Marx historisch unumgänglich, um den Prozeß menschlicher Emanzipation von den bloßen Naturgrundlagen und von der Arbeit als Leid „im Schweiße des Angesichts“ einleiten zu können.13 Im gesell-schaftlichen Mechanismus der Konkurrenz als „stummer Zwang“ des warenproduzierenden Systems – entstanden und wirkend „hinter dem Rücken“ der Subjekte – identifizierte er jene Triebkraft, die in der Lage ist, die Entwicklung der Produktivkräfte explosionsartig voran-zutreiben14. Rückblickend kann heute festgestellt werden, daß das

13 Siehe dazu insbesondere: Marx 198817, a.a.O. 14 Die grundsätzliche Triebkraft wirtschaftlichen Geschehens unter kapitalistischen

Bedingungen ist die Vermehrung von investiertem Kapital; die Herstellung kon-kreter Güter oder das Anbieten von Dienstleistungen stellt in diesem Prozeß bloß das Mittel zum Zweck der „Produktion von Mehrwert“ dar, für den es am Markt aber erst einen (möglichst hohen) Preis zu erzielen gilt. Denn, im Gegensatz zur zünftisch organisierten Wirtschaft, wo bei weitgehend starr vorgegebenen Pro-duktionsmethoden auch die Preise der verschiedenen Waren fixiert und garan-tiert waren, müssen die einzelnen betriebswirtschaftlichen Einheiten nun einen Konkurrenzkampf um den (finanziellen) Gegenwert des produziertem Mehrwerts

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gesellschaftliche Konkurrenzprinzip, im vergleichsweise winzigen historischen Zeitraum von knapp zweihundert Jahren, tatsächlich eine wahrscheinlich größere Steigerung der Produktivität bewirkt hat, als die gesamte vorherige Geschichte den Menschen gebracht hatte. Die Grundlage für eine umfassende Befriedigung der Bedürfnisse bei gleichzeitiger tendenzieller Befreiung der Menschheit vom „Joch der Arbeit“ wurde damit gelegt. Allerdings verhindert genau das kapita-listische Konkurrenzprinzip als die wesentliche Dimension der gesell-schaftlichen Regulierung zugleich auch wieder, daß der Erfolg dieser gewaltigen Produktivitätssteigerung sich automatisch und problemlos als eine Verringerung der Arbeitsbelastung für alle auswirkt.

Das konkurrenzgesteuerte warenproduzierende System bewegt sich – indem es „bloß“ seinen immanenten Gesetzmäßigkeiten folgt – unaufhaltsam auf die Zerstörung seiner wesentlichen Grundlage, der

antreten. Sie können nicht mehr einen definierten Mehrwert in Gestalt von Gebrauchsgütern gegen die entsprechende Menge Geld „eintauschen“, wie der zünftige Schuster gegen Brot und Fleisch, sondern sie müssen sich einen Anteil an der Geldgestalt des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts in der Zirkulation (herrührend aus vergangenen abstrakten Vernutzungsprozessen lebendiger Ar-beit) erst „erkämpfen“ durch den Verkauf ihrer Produkte auf dem – in der Reali-tät zwar niemals völlig, aber von seiner prinzipellen Konzeption dennoch weit-gehend – freien Markt.

Wie groß der Anteil an der geldförmigen Gestalt des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts ist, den sich eine einzelne betriebswirtschaftliche Einheit aneignen kann, hängt von ihrem relativen Erfolg oder Mißerfolg am Markt ab. Die hier herrschende Logik der Preisregulierung durch Angebot und Nachfrage wird zwar permanent durch eine Vielzahl von Mechanismen unterlaufen (z.B. durch Preis-absprachen oder Marktmonopole), allerdings können diese „Störeinflüsse“ nie die Basislogik völlig außer Kraft setzen, daß diejenige betriebswirtschaftliche Einheit am Markt den größten relativen Erfolg hat, die am billigsten anbieten kann. Diese Fähigkeit wiederum hängt aufs engste mit der höheren oder geringe-ren Produktivität des Unternehmens zusammen, also damit, mit einem möglichst geringen Mitteleinsatz eine möglichst große und qualitativ „konkurrenzfähige“ Produktmenge herstellen zu können. Die kapitalistische Konkurrenz um die An-

eignung des Mehrwerts läßt sich damit als jene Triebkraft identifizieren, die die Unternehmen um den Preis ihres Untergangs – der in der Regel erfolgt, wenn die Profitrate für das eingesetzte Kapital unter einen kritischen Wert fällt – zur per-manenten Steigerung der Produktivität zwingt. Vgl. Kurz, a.a.O, S. 81-89.

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Lohnarbeit (und damit gleichzeitig des im Fordismus erreichten fragi-len Gleichgewichts von Massenproduktion und Massenkonsum, bzw. des relativ funktionierenden Zusammenspiels von Lohn, Preis und Profit), hin.15 Der durch den Konkurrenzdruck erzeugte, unerbittliche Zwang zu immer neuen Produktivitäts- und Verwissenschaftlichungs-schüben, macht menschliche Arbeitskraft zunehmend ersetzbar. Al-lerdings tritt die sukzessive „Abschaffung der Arbeit“ unter den Be-dingungen des warenproduzierenden Systems in keiner Weise als glückhafte Erscheinung zutage, sondern immer nur in ihrer negativen Form, als Krise (als Ansteigen der Arbeitslosigkeit, Sinken der Kauf-kraft und damit Absatzschwierigkeiten). Solange noch Wirtschafts-wachstum – „Mehrwertproduktion“ in einem anderen Wirtschaftsbe-reich – möglich ist, kann der „Verlust“ an Lohnarbeitsplätzen durch das „Schaffen“ neuer, bezahlter Arbeit oder durch Arbeitszeitverkür-zungen kompensiert werden, die Krise bleibt temporär. Da Wachstum aber naturgemäß irgendwann an Grenzen stoßen muß, bewegt sich die kapitalistische Weltgesellschaft immer schon auf ihre Existenzkrise zu, auf jenen Punkt ihrer Entwicklung, an den sie selbst sich die ar-beitsgesellschaftliche Basis ihres Funktionierens entzieht.

Die „elektronische Revolution“, verbunden mit den damit möglich gewordenen tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitsorganisation, stellt offensichtlich einen wesentlichen Schritt in der skizzierten Ent-wicklung dar. Das erst am Beginn seiner Umsetzung stehende Pro-duktivitätspotential der Informations- und Kommunikationstechnolo-gien macht die Herstellung wachsender Warenmengen sowie die Be-wältigung immer größerer Anteile der verwalterischen Tätigkeiten mit

15 Genauso wenig wie die Produktion von Waren und Dienstleistungen das grund-

sätzliche Ziel der kapitalistischen Wirtschaft darstellt, ist auch die Beschäftigung von Menschen bloß Nebenprodukt der letztlich angestrebten „Mehrwertproduk-tion“. Die Industrieproduktion war demgemäß auch – von Anfang an – auf eine menschenlose Produktion ausgerichtet. Die menschliche Arbeitskraft spielt in diesem Produktionssystem im Grunde genommen nur eine Aushilfsrolle auf Zeit.

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zunehmend weniger menschlicher Arbeitskraft möglich16. Zugleich erlaubt der wirtschaftliche Konkurrenzkampf, der sich längst nicht mehr nur innerhalb von regionalen und nationalen Grenzen abspielt, allerdings immer weniger, die Substitutionseffekte moderner Produk-tions- und Verwaltungstechnologien durch – national erkämpfte – Arbeitszeitverkürzungen abzufangen. Ganz im Gegenteil, heute wer-den, bei der Suche nach Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Wett-bewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft, sogar immer häufiger soziale Errungenschaften und ArbeitnehmerInnenrechte – einschließ-lich der „zu arbeitnehmerfreundlichen“ Arbeitszeitregelungen – zur Disposition gestellt. Selbst in den industriellen Kernländern wird da-mit genau das immer schwerer möglich, was den seinerzeitigen Durchbruch des fordistischen Kapitalismus in diesen Ländern bewirkt hat; nämlich die gleichzeitige Eingliederung nahezu aller Arbeitswil-ligen in die Arbeitsprozesse und die Möglichkeit, diese durch einen entsprechend hohen Lohn – wieder ermöglicht durch die fortlaufende Steigerung der Produktivität und das Wecken ständig neuer Bedürf-nisse (die permanente „Ausweitung der inneren Märkte“) – auch zu Konsumenten der von ihnen produzierten Artikel zu machen.

Das dadurch ausgelöste Anwachsen der Arbeitslosigkeit in fak-tisch allen Industriestaaten sowie das Einfrieren und die teilweise Rücknahme sozialer Errungenschaften wirken sich allerdings durch-aus nicht als eine für alle Gesellschaftsmitglieder in gleichem Maß gegebene Verschlechterung des Lebensstandards aus. Ganz im Ge-genteil verteilen sich die Lasten der „Fordismuskrise“ äußerst un-

16 Allein in der österreichischen Industrie stieg durch die Modernisierung des Pro-

duktionsapparates und die Rationalisierung des Produktionsablaufes die Produk-tivität je geleisteter Arbeitsstunde zwischen 1979 und 1992 um 87,4 Prozent. Die gesamte Industrieproduktion hat im gleichen Zeitraum jedoch „nur“ um 40,8 Prozent zugenommen. Die Folge dieses unterschiedlichen Wachstums von „Stundenproduktivität“ und allgemeiner Produktion ist ein zunehmend geringe-rer Bedarf an Arbeitskräften in der industriellen Produktion, die Zahl der Indust-riearbeiter ist demgemäß im angesprochenen Zeitraum auch um 26,6 Prozent zu-rückgegangen. „Standard“ 16. August 1993, S. 20.

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gleich, und es läßt sich derzeit eine daraus folgende, deutliche Ver-schärfung des Gegensatzes von Arm und Reich in den verschiedenen Ländern beobachten. Auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens kommt es zu einer Vertiefung der sozialen Unterschiede.17 Diese Po-larisierung ergibt sich jedoch nicht nur aus der Aufspaltung in Ar-beitsplatzbesitzer und Arbeitslose, auch bei den Einkommen und bei der Qualität und Sicherheit der Arbeitsplätze läßt sich ein zunehmen-des Auseinanderdriften der sozialen Gruppen feststellen. Die Gruppe jener Menschen, die schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen und permanent in Gefahr sind, in die Arbeitslosigkeit abgedrängt zu wer-den, wächst derzeit genauso an wie die Zahl derjenigen, die bereits unmittelbar von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Folge ist ein im-mer hektischerer Wettlauf darum, nicht zu den Verlierern im allge-

17 Bezeichnet man – entsprechend einer EU-gängigen Definition – jemanden als

arm, wenn er monatlich bloß einen Betrag in der Höhe der Hälfte eines Durch-schnittseinkommens zur Verfügung hat, mußten beispielsweise 1993 in Öster-reich, trotz ständig steigendem Bruttosozialprodukt, bereits 771.000 Menschen als arm eingestuft werden („Von Ausgrenzung bedroht“ – Studie zur sozialen Si-tuation in Österreich. Nach „Kurier“, 29. August 1993, S. 2). In der Bundesrepu-blik Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, in dem der fordistische Produktions- und Reproduktionszusammenhang noch relativ gut funktioniert, fristeten Anfang 1993 bereits 4 Millionen Menschen ihr Leben mit der Sozialhil-fe, weitere 2 bis 4 Millionen lebten in versteckter Armut, etwa 1 Million hausten in Notunterkünften oder unter freiem Himmel. Und während etwa 10 Prozent der deutschen Bevölkerung unter der Armutsgrenze vegetieren sowie weitere 15 Prozent mit ihrem Lebensstandard nur knapp darüber liegen und ständig in Ge-fahr sind, in die Armut „abzurutschen“, verfügen die oberen zehn Prozent über die Hälfte des Volksvermögens („Stern“ 29/15. Juli 1993). Aber auch in anderen Industrieländern läßt sich feststellen, daß der Lebensstandard der armen Bevöl-kerungsgruppen in den letzten Jahren zunehmend gesunken ist. Zum Beispiel ist in manchen Teilen New Yorks, der klassischen Symbolmetropole westlicher Konkurrenzwirtschaft, der Lebensstandard und die Lebenserwartung der Bewoh-ner bereits unter das Niveau des Elendssynonyms, Bangladesh, gesunken. Aber auch in anderen „Vorzeigeländern“ der Konkurrenzökonomie, wie beispielswei-se in Kanada, Großbritannien oder Frankreich, sind heute anwachsende Bevölke-rungsteile von Armut in einer Form betroffen, die sich nur wenig von der Situa-tion in den sogenannten unterentwickelten Ländern unterscheidet.

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meinen Konkurrenzkampf um die attraktiven gesellschaftlichen Posi-tionen zu gehören, verbunden mit deutlich anwachsenden Entsolidari-sierungseffekten. Obwohl die „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ in den meisten Industrieländern längst statistisch nachweisbare Realität ist, wird fast nirgends über Schritte zur Veränderung dieses untragbaren Zustands diskutiert, sondern primär darüber, wieweit die Deprivierten an ihrer Situation denn nicht selber schuld und ob die sozialen Netze nicht zu eng geknüpft seine und dadurch zur mißbräuchlichen Inan-spruchnahme verführten.

Aber nicht nur die Tatsache, daß der Kapitalismus, durch den ihm innewohnenden Antrieb zur fortschreitenden Produktivkraftentwick-lung, sich selbst seines ursprünglich unersättlichen Vermögens zur Vernutzung immer größerer Arbeitskraftmengen beraubt hat, scheint den Fordismus in die Nähe seines „Verfallsdatums“ geführt zu haben. Ein Aufrechterhalten der fordistischen Gesellschaftsformation oder gar eine Ausweitung dieses Systems auf die bisher nicht industriali-sierten Länder wird auch deshalb unmöglich, da das mit permanentem Wachstum untrennbar verbundene Prinzip der hemmungslosen Aus-beutung aller Ressourcen immer unbewältigbarere ökologische Prob-leme nach sich zieht. Eine der entscheidenden Grundlagen der for-distischen Prosperität war die leichte Verfügbarkeit über billige Roh-stoffe und Energien sowie die nahezu uneingeschränkte Möglichkeit, die Naturgrundlagen der Produktion quasi als „Gratisproduktivkraft“ auszubeuten. Heute ist der daraus resultierende Prozeß der tendentiel-len Zerstörung der Natur, den Karl Marx, am Beispiel der Industriali-sierung der Vereinigten Staaten, bereits Ende des neunzehnten Jahr-hunderts aufgezeigt und – neben der hemmungslosen Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft – als ein grundsätzliches Phänomen der kapi-talistischen Produktion beschrieben hat18, für jedermann bereits un-mittelbar erkennbare Realität geworden. Es läßt sich kaum mehr über-

18 Marx 198817,a.a.O., S. 529f.

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sehen, daß der Kapitalismus – ganz besonders in seiner auf Massen-produktion und Massenkonsum aufbauenden fordistischen Variante – die Tendenz hat, fortschreitend wachsende Rohstoff- und Energie-probleme sowie ökologische Zerstörungen auf progressiver Stufenlei-ter zu produzieren.

Immer offensichtlicher wird, daß die gewaltigen Produktivitätszu-wächse der letzten Jahrzehnte nur auf der Basis des schrankenlosen Raubbaus und der systematischen Zerstörung der Naturgrundlagen unserer Existenz erzielbar waren. Die brutale Ausbeutung der Arbei-tenden, die den Frühkapitalismus gekennzeichnet hatte, war in weite-rer Folge bloß abgelöst worden von einer ebensolchen Ausbeutung und Verstümmelung der Natur. Mit jenen heute aus ökologischen Notwendigkeiten eingeforderten „Grenzen des Wachstums“ (Dennis Meadows) sind damit aber auch die Grenzen des, auf permanente Ausweitung von Warenkonsum, Warenumlauf, sowie der ununterbro-chenen Steigerung der Produktivität programmierten fordistischen Kapitalismusmodells erreicht. Denn die Natur- und Umweltzerstörung hat inzwischen Dimensionen angenommen, die immer häufiger regu-lierende staatliche Eingriffe in Produktion und Konsum zwingend erforderlich machen. Dadurch wird aber eine – von André Gorz als „destruktives Wachstum“ bezeichnete19 – systemparalysierende öko-

nomische Dynamik in Gang gesetzt. Ein zunehmendes Quantum des Sozialprodukts kann nicht in den Prozeß der permanenten Bedürfnis-weckung und -befriedigung einfließen, sondern muß zum Zweck der Kompensation von Zerstörungen abgezweigt werden. Die Kosten des quantitativen Wachstums beginnen heute deutlich seinen Nutzen zu schmälern20. Daraus folgen die zunehmende Notwendigkeit einer

19 Vgl. Gorz, A.: Ökologie und Politik. Reinbek 1977. 20 In seinem schon weiter vorne zitierten Buch „Die Pflicht zur Faulheit“ belegt der

Autor Reinhard Klopfleisch diese Aussage mit einer Untersuchung von Cristian Leipert aus dem Wissenschaftszentrum in Berlin, der berechnet hat, daß die „heimlichen Kosten des Fortschritts“ im Zeitraum zwischen 1970 und 1988 von knapp 7 auf 11,6 Prozent des Bruttosozialprodukts angestiegen sind. Dabei rech-

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Veränderung der Produktions- und Konsumstandards sowie neue gesellschaftliche Verteilungskämpfe und Konflikte.

Heute ist das Gleichgewicht des Ökosystems Erde bereits so fun-damental gestört, daß die Folgen sowie die Möglichkeiten der Scha-densbegrenzung längst schon nicht mehr abschätzbar sind. Treibhaus-effekt und Klimaveränderung, die Gefährdung der stratosphärischen Ozonschicht, die Übersäuerung von Boden- und Wasserressourcen, das Waldsterben und die Bodenverschlechterung sowie schließlich eine allgemeine Verschmutzung und Vergiftung der Umwelt durch Chemikalien sind die Stichwörter für jene ökologischen Probleme, die in der Zwischenzeit zu Elementen der Alltagsdiskussion geworden sind. Im selben Maß, in dem offensichtlich wird, daß die derzeitige Form der Ressourcenvergeudung und der Umweltzerstörung in den industrialisierten Ländern, die ja nichts anderes als die Kehrseite des-sen darstellt, was wir gemeinhin unter einem anstrebenswerten, ange-nehmen Leben verstehen, nur um den Preis des allgemeinen Unter-gangs fortzuführen wäre, beginnen sich auch die Konturen eines neu-en gesellschaftlichen Verteilungskampfes abzuzeichnen. Wer und wie viele Menschen dürfen weiterhin „angenehm“ auf Kosten ihrer Mit-welt leben? Zunehmend läßt sich abschätzen, daß mit dem fast welt-weiten „Sieg des Kapitalismus“ nicht ein harmonisches, konfliktfreies Leben für alle, im Sinne jenes vom nordamerikanischen Philosophen Francis Fukuyama 1989 euphorisch proklamierten „Ende der Ge-schichte“ angebrochen ist, sondern für die unmittelbare Zukunft eher ein brutaler Kampf um die Vorteile des energievergeudenden und umweltzerstörerischen „Wohlstands“ zu erwarten ist.

net der Wirtschaftswissenschaftler zu den Kosten, die durch das Wachstum der Wirtschaft entstehen, nicht nur Umweltschäden, sondern auch Kosten des Ge-sundheitssystems, des Verkehrs, der Zersiedlung der Landschaft, der Kriminali-tät und der Arbeitsunfälle. Klopfleisch weist allerdingsauch auf Experten hin, die sogar die in dieser Höhe angesetzten Kosten des Wachstums noch als wesentlich zu niedrig ansehen. Klopfleisch, a.a.O, S. 202/203.

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Zusammenfassend können die Ursachen für die Existenzkrise und tendenzielle Auflösung der fordistischen Gesellschaftsformation also darin gesehen werden, daß die ihr zugrunde liegende Struktur der Mehrwertproduktion – tayloristische Massenproduktion auf der Basis einer Ausdehnung des „inneren Marktes“ sowie einer schrankenlosen Ausbeutung der Naturressourcen – zunehmend nicht mehr geeignet ist, Quelle stabiler oder sogar steigender Profitraten zu sein. Die „For-dismuskrise“, als das Aus-dem-Tritt-Geraten des fast ein halbes Jahr-hundert lang profitabel funktionierenden Zusammenspiels von Mas-senproduktion, Massenbeschäftigung und Massenkonsum, bedeutet eine dramatische Zäsur in der Geschichte des Kapitalismus und wird dementsprechend auch begleitet von tiefgreifenden gesellschaftlichen Brüchen. Oskar Negt spricht in diesem Zusammenhang von „einer die Gesamtgesellschaft erfassenden und bis in ihre Poren eindringenden Entmischung des vorher selbstverständlich Zusammengehörigen“21. Die von ihm als „Erosionskrise“ bezeichnete aktuelle Erschütterung des gesellschaftlichen Gefüges von Arbeit und Leben führt dazu, daß über lange Zeit tradierte und gesellschaftsstabilisierende Einstellun-gen, Wertsysteme, Erziehungsmuster, politische Regulationsmecha-nismen und Organisationsformen von Interessen heute massiv in Fra-ge gestellt werden.

Die Tatsache, daß – ganz der Logik der kapitalistischen Krisenbe-wältigung folgend – Konkurrenz heute auf allen Ebenen des wirt-schaftlichen und gesellschaftlichen Geschehens verstärkt in den Vor-dergrund tritt, läßt auch wieder ganz massiv das sozialdarwinistische Leistungsverständnis der vor-fordistischen Ära des Kapitalismus auf-leben. Ganz in diesem Sinn kann zum Beispiel in allen industrialisier-ten Ländern heute festgestellt werden, daß die in den letzten Jahrzehn-ten überwiegend und zunehmend akzeptierten „egalitären politischen Entwürfe“ derzeit mehr und mehr in Verruf geraten und dagegen in-

21 Negt, O.: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensio-

nen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt a.M./New York 19873, S. 55.

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dividuelle „Leistung“ sowie robustes „soziales Durchsetzungsvermö-gen“ wieder zu allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Leitbildern werden. Auch der „politische Keynesianismus sozialdemokratischer Prägung“ hat weithin liberalen Marktideologien Platz gemacht, und allenthalben wird heute laut über die Reduzierung sozialer Errungen-schaften nachgedacht. Generell haben zentrale Wertmuster und Ge-sellschaftsbilder der sechziger, siebziger und zum Teil auch noch der achtziger Jahre – die auf materielles Wachstum gestützte, durch poli-tische Maßnahmen initiierte Emanzipation gesellschaftlich Benachtei-ligter, der Glaube an den gesellschaftlichen Fortschritt, überhaupt die Vorstellung von der politischen Machbarkeit der Lebensverhältnisse – in letzter Zeit rasch an Bedeutung verloren. Die Faszination des büro-kratisch verwalteten, durch technischen Fortschritt ermöglichten und korporativ regulierten Marschs in eine Zukunft, in der es allen besser

geht, ist heute weitgehend passé22 – statt dessen etabliert sich zuneh-mend der „Sachzwang Markt“ im allgemeinen Bewußtsein als geeig-netes Regulativ auch für außerökonomische Probleme und Aufgaben.

Der allgemeine Glaube an die wirtschaftliche Prosperität als Prob-lemlöser läßt unter den Begleitumständen von Krise und Arbeitslosig-keit die in den vorigen Jahrzehnten etablierten korporativen Konflikt-lösungsmechanismen zunehmend stumpf erscheinen. Zugleich be-wirkt diese Situation auch einen sukzessiven Vertrauensverlust in die traditionellen Arbeitnehmerorganisationen, Gewerkschaften und tradi-tionellen sozialdemokratischen Parteien, die ja schon längst keine systemkritischen Vorstellungen mehr propagieren, sondern eine Bes-serstellung ihres Klientels im Rahmen und unter Ausnützung des ge-gebenen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Systems anstreben. Die Verunsicherung großer Bevölkerungsgruppen, daß die fast ein halbes Jahrhundert gut funktionierenden Muster des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts nun nicht mehr so recht greifen wollen,

22 Vgl. Hirsch/Roth, a.a.O., S. 11f.

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verschafft rechtspopulistischen Lösungsansätzen massiven Auftrieb. Dabei beherrschen primär die zwei Vorstellungen die Szene, das Konkurrenzprinzip am Arbeitsmarkt durch das Ausgrenzen ausländi-scher Arbeitnehmer abzuschwächen sowie mit mehr Härte gegen an-geblich zu wenig leistungswillige Gesellschaftsmitglieder vorzuge-hen. Nicht zufällig wird von extremen Verfechtern solcher „Lösun-gen“ meist auch gleich die bürgerliche Demokratie, die ihre unbestrit-tene Bedeutung ja erst unter den Bedingungen des fordistischen Kapi-talismus erlangt hat in Frage gestellt.

Gewinn und Wachstum galten seit Jahrzehnten als Wege zu einem Glück, von dem heute eine wachsende Zahl von Menschen ernüchtert feststellen muß, daß es in immer weitere Ferne rückt. Die unüberseh-bar voranschreitende Zerstörung der Umwelt und die wachsende Be-drohung, arbeitslos zu werden, läßt die Ängste in der Gesellschaft massiv wuchern. Diese Ängste stellen den idealen Nährboden für Populismus, Nationalismus, Rechtsextremismus und Gewalt dar. Ver-unsicherung und Angst sind heute auch zunehmend häufig das Motiv, fallweise laut über die Lösungskapazität der Demokratie nachzuden-ken. Relativ oft werden derzeit auch von Personen, denen eine ver-stärkte Berücksichtigung ökologischer Prämissen ein Anliegen ist, Zweifel daran geäußert, daß die Demokratie in ihrer gegebenen Form geeignet ist, die diesbezüglich drängenden Zeitprobleme zu lösen. So glauben beispielsweise die Autoren des Berichts des Club of Rome 1991, trotz eines an anderen Stellen herausgestrichenen grundsätzli-chen Bekenntnisses zur Demokratie, in ihrer Publikation nicht ohne die Bemerkung auskommen zu können, daß die Demokratie „kein Patentrezept“ ist, und „in ihrer heute praktizierten Form für die vor uns liegenden Probleme nicht mehr besonders gut geeignet“ scheint23. Die Krise der fordistisch-kapitalistischen Gesellschaftsformation for-ciert offenbar, sowohl unter ihrem ökonomischen als auch unter dem

23 King A./Schneider B.: Die globale Revolution. Bericht des Club of Rome 1991.

„Spiegel Spezial“ 2/1991, S. 69.

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ökologischen Aspekt, radikale, demokratisch nicht legitimierbare Lösungsmuster.

Jedoch nicht nur die Politik, auch die Alltagskultur hat sich grund-legend geändert – pointiert kann derzeit von der Rückkehr eines poli-tisch-gesellschaftlichen Biedermeier gesprochen werden. Zukunfts-ängste und die zunehmende Erosion politischer Visionen führen dazu, daß sicherheitsvermittelnde Klischees verstärkt idealisiert werden. Ein neuer Nationalismus und Regionalismus, der Rückzug ins Private, die Renaissance von Familien-, Gemeinschafts- und Heimatmythen kön-nen durchaus als die Kehrseite der Ängste vor Auflösung der Gren-zen, Flüchtlingsflut, wachsender Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und ökologischen Bedrohungen interpretiert werden24. Besonders das Ideal der harmonischen Familie, deren Mitglieder sich gegenseitig stützen, scheint als „affektiver Strohhalm“ gegen den sich zunehmend verschärfenden und vielfach als Bedrohung erlebten, in alle gesell-schaftlichen Bereiche verstärkt durchschlagenden Konkurrenzkampf zu fungieren. Nicht zufällig taucht sowohl in der Produktwerbung als auch in Wahlkämpfen in den letzten Jahren immer häufiger „die Idyl-le“ – in Form der harmonischen Familie25, des traditionell werkelnden

24 Auch im Biedermeier des 19. Jahrhunderts, als die „Identifikationsfigur Familie“

entstand, war die Idealisierung des privaten Glücks zumeist bloß Flucht vor der weitaus weniger romantischen Realität. Nur eine schmale Gesellschaftsschicht – das ökonomisch potente, aber politisch einflußlose Bürgertum – konnte auf den Spitzelstaat Metternichs mit Rückzug in die Privatheit der eigenen Wohnung re-agieren und dort schöngeistige Lebensart kultivieren. Der Großteil der Bevölke-rung war gar nicht verheiratet – entweder weil sie kein Recht dazu hatten, wie Knechte, Mägde, Vagabunden, oder sie sich eine eigene Familie nicht leisten konnten, weil sie keinen Anspruch auf das väterliche Erbe hatten –, litt unter Wohnungsnot, erbärmlichen Wohn- und katastrophalen Arbeitsbedingungen.

25 Im amerikanischen Präsidentenwahlkampf 1992 war beispielsweise von kaum mehr etwas anderem die Rede als von „family values“. Der „Schutz der Famili-enwerte“ ging dabei so weit, daß der damalige Vizepräsident Dan Quale es für notwendig – oder opportun – hielt, sich öffentlich darüber zu empören, daß in ei-ner beliebten Fernsehserie die Hauptfigur als ledige Frau ein Kind bekommt und es ohne Vater großziehen will. Vgl. „Psychologie heute“ 20 (1993) 3, S. 23.

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Handwerkers oder der „unberührten Natur“ – auf. Dazu paßt dann auch, daß nach einer 1991 durchgeführten internationalen Wertestudie sechsundachzig Prozent der Österreicher ihr Glück in der „kleinen Lebenswelt“ zu finden glauben, nur sieben Prozent dagegen durch Politik26. Zusätzlich treten Katastrophenängste und Endzeitstimmun-gen, häufig gepaart mit diffusen Heilserwartungen, auf. Ganz in die-sem Sinn haben heute Esoterik, Magie, Versatzstücke verschiedenster okkulter Heilslehren und diverse Naturmythen – ähnlich wie in den dreißiger Jahren27 – Hochkonjunktur und dringen in immer größere Bereiche des Alltags ein.

Selbstverständlich war auch die bisherige Geschichte des Fordis-mus begleitet von Brüchen, Krisen und wirtschaftlichen Rezessionen. Was sich jedoch grundsätzlich geändert hat, ist das Ausmaß der Mög-lichkeit, auf die krisenhafte Wirtschaftsentwicklung mittels einzel-staatlich-politischer Steuermaßnahmen zu reagieren. Heute existiert ein Weltwirtschaftssystem, in dem die nationalstaatlichen Ökonomien immer weniger als Volkswirtschaften, sondern eher als Bestandteile eines integrierten Weltmarkts mit exportorientierten Konzernen be-zeichnet werden können.

Zum einen wird das wirtschaftliche Geschehen heute zu einem großen Teil von transnationalen Unternehmungen bestimmt, deren wirtschaftliches Agieren durch nationale Maßnahmen sowieso kaum beschränkt werden kann. Produziert wird dort, wo die höchste Rendite für das eingesetzte Kapital erwartet werden kann; geringere Investiti-onskosten, eine relativ kleine steuerliche Belastung, niedrige Löhne und Sozialleistungen28 oder eine erwartete höhere Produktivität durch

26 Zuhlehner/Denz/Beham/Friesl (Hg.): Vom Untertan zum Freiheitskünstler. Wien

1991. Hier zit. nach „Profil“ 24 (1993) 10, S. 66. 27 Vgl. Gugenberger, E./Schweidlenka, R.: Mutter Erde, Magie und Politik. Zwi-

schen Faschismus und neuer Gesellschaft. Wien 1987. 28 So hat das Lohnkostenmotiv dazu geführt, daß die Bekleidungsindustrie in den

letzten Jahren durch eine Reihe asiatischer Länder, jeweils dorthin gewandert ist, wo die Lohnkosten gerade am niedrigsten waren. Begonnen hat es in Hongkong,

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entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte können einen diesbezüglichen Anreiz bieten. Zum anderen zwingt die internationale wirtschaftliche Verflochtenheit und gegenseitige Abhängigkeit die einzelnen Staaten heute immer mehr, sich transnationalen Abkommen zu unterwerfen, durch die Möglichkeiten protektionistischer Wirtschaftspolitik und der Aufbau antiliberalistischer Wirtschaftsbarrieren gegenüber ande-ren (Industrie-)Ländern weitgehend verhindert werden. In diesen Ge-gebenheiten sind zwar die Hauptgründe dafür zu sehen, daß – im Ge-gensatz zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre – der Welthandel derzeit keinerlei Zusammenbruchstendenzen zeigt, gleichzeitig aber stellt sich damit der Effekt ein, daß bei den – weiterhin einzelstaatlich verhandelten und festgelegten – Löhnen, Sozialleistungen und Unter-nehmenssteuern ein unaufhörlicher Druck in die Richtung des „kleins-ten gemeinsamen Nenners“ stattfindet.

Staatliche Wirtschaftspolitik gerät im Zuge dieser Entwicklung in ein eigentümliches Dilemma: Sie steht zwar einerseits unter dem im-mer stärkeren Zwang zur Erhaltung und Verbesserung der Konkur-renzfähigkeit des jeweiligen nationalen Standorts, aber andererseits grenzen die Imperative des Weltmarkts die politischen Handlungs-möglichkeiten immer mehr ein. „Internationale Kapitalverflechtung und die politisch nur sehr beschränkt beeinflußbare Dynamik des Weltmarkts sind nationalstaatlichen Aktivitäten immer schon vorge-lagert und zwingen die Regierungen weitgehend zu einer Anpas-

dann folgte Macao, nach Macao ging es nach Südkorea, Taiwan, Indonesien und schließlich nach Thailand. Und der nächste Schritt ist schon vorbereitet, der Lohnkostenlogik folgend, folgt als nächstes Vietnam. Ein anders diesbezügliches Beispiel stellen die berühmten Seiko-Uhren dar, deren Produktion seinerzeit von Japan nach Hongkong verlagert wurde, von dort nach Taiwan, von Taiwan nach China und schließlich wieder zurück nach Japan. Der Grund für den Weg zurück in das Ursprungsland war, daß man die Uhr in der Zwischenzeit vollautomatisch produzieren kann und die Lohnkosten keine Rolle mehr spielen. Die Beispiele stammen aus: Bauer, H.J.: Die Internationalisierung der wirtschaftlichen Bezie-hungen. In: BMUK/ÖIIP: Die neuen globalen Herausforderungen – Die UNO an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Wien 1992, S. 53.

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sungsstrategie. […] Der Staat wurde mit wachsender Internationalisie-rung des Kapitals immer unvermittelter zum bestenfalls politisch mo-difizierten Exekutor des sich auf Weltmarktebene um so ungehinder-ter durchsetzenden kapitalistischen Wertgesetzes“29.

Die Notwendigkeit, Strukturanpassungen und Modernisierungs-prozesse im Sinne einer laufenden Verbesserung der Konkurrenzfä-higkeit durch staatliche Maßnahmen zu fördern, bei gleichzeitig wachsender Außendeterminierung der diesbezüglichen Handlungsal-ternativen, führt somit zum widersprüchlichen Effekt, daß der Staat zwar immer mehr als Akteur im Zusammenhang mit ökonomischen und gesellschaftlichen Krisen erscheint, die Spielräume nationaler Politik real jedoch zunehmend abnehmen. Im Gegensatz zum populä-ren Slogan „Mehr Privat und weniger Staat“ kann es sich der Staat – trotzdem sein Regulierungsspielraum zunehmend eingeengt und seine Regulierungsmaßnahmen immer stärker vorgegeben erscheinen – heute immer weniger leisten, in das ökonomische Geschehen nicht einzugreifen. Die Aussage, daß heute „der Kapitalismus den nationa-len Staat [überholt], nachdem er ihn durch die internationale Ausdiffe-renzierung des warenproduzierenden Systems unregierbar gemacht hat“30, stellt eine gelungene Zusammenfassung der derzeitigen Situa-tion dar.

29 Hirsch/Roth, a.a.O., S. 65. 30 Diese Aussage stammt aus einer Besprechung von Konrad Paul Liessmans Buch

„Karl Marx. Man stirbt nur zweimal“. Der Autor führt die zitierte Aussage weiter mit einer sarkastischen Kritk an der Vorstellung, durch nationalstaatliche Zu-sammenschlüsse wie der „Europäischen Gemeinschaft“ die Bedeutung des Staa-tes reaktivieren zu können. „Die EG ist der immer lächerlicher werdende Ver-such, diesen Nationalstaat zu retten durch die Konstruktion eines Megastaates, der den Megastrukturen des modernen Kapitalismus (Handel, Verkehr, Industrie) gewachsen ist. Eines der Mißverständnisse der modernen Politik: eine Riesen-struktur könne anstehende Probleme besser lösen. In Wirklichkeit wachsen aber die Probleme mit den wachsenden Wirtschaftsräumen. Außerdem ist ein ökono-misch geeintes Teil-Europa angesichts der beiden Weltprobleme Umwelt und Welthunger gar nicht das Thema, sondern ein um ein Marxsches Vokabel zu

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Der Staat wird immer mehr auf die Funktion einer Wirtschaftsför-derungsagentur reduziert. Steuerbefreiungen und Zinsenzuschüsse für Unternehmen, Stützungsaktionen für marode Betriebe, Ausfallshaf-tungen für Großprojekte31 im Verkehr mit anderen Ländern und Ähn-liches binden damit jedoch immer stärker die zur Verfügung stehen-den Ressourcen. Für Sozialmaßnahmen bleibt – trotz der objektiv immer größeren Notwendigkeit diesbezüglicher Politik – immer we-niger Spielraum. Politik wird damit weitgehend reduziert zu einer „Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln“. Die Aufgabe des Staates fokussiert sich in erster Linie darin, förderliche Rahmenbe-dingungen für das wirtschaftliche Geschehen und das ökonomische Wachstum zu schaffen. Ausgaben in der volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnung, die nicht mit dem Wirtschaftsförderungsetikett verse-hen werden können, sind immer schwerer argumentierbar. Diskussion um die (angeblich zu) hohen Kosten für die staatliche Verwaltung, die große Zahl von Beamten oder darüber, wieweit „wir“ uns die öffentli-che Bezuschussung von Kranken- und Pensionsversicherungen leisten können, sind Indikatoren dieser Entwicklung. Aber auch die Tatsache, daß ökologisch sinnvolle Begrenzungen wirtschaftlichen Handelns und das Einhalten diesbezüglicher umweltschonender Standards fak-tisch nur über den Weg massiver staatlicher Unterstützungen erreicht werden können (da der heimischen Wirtschaft ja sonst ein Wettbe-werbsnachteil im internationalen Konkurrenzkampf erwachsen wür-de), zeigt deutlich die Dimensionen heutiger einzelstaatlich-politi-scher Handlungsmöglichkeiten auf.

Durch das skizzierte Dilemma des Staates, immer stärker in die Rolle einer Wirtschaftswachstumsförderungsagentur gedrängt zu sein

verwenden: abgeschmackter Anachronismus.“ Dallamaßl, W.: Sag niemals Nie. In: „Akzente“ 3/1993, S. 36.

31 Mit Ende 1993 haftete der österreichische Staat schon für einen Betrag von insgesamt fast einer Billion Schilling, eine Summe, die etwa gleich groß ist wie die offizielle Staatsverschuldung. Vgl. „Der Standard“ 18./19. Dezember 1993, S. 5.

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und damit weniger Spielraum beim Einsatz der Budgetmittel zu ha-ben, gerät auch das Bildungs- und Ausbildungswesen heute zuneh-mend unter Druck. Einerseits stellen Schule, Universität und die öf-fentlich finanzierten Teile der Aus- und Weiterbildung einen durchaus nicht unwesentlichen Ausgabenposten in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung dar und kommen im Sinne der dargestellten Ent-wicklung logischerweise unter Legitimationszwang. Andererseits kommt dem Qualifikationsprofil der erwerbsfähigen Bevölkerung heute unzweifelhaft eine große Bedeutung für die Wettbewerbsfähig-keit der heimischen Wirtschaft im grenzüberschreitenden Konkur-renzkampf zu. Allgemein wird sogar angenommen, daß – neben den drei klassischen Wirtschaftsfaktoren Grund und Boden, Finanzkapital und Arbeit – die Bedeutung des sogenannten „Humankapitals“ als Produktionsfaktor in Zukunft sogar noch weiter anwachsen wird. Maßnahmen zur Erhöhung und systematischen Steuerung des Quali-fikationsprofils der arbeitsfähigen Bevölkerung werden damit – als ein wesentlicher Impuls zum Erhalt und zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit – immer wichtiger. Zugleich erhöht sich – im Sinne der angesprochenen Logik – aber auch der Druck, die Mittel für Aus- und Weiterbildung nach ökonomisch sinnvollen Kriterien einzu-setzen, das heißt, sie immer mehr unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckgerichtetheit im Hinblick auf den gegebenen und prognostizier-ten Qualifikationsbedarf als Funktion wirtschaftlicher Prosperität zu kanalisieren.

Die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung des Qualifikationspo-tentials der Erwerbstätigen läßt „Lernen“ aber auch immer mehr zu jener zentralen gesellschaftlichen Größe werden, bei der sich die spe-zifischen Interessen der Lohnabhängigen scheinbar mit den „nationa-len Wirtschaftsinteressen“ decken. Im Besitz genau jener Qualifikati-onen zu sein, nach denen am Arbeitsmarkt Nachfrage besteht, ver-spricht dem Einzelnen den Erfolg im Konkurrenzkampf um Arbeits-plätze. Zugleich macht die Summe der Bemühungen um arbeits-

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marktkonforme Qualifikationen, den jeweiligen nationalen Standort für Kapitalinvestitionen attraktiv, da das dergestalt entsprechend a-daptierte Humankapital eine hohe Wettbewerbsfähigkeit der dortigen Wirtschaft verspricht. Dementsprechend sind sich heute auch alle – Gewerkschaften, Unternehmer, Parteien, Regierungen, … – in der Betonung der Wichtigkeit von Bildung und insbesondere der von Weiterbildung einig. Der vordergründige Interessenskonsens kulmi-niert in der wohlklingenden, bei jeder Gelegenheit wiederholten Phra-se von der „lebenslangen Bildung“, die sich bei näherem Hinsehen allerdings bloß als die Notwendigkeit zu einer in immer rascherer Folge zu vollziehenden „Anpassungsleistung“ herausstellt. Nicht um „Bildung“ geht es dabei, nicht um die Subjektentwicklung von Indivi-duen, sondern um „Anpassung von Humankapital“ an die sich immer schneller verändernden Bedingungen in Lebenswelt und Beschäfti-gungssystem. Nicht die Reflexionsleistung freier Individuen wird mit der Parole von der „lebenslangen Bildung“ angesprochen, sondern ein unerbittlicher Zwang zur lebenslänglichen (Nach-)Qualifizierung

unter Androhung des sonstigen Untergangs im allgesellschaftlichen

Konkurrenzkampf. Jeder wird – so lautet heute die permanent wiederholte, aber nur

selten auf ihre Konsequenzen hinterfragte Botschaft – im Laufe seines Lebens mehrmals umlernen müssen. Die nötige Untermauerung be-kommt diese Prognose durch die ebenfalls immer wieder vorgebrach-ten Hinweise auf die laufenden Prozesse der Strukturveränderung, die Mechanismen von Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Notwendigkeit des überwiegenden Teils der Bevölkerung, auch morgen noch einen Käufer für ihre Arbeitskraft zu finden. Wei-terbildung wird somit zu einem Zwang, dem zu entziehen sich kaum jemand leisten kann. Nicht die Möglichkeit, als Erwachsener Rück-schau zu halten und eigene Erfahrung im Lichte neuer Theorien zu reflektieren, bleibt als Motiv für Weiterbildung, sondern der gesell-schaftliche Auftrag und die als unabdingbare Notwendigkeit auftre-

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tenden Bedingungen des wirtschaftlichen Geschehens. Aus dem in den siebziger Jahren geforderten Recht auf (Weiter-)Bildung, im Sin-ne eines der Chancengerechtigkeit verpflichteten Bildungsauftrags und der antizipierten Möglichkeit derart beförderbarer Persönlich-keitsentwicklung, ist der Zwang zur laufenden Adaption von Wissen und Können an die Erfordernisse der Wirtschaft geworden. Das schö-ne Bild vom lebenslangen Lernen ist zur Drohung „lebenslänglichen Lernens“ (Karlheinz A. Geißler) mutiert.32

Was im Post-Fordismus tatsächlich und endgültig „lebenslang“ geworden ist, ist in erster Linie die zunehmende Gefahr, irgendwann die laufend geforderte Qualifikationsanpassung nicht zu schaffen, dadurch im Beschäftigungssystem nicht mehr brauchbar zu sein, den Arbeitsplatz zu verlieren und aus der bisher aufgebauten sozialen Position geworfen zu werden. Das Versprechen der „Moderne“, daß nicht „Vorrechte der Geburt“, sondern Faktoren wie „Leistungsfähig-keit“ und „Leistungswilligkeit“ ausschlaggebend für das Erreichen bestimmter sozialer Positionen sein sollen, offenbart – obzwar noch niemals wirklich eingelöst – seine brutale Kehrseite. Waren in der vorkapitalistisch-ständischen Gesellschaft von Geburt an die Weichen für die jeweiligen gesellschaftlichen Möglichkeiten gestellt, verspra-chen die begründenden Werte der bürgerliche Gesellschaft – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diese Determinierung radikal aufzubre-chen. Nur die Eignung und Neigung für das Ausüben bestimmter

32 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein von Karlheinz A. Geißler vertrete-

ner Gedanke. Er argumentiert, daß das „lebenslange Lernkonzept“ in seinem Kern eigentlich ein „Todesverdrängungskonzept“ darstellt, ein Konzept, das die Fortschrittsillusion aufrechterhält und die Fiktion, ewig produktiv und ewig ent-wicklungsfähig zu sein. Lebenslanges Lernen – so resümiert er – ist gegen die Endlichkeitsdemut gerichtet. In diesem Sinn fügt sich die Idealisierung des le-benslangen Hinterherhetzens hinter den jeweils neu geforderten Qualifikations-anforderungen der Arbeitswelt gut zu der – im Kapitel 7 besprochenen – „Ver-leugnung des Todes“ der Menschen in der industrialisierten Welt. Vgl. Geißler K. A.: Die zunehmende Verparadoxierung der Erwachsenenbildung. Vortrag am 23. November 1992 im Verband Wiener Volksbildung.

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Funktionen – nachgewiesen durch den entsprechenden Bildung-sabschluß – sollte das neue gesellschaftliche Auslesekriterium darstel-len. Schule, Ausbildung und Universität mutierten dementsprechend zu den Schlüsselbereichen der „Verteilung von Lebenschancen“. „Bildungspatente“ (Max Weber) wurden anstelle der ehemaligen A-delsprädikate zu den Berechtigungsscheinen der Gesellschaft – die Parallelität zur Installierung der Konkurrenzökonomie ist unüberseh-bar, und ohne Zweifel stellte die so erfolgte „Freigabe der gesell-schaftlichen Positionierung“ auch einen sinngemäßen gesellschaftli-chen Fortschritt dar.

Allerdings, trotz der heutigen, relativ gerechten Zugangsbedingun-gen zu den nunmehrigen Verteilungsinstanzen sozialer Chancen (die jedoch auch erst in den letzten Jahrzehnten, nach einem mehr als ein Jahrhundert dauernden Kampf erreicht worden waren), läßt sich un-schwer feststellen, daß auch das Erreichen des neuen Auslesekriteri-ums „Eignung“ nur allzu deutlich durch die soziale Herkunft determi-niert wird. So sind die alten Privilegien zwar nicht ausgeschaltet, aber neue Legitimationsmuster entstanden. Denn, wenngleich als generel-ler Trend durchaus nicht nachweisbar, so läßt sich mit vielen Einzel-schicksalen belegen, daß ein durch Leistung und Anstrengung erreich-ter „höherer Bildungsabschluß“ den sozialen Aufstieg für einzelne ermöglichen kann. Die verschärften Konkurrenzbedingungen der postfordistischen Gesellschaft stellen nun – in positiver Wendung – quasi die Neuauflage des Versprechens auf gleiche und gerechte Zu-gangschancen zu den sozialen Positionen dar. Denn der nun zuneh-mend „lebenslang“ geforderte Kampf um das Erreichen, Sichern und Erweitern beruflicher und sozialer Positionen durch „lebenslange Bildung“ suggeriert im Umkehrschluß auch die Hoffnung, daß „die Karten immer wieder neu gemischt“ würden und man es ja auch spä-ter noch „schaffen“ kann. Die „offizielle“ Verteilungsmacht für sozia-le Positionen verschiebt sich derzeit von Schule und Erstausbildung zur Weiterbildung, damit verbunden werden aber auch jene Mecha-

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nismen wieder unklarer, die dafür verantwortlich sind, daß die Mög-lichkeiten, über die Legitimation „Bildung“ attraktive gesellschaftli-che Positionen zu erreichen, äußerst ungleich verteilt sind.

Zusätzlich sollte nicht vergessen werden, daß der derzeitige Zu-gangsmechanismus zur Weiterbildung nicht einmal dem formaldemo-kratischen Kriterium der gleichen Zugangschancen gerecht wird. Das was im Schul- und Erstausbildungssystem heute gilt, daß jeder – zu-mindest formal – (im Rahmen der bildungshierarchischen Berechti-gungen) die gleichen Chancen der Teilnahme hat und daß die mate-riellen Barrieren für das Durchlaufen einer Bildungskarriere heute nur mehr als relativ klein bezeichnet werden können33, trifft überhaupt nicht auf den Weiterbildungsbereich zu. Es gibt derzeit – obwohl von Arbeitnehmerseite seit Jahren urgiert – kein Recht auf „Bildungsfrei-stellung“ und nicht einmal Ansätze eines „Rechtes auf Weiterbil-dung“. Ein großer Teil der außerbetrieblichen Weiterbildung wird durch private Anbieter organisiert und ist absolut nicht für jedermann erschwinglich. Zum überwiegenden Teil findet Weiterbildung jedoch sowieso im Rahmen der Unternehmen und im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen statt; zu dieser betrieblichen oder betriebsbeauf-tragten Weiterbildung wird man „entsandt“ oder bestenfalls durch die entsprechende Unternehmensinstanz „zugelassen“. Die Möglichkeit, eine Weiterbildungsveranstaltung gleichen Inhalts bei einem anderen Anbieter besuchen zu können und ebenfalls vergütet zu bekommen oder gar überhaupt einen anderen – nicht den aktuellen Unterneh-

mensinteressen entsprechenden – Kurs auf Firmenkosten zu besu-chen, besteht nahezu nie. Zugleich gibt es nur in wenigen Bereichen

33 Eingeschränkt muß diesbezüglich auf jeden Fall werden, daß die materiellen

Barrieren für das Besuchen des derzeit expandierenden Privatschulwesens – das ja seinen „guten Ruf“ oftmals der Tatsache verdankt, daß die Absolventen mit besseren beruflichen Startchancen rechnen können – durchaus sehr hoch sind. So können beispielsweise in Österreich die – im internationalen Vergleich eher niedrigen – jährlichen Kosten für einen Privatschulbesuch bis zu 105.000.- ö.S. betragen. „Gewinn“ 7/8/1993.

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ein allgemein geregeltes System der Anerkennung von Weiterbil-dungskursen und den dabei erworbenen Zertifikaten.

Wenn – so wie es alle Indikatoren anzeigen – Schul- und Erstaus-bildungsabschlüsse in Zukunft immer stärker nur mehr die „Startvor-aussetzungen“ für den über die „lebenslange (Weiter-) Bildung“ aus-getragenen Konkurrenzkampf um attraktive berufliche und soziale Positionen darstellen werden34, dann resultieren aus den beschriebe-nen Tatsachen unmittelbar zwei demokratiepolitisch äußerst bedenkli-che Folgen: Zum einen kann die – politisch beeinflußbare – staatliche Bildungspolitik damit immer weniger zur demokratischen Zielsetzung einer sozialen oder geschlechtsspezifischen Chancengerechtigkeit beitragen, und es entstehen neue Ungleichgewichte zwischen der Durchsetzungsmöglichkeit von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinte-ressen; Weiterbildung wird zu einem Instrument unternehmerischer Personal(steuerungs)politik und damit zu einem neuen Machtmittel der Unternehmerseite. Zum anderen arbeitet die, im Rahmen und bei Kostenübernahme durch die Unternehmen, organisierte Weiterbildung immanent dem zu demokratischen Verhalten fähigen, mündigen Indi-viduum entgegen, da sie sich – logischerweise – ausschließlich an (einzel-)betrieblichen Verwertungsinteressen orientiert.

Damit bleibt aber auf jeden Fall das wesentliche Element einer Bildung, die zu „beruflicher Mündigkeit“ und nicht bloß zu berufli-cher Brauchbarkeit führt, ausgeklammert, nämlich die Reflexion der

außerberuflichen Folgen des beruflichen Handelns! So wird bei-spielsweise das grundsätzliche In-Frage-Stellen eines nur zum Zweck der „Mehrwertproduktion“, betriebenen Herstellens, „sinn“loser, viel-leicht sogar umweltschädigender oder ressourcenvergeudender Pro-dukte im eigenen Unternehmen wohl kaum Thema eines betrieblich organisierten und bezahlten Weiterbildungsseminars sein. Betriebli-

34 Vgl. dazu insbesonders Geißler A.: Auf dem Weg in die Weiterbildungsgesell-

schaft. In: Wittwer, W. (Hg.): Annäherung an die Zukunft. Zur Entwicklung von Arbeit, Beruf und Bildung. Basel 1990, S. 161-188.

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che Weiterbildung orientiert sich selbstverständlich nur am grundsätz-lichen Unternehmenszweck, der Erhöhung der Dividende des inves-tierten Kapitals, ethische oder moralische Implikationen können – im Falle des Nicht-Kollidierens mit diesem primären Zweck – bestenfalls „Nebenprodukt“ betrieblicher Bildungsarbeit sein. Es geht darum, die Teilnehmer so zu qualifizieren, daß sie in der Lage sind, besser zum Unternehmensziel beizutragen, sicher nicht um ihre Befähigung, die gegebenen Arbeits- und Berufsbedingungen auf Zweck und Nutznie-ßer zu hinterfragen, zu ihnen Stellung zu nehmen und sie selbst nach ihren Bedürfnissen und Interessen beeinflussen zu können.

Einerseits durch die ökonomische Bedeutung des Qualifikations-potentials der Erwerbstätigen bedingt sowie andererseits durch die Tatsache, daß nur wer verwertbare Qualifikationen nachweisen kann, auch Chancen auf einen Arbeitsplatz hat, steht allerdings auch das gesamte öffentlich organisierte Schul- und Ausbildungssystem heute zweifach unter dem „Druck von Verwertungsinteressen“. Von der Seite ihres Klientels und von der Seite der „Abnehmer“ erfolgt immer deutlicher und immer massiver die Forderung nach „Praxisrelevanz“ und „Brauchbarkeit“ des Gebotenen. Gemeint ist damit nichts anderes als die Ausrichtung von Bildungszielen, Bildungsinhalten sowie den

strukturellen Bedingungen der Bildungsarbeit am Qualifikationsbe-

darf der Wirtschaft. Der Markt und dessen Notwendigkeiten werden zum geeigneten Maßstab pädagogischen Bemühens hochstilisiert. Bildung wird damit, auch in ihrer staatlich organisierten Form, redu-ziert zur bloßen Qualifikation, zur Anpassung an die aus ökonomi-

schen Gegebenheiten abgeleiteten Erfordernisse. Alles was über den Bereich des ökonomisch Zweckmäßigen hinausgeht, die „klassisch-humanistische Orientierung“ am zweckfreien „Wahren, Guten und Schönen“, wird zum unnötigen Ballast veranstalteten Bildungsbemü-hens und zunehmend aus dem Bereich der gesellschaftlichen Verant-wortung verwiesen. Damit ergibt sich der paradoxe Effekt, daß der Besuch von Schulen und Einrichtungen der Aus- und insbesondere

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Weiterbildung mit dem Voranschreiten des Kapitalismus zwar immer wichtiger wird, die angesprochenen Institutionen zugleich jedoch immer mehr ihren „Bildungscharakter“ verlieren.

Das was zwar weiterhin unter Bildung firmiert – und scheinbar den Interessen aller Beteiligten entgegenkommt –, stellt nur mehr blinde Anpassung an die vorgefundene Gesellschaft mit ihren vorge-gebenen Rollen und Funktionen dar. Bildung hingegen, als die Ent-wicklung der Fähigkeit, den Status quo und seine Triebkräfte grund-sätzlich in Frage zu stellen – im Lichte der immer wieder neu gestell-ten Frage, was die Menschen sind und was sie sollen, die Welt sozial verantwortlich (mit-)zuschaffen35 – verliert völlig ihren gesellschaftli-chen Wert. Bildung, die Grundlage humaner, kultureller Entwicklung, wird ersetzt durch Qualifikation, den Motor ökonomischen Wachs-tums, und damit schlichtweg aufgelöst.

Der sich zunehmend verschärfende wirtschaftliche Konkurrenz-kampf zwischen Wirtschaftsblöcken, Staaten und Regionen sowie die Tatsache, daß die Anzahl der Gewinner immer kleiner, die Folgen für die Verlierer immer massiver und die Gefahr, aus der Gewinnerposi-tion in die Situation eines Verlierers abzusteigen36, immer größer wird, zwingt alle, bis hin zum sprichwörtlichen „kleinsten Arbeiter“, unerbittlich unter die Dynamik wirtschaftlichen Wachstums – Fragen nach dem Wofür und Wozu werden irrelevant, weil jede Verhaltensal-ternative mit dem Preis des wirtschaftlichen Untergangs beziehungs-weise der Deklassierung bezahlt werden müßte. Das Stellen der Sinn-frage – immanentes Ziel jedweder Bildungsbemühung, die diesen Namen wirklich verdient – wird unter solchen Begleitumständen zum Privileg jener wenigen, die sich auf Kosten der Mehrheit (noch) in einer abgesicherten Position befinden und sich dem alles umfassenden Konkurrenzkampf zumindest in Teilbereichen entziehen können.

35 Ebda. 36 Siehe dazu auch die Fußnote 17 in diesem Kapitel.

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Sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaft leitet sich Sinn und Zweck von Bildung heute im wesentlichen nur mehr aus einer Abwägung von Kosten und quantifizierbarem Nutzen ab. Bil-dung wurde „instrumentalisiert“, sie wurde endgültig degradiert zum Einsatz beim gesamtgesellschaftlichen Verdrängungswettkampf und damit auch in den Dienst des allgemeinen Wachstumsideals genom-men. Fast niemand kann es sich noch „leisten“, Bildung unter der Zielsetzung wahrzunehmen, sich selbst und die ihn umgebende Welt zu verstehen sowie zu reflektiertem Handeln fähig zu werden; sie wird heute fast ausschließlich als der Erwerb von Kenntnissen, Fähig-keiten und Fertigkeiten gesehen, die sich durch Brauchbarkeit – im Sinne der verkürzten Maßstäbe individueller und gesellschaftlicher Effizienz – auszeichnen. Bildung erscheint unter den Bedingungen der fortgeschrittenenen Konkurrenzökonomie faktisch ausschließlich unter dem Aspekt der utilitaristischen Reduzierung auf abnehmeradä-quate Qualifizierung. Damit ist die Beschränkung auf die Herausbil-dung jener Arbeitsfähigkeiten gemeint, die „vermarktbar“ sind, das heißt anderen wirtschaftliche Vorteile versprechen, indem damit ein profitabel verkaufbares Gut oder eine entsprechende Dienstleistung bereitgestellt werden kann. Mit anderen Worten: Bildung unter dem konkurrenzökonomischen Aspekt der Reduzierung auf Qualifizierung ist eindimensional auf die Förderung jener Fähigkeiten und Talente

ausgerichtet, die einen aktuellen ökonomischen Nutzen versprechen. Der alle Poren der Gesellschaft durchdringende Konkurrenzkampf

im fortgeschrittenen Kapitalismus und die daraus folgende Unterord-nung allen Strebens unter das ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül läßt schließlich alles den Charakter einer Ware annehmen und zum Einsatz beim großen Verdrängungswettkampf werden. Auch Bildung wird in diesem System auf ihren Warencharakter reduziert, ihre effek-tive Herstellung und ihr profitabler Einsatz, entsprechend ökonomi-scher Kriterien, werden kalkulierbar und müssen in letzter Konse-quenz auch kalkuliert werden, um nicht im alles bestimmenden Kon-

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kurrenzkampf zu unterliegen. In einer Gesellschaft, die vom Geist ökonomischen Denkens durchdrungen ist, wird auch der Luxus einer nicht in den Dienst wirtschaftlichen Wachstums genommenen Bil-dung immer weniger möglich; sowohl aus gesellschaftlicher als auch aus individueller Sichtweise wird Bildung schließlich ebenfalls zur Ware, in Form ihres Zerrbildes – der Qualifizierung – muß sie sich dem Prinzip Wachsen oder weichen unterordnen. Dementsprechend werden auch Schule und die Institutionen der Aus- und Weiterbildung heute faktisch nur mehr daran gemessen, wie sehr sie dem Produkti-onsprozeß, der „Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft“ und verbesser-ten Einkommens- und Aufstiegschancen ihrer Besucher dienlich sind, ihre Qualität bestimmt sich nicht am Wachstum der Subjekte, sondern

am Wachstum der Wirtschaft.

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3. VON DER TAYLORISTISCHEN MODERNISIERUNG

ZUR HEUTIGEN „POSTMODERNISIERUNG“ DER

ARBEITSWELT

… zutreffend ist allerdings, daß wir in einigen Jahren deutlich

weniger Arbeitsplätze haben werden. Doch das wird nicht nur

Opel betreffen, sondern weltweit in der Industrie zu beobach-

ten sein. […] Wenn wir […] wettbewerbsfähig bleiben wollen,

dann brauchen wir dazu weniger Menschen.

David J. Herman, Vorstandsvorsitzender der Adam Opel AG1

Einen der wesentlichen Gründe für die fordistische „Todeskrise“

stellt die aus der technologischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte resultierende Möglichkeit dar, menschliche Arbeitskraft in Produktion und Verwaltung heute in hohem Maß durch datenverarbeitende Ma-schinen zu ersetzen. Die Folgen, die sich daraus für den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungssituation ergeben, wurden im vorigen Kapitel skizziert. Gleichzeitig wurden durch die neuen Technologien aber auch tiefgreifende und in ihrer Tragweite noch gar nicht in vollem Umfang abschätzbare Veränderungen in der bisherigen Arbeitsorgani-sation und Arbeitsgestaltung ermöglicht und ausgelöst. Verschiedent-lich wird in diesem Zusammenhang sogar von einer dritten industriel-len Revolution2 gesprochen und damit angedeutet, daß die derzeitigen

1 Interview in „Top-Business“, Report IV, Oktober 1992, S. 35. 2 Über die Einteilung und die Datierung der industriellen Entwicklungsschübe sind

sich die Wirtschafts- und Sozialhistoriker nur zum Teil einig. Weitestgehend un-bestritten ist bloß die „erste industrielle Revolution“. Ihr Beginn wird zwischen

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„Postmodernisierung“ der Arbeitswelt 91

Veränderungen in ihrer Dramatik und ihren Konsequenzen durchaus mit den technologischen Fortschritten und den umwälzenden arbeits-organisatorischen Neuerungen in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts zu vergleichen sind. Mit den damaligen – heute vielfach als zweite industrielle Revolution bezeichneten – Entwicklungen war die Grundlage für die endgültige Durchsetzung der Industriegesell-schaft und den Fordismus gelegt worden, jener prosperierenden, etwa fünfzig Jahre andauernden Phase des Kapitalismus, in der – auf Kos-ten einer massiven Ausbeutung und Zerstörung der Natur – eine profi-tabel funktionierende Verkoppelung von Massenproduktion, Massen-beschäftigung und Massenkonsum erreicht worden war.

Die damaligen industriellen Umwälzungen waren in hohem Maß durch technische Innovationen, wie die Entwicklung härterer Werk-zeugstähle oder die Starkstromtechnik, und einem damit möglich gewordenen umfassenden Mechanisierungsschub ausgelöst worden, ihre durchschlagende Dynamik ergab sich allerdings erst aus einer völligen Neuorganisation des Fabriksystems. Galt noch bis um die Jahrhundertwende die Herstellung technischer Waren in Form hand-werklich organisierter Produktionsabläufe als selbstverständlich, so erfolgte in den folgenden Jahrzehnten eine systematische Neustruktu-rierung der industriellen Arbeitsprozesse im Sinne einer konsequenten Rationalisierung der menschlichen Arbeitsleistungen. Ausgehend von der Autoindustrie errreichte das kapitalistische Industriesystem da-

1760 und 1780, ihr Ende zwischen 1830 und 1850 angesetzt, und sie wird allge-mein als die Zeit des „Übergangs zum Fabriksystem“ angesehen. Von einer „zweiten industriellen Revolution“ sprechen viele Autoren im Zusammenhang mit dem „Übergang zur großindustriellen Massenproduktion“ in den letzten De-kaden des 19. und den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Eine „dritte revolu-tionäre Umwälzung der industriellen Fertigung“ wird schließlich verschiedent-lich in der Einführung und Anwendung von Computertechnologien in Produkti-on und Verwaltung seit Anfang der siebziger Jahre gesehen. Vgl.: Müller-Jentsch/Stahlmann: Management und Arbeitspolitik im Prozeß fortschreitender Industrialisierung. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 13 (1988). Heft 2, S. 6/7.

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mals eine völlig neue Stufe in seiner Entwicklung – das mit Massen- und Fließbandproduktion verknüpfte industriewirtschaftliche Produk-

tionsprinzip wurde eingeführt. Bis dahin war ja sogar das Auto, das uns heute als das Symbol des Industriezeitalters schlechthin erscheint, noch weitgehend nach den Prinzipien handwerklicher Produktionsra-tionalität hergestellt worden – erst mit dem ab 1908 bei Ford in Ame-rika gefertigten „Modell T“ war zum ersten Mal ein für das Fließ-bandsystem entwickeltes Auto konzipiert und damit gleichzeitig ein revolutionärer fertigungstechnischer Fortschritt in die Wege geleitet worden.

Der Ursprung der hocharbeitsteiligen, durch einen mechanischen Ablauftakt gesteuerten Arbeitsorganisation – und der damit verbun-denen Degradierung der in der Produktion und teilweise auch der in Büros tätigen Menschen zu „Handlangern der Maschine“ – ist wahr-scheinlich in den Schlachthöfen Chicagos zu suchen, wo erstmalig ab 1905 die Arbeit entlang einem „Fließband“ organisiert wurde. Eine wissenschaftliche Legitimation für das Organisationsprinzip, Men-schen und Maschinen wie ein Uhrwerk miteinander zu verzahnen, wurde 1911 vom ehemaligen Stahlarbeiter aus Philadelphia und späte-ren Hochschullehrer an der Harvard-Universität, Frederik Winslow Taylor, mit seinem Werk „The Principles of Scientific Management“ geliefert. Er legte die Grundlagen für Arbeits- und Zeitstudien und wurde zum Vorkämpfer für die strikte Trennung der betrieblichen Arbeitsbereiche, Planung und Ausführung. Die von Taylor entwickel-ten Methoden waren schließlich bahnbrechend für eine in den nächs-ten Jahren und Jahrzehnten vorangetriebene Umgestaltung der indus-triellen Fertigung. Richtungsweisend war dabei die noch junge Auto-industrie, wo die „Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung“ als erstes umgesetzt wurden.

Die Bezeichnung „Taylorismus“ gilt heute als das Synonym für eine Arbeitsorganisation, die den Menschen zum Anhängsel einer nach ökonomisch-rationalen Kriterien organisierten industriellen Me-

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gamaschine degradiert. Doch Taylor war nur der exponierteste Vertre-ter einer großen Zahl von Forschern, die sich damals mit der Rationa-lisierung des Fabriksystems beschäftigten. Sowohl in den USA als bald auch in Europa wurden zahlreiche, teilweise sehr ähnliche Kon-zeptionen entwickelt, die alle das grundsätzliche Ziel hatten, das bis-her zum großen Teil bei den Arbeitern konzentrierte Produktionswis-sen sowie deren Gestaltungskompetenz über den Arbeitsablauf so vollständig wie nur möglich der Fabrikleitung zu übertragen. Diese Verlagerung der Entscheidungsmacht sollte die Fertigung durch zent-rale Planung und Koordinierung effizienter und damit vor allem profi-

tabler zu machen. Die Rationalisierungsprojekte waren dementspre-chend im wesentlichen alle dadurch kennzeichnet, daß man daran-ging, aufbauend auf eine im Hinblick auf Bewegungs- und Zeitauf-wand der Arbeiter durchgeführte Analyse der Produktionsprozesse, diese nach Kriterien der Bewegungs- und Zeitökonomie neu zu struk-turieren. Indem zugleich das Tätigkeitsprofil der einzelnen Arbeits-plätze möglichst eng gehalten wurde, konnte den neu geschaffenen arbeitsteilig-repetiven Tätigkeitsbereichen nahezu jede Qualifikati-onsanforderung abgesprochen werden. Hatte der qualifizierte Monteur der Handwerksproduktion noch alle benötigten Teile herangeschafft, sich die Werkzeuge selbst geholt, sie bei Bedarf repariert und kom-plexe Montagetätigkeiten ausgeführt, war der Arbeiter der nunmehri-gen arbeitsteiligen Produktion nur für einen simple Bearbeitungs-schritt zuständig, für den er oft nur wenige Minuten ausgebildet wer-den mußte. Zulieferung, Koordination und Wartung wurden an ande-re, ebenfalls nur für scharf abgegrenzte Aufgabenbereiche zuständige „Spezialisten“ übertragen.

Das gewaltige Veränderungspotential der industriewirtschaftlichen

Produktionsrationalität lag also zum einen darin begründet, daß es gelang, durch „wissenschaftliche“ Zerlegung der Arbeitsprozesse in immer kleinere Teilstücke und einer Ablaufsteuerung nach ökono-misch-rationalen Kriterien das Arbeitstempo und die Effizienz der

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Arbeit massiv zu steigern. Das andere, mindestens ebenso wichtige Element der damaligen Rationalisierung und Standardisierung der Arbeitsvorgänge bestand in der „Normierung“. Erst die Normierung – worunter im wesentlichen die Verwendung eines einheitlichen Meß-

systems und verbindlicher technischer Qualitätsstandards verstanden wird – schuf die unabdingbare Voraussetzung für jedwede Massen-produktion, nämlich die paßgenaue Austauschbarkeit der einzelnen Bauelemente technischer Produkte. Erst damit war die Möglichkeit geschaffen, die verschiedenen Bauteile unabhängig voneinander tat-sächlich „fertig“-zustellen und sie nicht erst – wie bei der bisherigen handwerklichen Fertigung – mühselig im Rahmen des Zusammenbaus aneinander anzupassen. Eine grundlegende Voraussetzung der indus-triellen Betriebsorganisation lag genau in dieser Ausrichtung an der

Norm und im Abgehen von der bisherigen Orientierung am jeweils spezifischen Produktions-Fall.

Die Normierung sowie die damit verbundene Möglichkeit der Se-rienfertigung – einer Fertigung, in der die hergestellten Produkte ein-ander (abgesehen von Abweichungen in einem minimalen Toleranz-bereich) hundertprozentig gleichen – und der Massenproduktion war, gemeinsam mit der Segmentierung der Arbeitsabläufe, die Vorausset-zung dafür, nun nicht mehr auf handwerklich umfassend ausgebildete Facharbeitskräfte angewiesen zu sein. Mußten in der bisherigen handwerklichen Produktion die Arbeiter in der Lage sein, die meist von verschiedenen Zulieferern mit teilweise stark differierenden Meß-lehren hergestellten Einzelteile Stück für Stück nachzuarbeiten und, den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend, aneinander anzupassen – was durchaus hohes handwerkliches Geschick und fachliche Ent-scheidungskompetenz voraussetzte –, war es nun auch für angelernte Kräfte problemlos möglich, die paßgenau gefertigten Teile zusam-menzusetzen. Außerdem waren bisher in der handwerklichen Ferti-gung im wesentlichen Allzweck-Werkzeugmaschinen zum Einsatz gekommen, deren Einsatz bei den unterschiedlichen Bearbeitungsauf-

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gaben hohes handwerkliches Wissen und Können voraussetzte. Die Großserienfertigung machte nun aber den Einsatz von Spezial-Werkzeugmaschinen – jeweils für die Herstellung und den Zusam-menbau ganz bestimmter Bauteile – möglich, womit sich spezifisches Fachwissen über Werkstoffverhalten und den jeweils entsprechenden Werkzeugeinsatz zunehmend erübrigte.

Damit wurde nicht nur die Normierung und die „Austauschbarkeit der Teile“ ein Bestimmungsmerkmal der Fließband- und Serienpro-duktion, sondern auch die „Austauschbarkeit der Arbeiter“. Bei der Arbeit, in den nach industriewirtschaftlicher Produktionslogik organi-sierten Fabrikshallen war nur mehr eine kleine Zahl fachlich ausge-bildeter „Handwerker“ nötig. Der Handwerker, als das Synonym für den kompetenten und nach individuellen fachlichen Eigenarten ge-messenen Experten, war damit weitgehend passé; die Orientierung der Produktion an der Norm forderte sozusagen auch den normierten, austauschbaren und angepaßten Arbeiter – der „tayloristische Mas-senarbeiter“ (Harry Braverman) war entstanden. Von ihm wurde kei-ne kreative handwerkliche Leistung mehr erwartet, sondern „paßge-naue“ Ein- und Unterordnung in das riesige Räderwerk der industriel-len Megamaschine.

Damit ist gleichzeitig auch das letzte wichtige Merkmal industriel-ler Arbeitsorganisation angesprochen – die vertikale, von „oben nach unten“ ausgeübte Kontrolle des Arbeitsverhaltens, verbunden mit hoher Vorbestimmtheit der Arbeitsvollzüge, minimalen Dispositions-spielräumen der Arbeitenden und einem permanenten Druck zur Er-höhung der Arbeitsintensität. Neben dem damals entstehenden System von Vorarbeitern, Meistern und anderen Gliederungen der hierarchi-schen Fabriksstruktur war die Fließbandarbeit ein ganz wesentliches Mittel zur Arbeitsdisziplinierung – die Unterordnung unter den Band-takt ließ nämlich sofort jedes Nachlassen eines Arbeiters offensicht-lich werden. Die Akzeptanz der produktivitätssteigernden Unterord-nung der Arbeitenden unter die Bedingungen der solcherart organi-

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sierten Produktion wurde hauptsächlich durch ausgeklügelte Leistungs- und Prämienlohnsysteme erreicht.

Insgesamt kann die industriewirtschaftliche Rationalität des Taylo-rismus damit charakterisiert werden, daß das Erreichen des primären Unternehmenszwecks – das Erzielen eines möglichst hoher Gewinns, im Sinne einer hohe Rendite für das eingesetzte Kapital, durch opti-malen Einsatz der Ressourcen, inklusive der menschlichen Arbeits-kraft – „von oben“ durch ein hierarchisches System von Anweisung, Überwachung und Kontrolle sowie die Reduzierung der Produktions-arbeiter auf das rationelle Funktionieren in dem ihnen zugewiesenen schmalen Arbeitssegment gewährleistet wird. Das dafür erforderliche Management stellt somit genauso eine Folgeerscheinung des nach industriewirtschaftlicher Logik organisierten Fabriksystems dar wie das parallel entstandene Industrieproletariat. Die Notwendigkeit einer Organisations- und Kontrollhierarchie lag im wesentlichen in einer Entwicklung begründet, die sich schon vor der endgültigen Durchset-zung der industriellen Produktion abgezeichnet hatte und einen grund-sätzlichen Unterschied zum (protoindustriellen) Verlagssystem dar-stellt: Die nunmehrigen „Unternehmer-Kapitalisten“ kauften im Ge-gensatz zu den „Verleger-Kapitalisten“ der vorindustriellen Epoche nicht mehr fertige Arbeitsprodukte ein, sondern Arbeitskraft, die erst noch in Arbeit zu transformieren war. Die effiziente Nutzung der für Tage und Stunden gemieteten Arbeitskraft machte – in Verbindung mit der nunmehrigen, immer weitergehenden Abkehr vom handwerk-lichen Produktionsprinzip – ein planendes Management sowie perma-nente Aufsicht und Kontrolle der Arbeitsverausgabung erforderlich.3

Mit dem Taylorismus war die arbeitsorganisatorische und techno-logische Basis für die Massenproduktion von Konsumgütern gegeben, und gleichzeitig ermöglichte die Steigerung der Arbeitsproduktivität auf längere Sicht auch eine fühlbare Erhöhung des Lohnniveaus der in

3 Vgl. ebda., S. 5

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„Postmodernisierung“ der Arbeitswelt 97

der Industrie Beschäftigten. Große Teile der Arbeiterschaft konnten damit zu Konsumenten industriell erzeugter Massenprodukte werden. Das bedeutete, daß ihre traditionellen, auf „nacktes Überleben“ orien-tierten Reproduktionsformen sukzessive von einem „Konsummodell“ überlagert und schließlich weitgehend ersetzt wurden. Industriell er-zeugte – zwar nicht überlebensnotwendige, das Leben aber bequemer und angenehmer machende – Konsumartikel, wie Autos, Kühlschrän-ke oder Rundfunkgeräte, rückten für immer größere Bevölkerungs-gruppen mehr und mehr in den Bereich des Denkbaren und wurden in weiterer Folge schließlich zu selbstverständlichen Artikeln des Massengebrauchs. Die bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein (trotz Kapitalismus) relativ unberührt gebliebenen traditionellen Formen der Arbeitskräftereproduktion – die überwiegend agrarisch geprägten Sozialbeziehungen, Konsumgewohnheiten und Lebensformen – er-fuhren nun erst, im Zusammenhang mit industriewirtschaftlicher Ar-beitsorganisation und der Massenproduktion von Konsumgütern, ihre grundlegende Veränderung. Die arbeitende Bevölkerung begann da-mit immer mehr auch in Form der „Reproduktion ihrer Arbeitskraft“ zu Wirtschaftswachstum und Kapitalakkumulation beizutragen.

Wenngleich der Taylorismus sich in seiner reinen Form längst nicht in allen Bereichen der Wirtschaft (vollständig) durchgesetzt hat, formten seine arbeitsorganisatorischen Prinzipien mehr und mehr die Schlüsselsektoren der Produktion und wurden in den nächsten Jahr-zehnten zur Basis der neuen dominierenden (Konsumgü-ter-)Industrien. Ein überproportionales Ansteigen der Angestellten mit Planungs-, Kontroll- und Administrationsaufgaben auf der einen Seite und der An- und Ungelernten mit repetiven Teilaufgaben auf der an-deren Seite waren typische Folgeeffekte. Die Arbeitsdisziplin wurde insgesamt rigider, und Arbeitstempo sowie Arbeitsintensität nahmen gewaltig zu. Die Segmentierung der Arbeit und die Unterordnung der Arbeiter unter die „objektiven“ Notwendigkeiten von Arbeitsablauf und Maschinennutzung ermöglichten außerdem – trotz zunehmender

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gewerkschaftlicher Organisiertheit – eine wesentlich straffere Diszip-linierung der Belegschaft. Gleichzeitig ermöglichte die ökonomisch-rationale Arbeitsorganisation aber auch, daß die Arbeiter über höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten an ihrer eigenen intensivierten Aus-beutung mitpartizipierten. Von Anfang an konnte sich die Arbeiter-bewegung dementsprechend auch der Faszination des Modells eines „gezähmten Kapitalismus“ nie vollständig entziehen. Ihre diesbezüg-lich anfänglich jedoch durchaus noch ambivalente Haltung, wich in den nächsten Jahrzehnten zunehmend der Vorstellung eines auf

Wachstum und Technokratie gegründeten funktionierenden kapitalis-tischen Weges in eine durch „Wohlstand für alle“ gekennzeichnete bessere Zukunft.

Der Taylorismus bedeutete eine völlig neue Entwicklungsstufe in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, „ihre Überführung aus lebensweltlichen, unmittelbar einsichtigen Zusammenhängen unter das abstrakte »Zeit-ist-Geld«-Diktat einer kalt berechnenden Markt-ökonomie“.4 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Un-terordnung unter die sich neu herausbildenden Bedingungen gesell-schaftlich organisierter Arbeit für die Arbeitenden durchaus nicht nur negative Aspekte hatte. Zum einen erfolgte mit dem Überwechseln – meist von der Landwirtschaft – in die Fabrik für sie vielfach zugleich „eine Befreiung aus oftmals entwürdigenden persönlichen Abhängig-keitsverhältnissen und traditionellen Zwängen“.5 Und zum anderen wurde den Arbeitern die Intensivierung und verstärkte Entfremdung der Arbeit mit sukzessiven Verkürzungen der Wochenarbeitszeit und höheren Verdienstchancen durch Akkord- und „Leistungsentlohnung“ schmackhaft gemacht. Edward P. Thompson resümiert diesbezüglich: „Der ersten Generation Fabrikarbeiter wurde die Bedeutung der Zeit

4 Meißl, G.: Von der Modernisierung zur Postmodernisierung der Arbeitswelt. In:

Tálos, E,/Riedlsperger, A. (Hg.): Zeit-Gerecht. 100 Jahre katholische Sozialleh-re. Steyr 1991, S. 146.

5 Ebda.

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von ihren Vorgesetzten eingebleut, die zweite Generation kämpfte in den Komitees der Zehn-Stunden-Bewegung für eine kürzere Arbeits-zeit, die dritte schließlich für einen Überstundenzuschlag. Sie hatten die Kategorien ihrer Arbeitgeber akzeptiert und gelernt, innerhalb dieser Kategorien zurückzuschlagen. Sie hatten ihre Lektion – Zeit ist Geld – nur zu gut begriffen.“6

Die sich auf zwei Ebenen manifestierende Veränderung der kapita-listischen Arbeits- und Lebensformen – die Entwicklung der Arbeits-organisation in Richtung „Taylorismus“ und die parallel stattfindende Entwicklung zu einer Gesellschaft des Massenkonsums – wird (wie im zweiten Kapitel ausgeführt) zusammengenommen heute vielfach mit dem Begriff „Fordismus“ charakterisiert. Mit ihren spezifischen Produktions- und Reproduktionsstrukturen stellte die fordistische Gesellschaftsformation die erfolgreiche Grundlage zur Überwindung der für die Masse der Bevölkerung elenden Bedingungen des Frühka-pitalismus dar. Sie schuf, mit einem in der Arbeitswelt bisher nicht gekannten Grad an Disziplinierung und Ausbeutung, sowie einer Lohnpolitik, die die Arbeiterschaft allmählich in die Lage versetzte, Konsumenten ihrer eigenen Produkte zu werden, die Basis für ein insgesamt lang andauerndes Wirtschaftswachstum und einen zuneh-menden Massenwohlstand in den industrialisierten Ländern. Der For-dismus signalisierte für die Arbeiterschaft, die sich im Frühkapitalis-mus als „Klasse“ formiert hatte, wieder den „Abschied vom Proletari-at“. Wenngleich die Durchsetzung des fordistischen Akkumulations-modells nicht kontinuierlich verlief, sondern von heftigen sozialen und politischen Auseinandersetzungen begleitet war und durchaus auch Brüche und Rückschläge zu verzeichnen hatte, wurde das „for-distische Modell“ schließlich zu jener tragfähige Basis, auf der sich die bis heute wirksame, faktisch durchgängige Akzeptanz des kapita-listischen Wirtschafts- und Gesellschaftsystems herausbilden konnte.

6 Zit. nach: Klopfleisch, a.a.O, S. 36.

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Parallel dazu, daß das fordistische Kapitalismusmodell gegen Ende des zweiten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch immer mehr an seine Grenzen zu stoßen begann, wurden auch Taylorismus und industriewirtschaftliche Arbeitsorganisation stärker auf ihre aktuelle Brauchbarkeit hinterfragt. Zunehmend wurde offensichtlich, daß es mit dem Paradigma der industriewirtschaftlichen Rationalität – das in der Zwischenzeit nicht bloß zur weitgehend akzeptierten und im all-gemeinen Verständnis auch vernünftigsten Prämisse gesellschaftlicher Arbeit geworden war, sondern auch die Sozialbeziehungen, Konsum-gewohnheiten und Lebensformen tiefgreifend verändert und geprägt hatte – unmöglich war, brauchbare Lösungen für eine Reihe neu auf-tauchender Probleme in der Arbeitswelt zu entwickeln. Gleichzeitig wurde, durch die parallel stattfindenden technischen Entwicklungen, ein Paradigmenwechsel in den Prinzipien gesellschaftlicher Arbeits-organisation auch möglich und sinnvoll. Ganz in diesem Sinn lassen sich seit dieser Zeit zunehmend Entwicklungen beobachten, die eine neuerliche tiefgreifende Veränderungen des Gesamtsystems der Pro-duktivkräfte, verbunden mit weitreichenden Veränderungen in der Stellung und Funktion des Menschen im Arbeitsprozeß sowie im ge-sellschaftlichen Verständnis von Arbeit insgesamt, darstellen.

Die in den letzten beiden Jahrzehnten immer offensichtlicher wer-dende Notwendigkeit von Alternativen zur industriewirtschaftlichen Produktionslogik sowie die gleichzeitig durch technische Innovatio-nen entstehende Möglichkeit einer grundsätzlichen Veränderung der tayloristischen Arbeitsorganisation läßt sich an einer Reihe von Grün-den aufzeigen:

• Zum einen wurde in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend offensichtlich, daß weitere Möglichkeiten der Produktivitätssteige-rung in der industriellen Fertigung durch „tayloristische Maßnahmen“ nur mehr in wenigen Teilbereichen der Produktion möglich bezie-hungsweise wirtschaftlich sinnvoll sind. Die traditionelle Rationalisie-rungsstrategie im Rahmen tayloristischer Arbeitsorganisation – durch

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einen immer ökonomischeren Einsatz menschlicher Arbeitskraft in Form repetiver Teilarbeiten und dem Ausbau finanzieller Anreizsys-teme, wie der Akkordentlohnung, die Unternehmensgewinne zu erhö-hen – sind heute weitgehend ausgeschöpft. Im gleichen Maß wie diese Produktivitätsreserven der tayloristischen Arbeitsorganisation sich als ausgereizt erwiesen, entwickelte sich durch die technischen Innovati-onen jedoch die Möglichkeit, standardisierte und normierbare Ar-beitsaufgaben nun zunehmend überhaupt unter weitgehender Aus-schaltung untergeordneter menschlicher Arbeit durch informations-verarbeitende technische Systeme zu bewältigen.

• Weiters wurden in vielen Bereichen der industriellen Produkti-on in jüngster Zeit mehr und mehr die Grenzen des Mengenwachs-tums erreicht, was aber zugleich heißt, daß eine wesentliche Stärke des tayloristischen Produktionssystems, die Produktkosten durch Massenfertigung zu senken, ebenfalls weitgehend ausgeschöpft ist. Verstärkt wird diese „Krise der Massenproduktion“ noch dadurch, daß der Konkurrenzkampf heute für viele Industrieprodukte eine im-mer häufigere Veränderung von Design oder technischer Ausführung erzwingt. In Form der neuerdings zur Verfügung stehenden techni-schen Systeme ergab sich zugleich wieder die Möglichkeit, eine ratio-nelle Fertigung auch unter Abgehen von der Massenproduktion auf-rechtzuerhalten. Durch das Flexibilisierungspotential der Informati-ons- und Kommunikationstechnologien wurde es möglich – im Ge-gensatz zur klassischen Automatisierung –, auch die Produktion sehr unterschiedlicher Mengen und Produktvarianten zu automatisieren. Die sogenannte flexible Automation macht heute oft auch kleinste Losgrößen, und damit eine starke Ausrichtung an Kundenwünschen, wirtschaftlich sinnvoll.7

• Die zunehmende Sättigung der potentiellen Märkte und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Erschließung neuer Ab-

7 Vgl. Rürup, B.: Die Zukunft der Arbeit. Sozioökonomische Konsequenzen des

technologischen Wandels. Referat in Wien (Sommer) 1988 (hekt.).

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satzmöglichkeiten führten zu einer generellen Verschärfung des Kon-kurrenzkampfes auf dem Industrieproduktesektor. Damit wurden in den letzten Jahren besonders die international sehr unterschiedlichen Kosten der lebendigen Arbeitskraft zu einem immer bedeutenderen Wettbewerbsfaktor. Die sich daraus tendenziell entwickelnde interna-tionale Arbeitsteilung zwischen Europa, den USA, Japan und insbe-sonders den Ländern des pazifischen Beckens, wie Korea, Taiwan, Hongkong oder Singapur, veranlaßte die traditionellen Industrieländer zum einen, die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikati-onstechnologien in Hinblick auf die damit gegebenen Substitutions-möglichkeiten von „Allerweltsarbeitskraft“ massiv voranzutreiben, und zum anderen, sich stärker auf jene Produktionsbereiche und Pro-duktionsformen zurückzuziehen, die ein qualitativ gut ausgebildetes Fachpersonal voraussetzen. Dazu gehören beispielsweise komplexe, kundenorientierte Qualitätsprodukte, Industrieprodukte mit an-spruchsvollem Wartungs- und Instandhaltungsaufwand sowie Produk-tionen, die hohe Flexibilität und termingetreue Lieferung erfordern.

• Die entfremdeten, monotonen Arbeitsbedingungen der taylo-ristischen Arbeitsorganisation hatten zunehmend Erscheinungen „in-nerer Kündigung“, verbunden mit unorganisierten, individualistischen Formen der „Arbeitsverweigerung“ (Absentismus, Schlamperei und dergleichen) bei den fordistischen „Massenarbeitern“ entstehen las-sen. Ein Grund für diesen „schleichenden Bummelstreik“ kann auch in einer ganz grundsätzlichen Legitimationskrise der industriellen Arbeitsgesellschaft gesehen werden, die in den siebziger Jahren mit der zunehmenden Organisierung der „Grünbewegungen“ einen relati-ven Höhepunkt erreichte. Die damals offensichtlich noch zum Teil ins Bewußtsein tretenden Widersprüche zwischen der fordismusimma-nenten „Forderung“ nach hedonistischer Konsummentalität und dis-zipliniertem Arbeitsverhalten sowie die erstmalig öffentlich geführte Diskussion um die Bedrohung unserer gesamten Ökosphäre durch die fordistischen Produktions- und Reproduktionsformen verschafften

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kurze Zeit jenen Gehör, die zu einem Ausstieg aus dieser Wirtschafts- und Lebensweise aufforderten.

• Schließlich begannen sich die demotivierenden Arbeitsbedin-gungen der nach traditioneller industriewirtschaftlicher Logik organi-sierten tayloristischen Arbeitsorganisation, vor dem Hintergrund der in den sechziger und siebziger Jahren relativ gut ausgebauten Macht der Arbeitnehmervertretungen, zunehmend zu einer allgemeinen „Motivationskrise der Arbeit“8 zu verdichten. Die durch gesetzliche und kollektivvertragliche Regelungen verhältnismäßig gut abgesicher-te Position der Arbeitnehmer begann immer stärker das traditionelle Arbeitsanreizsystem des Taylorismus zu unterlaufen, womit dieses einen Teil seine Regulationskraft verlor und damit aber auch gleich-zeitig die Tatsache der unbefriedigenden Arbeitsbedingungen stärker ins allgemeine Bewußtsein treten konnte. Ein interessantes Indiz stellt in diesem Zusammenhang beispielsweise die Tatsache dar, daß in den achtziger Jahren für die europäischen Arbeiter in einigen Fällen bei Tarifverhandlungen eine weitere Reduzierung der Arbeitszeit sogar Priorität gegenüber Lohnforderungen erhielt.9

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß, unter den heute vorfindbaren ökonomisch-technischen Bedingungen, sich die taylo-ristische Arbeitsorganisation einerseits aus verschiedenen Gründen immer deutlicher als wirtschaftlich kontraproduktiv herausstellt, aber andererseits, angesichts der zunehmend zur Verfügung stehenden „neuen Technologien“, ihre Aufrechterhaltung auch gar nicht mehr notwendig ist. Der massiv verschärfte internationale Konkurrenz-kampf erzwingt immer mehr eine „variantenreiche Serienproduktion“ sowie ein rasches und flexibles Reagieren auf sich verändernde Marktbedingungen – Vorgaben, die im Rahmen traditionell-

8 Müller-Jentsch/Stahlmann, a.a.O, S. 6. 9 Vgl. Womack, J.P./Jones, D.T./Roos, D.: „Die zweite Revolution in der Auto-

mobilindustrie“. Konsequenzen aus der weltweiten Studie des Massachusetts In-stitute of Technology. Frankfurt a.M./New York 1991, S. 52.

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tayloristisch organisierter Fertigungen sowieso kaum erreicht werden können.

Der dementsprechend heute tendenziell stattfindende Wandel von einer starren zu einer flexiblen – an den in immer wieder neuen Vari-anten animierten Kundenwünschen orientierten – Produktion wurde zwar, so wie seinerzeit bei der „Einführung des Taylorismus“, durch die entsprechenden Technologien ermöglicht, gleichzeitig erfordert er aber auch wieder einen neuen – nunmehr besonders „flexiblen“ – Arbeitnehmertypus. Denn um die Flexibilitätspotentiale der neuen Technik optimal auszunutzen, ist der „normierte“ und austauschbare „tayloristisch-disziplinierte Massenarbeiter“, der sich problemlos in die industrielle Megamaschine einfügt und auf Anweisung „brav“ sein Tätigkeitssegment im Produktionsablauf erfüllt, weitgehend ungeeig-net. Dazu bedarf es spezifisch qualifizierter, flexibler und – im Sinne des Unternehmensziels – auch besonders engagierter Arbeitskräfte.

Durch die Rationalisierungs- und Flexibilisierungspotentiale der Mikroelektronik können heute traditionelle Automatisierungsbarrieren überwunden werden und die Produktion – bei weiterhin steigender Produktivität – an variierende Losgrößen und eine Palette von Pro-duktvarianten angepaßt werden; die Kombination des Kostenvorteils

der Massenfertigung, mit dem Marktvorteil einer raschen Anpassung

an Nachfrageveränderungen, wird möglich. Damit ist der „tayloristi-sche Massenarbeiter“ zunehmend aber nicht bloß nicht mehr erforder-lich, seine rasche „Eliminierung“ wird sogar zur Grundsatzfrage im Hinblick auf die Durchsetzungsmöglichkeit einer in verschiedenen Wirtschaftszweigen ökonomisch überlebensnotwendig gewordenen post-tayloristischen Produktion. Seine traditionellen Tätigkeiten – jene formalisierbaren Arbeiten, die genau beschreibbar und festlegbar sind, sich dementsprechend auf der Grundlage einer zweiwertigen Logik abbilden und in die „Sprache“ eines Computers übersetzen lassen – können in wachsendem Maß durch informationsverarbeiten-de technische Systeme übernommen werden.

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Damit wird die Basis der industriewirtschaftlichen Produktionslo-gik, die Unterordnung der menschlichen Arbeitskraft unter die Bedin-gungen der normierten Massenproduktion, zunehmend obsolet. Über-all dort, wo normierbare Arbeitsabläufe oder Varianten von solchen auftreten, können heute oder in naher Zukunft Maschinen an die Stel-le des Menschen treten. Da, durch die zunehmende universelle Adap-tierbarkeit der Informationsverarbeitungseinheiten, die Verwendung solcher Maschinen in immer größeren Bereichen der Produktion auch billiger als die menschliche Arbeitskraft kommt, ist es – in der, dem Ziel einer maximalen Kapitalrendite geschuldeten Logik des kapitalis-tischen Konkurrenzkampfes – unmöglich, die traditionell-tayloristisch organisierte Produktion auf Dauer aufrechtzuerhalten.

Dementsprechend läßt sich derzeit, insbesondere in jenen Produk-tionsbereichen, die einem starken (internationalen) Konkurrenzdruck ausgesetzt sind, ein Rückgang von einfachen Routinearbeiten ver-zeichnen, während planende und verwaltende Arbeiten, Steuerung und Überwachung von Arbeitsvorgängen, Bedienung von Informati-onssystemen und Beratungsaufgaben relativ wichtiger werden. Diese Entwicklung trifft nicht nur einzelne Berufe, sondern läßt sich – mehr oder weniger deutlich – quer durch alle Berufe in den entsprechenden Produktionsbereichen beobachten. Es findet eine tiefgreifende Verän-derung in der Tätigkeitsstruktur und den Qualifikationsanforderungen statt. Durch den voranschreitenden Einsatz von Computertechnologie und Mikroelektronik bleiben tendenziell nur mehr die nicht-standardisierbaren Tätigkeitsbereiche – also jene, die sich keiner ein-deutigen Ziel-Mittel-Schematisierung unterwerfen lassen – der „Ar-beitskraft Mensch“ vorbehalten. Es kann davon ausgegangen werden, daß viele, heute noch nicht von informationsverarbeitenden Maschi-nen „übernommene“, aber prinzipiell formalisierbare Arbeiten eben-falls nur mehr zeitlich begrenzt ausgeübt werden, nämlich bis zu dem Zeitpunkt, bei dem sie ebenfalls von der Maschinisierungsspirale erfaßt werden beziehungsweise die entsprechenden Technologien so

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billig werden, daß sich das Ersetzen der menschlichen Arbeitskräfte betriebswirtschaftlich rentiert.

Diese Entwicklung läßt aber gleichzeitig auch die auf extreme Hie-rarchie und Arbeitsteilung beruhende industriewirtschaftliche Produk-tionslogik zunehmend ungeeignet werden. Denn betriebliche Abläufe, bei denen das optimale Ergebnis von Handlungen nicht durch eine klar definierte Ziel-Mittel-Vorgabe eingrenzbar ist, lassen sich logi-scherweise auch nicht mittels hierarchischer Kontrolle steuern. Das bedeutet, daß es unter den Bedingungen des Post-Taylorismus immer notwendiger wird, daß die Arbeitnehmer mit Eigenmotivation tätig sind, sich an einer verinnerlichten Arbeitsethik orientieren und auf Grund einer starken Identifikation mit dem Unternehmensziel ein hohes Maß an Selbstkontrolle entwickeln. Zugleich signalisiert diese Entwicklung auch eine neue Etappe im Kampf der Arbeitgeber um die Intensivierung der Arbeitsleistung ihrer Arbeitnehmer. Mit Hilfe neu-er arbeitsorganisatorischer Maßnahmen sollen die Motivation und die Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten gefördert werden und damit jene Leistungspotentiale der menschlichen Arbeitskräfte er-schlossen werden, die von den Intensivierungsmethoden der taylo-ristischen Rationalisierungsmuster nicht aktiviert werden können. Wer sich mit dem Unternehmensinteresse identifiziert, wehrt sich nicht gegen den Arbeitsstreß.10

Mißt man diese neuen „post-tayloristischen Arbeitstugenden“ an einer von Claus Offe vorgenommenen Charakterisierung von „Pro-duktionsarbeit“ und „Dienstleistungsarbeit“, bedeutet dies nichts an-deres, als daß damit auch die Arbeit in den Produktionsbereichen der Wirtschaft tendenziell „Dienstleistungscharakter“ annimmt.11 Dienst-

10 Vgl. Klopfleisch, a.a.O., S. 157. 11 Ohne auf die Argumentationen Offes bezüglich der generellen Problematik des

Definierens von „Dienstleistung“ und „Dienstleistungstätigkeit“ Rücksicht zu nehmen, wird hier nur auf seine Argumentation Bezug genommen, daß die „im-manente Rationalität von Dienstleistungen“ ganz bestimmte Rahmenbedingun-gen für ihr Erbringen erforderlich macht. Er führt diesbezüglich aus: Während

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leistungsarbeit muß – im Gegensatz zur klassischen Produktionsar-beit, die vornehmlich eine technisch und zeitökonomisch normierte Tätigkeit darstellt, bei der die notwendigen Arbeitsabläufe definiert und dementsprechend „durch Dritte“ gelenkt und überwacht werden können – über „reflexive Rationalität“ der Arbeitsdurchführenden selbst gesteuert werden. Die eigentümlichen, komplexen Denkstruktu-ren des Menschen bei der Befassung mit einem „besonderen“, eben nicht vollkommen in ein Normschema integrierbaren „Fall“ lassen sich nicht in ein Ziel-Mittel-Schema pressen und schon gar nicht zeit- und bewegungsökonomisch optimieren. Somit zeichnen sich aber – dadurch, daß formalisierte und formalisierbare Arbeitsabläufe heute zunehmend durch Maschinen übernommen werden, es zu einer suk-zessiven Verdrängung des Menschen aus der eigentlichen Produktion kommt und für menschliche Arbeitskräfte nur mehr die vorbereiten-den, beratenden und (maschinen-)überwachenden Funktionen erhalten bleiben – die für die „Arbeitskraft Mensch“ verbleibenden Tätigkeiten durch ihren spezifischen „Dienstleistungscharakter“ aus. Die für die neuen Marktbedingungen und den verschärften Konkurrenzkampf des Post-Fordismus notwendige betriebliche Leistungsoptimierung muß mehr durch innere Antriebskräfte der Mitarbeiter und weniger durch

„kontraktionelle Erwerbsarbeit umso rationeller organisiert [werden kann], je eindeutiger ihre Resultate festgelegt sind, je weniger Variationsspielräume bei der Verwendung der sachlichen Betriebsmittel und der Arbeitszeit bestehen, je größer die Kontrollierbarkeit des Arbeitshandelns ist und je geringer die Disposi-tionsspielräume sind, innerhalb deren sich die konfligierenden Motive der Arbei-tenden zur Geltung bringen können, […] liegen die Dinge [für das Erbringen] von Dienstleistungen ganz anders. Hier wird das gedachte Ergebnis des Hand-lungsablaufs umso besser erreicht, je weniger schematisch Ziele und Mittel vor-geschrieben sind, je größer Dispositions- und Interpretationsspielräume offen-gehalten werden, je weniger die Eigenmotivation des Dienstleistenden unter äu-ßere Kontrolle gestellt wird und je größer daher die Möglichkeit ist, auf die Be-sonderheiten eines prinzipiell nicht völlig (d.h. dann nur mit widersinnigen Fol-gen) standardisierbaren Umweltausschnittes ad hoc einzugehen.“ Offe, C.: »Ar-beitsgesellschaft«: Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven. Frankfurt a.M./New York 1984, S. 296/297.

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den Druck „von oben“ erreicht werden. Im Gegensatz zur industrie-wirtschftlichen Arbeitsorganisation, die zur Bemächtigung der Ar-beitskraft nicht unbedingt die Loyalität ihrer Eigentümer braucht, benötigt die dienstleistungsförmige Arbeitsorganisation den „ganzen Menschen“. Notwendig werden Arbeitskräfte, die sich – im Gegen-satz zu den Galeerensklaven unseliger Vergangenheit – die Fesseln selbst anlegen.

Die derzeit beginnenden Umwälzungen der Arbeitsgesellschaft, die ja auch häufig unter dem Titel „Übergang zur Dienstleistungsge-sellschaft“ zusammengefaßt werden, implizieren also wesentlich mehr als ein bloßes Anwachsen des Dienstleistungssektors der Wirtschaft, und es läßt sich die Entwicklung auch nicht ausreichend mit einer generellen Ausweitung der Dienstleistungstätigkeiten – auch im Rahmen der anderen Wirtschaftssektoren – charakterisieren. Denn über das quantitativ feststellbare Anwachsen des Dienstleistungssek-tors hinaus läßt sich – wie ansatzweise skizziert – derzeit eine viel weitergehende Entwicklung beobachten, die sich als ein grundsätzli-cher Paradigmenwechsel in der Organisation der Produktionsarbeit und der Beziehung der betroffenen Menschen zu ihrer Arbeit begrei-fen läßt. Zum einen ist dies an der beschriebenen Tendenz feststellbar, daß auch Produktionsarbeit Charakteristika annimmt, die bisher nur bei Dienstleistungstätigkeiten zu finden waren. Zum anderen – und darüber wird meines Erachtens viel zu wenig systematisch reflektiert – sind, in Verbindung damit, heute auch Ansätze subtiler, aber tief-

greifender Veränderungen von Arbeit und Beruf, der Arbeitsmarkt-

strukturen sowie der Lebensverhältnisse der abhängig Beschäftigten

im Sinne eines zunehmenden Durchdringens dieser Bereiche mit der

immanenten Logik der Dienstleistungsrationalität beobachtbar. Zwar beginnen sich die neuen post-tayloristischen Arbeitsanforde-

rungen vorerst unmittelbar nur für kleinere Gruppen von Arbeitneh-mern – primär in den besonders stark der internationalen Konkurrenz ausgesetzten Kernsektoren der Industrie, wie in der Autoindustrie, der

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Maschinen- oder der Elektronikindustrie, wo auch der Einsatz der neuen Technologien schon besonders weit fortgeschritten ist – auszu-wirken. Dort kommt es heute, relativ deutlich erkennbar, teilweise zu einer „Reprofessionalisierung der Industriearbeit“, in dem Sinn, daß die (verbliebenen) Arbeitsplätze nun ein erweitertes und anspruchs-volleres Aufgabenspektrum umfassen und die Arbeiter beispielsweise statt der bloßen Maschinensteuerung auch Instandhaltungsaufgaben oder selbständige Programmieroperationen durchzuführen haben.12 Zudem wird in diesen Industriebereichen verschiedentlich versucht, die Motivationsdefizite der Massenproduktion durch Konzepte teilau-tonomer Gruppenarbeit – wie zum Beispiel im Rahmen der weiter hinten beschriebenen „lean-production“-Organisationsmodelle – abzubauen. Insgesamt ist jedoch nicht mit einem abrupten Ende des Taylorismus und einer entsprechenden generellen Veränderung der Arbeitsanforderungen zu rechnen; im gesellschaftlichen Durchschnitt ist (zumindest für die nächste Zeit) eher eine Mischung von tayloristi-schen und nicht-tayloristischen Arbeitsformen zu erwarten.

Allerdings darf nicht vergessen werden, daß sich ja auch der Tay-lorismus in keiner Phase seiner Entwicklung wirklich vollständig durchgesetzt hat. Dennoch haben seine arbeitsorganisatorischen Prin-

12 Nachgewiesen wurde ein diesbezüglicher Trend schon Anfang der achtziger

Jahre durch Horst Kern und Michael Schumann in ihrer prospektiven Studie „Das Ende der Arbeitsteilung“. Nach einer Untersuchung der vorherrschenden Rationalisierungsformen in der Automobilindustrie, dem Werkzeugmaschinen-bau und der chemischen Großindustrie kamen sie damals zu dem Schluß, daß die Nutzung der fachlichen Kompetenzen der Arbeitnehmer angesichts der fortge-schrittenen Produktionstechniken effizienter ist als die tayloristische Zerstücke-lung der Arbeit in Einzelverrichtungen. Daraus leiteten sie ab, daß zunehmed Arbeiter mit beruflichen Qualifikationen notwendig werden, durch die garantiert ist, daß angesichts der teuren Anlagen und der vom Markt erwarteten Produkt-flexibilität möglichst wenig Unterbrechungen im Produktionsablauf entstehen. Dies ist nur dann möglich, wenn die Arbeiter über ein umfassendes Produkti-onswissen und über ein Mehr an Verantwortung verfügen. Kern, H./Schumann, M.: Das Ende der Arbeitsteilung. Rationalisierung in der industriellen Produkti-on. München 19852.

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zipien äußerst tiefgreifend und umfassend die Bedingungen in der Arbeitswelt insgesamt geprägt. In einem ähnlichen Sinn kann heute davon gesprochen werden, daß das heraufdämmernde Ende des Tay-lorismus bereits überdeutliche Schatten seiner Auswirkungen voraus-wirft, die sich mit den zwei Aspekten, „Tendenz zur „(Re-)Qualifizierung“ und „massiv steigende Arbeitsmarktrisiken“ umschreiben lassen.13 Die derzeitige Auflockerung tayloristischer Produktionskonzepte ist einerseits – wie im nächsten Kapitel darge-stellt – verbunden mit völlig neuen Qualifikations- und Partizipations-angeboten des Managements an die Kernbelegschaften und den dem-entsprechenden Tendenzen zu einer „Selbstkontrolle“ der Arbeitskräf-te; andererseits wird damit aber auch eine Ausweitung der in der Ge-sellschaft ohnehin angelegten Spaltungen – und dabei nicht nur der zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen – provoziert. Am heutigen „Übergang von der tayloristischen Modernisierung zur postmodernen Arbeitsorganisation“ werden die Arbeitsbedingungen deutlich unein-heitlicher, und es kommt insgesamt zu einer wachsenden Polarisie-rung der Gesellschaftsmitglieder in Hinblick auf die jeweiligen – po-sitiven oder negativen – Auswirkungen der neuen Produktionskonzep-te.

Der Bedarf an Arbeitskräften in der Industrie sinkt im Zusammen-hang mit den post-tayloristischen Rationalisierungskonzepten sehr rasch.14 Besonders Arbeitskräfte mit niedrigen oder nicht mehr ge-

13 Mit tragischer Deutlichkeit zeigt sich dieses Doppelgesicht des Post-Taylorismus

derzeit in der europäischen Autoindustrie. In diesem Wirtschaftzweig, der be-sonders stark dem internationalen Konkurrenzkampf ausgeliefert ist und seit An-fang der neunziger Jahre mit massiven Absatzrückgängen konfrontiert ist, wird derzeit versucht, einerseits durch tiefgreifende Umorganisationen in Richtung „Lean production“, die Produktivkraft „Humankapital“ zu aktivieren und ande-rerseits werden seit 1991 radikal Arbeitsplätze abgebaut, sodaß bis Mitte des Jahrzehnts voraussichtlich nur mehr ungefähr zwei Drittel des ursprünglich Per-sonals beschäftigt sein wird. Vgl. „Kurier“ 13. August 1993, S. 21.

14 Insgesamt ist der Anteil der in der Industrie beschäftigten Erwerbstätigen im westlichen Europa seit 20 Jahren um mehr als 20 Prozent gesunken, und ein wei-

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„Postmodernisierung“ der Arbeitswelt 111

fragten Qualifikationen sind damit massiv von Teilzeitarbeit, Arbeits-losigkeit und Ausgrenzung bedroht. Die Möglichkeiten, durch Umler-nen und Nachqualifizierung eine neue Beschäftigung, eventuell in einem anderen Wirtschaftsbereich zu finden, und damit den bisheri-gen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, sind bei weitem nicht so großartig, wie das manchmal dargestellt wird. Nicht nur der für seine radikalen Analysen der gegenwärtigen Entwicklungen auf den Ar-beitsmärkten der Industriestaaten bekannte André Gorz zeigt immer wieder auf, daß der größte Teil der im Zuge der heutigen „Struktur-veränderungen“ neu entstehenden Beschäftigungsmöglichkeiten im Niedriglohnbereich angesiedelt ist.15 Ganz im Sinne seiner Analysen und Prognosen wird auch in einer Studie zur Beschäftigungsentwick-lung in den USA darauf hingewiesen, daß die voraussichtlich bis zum Jahr 2005 entstehenden neuen Arbeitsmöglichkeiten sich überwiegend auf unqualifiziertem Niveau und dementsprechend schlechter Bezah-lung bewegen werden. Damit wird nur ein Trend fortgeschrieben, der sich schon über die letzten zwanzig Jahre nachweisen läßt: Obwohl in diesem Zeitraum in den USA etwa dreißig Millionen neuer Jobs ge-schaffen wurden, haben sich die durchschnittlichen Familieneinkom-men kaum erhöht, weil viele der neuen Beschäftigungsmöglichkeiten im Niedrigstlohnbereich angesiedelt sind.16 Insbesondere im Dienst-

teres Abnehmen von 20 bis 30 Prozent wird für die nächsten zehn Jahre prognos-tiziert. In Österreich fand zum Beispiel noch 1970 jeder zweite Beschäftigte sei-ne Arbeit in einem Industriebetrieb, 1993 ist es nur mehr jeder dritte. Und diese Entwicklung setzt sich – wie in allen Industriestaaten – noch weiter fort. „Wirt-schaftswoche“ 31/29. Juli 1993, S. 14.

15 Vgl. insbesonders Gorz, A.: Und jetzt wohin? Berlin 1991. 16 Auch eine Untersuchung der Wirtschaftsprofessoren Barry Bluestone und Ben-

nett Harrison brachte ein ähnliches Ergebnis: Fast die Hälfte – 44 Prozent – der zwischen 1979 bis 1985 in den Vereinigten Staaten neu entstandenen Arbeits-plätzen erbrachten eine Entlohnung an der Armutsgrenze. Damit hat sich die Quote der neu entstandenen Niedriglohnarbeitsplätze gegenüber den sechziger und siebziger Jahren mehr als verdoppelt. Zit. nach: Kami, M.J.: Zehn Prozent besser als die Konkurrenz. Worauf es heute ankommt, Schlüsselstrategien für den Wettbewerb. Frankfurt a.M./New York 1990, S. 23.

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leistungssektor, von dem ja vielfach angenommen wird, daß dort die Arbeitsplätze heranwachsen, die im Produktionssektor verlorengehen, entstehen wesentlich mehr schlecht bezahlte Tätigkeiten – wie zum Beispiel Fahrradbote, Pizzaausträger oder Hundeausführer – als hoch-dotierte Jobs – wie solche eines Investmentberaters oder Computer-programmierers.17

Ganz unabhängig von diesbezüglichen empirischen Untersuchun-gen18 steckt ja genaugenommen schon im Argument, daß es gegen-wärtig zu einer „Tertiarisierung der Ökonomie“ kommt und damit in Zukunft eine wachsende Anzahl von Menschen im Dienstleistungs-sektor tätig sein wird, eine Bestätigung der Tendenz zur fortschreiten-den Spaltung der Gesellschaft in gutverdienende Vollbeschäftigte auf der einen Seite, die es sich leisten können, die Marginalisierten „der anderen Seite“ zu ihren persönlichen Diensten heranzuziehen, weil sie selbst in der dazu notwendigen Zeit mehr verdienen können, als sie dafür zahlen müssen. Denn berücksichtigt man jene relativ vielen Dienstleistungen, die bisher von den Industriebetrieben selbst erbracht wurden – vom Transport über Lohnverrechnung bis zu Forschung und Entwicklung –, aber jetzt aus Kostengründen häufig in eigene Unter-nehmungen ausgelagert werden und somit zwar die Statistik der Dienstleistungstätigkeiten entsprechend aufbessern, aber real keinen Arbeitsplatzzuwachs bedeuten19, beruht die tatsächlich stattfindende

17 Nach „Newsweek“ vom 14. Juni 1993, S. 14. 18 Vgl. dazu beispielsweise: Blossfeld H.-P./Mayer K.U.: Berufsstruktureller Wan-

del und soziale Ungleichheit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-psychologie, 43 (1991), 4, S. 671-696.

19 Diese „statistische Verwandlung“ ehemaliger dem Industriesektor zugerechneter Arbeitsplätze in Tätigkeiten des Dienstleistungssektors macht es insgesamt sehr schwer zu überprüfen, wieweit das Argument von der zunehmenden „Tertiarisie-rung der Wirtschaft“ überhaupt stimmt. Während die echten Produktionsabtei-lungen in der Industrie ständig schrumpfen, gewinnen zum Beispiel Marketing, Service, Forschung oder Weiterbildung immer mehr an Gewicht, scheinen aber erst wenn sie in eigene (Sub-)Unternehmen ausgelagert werden – was derzeit aus

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diesbezügliche Ausweitung des Beschäftigungsangebots sehr stark auf neu entstehenden Arbeitsplätzen in den Bereichen der „persönlichen Dienstleistungen“. Diese Tätigkeiten gehören aber, entsprechend einer von André Gorz unter Berufung auf Adam Smith dargestellten und recht leicht nachvollziehbaren Logik20, nicht zufällig faktisch durch-wegs dem Niedriglohnbereich an.

Gorz führt aus, daß das Wirtschaftswachstum in der Vergangenheit überwiegend auf der sogenannten „produktiven Substitution“ beruhte. Da Industrie und Dienstleistungsunternehmungen eine zunehmende Anzahl von Aufgaben, die vorher in der häuslichen Sphäre besorgt worden waren – wie beispielsweise Spinnen, Weben, Brot backen –, auf Grund von leistungsfähigen Maschinen, einem entsprechenden Energieeinsatz und rationalisierten Arbeitsverfahren mit weniger Ar-

beitszeit und häufig auch qualitativ besser erledigen konnten, waren diese Aufgaben zunehmend an sie übergegangen. Die Folge dieser Entwicklung war, daß die Menschen der industrialisierten Welt heute gemeinhin in einer Arbeitsstunde wesentlich mehr verdienen, als die Waren und Dienstleistungen kosten, die sie durch Eigenarbeit in die-ser Stunde selbst herstellen könnten. Das Abgehen von der Selbstver-sorgung und die Industrialisierung hat auf der gesamtgesellschaftli-chen Skala somit Arbeitszeit erspart, wodurch Mußezeiten oder das Produzieren zusätzlicher Reichtümer möglich wurden.

Ganz anders verhält sich die Sache im Bereich der persönlichen Dienstleistungen. Die Arbeitenden tun hier ja nichts, was jene Perso-nen, die die Dienstleistung in Anspruch nehmen, nicht – in durch-schnittlich derselben Zeit und der gleichen Qualität – genausogut selber tun könnten. Es handelt sich hier um eine „äquivalente Substi-tution“, die nur von jenen Menschen in Anspruch genommen werden

Kostengründen eben recht häufig passiert – im „Dienstleistungssektor der Wirt-schaft“ auf. Vgl. „Wochenpresse“ 31/29. Juli 1993.

20 Die folgende Argumentation folgt im wesentlichen der Darstellung von André Gorz 1991, a.a. O., S. 72-76.

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kann, die um so viel mehr verdienen, als sie zu ihrer gesellschaftsadä-quaten Bedürfnisbefriedigung brauchen, daß sie sich von lästiger, langweiliger und unbeliebter Arbeit freikaufen können. Das heißt aber, daß die Summe derjenigen Menschen, die auf Grund des sin-kenden Arbeitskräftebedarfs in der Industrie keine Beschäftigung mehr finden und gezwungen sind, persönliche Dienstleistungen zu verrichten, immer nur gerade soviel verdienen kann, als die Gruppe derer zu „entbehren“ bereit ist, die trotz (oder dank) des Einsatzes der neuen Technologien einen gut bezahlten, sicheren Arbeitsplatz hat.21 Stellt man nun die Tendenz in Rechnung, daß die Anzahl der Beschäf-tigten in den produktiven Sektoren der Wirtschaft rückgängig ist und die Arbeitsplätze im Bereich der persönlichen Dienstleistungen zu-nehmen, ergibt sich aus dem Dargestellten in logischer Folge eine immer größer werdende soziale Kluft zwischen diesen beiden Bevöl-kerungsgruppen.

Die post-tayloristische Tendenz zur Dienstleistungsgesellschaft impliziert somit eine fortschreitende gesellschaftliche Spaltung, die mit dem traditionell-marxistischen Erklärungsmuster der „Klassenzu-gehörigkeit“ nur unzureichend in den Griff zu bekommen ist. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Transformation des „Ko-lonialmodells“ (Gorz) in die Industriegesellschaften. Die heutige Zu-nahme der Arbeitsplätze im Bereich der persönlichen Dienstleistun-gen stellt demgemäß keineswegs bloß eine wertfrei interpretierbare Umschichtung der gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Arbeits-

21 Dieser Mechanismus greift im übertragenen Sinn auch dann, wenn die angespro-

chenen persönlichen Dienste nicht auf einem „freien Markt“ gehandelt werden, sondern – wie zum Beispiel verschiedene Tätigkeiten in der Altenbetreuung – durch Länder, Gemeinden oder öffentliche Körperschaften organisiert werden. Denn auch dann kann eine Bezahlung in der Höhe eines adäquaten Standards nur erfolgen, wenn öffentlicher Konsens darüber herrscht, daß das über Steuern und Abgaben erworbene öffentliche Budget entsprechend belastet werden soll. Heute läßt sich jedoch eher der Trend beobachten, die Steuerbelastung der Gutverdie-nenden – und damit den finanziellen Spielraum des Staates einschließlich aller seinen Gliederungen – zu verringern.

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„Postmodernisierung“ der Arbeitswelt 115

plätze dar, sondern muß als die unmittelbare Folge der Verarmung eines größer werdenden Bevölkerungsanteils begriffen werden. Gorz faßt die heutige Entwicklung folgendermaßen zusammen: „Die sozia-

le und ökonomische Ungleichheit zwischen denen, die persönliche

Dienste leisten, und denen, die sie kaufen, ist zur Triebkraft der Schaf-

fung von Arbeitsplätzen geworden. ![…] Die Schaffung von Arbeits-

plätzen hat nicht mehr die Funktion, auf der gesamtgesellschaftlichen

Skala Arbeitszeit zu sparen, sondern Arbeitszeit zu verschwenden;

[…] ihr Zweck ist es vielmehr, die Produktivität zu vermindern, um

die Verausgabung von Arbeit durch die Entwicklung eines Dienstleis-

tungssektors ohne soziale Nützlichkeit zu erhöhen.“22 Fasziniert von den gegenwärtigen Anzeichen eines Abgehens von

der tayloristischen Produktionsform verengt sich der Betrachtungsfo-kus häufig auf das damit vorstellbar gewordene Ende der monotonen und zerstückelten Industriearbeit sowie die Vision einer interessanten, verantwortungsvollen und abwechslungsreichen Tätigkeit in der in-dustriellen Produktion, wo statt auf reagierende Funktionen reduzierte Arbeiter, nun selbständige und mündige Menschen gefordert sind, die kommunikativ und lernfähig sind und eine Vielzahl manueller und intellektueller Fähigkeiten beherrschen. Gerne wird in diesem Zu-sammenhang die Perspektive von souveränen und autonomen Mitar-beitern entwickelt, die sich ihre Tätigkeit im Team selbst organisieren und – von „flachen Hierarchien“ kaum eingeengt – eigenverantwort-lich die Optimierung der Produktion vorantreiben. Diese Entwick-lung, die weiter vorne als der Einzug der „Dienstleistungslogik“ in

die industrielle Produktion charakterisiert wurde, stellt jedoch nur die eine Hälfte jenes „Übergangs zur Dienstleistungsgesellschaft“ dar, an dessen Schwelle sich die industrialisierten Länder heute befinden. Die weitaus weniger glänzende zweite Hälfte dieser Perspektive besteht darin, daß es – wenn den gegenwärtigen Trends nicht entgegengesteu-

22 Gorz 1991, a.a.O., S. 76; Hervorhebung E.R.

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116 Die Arbeit hoch?

ert wird – zu einem zunehmenden Auseinanderdriften der sozialen Bedingungen von Gewinnern und Verlierern des Konkurrenzkampfes um attraktive Arbeitsplätze kommt.

Die kurzschlüssige Euphorie des postmodernen „anything goes“ mit ihren schillernden Schlagwörtern „Pluralisierung, Differenzierung und Individualisierung“ verstellt heute weitgehend den Blick darauf, daß die angebliche Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten der post-fordistischen Gesellschaft jedermann gnadenlos unter das Diktat tota-ler Leistungsverausgabung und Konkurrenz zwingt. Die „Sportifizie-rung der Gesellschaft“ fordert permanent, sich und die anderen zu bezwingen, weil nur wer hart und konsequent genug ist, sich durchzu-setzen, an den attraktiven neuen Arbeits- und Lebensstilangeboten teilhaben kann. Das heute übliche einseitige Herausstreichen der Möglichkeit, daß ja (angeblich) jeder – nicht zuletzt durch „Weiter-bildung“, im Sinne einer laufenden Nachjustierung seines Qualifikati-onsprofils – zu einem der Gewinner werden kann, und das damit ver-bundene weitgehende Verdrängen der Tatsache, daß ein Konkurrenz-

system – auch dann, wenn sich alle maximal anstrengen und ihr Bes-

tes geben – immer auch Verlierer produziert, leistet gegenwärtig auch einer rasch fortschreitenden Deregulierung in der Arbeitswelt Vor-schub.

Wesentliche Ansprüche, die im Rahmen der „tayloristischen Mo-dernisierung“ der Arbeit entwickelt und durchgesetzt worden waren, wie Stabilität der Beschäftigung und ausreichende soziale Sicherung für alle Arbeitenden, sind derzeit einer raschen Erosion ausgesetzt. In diesem Sinn kann heute ein relativer Rückgang der traditionellen Lohnarbeitsverhältnisse, die in Form eines „Verkaufs von Arbeitskraft

über eine bestimmte Zeit“ organisiert sind, einschließlich der damit verbundenen, in der Regel kollektiv ausgehandelten sozialen Sicher-heitsmechanismen und der weitgehend üblichen Zeitentlohnung, beo-bachtet werden. Statt dessen steigt der Anteil solcher Arbeitsleistun-gen tendenziell an, die unter den Bedingungen von Liefer- oder

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Werkverträgen erbracht werden. Arbeitnehmer werden dadurch zu formell selbständigen, quasi freien Subunternehmern, die keinen Zeit-lohn, sondern ein „Entgelt für eine Leistung unter Bedingungen der

Ungewißheit“23 erhalten. Damit wird auch das Modell der durch ei-nen Arbeitsvertrag abgesicherten, kontinuierlichen und relativ gleich-bleibenden Bezahlung nach und nach durchlöchert und beginnt sein bisheriges Selbstverständnis einzubüßen – es kommt zu einer „Flexi-bilisierung“ der Arbeitsverhältnisse und der Entlohnungsformen.

Aber auch im Rahmen (derzeit noch) traditionell organisierter Lohnarbeit zeigt sich der Trend zur „Risikogesellschaft“ (Ullrich Beck) im immer häufigeren Unterlaufen des sogenannten „Normalar-beitsverhältnisses“. Insbesondere die Zahl der „Teilzeitbeschäftigten wider Willen“, die ja durchaus auch als „Teilzeitarbeitslose“24 be-zeichnet werden können, ist seit den siebziger Jahren permanent im Steigen begriffen.25 Im Zunehmen begriffen sind in allen Industrie-

23 Herbert Giersch, Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, in „Wirt-

schaftswoche“ 10/1985, S. 38. 24 Die Tatsache, daß die Anzahl der Vollzeitbeschäftigungen relativ abnimmt und

die Teilzeitbeschäftigungen ansteigen, hängt ja damit zusammen, daß in den letz-ten Jahren die Produktivität stärker gestiegen ist, als eine Ausweitung des Kon-sums möglich war. Um in dieser Situation die verbleibende Arbeit zu „strecken“, besteht zum einen die Möglichkeit, die Arbeitszeit allgemein zu reduzieren. Die Alternative zu dieser Entwicklung ist, daß – wie es derzeit geschieht – zuneh-mend mehr Menschen in die „Vollzeit-“ oder „Teilzeitarbeitslosigkeit“ abge-drängt werden.

25 Die OECD weist in ihrer jüngsten „Perspektive der Beschäftigung“ darauf hin, daß neben der statistisch sichtbaren Arbeitslosigkeit in den Mitgliedsländern auch die „versteckte Arbeitslosigkeit“ in Form von unfreiwilliger Teilzeitarbeit derzeit rasch zunimmt. So leisten im Jahre 1992 schon 13 Millionen Menschen zeitlich befristete Arbeit, obschon sie lieber einen Vollzeitarbeitsplatz hätten. „ÖGB-Nachrichtendienst“ 2703/29. Juli 1993. Auch in Österreich läßt sich in den letzten Jahren ein sprunghaftes Ansteigen der Teilzeitarbeitsplätze und der sogenannten geringfügig Beschäftigten verzeichnen. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hierzulande um etwa 100.000 auf 500.000 angestiegen, wobei sich diese Zunahme seit Ende der achtziger Jahre noch beschleunigt. Dabei konzentriert sich Teilzeitarbeit ganz besonders in den Wirtschaftsklassen am unteren Ende der Verdiensthierarchie. Insbesondere die

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staaten auch zeitlich befristete Arbeitsverträge, Gelegenheitsarbeiten und atypische Beschäftigungsverhältnisse wie legale und illegale Leiharbeit.26 Diese Arbeitsformen bedeuten für die Betroffenen durchwegs vermehrte Risiken, wie geringeres Einkommen, einen schlechteren oder gar keinen Pensions- und Krankenversicherungs-schutz sowie eine verringerte Absicherung im Falle von Arbeitslosig-keit. Eine weitere Aushöhlung sozialer und arbeitsrechtlicher Stan-dards impliziert die heute weitverbreitete illegale Beschäftigung von Arbeitskräften.

Die damit verbundene Heterogenisierung der Lebensbedingungen von Arbeitnehmern zerstört die letzten Reste einer traditionellen „So-lidargemeinschaft“ der vom „Verkauf ihrer Arbeitskraft“ Lebenden. Bei den tayloristischen Massenarbeitern konnte sich zumindest ein diffuses Bewußtsein gleicher Interessenslage von „Lohnabhängigen“, verbunden mit dem Wissen um die Bedeutung kollektiver Formen der Interessenswahrnehmung und einer ideologisch legitimierten Abgren-zung gegenüber der Interessensgruppe der Arbeitgeber, herausbilden. Unter den heutigen Bedingungen hingegen erscheint die gesellschaft-liche Bruchlinie Arbeitgeber-Arbeitnehmer im Bewußtsein der meis-ten Gesellschaftsmitglieder schlichtweg unwichtig. Traditionellen Formen kollektiver Interessenswahrnehmung wird dementsprechend zunehmend weniger Bedeutung zuerkannt, und statt dessen etabliert sich ein partikularer Korporatismus einander befehdender und von-einander abgrenzender Statusgruppen. Ganz im Sinne der Renaissance

weiblichen Teilzeitbeschäftigungen konzentrieren sich in einfachen Büro- und Verwaltungshilfsberufen, im Verkauf und im Handel, im Bereich der Gebäude-reinigung sowie in Gesundheitsberufen. Drei Viertel der teilzeitbeschäftigten Frauen haben nur Pflichtschulabschluß mit oder ohne Lehrausbildung, mehr als die Hälfte sind Arbeitnehmerinnen mit Hilfs- oder angelernten Tätigkeiten. – Es kann angenommen werden, daß nicht alle solcherart Beschäftigten freiwillig kei-nen Vollzeitarbeitsplatz einnehmen. „Der Standard“, 27. 9. 1993, und 20. 12. 1993, sowie Klaus Firley, Arbeits- und Sozialrechtler an der Universität Salz-burg, in der ORF-Sendung „Arbeit ohne soziales Netz“, am 16. 10. 1992.

26 Vgl.: Gorz 1991, a.a.O., S. 71.

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der Behauptung, daß dem Tüchtigen die Welt gehöre und jeder seines Glückes Schmied sei, verliert die in der traditionellen Wertehierarchie der Arbeiterbewegung äußerst hoch besetzte „Solidarität“ heute rasch an Wert27, was sich nicht zuletzt an der minimalen Beachtung zeigt, die – sogar von potentiell stark Betroffenen – den steigenden Arbeits-losenraten oder der Tendenz eines immer deutlicher gespaltenen Ar-beitsmarktes entgegengebracht wird.

27 Deutliche diesbezügliche empirische Hinweise finden sich in dem 1991 veröf-

fentlichten Österreichteil der Europäischen Wertestudie „Religion im Leben der Österreicher 1970-1990“, wo eine deutliche Entwicklung in Richtung „postsoli-darischer Gesellschaft“ konstatiert wird.

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4. UNTERNEHMENSKULTUR, LEAN PRODUCTION, GANZHEITLICHKEIT, FLEXIBILISIERUNG, …

– DIE UNTERNEHMENSSTRATEGIEN DES POST-TAYLORISMUS.

Die Aufgabe heißt: Tag für Tag mobilisieren – die Män-

ner und die Frauen im Unternehmen, ihre Intelligenz, ih-

ren Einfallsreichtum, ihr Herz und ihren kritischen

Verstand, ihre Freude am Spiel, am Träumen, an Quali-

tät, ihre schöpferischen Fähigkeiten, ihre Kommunikati-

onsfreudigkeit, ihre Beobachtungsgabe, in einem Wort:

ihre reiche Vielfalt […] Der industrielle Konkurrenz-

kampf wird immer unerbittlicher, und nur diese Mobili-

sierung wird es erlauben, sich siegreich zu behaupten.

H. Servieyx/G. Archier, Unternehmen der dritten Art1

Wie schon angedeutet wird heute – im Zusammenhang mit den im

vorigen Kapitel beschriebenen neuen post-tayloristischen Arbeitsan-forderungen, die in den stark der internationalen Konkurrenz ausge-setzten Kernsektoren der Wirtschaft derzeit rasch an Bedeutung ge-winnen – zunehmend das klassische hierarchisch-autoritäre Führungs-schema, das auf der zentralen Steuerung betrieblicher Abläufe und der Motivation der Arbeitenden primär durch finanzielle Anreize beruht, in Frage gestellt. Die wachsende Komplexität der Probleme in der hochautomatisierten Produktion, die zunehmende Vernetzung der verschiedenen Produktionsbereiche sowie die Notwendigkeit, im Sin-

1 Zit. nach Hahn, G.: Spurensicherung. Über die Notwendigkeit gewerkschaftli-

cher Theoriebildung, Wien 1990, S. 151.

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ne einer ökonomischen Nutzung der extrem kostenintensiven Techno-logien, rascher auf Schwierigkeiten, Ausfälle und Probleme zu reagie-ren, legt immer mehr eine Arbeitsteilung auch auf der Ebene der be-trieblichen Entscheidungen nahe. Im Hinblick auf einen effektiven Produktionsablauf wird es immer wichtiger, daß bei Problemen nicht erst ein umständlicher innerbetrieblicher „Instanzenzug“ durchlaufen wird, sondern daß notwendige Entscheidungen rasch vor Ort gefällt werden.

Auch für die heutige Situation auf den Absatzmärkten stellt die Möglichkeit der Unternehmen, rasch und flexibel im Sinne der Marktveränderungen agieren und reagieren zu können, einen wesent-lichen Erfolgsfaktor dar. Die zeitraubenden Abstimmungs- und Um-stellungsprozesse im Rahmen hierarchischer und stark arbeitsteiliger, formalistischer Organisationsstrukturen werden in diesem Zusam-menhang zunehmend als kontraproduktiv identifiziert und aus diesem Grund neuerdings häufig sogenannte „Selbstorganisationsstrukturen“ als Lösung idealisiert.2 Zugleich lassen sich aufgrund der schon wei-ter vorne beschriebenen Tendenz, daß den menschlichen Arbeitskräf-ten unter den neuen Produktionsbedingungen zunehmend nur die nicht-standardisierbaren Tätigkeitsbereiche vorbehalten bleiben, die Leistungen der Arbeitenden in den betroffenen Bereichen sowieso wesentlich weniger als früher über Kontrolle und Vorgabezeiten in enggegliederten Arbeitsvollzügen steuern. Diese Erkenntnisse moti-vieren Unternehmer und Kapitaleigentümer heute zunehmend dazu, auf extrafunktionale Elemente freiwilliger Kooperation bei den Be-schäftigten und auf Anreize zur „Selbstregulierung“ der Arbeitsgrup-pen – wie zum Beispiel auf ergebnisbezogene, arbeitszeitunabhängige Entlohnungsformen – zu setzen. Darin ist die wesentliche Ursache für

2 Vgl. Bechtler, Th. W.: Selbstorganisation als Unternehmensvision – Der Markt

als Mittel innerbetrieblicher Organisation. In: Königswieser/Lutz (Hg.): Das sys-temisch evolutionäre Management: Der neue Horizont für Unternehmer. Wien 19922, S. 10-17.

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Die Unternehmensstrategien des Post-Taylorismus 121

die derzeitige Konjunktur neuer Personalführungskonzepte zu suchen, – Konzepte, die von Unternehmensberatern und auch von Organisati-onssoziologen gerne mit hochgreifenden Schlagworten wie „Unter-nehmenskultur“ oder „konsensuelles Management“ belegt werden.

Der verschärfte Konkurrenzkampf des Post-Fordismus fordert heu-te außerdem neue Formen der unternehmerischen Imagepflege. Weder nach außen noch nach innen können große internationale Unterneh-men zunehmend auf Public Relations verzichten. Nach außen ist, da die Produkte verschiedener Firmen in Preis, Qualität und Gestalt oft kaum mehr unterscheidbar sind, verstärkt ein „Corporate Design“ gefordert, das Einzigartigkeit suggeriert und Seriosität und Vertrauen vermittelt.3 Auch noch so aufwendig gestaltete Firmenlogos reichen dafür heute kaum mehr aus, zunehmend läuft die Imagepflege über ein mit Firmennamen und -produkten geschickt verknüpftes „Werte-system“ – Sportsponsoring,4 Kunstausstellungen oder Kinderspiel-plätze sind dafür genauso geeignet, wie werbewirksam präsentierte vorgebliche Aktionen für den Umweltschutz.5 Aber das Unterneh-mensimage soll auch „nach innen“ wirksam werden, auch die Be-triebsangehörigen müssen vom „sichtbar gelebten Wertesystem“6,

3 Vgl. dazu beispielsweise: Karmasin, H.: Produkte als Botschaften: Was macht

Produkte einzigartig und unverwechselbar? Wien 1993. 4 In der Opel-Konzernzeitung „Top-Business“ (Report IV/Oktober 1992) heißt es

dazu: „… und wenn der Fremdwörter-Duden das englische Wort »Sponsor« mit »Gönner, Förderer, Geldgeber« übersetzt, so hat er nur rein sprachlich recht. In Wirklichkeit bekommt der Sponsor etwas zurück, profitiert vom Imagetransfer, bei dem positive Attribute des Sports wie Dynamik und Jugendlichkeit auf Un-ternehmen und Produkte übergehen sollen.“

5 So sorgt sich McDonalds neuerdings in Anzeigenserien um den tropischen Re-genwald, die Firma Citroen hilft den Österreichern beim „Freikaufen“ des Hain-burger Auwaldes, und Mercedes-Benz mahnt neben einem Weltraumfoto der Erdkugel – in ganzseitigen Hochglanzanzeigen auf schwer giftigem Tiefdruck (!) – zu ökologischer Vernunft: „Für diesen Stern gibt es kein Ersatzteil“.

6 Vgl. insbesonders Peters, Th. J./Waterman, R. H.: Auf der Suche nach Spitzen-leistungen. Was man von den bestgeführten US-Unternehmen lernen kann. Landsberg am Lech 1982, S. 321-334.

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vom „Unternehmensprofil“, oder, wie es derzeit gerne auch heißt, von der „Philosophie“ der Firma restlos durchdrungen sein7. Als „Corpo-rate Identity“ soll das Firmenimage bei der Belegschaft die Arbeits-motivation verstärken, Engagement und Leistungsreserven freisetzen und eine produktivitätsfördernde Identifikation der, im Management-jargon neuerdings zu „Mitarbeitern“ mutierten, ehemaligen „Unterge-benen“ mit dem Unternehmen bewirken8.

Die betriebliche Sozialatmosphäre, die Kommunikationskultur und das Betriebsklima rücken heute, aufgrund der verstärkten Bedeutung der Motivierung und produktionsorientierten Selbstdisziplinierung – zumindest der Facharbeiter-Stammbelegschaften – zunehmend in den Fokus der Unternehmensgestaltung. Neue Formen von Gruppen- und Teamarbeit werden allenthalben installiert, „ideelle Sozialleistungen“, wie künstlerisch gestaltete Arbeits- und Pausenräume, die betriebsin-

7 Unter dem Titel „Unternehmenskultur als Erfolgsfaktor“ schreibt eine erfolgrei-

che Unternehmensberaterin diesbezüglich: „Die »Äußerlichkeiten« des corporate designs werden in ihrer Bedeutung für das Unternehmensprofil leicht unter-schätzt. Zu ihnen gehört das Erscheinungsbild der Bauten, die Gestaltung von Büros und Dokumenten ebenso wie die Wiedererkennungs-Signale, die das Un-ternehmen in der Werbung aussendet. Slogans und Redestil, Rituale und Zere-moniell bilden zusammen mit Mythen, Anekdoten und Legenden die äußere Hül-le der »Kultur«, die alle Mitglieder des Unternehmens trägt und zu Mitwirkenden macht.“ Höhler, G. in: Königswieser/Lutz, a.a.O., S. 341.

8 Ganz im Sinne des weiter vorne schon angesprochenen „Zur Ware Werdens der Bildung“ wird neuerdings „Corporate Identity“ auch als Rezept für die Rekrutie-rungsprobleme im Schul- und Weiterbildungsbereich kolportiert. Im Kampf um „Bildungs-Marktanteile“ wird heute empfohlen – beziehungsweise bleibt Schu-len und den Einrichtungen der Erwachsenenbildung, wenn sie der Schrumpfung oder Schließung entgehen wollen, gar nichts anderes übrig –, sich der Marketing-Strategien und Unternehmenskulturkonzepte der Wirtschaft zu bedienen. Da sich beim Verkauf von Gütern die Verpackung und die Präsentation als immer ent-scheidender herausstellt, soll sich Entsprechendes auch im pädagogischen Be-reich bewähren. Bildungs„messen“, „Tage der offenen Tür“ und T-Shirts mit Schullogos waren diesbezüglich schon eine gute Vorübung, nun gilt es noch, das Ganze in ein durchgestyltes „Corporate-Identity“-Konzept einzubinden, dann wird die „Ware Bildung“ endlich genauso konsequent vermarktet wie alle ande-ren Nebenprodukte der kapitalistischen Mehrwertproduktion.

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tere Anrede mit dem kollegialen „Du“ ohne Nennung irgendwelcher Titel oder die Betriebskantine, in der der Generaldirektor „Tisch an Tisch“ mit den Lehrlingen sitzt, sollen die Gleichwertigkeit aller Be-teiligten des Betriebsgeschehens suggerieren9, und „Qualitätszirkel“, „Projektteams“ oder „Innovationsrunden“ sollen schließlich den Be-dürfnissen nach sozialen Kontakten, sowie nach Meinungs- und Er-fahrungsaustausch abdecken. Als schon kaum mehr extra zu erwäh-nende Maßnahmen zur Motivationsförderung gelten Beschwerde-briefkästen, regelmäßig stattfindende gesellige Treffen oder T-Shirts und Freizeitanzüge mit dem Firmenlogo. Ziel dieser unternehmens-kulturellen „Mobilmachung“ ist eine „Orientierung der Mitarbeiter in Zeit und Raum, [geprägt] vom Geist des Unternehmens“10, verbunden mit dem Herausbilden eines betriebsinternen „Wir“-Gefühls zu dem Zweck, die Arbeitenden dazu zu bringen, ihre Energie rückhaltlos für das Unternehmen einsetzen.

Im Grunde genommen geht es bei den all den neuen Manage-ment„techniken“ gar nicht um die „Motiviertheit“ der Arbeitenden sondern um ihre „Motivierung“. Es geht – so wie bei fremdbestimm-ter Arbeit immer – darum, sie zu „entfremden“, indem man sie dazu bringt, etwas zu tun, was andere wollen, aber sie gleichzeitig glauben zu machen, daß sie es selbst tun wollen. Wenn in Managementhand-büchern heute permanent die „Motivation der Mitarbeiter“ beschwo-ren wird, dann wird damit nur eine neue Stufe der Manipulation ange-sprochen. Die Strategien, Menschen zu gängeln und zu lenken, rei-chen bekannterweise vom „Bedrohen und Bestrafen“ über das „Beste-chen“ bis hin zum „Belohnen und Belobigen“. Die heute aufgrund psychologischer Erkenntnisse und technologisch-arbeitsorganisatori–

9 Der Geschäftsführer des neuen Opel-Werkes in Eisenach/BRD, Jürgen Gebhardt,

kommentiert die Tatsache, daß dort vom Chef bis zum Arbeiter alle mit grauen Hosen und weißen Hemden eingekleidet sind, mit den Worten: „Hier muß ein-fach jedem klar werden, daß wir alle in einem Boot sitzen“. Zit. nach „Stern“ 42/1992, S. 32.

10 Höhler, a.a.O., S. 342.

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scher Möglichkeiten präferierten Verfahren des Belohnens und Belo-bigens werden in der Regel zwar als wesentlich angenehmer erlebt als die „traditionellen“ Druckmethoden, sie sind aber – in der Absicht angewendet, jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, was er aus sich heraus nicht tun will – trotzdem nichts anderes als ganz gewöhnliche Manipulationstricks!

Die Generalmobilmachung in Sachen Mitarbeitermotivierung er-fordert auch ein neues Selbstverständnis und neue Verhaltensweisen der Manager. Der patriarchalische „Führer“, der seine Privilegien deutlich zur Schau stellt, im Meisterbüro beziehungsweise der Chef-etage „residiert“ und seine Untergebenen herumkommandiert, gilt als entsprechend überholt. Der Manager von heute muß Abschied neh-men von herkömmlich-autoritärer Personalführung, angesagt ist statt dessen die „partizipative Führung“. Propagiert werden neuerdings „flache Netzwerke als Unternehmensstrukturen und Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter coachen und kultivieren, mitreißen und zur Selbstorganisation motivieren“.11 Die mit hierarchischer Autorität operierende Führerpersönlichkeit hat ausgedient, heute geht es um ein subtiles, „strategisches Management des Humanpotentials“.12 Tradi-tionelle Führungsformen und Begriffe wie „Vorgesetzte“ und „Unter-gebene“ sind nur störend für ein Managementkonzept, bei dem die Arbeitenden eine gefühlsmäßige Bindung an „ihr“ Unternehmen und eine innengelenkte Arbeitsethik ausbilden sollen, um „in Profitdimen-sionen zu denken“ und selbst Strategien der Produktivitätssteigerung zu entwickeln. Betriebswirtschaftliches Wissen und ein technokrati-sches Aufgabenverständnis reichen für Führungskräfte derzeit dem-

11 ,Aus einem Bericht über ein Symposium des Wirtschaftsforums für Führungs-

kräfte (WdF) zum Thema „Holistic Management“, „Industrie“, 24. Juni 1992, S. 31.

12 Bleicher, K.: Paradigmenwechsel im Management? In: Königswieser/Lutz, a.a.O., S. 125.

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entsprechend nur mehr selten aus, um mit den neuen Anforderungen fertig zu werden.

Noch in einer weiteren sehr existentiellen Form stehen unterneh-merische Führungskräfte heute vor neuen Arbeitsbedingungen. Unter den Begleitumständen der – im vorigen Kapitel beschriebenen – post-tayloristischen Bedingungen der Arbeitswelt ist insbesondere das untere und das mittlere Management einer radikalen Dezimierung ausgesetzt. Während die extrem hierarchisch organisierte tayloristi-sche Arbeitsorganisation ein Heer von planenden, koordinierenden und kontrollierenden Angestellten erfordert hatte, lassen die nunmehr angestrebten flachen Hierarchien, selbstorganisierte Arbeitsgruppen sowie die Reduzierung von Koordinations- und Evidenzhaltungsauf-gaben durch informationsverarbeitende technische Systeme große Teile des Managements unwichtig werden. Dementsprechend werden in allen großen, dem internationalen Konkurrenzdruck ausgesetzten Unternehmen derzeit (ganz besonders auch) im Bereich des mittleren Managements massiv Arbeitskräfte abgebaut. Wenn die Arbeiter selbst verstärkt Verantwortung für das Unternehmensziel überneh-men, ist es immer weniger notwendig, daß – so wie im Taylorismus – die ursprünglich vom Eigentümer paternalistisch wahrgenommenen Unternehmerfunktionen an eigens zu diesem Zweck installierte und mit besonderen Privilegien ausgestattete Personen übertragen wird.

Eine der Zauberformeln, die verunsicherten Managern heute zu ei-nem neuen „post-tayloristischen“ Führungsverständnis verhelfen soll, ist die in der einschlägigen Literatur und in Aus- und Weiterbildungen neuerdings permanent beschworene „Ganzheitlichkeit“. Unter diesem Schlagwort finden gegenwärtig die abstrusesten pseudo-spirituellen Techniken und Versatzstücke diverser Heilslehren Zugang zu den Führungsetagen großer Konzerne. Kraft für ihr neues Aufgabenver-ständnis wird den Führungskräften aus Entspannungs- und Energie-

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übungen, Rebirthing13, schamanistischen Reinigungsritualen oder fernöstlichen Methoden der Persönlichkeitsentwicklung versprochen. Entkleidet von allen dahinterstehenden Werthaltungen sollen diese zur bloßen Technik herabgewürdigten „Methoden“ ein „Training der Harmonie von Körper, Geist und Seele“14 bewirken und die Manager befähigen, sich selbst und ihren „Mitarbeitern“ den „Kick“ für den ultimativen Einsatz im Unternehmen zu verschaffen. Als Vorbild gelten die erfolgreichen japanische Führungskräfte, die sich (wie in den diversen Seminaren mahnend erzählt wird) ebenfalls „nach tradi-tionsreichen Riten in Zen-Klöstern auf den rauhen Wirtschaftsalltag vorbereiten“15.

Am neuen „ganzheitlichen“ Seminarmarkt für Manager geht es häufig schon zu wie auf einer „New-Age-Messe“. Da ist von „Be-triebsfühlung“ die Rede, von „Multimind“, vom „schöpferischen Kraftfeld“ im Betrieb sowie vom „Management by love“16. Und Ma-nagementseminare, in denen die Teilnehmer unter dem Gesichtspunkt eines „ganzheitlichen“ Aufgabenverständnisses – nicht bloß im über-tragenen Sinn – über glühende Kohlen geschickt werden oder ge-meinsam im Schlauchboot einen reißenden Gebirgsfluß herunterrasen

13 Eine Atemtechnik, mit der Geburterlebnisse und diesbezügliche Traumata aufge-

arbeitet werden sollen. 14 „Industrie“, 24. Juni 1992, S. 32. 15 Ebda. 16 Dazu der deutsche Unternehmensberater und Wirtschaftsguru Gerd Gerken in

einen ORF-Interview: „Wir haben ja so unendlich viel Angst, das Wort Liebe mit Management zusammenzubringen. Warum eigentlich? Liebe ist die einzige Energie, die aus sich selbst heraus weitere Energien erwecken kann. Da wir ein energetisches Management mit mehr Produktivität brauchen – was ist so schlimm daran, daß wir Liebe ins Unternehmen bringen? Liebe zu einer Vision, Liebe zur Arbeit, Liebe zum Team, Liebe zur eigenen Dynamik, Liebe zum Boß, Liebe zu den Mitarbeitern, Liebe zur Sekretärin … Warum so viele Probleme mit der Liebe?“ „Österreich 1 extra“ 6. Juli 1991, 22.00 Uhr.

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müssen17, erwecken derzeit bereits kaum mehr Erstaunen. – Die Ma-nager von heute müssen eben lernen, daß „alle im gleichen Boot“ sitzen und daß sie ihre „Mitarbeiter“ umso eher zum Totaleinsatz beim Bemühen, das Konkurrenzunternehmen niederzuringen, bewe-gen können, wenn sie unter Führung nicht „Fremd-Willensdurch-setzung“, sondern, wie es in modernen Managementhandbüchern heißt, die „Durchsetzung von Herrschaft auf den Weg der Motivie-rung“ (Stöber/Bindig/Deosceka) verstehen.

Neben den Maßnahmen des motivationssteigernden „Sozialengi-neering“ werden heute aber – wie schon erwähnt – verschiedentlich auch durchaus umfassende Schritte zur Neuorganisation betrieblicher Arbeitsabläufe in dem Sinn vorgenommen, daß die weiterhin von menschlichen Arbeitskräften durchzuführenden Tätigkeiten an-spruchsvoller, komplexer und damit auch interessanter werden. Den größten Bekanntheitsgrad haben die diesbezüglichen arbeitsorganisa-torischen Veränderungen in der Automobilindustrie – dem noch im-mer größten Industriezweig der Welt – erlangt. Dort sind, unter Titeln wie „lean production“ und „lean management“, derzeit Entwicklun-gen im Gang, die in ihrer Dramatik durchaus mit dem Übergang von der handwerklichen Fertigung zur tayloristischen Massenproduktion verglichen werden können.18

17 Selbst in so traditionellen Unternehmen wie der Voest-Alpine MCE (Machinery,

Construction & Engineering) gehört für die Manager der Marsch über glühende Kohlen oder das gemeinsame Rafting-Abenteuer bereits zur jährlichen Pflicht-übung im Wir-Gefühl. Vgl. „Wochenpresse“ 37/9. September 1993, S. 46/67.

18 Die Managementansätze der „lean production“ und das sogenannte „lean mana-gement“ werden heute am intensivsten in der Autoindustrie diskutiert und haben von dort aus großen Bekanntheitsgrad erreicht. In der Zwischenzeit sind diese Produktionskonzepte jedoch durchaus nicht mehr nur auf die Arbeitsorganisation im Automobilbau beschränkt. Eine Reihe von Unternehmen wurden in den letz-ten Jahren in allen industrialisierten Ländern auf dieses Konzept umgestellt. Auch in Österreich haben beispielsweise der niederösterreichische Büromöbel-hersteller „Bene“ und der Kranhersteller „Pallfinger“ aus dem Salzburger Len-gau ihre Produktion ebenfalls völlig in der entsprechenden Form umorganisiert. Vgl. „Wirtschaftswoche“ 36/2. September 1993, S. 36/37.

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Die Autoindustrie, als der Prototyp eines international agierenden Wirtschaftsbereiches, steht heute unter dem massiven Druck, die tay-loristische Arbeitsorganisation, die im ersten Drittel dieses Jahrhun-derts genau von diesem Industriezweig ihren Ausgang genommen hat, abzubauen und auf ein neues System der Arbeitsorganisation umzu-stellen. Denn der traditionelle Ansatz, bloß durch eine weitere Erhö-hung des Anteils der automatisierten Montageschritte die Konkur-renzfähigkeit zu erhöhen, zeitigt heute nur mehr einen unzureichen-den Effekt.19 Durch entsprechende Studien wurde nachgewiesen, daß das Vorantreiben des Automatisierungsgrades die Effektivität der Fertigung nur mehr in einem sinkenden Ausmaß verbessern kann sowie daß, auch bei etwa gleichem Automatisierungsniveau, der Effi-zienzunterschied der Fabriken – international gesehen – enorm ist.20 Den entscheidenden Unterschied macht zunehmend die Produktions-organisation. Japanische Automobilhersteller, die am frühesten die entsprechenden Umstellungen vorgenommen haben, schaffen es heu-te, auch bei bloß durchschnittlichem Automatisierungsgrad, für die Herstellung eines Fahrzeuges mit einem wesentlich geringeren Auf-wand an Arbeitsstunden auszukommen als europäische oder amerika-nische Werke.

Das neue – post-tayloristische – Organisationssystem der Produk-tion, das der japanischen Autoindustrie in den letzten Jahrzehnten einen gewaltigen Produktivitätsvorsprung verschaffte, hat seinen Ur-sprung in einem nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Toyota Motor Company in Japan von Eiji Toyoda und Taiichi Ohno entwickelten Konzept. Die heute dafür gebräuchliche Bezeichnung, lean producti-

on (meist mit „schlanker Produktion“ oder auch „Magerproduktion“

19 So versuchte beispielsweise General Motors in den achtziger Jahren, ganz in der

Tradition tayloristischer Massenproduktion, durch einen Automatisierungsschub seine Konkurrenzfähigkeit wiederherzustellen, und erlitt dabei völligen Schiff-bruch.

20 Vgl: Womack/Jones/Roos, a.a.O.

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übersetzt), wurde zwar erst in den achtziger Jahren von John Krafcik, einem Mitarbeiter des Forschungsprojekts IMVP – „International Motor Vehicle Program“ – am Massachusetts Institute of Technology geprägt21, gibt aber den entscheidenden Hinweis auf die attraktive Besonderheit dieser Betriebsorganisation: Sie benötigt weniger Per-

sonal, kleinere Produktionsflächen, geringere Investitionskosten, kür-

zere Produktionszeiten und geringere Lagerbestände. Damit ist auch schon das grundsätzliche Ziel der lean production

umschrieben, die Steigerung der Produktivität durch ein besseres Ausnützen der zur Verfügung stehenden Ressourcen an Menschen, Maschinen und Raumkapazität.22 Die somit angestrebte Effizienzstei-gerung der Produktion und der Versuch, billiger, schneller und besser zu produzieren, ist allerdings immanentes Ziel jedweder Rationalisie-rungsstrategie unter kapitalistischen Wirtschaftsbedingungen und hätte demgemäß, für sich allein genommen, auch noch keine so durchschlagende Neuigkeit dargestellt. Das tatsächlich Neue der lean

production ist jedoch der Versuch, dieses Ziel durch die konsequente Umsetzung einer einfachen und eigentlich auch schon lange bekann-ten lernpsychologischen Erkenntnis zu erreichen, nämlich der Tatsa-che, daß zufriedene und intrinsisch motivierte Arbeiter nicht nur mehr leisten als solche, die am Produktionsablauf desinteressiert sind, son-dern daß sie außerdem auch noch bereit sind, an einer laufenden Op-timierung des Produktionsablaufs mitzuarbeiten und damit – bei der entsprechenden Verlagerung der Verantwortung – auch selbst aktiv

21 Ebda. 22 So werden in dem, nach Prinzipien der lean production organsierten, neuen

Opel-Autowerk in Eisenach/BRD 2.000 Beschäftigte jährlich rund 150.000 Au-tos herstellen, in der vergleichbaren Fertigung des Werkes Bochum, ebenfalls BRD, sind für die Fertigung der doppelten Anzahl von Fahrzeugen dagegen 7.000 Mitarbeiter notwendig. Der kulminierte Zeitaufwand für die Herstellung eines Autos wird in Eisenach nur mehr weniger als 20 Stunden – in anderen eu-ropäischen Werken dagegen bis zu 36 Stunden – betragen. „Top-Business“ Re-port IV, Oktober 1992.

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werden, um jede Verschwendung von Ressourcen, Zeit, Material, Werkzeug und selbstverständlich auch Arbeitskraft, zu verhindern.

Selbstverständlich beruht die Effizienzsteigerung der lean produc-

tion nicht nur auf der verändernden Form der Einbindung der Arbeit-nehmer in die Produktion. Neben der Aktivierung der Belegschaft durch neue Beteiligungskonzepte baut sie im wesentlichen auf zwei weiteren grundsätzlichen unternehmensorganisatorischen Neuerungen auf. Zum einen handelt es sich dabei um die schon erwähnte flexible Automatisierung sowie die ganzheitliche Planung und Steuerung von Produktionsabläufen durch die Einführung rechnergestützter Informa-tions- und Fertigungssysteme, verbunden mit einer damit möglich gewordenen optimalen Nutzung der betrieblichen Anlagen. Zum an-deren arbeitet die lean production mit völlig neuen, ganzheitlichen, vor allem aber betriebsübergreifenden Logistikkonzepten. Man be-schränkt sich nicht mehr nur auf die Optimierung und Neuorganisati-on der Produktion und Verwaltung im Betrieb, sondern versucht durch die Einbeziehung der Zulieferer in die Produktionsabläufe des Unternehmens permanent, auch die Kosten für Anlieferung, Um-schlag und Lagerhaltung zu senken. Für die schlanke Produktion sind die Zulieferer – obwohl „selbständige Unternehmen“ mit allen damit verbundenen Risken – quasi ein integraler Bestandteil der Produktion. Sie werden schon im Planungsstadium für ein neues Produkt und vor allem in die Kostenanalyse miteinbezogen.23 Insgesamt wird durch

23 In der traditionellen Massenproduktion war das Verhältnis zwischen Zulieferin-

dustrie und Produzenten nach einfachen Preis-Kosten-Kriterien gestaltet. Lang-fristig mögliche Produktions- und Produktverbesserungseffekte, die aus einer in-novativen Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Zulieferer resultieren kön-nen, waren nicht vorgesehen. Die heute angestrebte innovations- und verbesse-rungsorientierte Einbindung der Zulieferer in die Gesamtlogistik der Produktion erfolgt unter dem Gesichtspunkt einer Reduzierung der Kosten für die zugeliefer-ten Teile, den Transport und die (auf ein Minimum abgespeckte) Lagerhaltung und führt gleichzeitig zum widersprüchlichen Effekt des „unfreien (Sub-)Unternehmers“. Der Kalkulationsspielraum sowie die Möglichkeit durch Produktivitätssteigerungen und Kostensenkungen einen höheren Gewinn für sich

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alle diese Maßnahmen ein beschleunigter Umschlag des eingesetzten Kapitals durch eine Gesamtoptimierung der logischen Kette Einkauf, Produktion und Verkauf angestrebt.

Bedingt durch die rasante Dynamik des konkurrenzverursachten Wandels in der Produktion und die zunehmende Notwendigkeit eines immer rascheren und flexibleren Reagierens auf neu auftauchende Probleme kommt jedoch den Arbeitnehmern und ihrer Bereitschaft, selbständig im Sinne einer Produktivitätserhöhung aktiv zu werden, die Schlüsselstellung bei der Ausschöpfung der sich aus den techno-logischen und logistischen Neuerungen ergebenden Möglichkeiten zu. Dementsprechend versucht man heute, das, was man in der industriel-len Produktion bisher – meist nicht mit optimalem Erfolg – durch Außensteuerung, finanzielle Anreize sowie eine straffe und hierar-chisch organisierte Kontrolle des Produktionsablaufes zu erreichen versuchte, nämlich die möglichst weitgehende Bereitschaft der Arbei-tenden, sich für das Unternehmensziel zu verausgaben, über den Weg der intrinsischen Motivation zu schaffen. Neben der ganzheitlichen Planung der Produktionsabläufe sowie der Steuerung der Produktion unter Einbeziehung der Zulieferer und Abnehmer durch sogenannte ganzheitliche Logistikkonzepte arbeitet die lean production sozusagen auch mit dem Konzept einer ganzheitlichen Optimierung der Arbeit-

nehmerleistungen. Damit wird es auch möglich, die Unternehmens-hierarchie quasi zu „verflachen“. Der organisatorische Unterneh-mensaufbau kann auf wenige Hierarchieebenen reduziert werden, da die bisher notwendige äußere Kontrolle einer durch Arbeitsmotivation und -zufriedenheit aufgebauten Selbstkontrolle und Selbstdisziplinie-

rung der Arbeiter weicht, die im Endeffekt im Ziel kulminiert, daß sich diese auch den Kopf darüber zerbrechen, wie sie sich selbst weg-rationalisieren können.

selbst zu erwirtschaften, nimmt für die Zulieferer ab, gleichzeitig bleibt ihr Un-ternehmensrisiko jedoch vollständig erhalten.

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Im lean-production-Organisationskonzept wird – wie in allen „modernen“ Managementkonzepten – versucht, die für die Selbstdis-ziplinierung der Arbeitenden notwendige intrinsische Motivation durch das Ausnützen der motivationspsychologischen Erkenntnis zu erreichen, daß nur „menschengerecht“ geführte Mitarbeiter mit vol-lem Einsatz bei der Sache und nur produktive Menschen mit ihrer Arbeit auch zufrieden sind. Damit scheint wahrlich die „Quadratur des Kreises“ in der Organisation fremdbestimmter Arbeit gefunden zu sein: einerseits den betrieblichen Ablauf dadurch effizienter zu ma-chen, daß die Beschäftigten zu einem Höchstmaß an Arbeitsleistung gebracht werden, und andererseits gleichzeitig den Arbeitenden diese Steigerung ihrer Verausgabung nicht nur nicht als unangenehme Be-lastung erleben zu lassen, sondern sie damit sogar noch zufriedener zu machen.

Die Schlüsselfunktion von Anerkennung, Lob und die Betonung der Wichtigkeit der Arbeitenden für ihre Motivation und die Bereit-schaft des Erbringens einer hohe Arbeitsleistung war allerdings auch schon im Zusammenhang mit der tayloristisch organisierten Massen-produktion erkannt worden und begann bereits ab den zwanziger Jah-ren zu einem Thema der sogenannten Arbeitswissenschaft zu werden. Insbesondere von seiten der unternehmernahen diesbezüglichen For-schung war schon sehr früh darauf hingewiesen worden, daß sich das Fördern von Arbeitsfreude, Loyalität und Verbundenheit der Arbeiter mit dem Betrieb – als entscheidende Faktoren für deren Arbeitsleis-tung – durchaus lohnt.

So wurden vom „Deutschen Institut für technische Arbeitsschu-lung“ (DINTA) schon in der Zwischenkriegszeit entsprechende Me-thoden einer „neuen Arbeitspolitik“ entwickelt, mit dem deklarierten Ziel der „Befriedigung und Befriedung des Arbeiters im jetzigen Wirtschaftssystem, um in ihm Disziplin, Bindungen an das Werk und Abneigung gegen die vergiftende Lehre des Marxismus zu entwik-

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keln“24. Die später unter dem nationalsozialistischen Regime ge-schickt eingesetzte Idee der sogenannten „Werksgemeinschaft“ wurde ebenfalls schon damals intensiv diskutiert. Ein US-amerikanischer Pendant stellte diesbezüglich die von Frederick W. Taylor propagierte „Leistungsgemeinschaft“ dar, bei der sich im Ziel der „Erhöhung der Produktion“ die Interessen von Unternehmer und Belegschaft angeb-lich treffen sollten. Um die Loyalität der Arbeiterschaft zu gewinnen und über ihre Motivation die Arbeitsleistung zu steigern, waren auch schon im Rahmen der Taylorschen „Wissenschaftlichen Betriebsfüh-rung“ in den USA betriebliche Wohlfahrtsprogramme entwickelt worden, die neben Rationalisierungseffekten durch geringere Fluktua-tionsraten vor allem der Bindung der Arbeiter an die Betriebe dienen sollten.25

Auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema „Arbeits-zufriedenheit“, die interessanterweise schon viele Elemente der späte-ren „Untersuchungen zum Autoritären Charakter“ (Th. Adorno et al.) vorweggenommen hatte, wurde schon in den Frühzeiten der indus-triellen Arbeitsorganisation, im Jahre 1927, vom deutschen Sozialde-mokraten Hendrik de Man unter dem Titel „Der Kampf um die Ar-beitsfreude“ publiziert. De Man thematisierte dabei das Phänomen des Auseinanderklaffens des intellektuell-ideologischen – das Unterwor-fensein unter die Bedingungen der Arbeit unter kapitalistischen Be-dingungen äußerst kritisch reflektierenden – Weltbildes der Arbeiter-bewegung und den über Generationen geformten, zutiefst an Arbeit und deren ethischer Überhöhung ausgerichteten innerpsychischen Strukturen ihrer Angehörigen. Kritisch bemerkt er über die von ihm

24 Osthold, Paul: Der Kampf um die Seele unseres Arbeiters. Düsseldorf 1926. Hier

zitiert nach: Witt, K.: Froh zu sein bedarf es wenig …? In: Ar-beit/Mensch/Maschine. Der Weg in die Industriegesellschaft. Katalog zur ober-österreichischen Landesaustellung 1987. Linz 1987. S. 148.

25 Vgl.: Moser, J.: Arbeit adelt – die Pflicht ruft. In: Arbeit/Mensch/Maschine. Der Weg in die Industriegesellschaft. Katalog zur oberösterreichischen Landesaustel-lung 1987. Linz 1987. S.121

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befragten Hörerinnen und Hörer der Akademie der Arbeit in Frankfurt – meist Delegierte der damals noch äußerst klassenkämpferischen und kapitalismuskritischen Gewerkschaftsverbände:

„Leute, die die kapitalistische Weltordnung in Bausch und Bogen verdammen, denen dennoch die geringste Unterbrechung der Ar-beitsmonotonie, die dürftigste Verschönerung der Arbeitsumgebung, die gelindeste Milderung des betriebshierarchischen Drukkes, die leiseste Andeutung eines menschlicheren, freieren Vertrauensverhält-nisses von seiten ihrer Vorgesetzten genügt, damit dieser schwache Sonnenstrahl ihr ganzes inneres Leben mit den Farben des Glücks erleuchtet! Fanatiker des allproletarischen Klassenbewußtseins, bei denen man zwischen den Zeilen nur gehemmte Neigung zum Berufs-stolz herauslesen kann, die sich an die winzigsten Möglichkeiten klammern, ihren Beruf im Vergleich zu den anderen nicht zu minder-wertig und unqualifiziert erscheinen zu lassen! Unversöhnliche Klas-senkämpfer, die sich nur danach sehnen, sich tüchtigen und gerechten Vorgesetzten unterordnen zu dürfen! Orthodoxe Anhänger des histo-rischen Materialismus, die vor lauter Glück aus dem Häuschen gera-ten, wenn ein freundliches Wort vom Unternehmer sie fühlen läßt, daß sie für ihn auch Menschen sind.“26

Was von De Man hier kritisch registriert wird – der verinnerlichte Stolz auf das Arbeitsvermögen und die Arbeitsleistung sowie die Sehnsucht nach Anerkennung –, wurde also schon sehr früh aufgegrif-fen, um mit den Methoden „psychotechnischer Manipulation“ Arbei-ter zu einer höheren Arbeitsleistung zu motivieren. Es ging bei den diversen Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitszufriedenheit ja kaum um echte Veränderungen der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsbe-ziehungen als solche, sondern primär um eine Bewußtseinsverände-rung der Arbeiter im Sinne des Verinnerlichen eines „Arbeitsethos“.

26 De Man, H.: Der Kampf um die Arbeitsfreude. Eine Untersuchung auf

Grund der Aussagen von 78 Industriearbeitern und Angestellten. Jena 1927, S. 287/288.

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Eine Hochblüte erreichten die manipulativen Maßnahmen zur Erhö-hung der Arbeitszufriedenheit in der Zeit des Nationalsozialismus, wo durch eine vordergründige Idealisierung und Heroisierung von Arbeit und Arbeitenden versucht wurde, den einzelnen dazu zu bewegen, seine Arbeitskraft rückhaltlos dem vorgeblichen „Gemeinwohl“ zur Verfügung zu stellen. Den Gipfel der zynisch-ideologischen Überhö-hung der Arbeit stellte dabei wohl der über den Eingangstoren der nationalsozialistischen Konzentrationslager angebrachte Spruch „Ar-beit macht frei“ dar, aber auch der „normale“ Alltag war damals durchzogen von Parolen zur „Ehre“ der Arbeit und schönfärberischen Aussagen zur Wichtigkeit des Arbeiters.

In den Reden führender Nationalsozialisten, in der Presse und im Rundfunk, überall wurde immer wieder verkündet, daß erst der Nati-onalsozialismus dem Arbeiter seinen wahren Stellenwert eingeräumt hätte. In der Zeit vor der Machtübernahme – so wurde argumentiert – „war der Mensch nichts anderes als Bedienungsmann gewesen“, als logische Folge hatte sich die Hinwendung der Arbeiterschaft zu Mar-xismus und Klassenkampf ergeben. Das sollte nun nicht mehr not-wendig sein. Versprochen wurde statt dessen der Aufbau eines „wah-ren“ Sozialismus, eines „Sozialismus der Tat“, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer harmonisch zusammenarbeiten sollten, mit dem gemeinsamen Ziel der Erbringung von Höchstleistungen für den Sieg des „Deutschtums“ gegen „Judentum und Bolschewismus“.27 Die Motivierung der Arbeiter sollte damals nicht bloß ökonomischen Zie-len dienen, es galt, den „schaffenden Menschen“ das Gefühl zu geben „wesentlicher Teil der Betriebe“ zu sein, damit sie das „[…] Auge vom Ich und den kleinen Betriebsgrenzen auf ein Höheres [hinzulen-ken bereit waren], wofür es sich lohnte, einmal nicht nur die Stunden zu messen und in die Lohntüte zu gucken, sondern anzupakken, weil

27 Vgl.: Moser, a.a.O., S. 121.

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gesiegt werden muß“.28 Der Interessensgegensatz von Kapital und Arbeit wurde dem propagierten gemeinsamen Sieg untergeordnet und aufgelöst durch das ideologische Konstrukt einer Werks- und Volks-gemeinschaft.

Sowohl dem „DINTA“ der Vorkriegszeit als auch dem „Arbeits-wissenschaftlichen Institut“ der Deutschen Arbeitsfront ging es pri-mär um die „psychologische Vereinnahmung“ der Arbeitenden, um ihre „Befriedung“ für Zwecke der Ökonomie und des Staates durch eine ideologische Umdeutung ihrer realen gesellschaftlichen Situati-

on. Echte Veränderungen der Arbeitsbedingungen in bezug auf Ar-beitszeitgestaltung, Arbeitsdruck, Arbeitsteilung oder Arbeitsbelas-tungen durch Lärm, Gefahren oder Monotonie wurden hingegen kaum thematisiert. Managementansätze, in denen versucht wurde, die Ar-beitszufriedenheit der Arbeitenden durch tatsächliche Änderungen in der demotivierenden, durch Arbeitsteilung, Hierarchie und Fremdbe-stimmung gekennzeichneten Arbeitsorganisation zu steigern und sie dadurch zu höherer Arbeitsleistung zu motivieren, tauchten erst viel später – insbesonders nach Ende des wirtschaftlichen Nachkriegs-booms in den sechziger und siebziger Jahren – auf.

Nachdem die Erkenntnisse der von Wissenschaftlern der Harvard-Universität unter der Leitung von Elton Mayo in den Hawthorne-Werken der Western Electric Company bei Chicago schon in den dreißiger Jahren durchgeführten Untersuchungen29 allgemein bekannt geworden waren und auch die Forschungen zu den Auswirkungen

28 Arnold, K.: Betriebs- und Arbeitsführung in der Front der deutschen Arbeit,

Leipzig 1936, S. 4. Hier zitiert nach Moser, a.a.O., S. 120. 29 Die Forscher hatten sich zur Aufgabe gemacht, die Effekte von Variablen, wie

beispielsweise Entlohnungssystem, Pausenregelung, Beleuchtung, Temperatur, Farben im Arbeitsraum und ähnliches, auf das Arbeitsverhalten zu untersuchen. Dabei stellten sie fest, daß, weitgehend unabhängig von objektiv vorgenomme-nen Veränderungen, schon allein durch ihre Anwesenheit und ihr bloßes Interes-se für die (Tätigkeit der) Beschäftigten – also die den Arbeitern gezollte soziale Aufmerksamkeit – die Arbeitsmotivation und Leistung der Arbeitenden gestei-gert worden war.

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verschiedener Führungsstile von Kurt Levin sowie die Forschungsar-beiten von Abraham Maslow verstärkt die Bedeutung der Arbeitszu-friedenheit auf die Produktivität aufgezeigt hatten, fanden in den dar-auf folgenden Jahrzehnten eine Reihe von Versuchen mit sozialpsy-chologisch begründeten neuen betrieblichen Organisations- und Füh-rungsstrukturen statt. Unter den Bezeichnungen Job rotation30, Job

enlargement31 und Job enrichment32 wurde versucht, den Problemen der zu geringen Arbeitsmotivation und Arbeitseffektivität zu begeg-nen. Auch mit dem System autonomer Arbeitsgruppen, die eine Reihe verschiedener Arbeitsverrichtungen im Team durchführen, war ver-einzelt – zum Beispiel im Volvo-Werk in Kalmar/Schweden schon seit den siebziger Jahren – experimentiert worden.

Neben der schon erwähnten Harvard-Universität leisteten vor al-lem zwei weitere Institutionen bahnbrechende Forschungen im Zu-sammenhang mit der Entwicklung neuer sozialpsychologischer Theo-rien zur Arbeitsmotivation, die „National Trainings Laboratories“ (NTL) in Bethel im US-Bundesstaat Maine und das „Tavistock Insti-tute of Human Relations“ in London. Im NTL wurden durch Kurt Levin und Leland Bradford die grundlegenden sozialen Phänomene in Kleingruppen erforscht, und Mitarbeiter des Tavistock-Institute liefer-ten in den fünfziger Jahren eine wesentliche Begründung für die „Gruppenorganisation“, indem sie in Waliser Kohlebergwerken nachwiesen, daß „Integratet Task Teams“ (teilautonome Arbeitsgrup-pen) anderen Arbeitsorganisationsformen – insbesondere in bezug auf die Arbeitsproduktivität – weit überlegen sind. Bei ihren Forschungen

30 Systematisch-zyklischer Arbeitsplatzwechsel von Fabrikarbeitern, um die Mono-

tonie aufgrund der sich rasch wiederholenden, ständig gleichen Arbeitstätigkeit zu durchbrechen.

31 Rekombination von repetitiven und auf verschiedene Arbeitende aufgeteilten Teilarbeiten zu komplexeren Arbeitsaufgabe.

32 Anreicherung der Arbeiten in der Produktion durch Aufgaben, die in der taylo-ristischen Arbeitsorganisation üblicherweise durch Vorarbeiter und Meister wahrgenommen werden.

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zeigte sich, daß die Produktivität von Arbeitsgruppen, die sich die von ihnen durchzuführende Arbeit selbst einteilen und zu Ende führen konnten, um etwa ein Drittel höher war als bei traditionellen Arbeits-organisationsformen, wobei gleichzeitig auch die Arbeitszufriedenheit der Betroffenen anstieg.33

Lagen den Forschungen auf dem Gebiet der Arbeitsmotivation und -zufriedenheit ursprünglich auch ausschließlich ökonomische Motive zugrunde, stellten ihre Erkenntnisse dennoch in den sechziger und siebziger Jahren die Grundlage für die – von arbeitnehmernahen Krei-sen getragene – politisch argumentierte Bewegung zur „Humanisie-rung der Arbeitswelt“ dar. Ausgehend von den politischen Ansichten im Umfeld der sogenannten Studentenbewegung und dem dabei stark in den Vordergrund gerückten Ideal der „Selbstbestimmung“ gerieten damals verstärkt die Machtverhältnisse in den Betrieben und der Ge-sellschaft ins Blickfeld. Die Veränderung der Machtverteilung zwi-schen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wurde massiv eingefordert, eine „Erweiterung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume“ der Ar-beitenden sowie „Mitbestimmung“ statt der durch die Fremdbe-stimmtheit in der Arbeit gegebenen „Entfremdung“. Veränderungen der Arbeitsorganisation wurden mit einem Mal unter ideologisch-politischen Zielsetzungen gefordert – der Effekt, damit auch die Pro-duktivität steigern zu können, wurde im Zusammenhang mit den da-mals aufgestellten emanzipatorischen Forderungen kaum thematisiert.

Die Tatsache, daß heute tatsächlich von einem Trend im Hinblick auf neue Strukturen betrieblicher Arbeitsorganisation und einer damit verbundenen tendenzionellen Verlagerung von Entscheidungen über den Arbeitsablauf an hierarchisch niedrigere betriebliche Organisati-onsebenen gesprochen werden kann, hat allerdings gar nichts mit der Durchsetzung von emanzipatorisch-politischen Zielen zu tun. Für die heutigen im Managementansatz der lean production kulminierenden

33 Vgl.: Gottschall, D.: Lean production – schneller, besser, billiger? In: „Psycho-

logie heute“, 19 (1992), 10, S. 62.

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Versuche, die Arbeitszufriedenheit zu steigern und die Arbeitenden durch veränderte Organisationsstrukturen zu mehr Identifikation mit dem Unternehmensziel und einer höheren Arbeitsleistung anzuspor-nen, steht keine ideologisch motivierte Veränderung der Machtver-hältnisse Pate. So effektvolle Aussagen wie „der Mitarbeiter als Räd-chen im Getriebe gehört der Vergangenheit an“ sind weder von hu-manitären noch von politischen Zielen, sondern schlicht und einfach von ökonomischen Motiven, im konkreten Fall von der Hoffnung auf „einen Kosteneffekt von fünf bis fünfzehn Prozent“, getragen. Und wenn neuerdings davon gesprochen wird, daß „Fremdbestimmung reduziert werden muß“ und der „mündige Mitarbeiter“34 idealisiert wird, dann einzig deshalb, weil die verschärften internationalen Kon-kurrenzbedingungen und die daraus folgende Notwendigkeit neuer Rationalisierungsstrategien eine Kerngruppe von Arbeitnehmern er-forderlich machen, die „selbstbestimmt“ zu etwas bereit ist, zu dem man sie durch Vorgabezeiten und Kontrolle eben nicht bewegen kann, zu ihrem Totaleinsatz für das Unternehmen.

Die Ursache dafür, daß Managementansätze, in denen die Sehn-sucht der Menschen nach autonomen Handlungsmöglichkeiten und nach Anerkennung berücksichtigen werden und die eine Demokrati-sierung der betrieblichen Entscheidungsstrukturen suggerieren, erst seit wenigen Jahren auf breiter Basis diskutiert und in mehr oder we-niger ausgeprägter Form auch eingeführt werden, ist wohl darin zu suchen, daß im Grunde genommen erst seit den achtziger Jahren die grundlegenden Voraussetzungen dafür gegeben sind, die vorherigen Versuche mit solchen Führungsformen auch tatsächlich auf breiter Basis umzusetzen. Denn auch wenn bei den seinerzeitigen Versuchen zum Teil durchaus beachtliche Erfolge erzielt werden konnten, so scheiterte eine um sich greifende und tiefgreifende Veränderung der

34 Alle zitierten Aussagen aus einem Interview des Mercedes-Personalvorstands

Heiner Tropitzsch, zit. nach Gottschall, a.a.O., S. 59.

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Arbeitsorganisation in der Industrie bis in das zweite Drittel dieses Jahrhunderts im wesentlichen an zwei Faktoren:

• Zum ersten erlaubte der bisherige Stand der technischen Mög-lichkeiten für den Großteil der Arbeitsplätze noch keine echte Befrei-ung von den Fesseln des Maschinentakts und der Funktion des „Zuar-beitens“ für die mechanischen Aggregate. Der Großteil der industriel-len Arbeiter waren quasi „Roboter“ der Maschinen und verrichteten formalisierte, im mechanischen Produktionsablauf zahnrädchenhaft eingebundene Tätigkeiten, bei denen Selbständigkeit, Kreativität oder Kooperation im Team kaum notwendig und auch gar nicht besonders vorteilhaft waren. Außerdem waren die durch Lohn und Arbeitszeit bewirkten Kostenfaktoren im Verhältnis zu den Gesamtinvestitions-kosten noch wesentlich höher als heute, wo jene Investitionsmengen, die für die technischen Aggregate erforderlich sind, rapide ansteigen, die relativen Kosten der „lebendigen Arbeit“ an den betrieblichen Gesamtausgaben dagegen laufend zurückgehen.

• Der zweite wesentliche Faktor dafür, daß eine grundsätzliche Veränderung der traditionellen Industriebetriebsorganisation, trotz dementsprechender Erkenntnisse, noch in den fünfziger oder sechzi-ger Jahren kaum möglich gewesen wäre, ist, daß damals – und das ist der wohl entscheidende Unterschied zu heute – das Prinzip des „Wachsens oder Weichens“ noch nicht ausreichend in die Köpfe der Menschen implantiert gewesen war. Denn erst wenn das Prinzip der Marktallokation – und das bedeutet heute vor allem das Akzeptieren der Aussage, daß im Bestreben, das Konkurrenzunternehmen nieder-zuringen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer „im gleichen Boot sitzen“ und quasi um den Preis des gemeinsamen Unterganges aneinander gekettet sind – grundsätzlich akzeptiert ist, kann das Management auf eine direkte Beherrschung der Arbeitsprozesse verzichten und braucht den kontraproduktiven Effekt einer „teamartigen Kooperation“, wie zum Beispiel das „Bremsen“, nicht mehr zu fürchten.

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Bisher konnte offensichtlich nicht im ausreichenden Maß mit einer solchen „Normierung der Köpfe“ aller Mitarbeiter kalkuliert werden. Besonders bei Arbeitnehmern in den unteren Hierarchiebereichen war nicht sichergestellt, daß sie bereit wären, ihre eigenen und unmittelba-ren Bedürfnisse dem primären Unternehmenszweck – der Kapital-vermehrung – jederzeit unterzuordnen. Erst über das „Ausleseverfah-ren Aufstieg“ wurden diejenigen Arbeitnehmer gekürt – und durch besondere Gratifikationen zur weiteren Loyalität motiviert –, die die Profitmaximierungslogik in so hohem Maß verinnerlicht hatten, daß es möglich erschien, sie stellvertretend, als Vorgesetzte, die Interessen des „Kapitals“ wahrnehmen zu lassen.

Dezentralisierung von Entscheidungen auf hierarchisch niedereren Ebenen bzw. eine generelle Verflachung der Entscheidungshierarchie setzt ja etwas ganz Wesentliches voraus. Es muß (in hohem Maß) sichergestellt sein, daß die dezentral gefällten Entscheidungen sich derselben Logik unterordnen, das heißt das gleiche übergeordnete Ziel anpeilen, wie wenn die Entscheidungen durch eine zentrale Stabsstel-le getroffen worden wären. Alle von irgendwelchen Teilgliederungen des Unternehmens vorgenommenen Schritte müssen sich in letzter Konsequenz, wie die Elemente eines Puzzles, zu einer gemeinsamen Strategie verdichten, deren Zweck die Sicherung des Unternehmens-gewinns ist. Der Slogan lautet: getrennt kämpfen – gemeinsam siegen. Somit reicht es auch nicht mehr, wenn die Arbeitenden als Unterge-

bene auf Anweisung funktionieren, auch ihr „individueller“ Wille muß dem Unternehmensziel untergeordnet werden, sie müssen zu Mit-Arbeitern werden und sich so verhalten, als ob es um ihren eige-nen Profit ginge. Erst dann wird es möglich, daß betriebliche Teilbe-reiche und einzelne Mitarbeiter zwar „autonom“ und scheinbar „sou-verän“ operieren, das heißt auf auftauchende Probleme reagieren, ohne auf eine Anweisung aus einer „oberen“ Entscheidungsebene zu warten, in ihren Entscheidungen jedoch trotzdem der Unternehmens-logik folgen! Notwendig ist sozusagen die „Funktionalisierung des

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ganzen Menschen“, einschließlich seines – noch immer so genannten – „freien“ Willens.

Was angestrebt wird, ist somit nicht weniger als die „Totalverzwe-ckung des Menschen“. Die letzten noch ungenutzten Winkel der Ar-beitenden sollen mobilisiert werden. Wenn der deutsche Unterneh-mensberater und Wirtschaftsguru Gerd Gerken sagt, daß es heute um „minddesign“ gehe, also um die systematische „Anpassung des Be-

wußtseins an neue Herausforderungen“35, bringt er die Sache auf den Punkt: Der unerbittliche, in globalen Dimensionen stattfindende Kon-kurrenzkampf erfordert die Totalmobilmachung, bloße Verhaltens-steuerung traditioneller Art reicht da nicht mehr aus, die ganzheitliche Beeinflussung der inneren Haltung der „Mitarbeiter“ ist angesagt, damit sie ihr Leben und ihr Handeln auch unkontrolliert – frei-(und

trotzdem)-willig – dem Ziel der Produktivitätssteigerung unterordnen. Im Gegensatz zur „visible hand“ der industriewirtschaftlichen Pro-

duktion, einem Begriff der von Alfred Chandler von der Harvard Bu-siness School noch in den siebziger Jahren verwendet wurde36, um die planende, kontrollierende, steuernde und verwaltende Funktion des Managements zu legitimieren, operiert die neue, nach den Prinzipien der lean production organisierte Fertigung mit der „invisible Hand“ des allgemein verinnerlichten Unternehmensziels. Denn wenn das Ziel, die Unternehmensbilanz zu verbessern, zum persönlich verfolg-ten Interesse jedes einzelnen Mitarbeiters wird, erübrigt sich nicht nur weitgehend eine äußere Kontrolle des Arbeitsablaufs, es kann dann auch die Planung und die Verbesserung der Produktion in hohem Maß an autonome Arbeitsgruppen delegiert werden.

Denn im Zusammenhang mit der lean production geht es ja um wesentlich mehr als bloß um einen gewaltigen Modernisierungsschub der Produktion. Die schlanke Produktion ist selbst als ständiger Ve-

35 Zit nach Arp, P./Santner, Ch.: Die sanfte Tour – ganzheitliches Management. In:

ORF-Nachlese, 10/1991, S. 20. 36 Vgl.: Womack/Jones, a.a.O. S. 38.

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Die Unternehmensstrategien des Post-Taylorismus 143

ränderungsprozeß konzipiert. In diesem Sinn trifft für die Umstellung auf lean production der Begriff „Rationalisierung“ ja auch nur be-dingt den Kern der Sache. Im herkömmlichen Verständnis bedeutet „Rationalisierung“ eine Phase des Umbruchs, auf die wieder eine ruhige, stabile Phase folgt. Das Arbeitsorganisationskonzept der schlanken Produktion impliziert jedoch eine permanente und systema-tische Anpassung und Verbesserung im Detail37 sowie im Ganzen des Produktionszusammenhangs. Es handelt sich dabei quasi um einen dynamischen Prozeß ad infinitum. Dementsprechend wird im Zu-sammenhang mit der lean production auch von einem neuen Rationa-lisierungstypus oder von einer „systemischen Rationalisierung“ (Alt-mann/ Sauer) gesprochen.

So heißt es in einem Bericht über das neue, nach lean-production-Prinzipen organisierte Opel-Autowerk in Eisenach/BRD: „Ziel ist es, daß die einzelnen Arbeitsgruppen ihre Arbeitsverfahren und ihren Arbeitsfluß permanent auf Tätigkeiten untersuchen, die nicht wert-steigernd sind. So lassen sich nicht nur unnötige Warte- und Liegezei-ten reduzieren, auch der Materialfluß, die Lagerhaltung und die Anlie-ferung werden dank der konstruktiven Mitarbeit der Gruppe optimiert – und das heißt nicht zuletzt billiger.“38 Mit anderen Worten heißt das, die optimale Ausnutzung der Kapitalanlagen wird an die Arbeiter übertragen, sie sind für die laufende Optimierung der Produktion, für das Verhindern von Material-, Zeit- und Raumvergeudung und somit auch für ihren eigenen (immer an betriebswirtschaftlichen Gesichts-punkten gemessenen!) ökonomisch-rationell gestalteten Arbeitsein-satz verantwortlich. Im Gegensatz zur tayloristischen Arbeitsorganisa-

37 Im Gegensatz zu traditionell organisierten Automobilwerken, wo Fehler oder

Qualitätsmängel erst nach endgültiger Fertigstellung eines Autos durch das Fachpersonal aus speziellen Reparaturabteilungen beseitigt werden, sind die Ar-beiter in den nach lean-production-Prinzipien organisierten Werken angehalten, das „Band“ für den Transport der Karosserien bei Fehlern anzuhalten und die Qualitätsprobleme sofort an Ort und Stelle zu beheben

38 „Top-Business“, a.a.O., S. 25.

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tion, wo die Beschäftigten dem Ziel der permanenten Produktivitäts-steigerung über Einteilung, Überwachung und Kontrolle „reell unter-worfen“ waren, fußt ihre nunmehrige diesbezügliche Selbstdiszipli-nierung im Rahmen der „verantwortlichen Autonomie“ quasi auf ei-ner „ideologischen Vereinnahmung“. Es kann dies durchaus „als eine Art »psychologischer Kontrakt« angesehen werden, der die formalen Arbeits- und Tarifverträge [heute zunehmend] ergänzt“39.

Ganz wesentlich wird die angesprochene „ideologische Verein-nahmung“ durch das heute übliche Aktivieren innerbetrieblicher

Marktmechanismen gefördert. „Moderne“ Unternehmensorganisati-onskonzepte wie die lean production bauen fast durchwegs darauf auf, das Verhältnis der verschiedenen Teilbereiche desselben Unter-nehmens verstärkt nach „Gesetzmäßigkeiten“ des Marktes zu organi-sieren. Eine wesentliche Maßnahme ist dabei, daß die einzelnen Ar-beitsgruppen beziehungsweise Abteilungen zueinander in ein Liefe-

ranten-Kunden-Verhältnis gestellt werden, um auf diese Weise das Ziel einer optimalen Produktqualität zu erreichen. In der traditionellen tayloristischen Arbeitsorganisation wurde Qualitätsüberwachung von einer separaten Stelle – von Spezialisten – durchgeführt. Fehler wur-den dabei oft erst spät im Produktionsablauf entdeckt, und zu ihrer Behebung waren eigene Reparatur- beziehungsweise Nacharbeitsstel-len notwendig, was wiederum unproduktive Kosten nach sich zog. Die Qualitätssicherung im Sinne von lean production erfolgt demge-genüber durch die jeweiligen Arbeitsgruppen selbst. Jedes Team ist für seine Produktqualität selbst voll verantwortlich, und schlechte Qualität bei der Weitergabe an die nachfolgende Prozeßstufe wirkt sich durch einen „Preisabzug“ bei der internen Verrechnung aus.

Im Endeffekt wird durch diese Maßnahme erreicht, daß die einzel-nen Arbeitsgruppen und Abteilungen zueinander – unter dem Ge-sichtspunkt maximaler ökonomischer Effektivität – in Konkurrenz

39 Riekhof, H.C.: Strategien der Personalentwicklung. Wiesbaden 1986, S. 63.

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treten. Interaktion und Transaktionen zwischen Unternehmensteilbe-reichen erfolgten bisher im Normalfall gemäß einer fixierten Regel-struktur und definierten Aufgabenzuschreibungen. Nun wird – im Bestreben, den Markt als formellen Verhaltensmechanismus für in-nerbetriebliche Transaktionen zu installieren – häufig dazu überge-gangen, die Leistungserbringung, den Preis und eventuelle andere Vereinbarungen zwischen den einzelnen Unternehmensbereichen aushandeln zu lassen, genauso wie es mit außerbetrieblichen Liefe-ranten oder Kunden notwendig ist.

In diesem Sinn werden – um die Kostentransparenz und das Kostenbewußtsein der Beschäftigten entsprechend zu erhöhen – der-zeit komplexe Unternehmenssysteme häufig in selbständig bilanzie-rende sogenannte Profit-Centers oder Cost-Centers aufgespaltet. Jeder Teilbereich muß seine erbrachten Leistungen, entsprechend dem Verbrauch an Energie, Material, Produktions- und Lagerflächen, den Kosten der von den zuliefernden Unternehmenseinheiten oder exter-nen Zulieferern übernommenen Teilprodukte sowie den anfallenden Arbeitskosten, kalkulieren und selbständig an einer Verbesserung im Hinblick auf eine Optimierung des Preis-Leistungs-Verhältnisses arbeiteten. Wenn die gegenseitige Leistungserbringung der einzelnen Unternehmensbereiche nun tatsächlich in einem gewissen Maß Marktmechanismen überantwortet wird und wenn der „Einkäufer“ der Leistung dabei die Möglichkeit hat, im Falle eines besseren externen Angebots – zumindest in Grenzen – auch dieses zu nützen, zwingen die Unternehmensbereiche sich dergestalt – auch ganz ohne „äußere“ Kontrolle – gegenseitig unter die Prämissen maximaler ökonomischer Rationalität.

Verschiedentlich gibt es auch Ansätze, diesen Effekt noch durch das Einbringen unmittelbarer betriebsinterner Konkurrenz zu steigern, indem zwei oder mehrere Unternehmenseinheiten mit gleichen Auf-gaben, quasi gegeneinander „ins Rennen“ geschickt werden. Zu einem gewissen Grad geschieht dies bei den großen, internationalen Unter-

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nehmen heute ja bereits dadurch, daß den Arbeitenden gleichartiger Abteilungen verschiedener Standorte der Vergleich ihrer Produktivität und ökonomischen Effektivität zurückgespielt wird; nicht zuletzt, um sie – im Hinblick auf die immanent ja immer gegebene Möglichkeit einer Verlagerung der Produktion – auf diese Art dem Druck perma-nenter Produktivitätssteigerung zu unterwerfen. Neu ist, daß auch damit experimentiert wird, zwei verschiedene Unternehmenseinheiten unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz gegeneinander „ankämpfen“ zu lassen, indem bei gleicher Aufgabenstellung die – im Sinne öko-nomischer Logik – innovativere Lösung darüber entscheidet, welche Abteilung beibehalten und welche aufgelöst wird. „Dies ist besonders für diejenigen Unternehmensbereiche relevant, die nicht in direktem Kontakt mit dem Markt stehen, wie dies oft bei Entwicklungsabtei-lungen der Fall ist“. Dabei wurde diese Methode „in gewissen Fällen und mit großem Erfolg“40 angewandt.

Nach dem vorher Gesagten erscheint es legitim, heute eher von ei-ner Tendenz zu einem „Management by stress“41 als von einer sol-chen zum „Management by love“ zu sprechen. Genauso wie die „un-ternehmenskulturellen Maßnahmen“ zur Motivierung der Arbeitenden und ihrer besseren Identifizierung mit dem Betrieb stehen die heute hochgelobten „indirekten“ und „weichen“ Managementmethoden oder neue Organisationsansätze wie die lean production allesamt im Dienste einer Totalverausgabung der Arbeitenden. Das Ziel aller mo-dernen Unternehmensführungskonzepte ist ein optimiertes Ausnützen der Humanressourcen, verbunden mit dem Einsparen möglichst vieler Arbeitskräfte. Die neuen Managementkonzepte stellen ein freundlich gewendetes Steuerungsinstrument dar, das auf der alten Drohung aufbaut, bei Nichterbringen der ständig geforderten Hochleistungsak-

40 Bechtler, Th. W., a.a.O., S. 15, unter Hinweis auf: Peters, Th./Waterman, R.: In

Search of Excellence. Lessons from America’s Best-Run Companies, 1982. 41 Eine Bezeichnung, die von amerikanischen Gewerkschaftern häufig für lean-

production-Betriebsorganisationsmodelle verwendet wird.

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robatik den Arbeitsplatz zu verlieren. Der Unterschied zu früher be-steht bloß darin, daß der „Interessenswiderspruch von Kapital und Arbeit“ nicht mehr durch ein loyales Management im Sinne einer optimalen Profitrate entschieden zu werden braucht, weil die Arbeiter nun selbst zu „Agenten des Kapitals“ gemacht worden sind. Von einer innengeleiteten Arbeitsethik angetrieben, aktivieren sie nun selbst ihre gesamte Energie im Hinblick auf eine Steigerung der Produktivität – jedoch nicht um in Form einer verringerten Arbeitszeit davon insge-samt zu profitieren, sondern mit dem Ziel, möglichst vielen von ihnen den Arbeitsplatz zu rauben.

Als besondere Attraktion der lean production wird in den ein-schlägigen Publikationen immer wieder darauf hingewiesen, daß mit diesem Konzept die Verschwendung von Material, Raum, Zeit und „Humankapital“ hintangehalten wird und Ressourcen optimal einge-setzt werden. Daß eine im Sinne betriebswirtschaftlicher Logik be-triebene „Vermeidung von Verschwendung“ jedoch vielfach nichts anderes bedeutet als die Umwälzung derselben auf den außerbetriebli-chen Bereich, bleibt dabei üblicherweise ausgeblendet. Dies gilt für das betriebswirtschaftliche Zu-Buche-Schlagen der Einsparung von Lagerkosten durch die „Just-in-time“-Anlieferung von Einzelteilen, einer daraus folgenden Intensivierung des Zulieferverkehrs und den entsprechenden volkswirtschaftlichen Folgekosten durch die Belas-tung des Verkehrssystems und das Ansteigen der Umweltbelastung genauso wie für das „Einsparen“ von Arbeitskräften. Die nicht mehr benötigten Arbeitskräfte „verschwinden“ ja nicht, sie brauchen einen neuen Arbeitsplatz; ist dieser nicht vorhanden, muß (zumindest) ihr Überleben mittels volkswirtschaftlich finanzierter Aufwendungen gesichert werden.

Die post-tayloristischen Maßnahmen zur Optimierung der be-triebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung stellen eine neue Strategie dar, die dem Zwang zu einem möglichst flexiblen Reagieren auf die Bedingungen eines globalen Konkurrenzkampfs besser ge-

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recht wird. Wie bei allen Managementmaßnahmen bleibt das grund-sätzliche Ziel und die Triebkraft für Veränderung aber weiterhin der maximale Profit für das in das Unternehmen investierte Kapital. Die neuen betrieblichen Führungsmethoden und Organisationsformen hingegen – so wie es derzeit gerne getan wird – zum Ausfluß eines „revolutionären“, neuen „gesellschaftlichen Paradigmas“ hochzustili-sieren, bedeutet ein grundsätzliches Verkennen der Situation. Wenn heute behauptet wird, „im Management – ebenso wie in der Medizin, der Ökonomie oder der Politik – erfordert die Lösung der vielfältigen Probleme unserer global vernetzten Welt einen grundlegenden Para-digmenwechsel – einen Wandel des Denkens, der Weltbilder und Wertvorstellungen, […] die nur dann gelingen [wird], wenn wir im-stande sind, ganzheitlich zu denken und zu handeln“42, entsteht der Eindruck, daß mit der wohlklingenden Beifügung „ganzheitlich“ ver-gessen gemacht werden soll, worin denn die eigentliche Triebkraft gegenwärtigen wirtschaftlichen Geschehens besteht. Noch immer geht es dabei aber um „Mehrwertproduktion“, darum, investiertes Geld in mehr Geld zu verwandeln. In diesem Sinn sollen, nach den Gesichts-

punkten einer betriebswirtschaftlich ausgerichteten ökonomischen

Logik, die im Unternehmen eingesetzten Ressourcen zwar möglichst nicht verschwendet, sondern sparsam, sprich „gewinnbringend“, ein-gesetzt werden, mit dem Ziel eines achtungsvollen Umgehens mit Menschen und Umwelt oder auch nur mit einer ganzheitlichen wirt-schaftlichen Sichtweise hat das jedoch sicher nichts zu tun.

Auch die heute hochgelobten neuen gesellschaftlichen Werte „Fle-xibilität“ und „Mobilität“ sind dem Ziel betriebswirtschaftlicher Lo-gik verpflichtet. Wenn die tayloristische Massenproduktion nun zu-nehmend durch anpassungfähigere Produktionsweisen ersetzt wird, die Produktionszyklen kürzer werden und Betriebe immer rascher gezwungen sind, auf Marktveränderungen zu reagieren, so impliziert

42 Capra, F./Exner, A./Königswieser, R.: Veränderungen im Management – Mana-

gement der Veränderung. In: Königswieser/Lutz, a.a.O., S. 112.

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das auch eine neue „flexibilisierte“ Personalpolitik. Das Personal wird quasi an die flexible Produktion und die schwankenden Marktanforde-rungen angepaßt. Louis R. Hughes, Vorstandsvorsitzender der Adam Opel AG, drückt das so aus: Wir haben nun eine „Vorreiterrolle ge-genüber unserer Konkurrenz bei Gruppenarbeit, einem neuen Lohn-system, einer dritten Schicht, alles Dinge, die für die deutschen Au-tomobilhersteller ganz neu sind. Ebenso auch die Flexibilität bei den Arbeits- und Überstunden – wir arbeiten hier fast rund um die Uhr.“43 Weitere Flexibilitätsfolgen sind: unverzügliche Kündigungen auch bei geringen Auftragsrückständen, unregelmäßige Arbeitszeit, Zunahme der Saison- und Leiharbeit. – Die dem verschärften Konkurrenzkampf geschuldete flexible Produktion bewirkt – wie schon im dritten Kapi-tel ausgeführt – auch eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und Entlohnungsformen und damit auch einen verschärften Konkurrenz-kampf zwischen den Arbeitnehmern.44

Der damit für den Einzelnen verbundene erhöhte Streß, physische und psychische Folgen durch den „Burn-out-Effekt“ dieser Totalver-

43 Eine wirkliche Partnerschaft, Interview mit Louis R. Hughes. In: „Industrie“, 9.

Jänner 1992, S. 12. 44 Verbunden ist diese Entwicklung mit einer „Flexibilisierung“ des Entlohnungs-

systems durch deutliche Tendenzen zur Verlagerung der bislang hoch geregelten Lohnpolitik auf betriebliche Ebene. So konstatiert zum Beispiel Mahnkopf für die BRD eine zunehmende einzelbetriebliche Koppelung der Lohnpolitik an die Produktivität. Zunehmend wird „die Gestaltung von Entgeltformen, Arbeitsbe-dingungen und Arbeitszeitregelungen […] standardisierter Regelung entzogen und gemäß firmenspezifischer Marktlage, Produktionsstrategien und technologi-schen Optionen dezentral, das heißt vornehmlich auf Unternehmensebene gere-gelt“. Vgl.: Mahnkopf, B.: Industrial Democracy – Europäische Arbeitskultur im Umbruch. In: „Erwachsenenbildung in Österreich“ 44 (1993), 4, S. 2.

Aber auch in vielen anderen industrialisierten Ländern läßt sich ein dementspre-chender Trend nachweisen (Für Schweden vgl. beispielsweise „Unternehmer“ 7/1993). Auch die 1993 für eine Reihe von Branchen in Österreich neu ausge-handelten Kollektivverträge gehen tendenziell in dieselbe Richtung, indem, unter dem Titel „Öffnungsklausel“, für die kollektivvertraglich vereinbarten Lohner-höhungen – falls sie für die besondere Lage einzelner Unternehmen nicht „pas-sen“ – eine „Nachrangregelung“ mitbeschlossen wurde,.

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nutzung oder die Folgen für Familien und Sozialbeziehungen werden in der „ganzheitlichen“ Sichtweise moderner Managementstrategien nicht thematisiert. Das Verbessern der Produktion durch neue Metho-den des Managements und der Arbeitsorganisation zielt auf Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit und auf Profitoptimierung. Die für die wirt-schaftlichen Prozesse notwendigen Menschen reduzieren sich in den diesbezüglichen Überlegungen zu kalkulierbarem „Humankapital“. Die eingesetzte Energie und die notwendigen Rohstoffe sind nicht Grundlagen allgemeinen Überlebens, sondern bloß „Ressourcen“, deren möglichst günstiger Erwerb angestrebt wird. Die zerstörte Um-welt ist schließlich „Abfall“, den es bloß dann zu reduzieren gilt, wenn er betriebswirtschaftliche zu Buche schlägt. Ganzheitlich ist bei all dem nur die Totalvernutzung von Mensch und Natur im Hinblick auf das Diktat der Mehrwertproduktion. Unter einer tatsächlich ganz-heitlichen Herangehensweise müßten sich nämlich ganz andere Fra-gen stellen. So zum Beispiel die, ob neue Unternehmenskonzepte bloß dadurch schon „zukunftsträchtig“ sind, weil sie Fitneß für den ver-schärften Konkurrenzkampf bieten.

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5. „SCHLÜSSELQUALIFIKATIONEN“ – DER ZENT-

RALE BERUFSPÄDAGOGISCHE IDEOLOGIEBEGRIFF DES POST-FORDISMUS

Das Eigentümliche der quantitativen Bemessung ist nun, daß

sie kein Prinzip von Selbstbegrenzung zuläßt. Ihr ist nicht nur

die Kategorie des Genug fremd, sondern auch jene des Zuviel.

Keine Menge kann, sobald sie zur Bemessung einer Leistung

dient, zu groß sein; kein Unternehmer kann zuviel Geld ver-

dienen, und kein Arbeiter kann zu produktiv sein. Indem sie al-

les quantifiziert, um alles berechenbar zu machen, vernichtet

die ökonomische Rationalisierung somit jedes Kriterium, das

es ermöglicht, sich zufrieden zu geben mit dem, was man hatte,

was man gemacht hatte oder sich zu tun vornahm.

André Gorz1

Schon im dritten Kapitel wurde ausgeführt, daß derzeit nur ein

sehr kleiner Teil der Arbeitnehmerschaft tatsächlich schon unter post-tayloristischen Arbeitsorganisationsbedingungen arbeitet. Nur in den Kernbereichen von Produktion und Verwaltung sind dementsprechen-de Unternehmensstrukturen heute überhaupt in nennenswertem Aus-maß vorfindbar, und es ist (zumindest mittelfristig) auch gar nicht damit zu rechnen, daß die angesprochenen neuen Formen der Arbeits-organisation zu jenen Rahmenbedingungen der Arbeit werden, von denen alle oder zumindest ein Großteil der Beschäftigten betroffen wird. Auch der überwiegende Teil der „unternehmenskulturellen“

1 Gorz, A.: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsge-

sellschaft. Berlin 1989, S. 163.

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Maßnahmen, wie Erfolgsprämien, Mitarbeit in Qualitätszirkeln, indi-viduelle Karrierepläne sowie die meisten Weiterbildungsangebote, kommen den verschiedenen Arbeitnehmergruppen durchaus nicht in gleichem Maß zugute. Vorwiegend profitieren derzeit bloß hochquali-fizierte Facharbeiter, Manager und Abteilungsleiter von den diesbe-züglichen Entwicklungen. Die „Randbelegschaften“, also leicht er-setzbare Arbeitnehmer, Angelernte, Personen an „auslaufenden Ar-beitsplätzen“, Leiharbeiter oder solche mit befristeten Arbeitsverträ-gen, sind meist „die unkultivierten und unprivilegierten Stiefkinder der Unternehmenskulturbewegung, weil sich bei ihnen unterneh-menskulturelle Maßnahmen kaum auszahlen“2. Was heute häufig als Raum für berufliche Selbstverwirklichung gepriesen wird und die Basis für eine hohe Identifikation mit dem Unternehmen sowie für die entsprechende Bereitschaft zur Arbeitsverausgabung abgeben soll, betrifft genaugenommen (erst) einen recht kleinen Teil der Arbeit-nehmerschaft und überwiegend nur „privilegierte“ Arbeitnehmer.

Wenn derzeit vielfach dennoch so getan wird, als ob die neuen Or-ganisationsformen betrieblicher Arbeit sowie die Notwendigkeit, neue adäquate Arbeitstugenden auszubilden, für alle Arbeitnehmer quasi schon „vor der Tür“ stünden, kann das dementsprechend nur als eine Ausweitung der im vorigen Kapitel angesprochenen „ideologischen Vereinnahmung“ interpretiert werden. Schon rein statistisch gesehen, besteht heute für den überwiegenden Teil der Arbeitnehmerschaft viel eher die Gefahr, in die Randbereiche des Arbeitsmarktes und in die Arbeitslosigkeit abgedrängt zu werden, als die Wahrscheinlichkeit, jemals in den Bereich der unternehmenskulturell umworbenen Kern-gruppen der Belegschaft aufzusteigen. Dennoch bekommen sie von Arbeitsmarktforschern, Berufspädagogen und Bildungspolitikern fast ausschließlich über die Chancen der neuen arbeitsorganisatorischen Bedingungen und über die Notwendigkeit zu hören, sich rechtzeitig

2 Kompa, A.: Randbelegschaften, Stiefkinder der Unternehmenskultur. In: „Mitbe-

stimmung“, Jänner 1991.

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Schlüsselqualifikationen – Ideologiebegriff des Post-Fordismus 153

auf die daraus folgenden Qualifikationsanforderungen vorzubereiten. Unaufhörlich wird heute darüber gesprochen, daß bald nur mehr jene Arbeitskräfte einsetzbar sein werden, die besonderes Engagement zeigen, Kreativität, Selbständigkeit und unternehmerische Fähigkeiten entwickeln, sich laufend weiterqualifizieren und zu all dem auch noch lernen, sich selbst besser zu vermarkten. Mittransportiert wird mit dieser Aussage gleichzeitig die Botschaft, daß alle jene, die „es nicht schaffen“ und im Bereich der „Reservearmee“ des Arbeitsmarktes landen, eben selber schuld seien, weil sie sich offensichtlich nicht ausreichend auf die neu geforderten Arbeitnehmertugenden umgestellt haben.

Wenn derzeit immer wieder behauptet wird, daß Arbeitnehmer durch die lebenslange Anpassung ihrer Qualifikation der drohenden Arbeitslosigkeit entgehen können, wird jedoch schlichtweg der Zu-sammenhang zwischen dem Phänomen der in immer schnellerer Fol-ge eingeforderten neuen Qualifikationen und dem Schrumpfen des (Lohn-)Arbeitspotentials ignoriert. Das Propagieren der Notwendig-keit, sich auf die durch den strukturellen Wandel ausgelösten neuen Bedingungen der Arbeitswelt einzustellen, nimmt nicht die Tatsache zur Kenntnis, daß der strukturelle Wandel ja im Kern genau darin besteht, mit immer weniger menschlichen Arbeitskräften auszukom-men. Die Logik hinter den die Anpassungsforderung auslösenden technischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen besteht im Ziel der Produktivitätserhöhung. Derselben Logik sind aber auch Ra-tionalisierungsmaßnahmen und damit verbundene Arbeitskräfteein-sparungen geschuldet. Die beiden Trends, die Notwendigkeit der An-passung der Qualifikationen der Arbeitskräfte an die neuen Erforder-nisse von Beruf und Arbeit und die permanente Verringerung des Arbeitskräftebedarfs, speisen sich aus derselben Quelle: der an der Logik der kapitalistischen Ökonomie ausgerichteten, technologischen

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und arbeitsorganisatorischen Entwicklung.3 Selbst wenn alle derzeit Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit bedrohten Personen lernen würden, was angeblich gebraucht wird, wären sie überzählig und können nur im Austausch mit Beschäftigten, deren profitable Ver-wendbarkeit sie durch ihre Nachqualifikation überbieten können, wie-der einen Arbeitsplatz ergattern. Und jede neu auftauchende Notwen-digkeit zur Neuqualifikation ist bloß Indiz dafür, daß sie noch über-zähliger geworden sind, sie repräsentieren nicht „irrtümlich“ brachlie-gende, sondern schlichtweg überflüssige Arbeitskraft.

Parallel dazu, daß die Bereitschaft, sich laufend den neuen Quali-fikationsanforderungen anzupassen, heute zu jenem Universalrezept hochgelobt wird, mit dem Arbeitnehmer ihre Position im Beschäfti-gungssystem absichern könnten, findet derzeit eine sukzessive Ent-wertung von (Erstaus-)Bildungsabschlüssen im Hinblick auf deren Chancenverteilungsfunktion für berufliche und damit gesellschaftli-che Positionen statt. Dieser Effekt zeigt sich an zwei Entwicklungen: einerseits am Trend, daß die Zugangsmöglichkeiten für bestimmte berufliche Positionen an sukzessiv umfangreicher werdende Formal-qualifikationen geknüpft werden und andererseits daran, daß schuli-sche beziehungsweise universitäre Abschlüsse immer weniger einen direkten Zugang zu Positionen des Beschäftigungssystems garantie-ren; zunehmend eröffnen sie nur mehr die Berechtigung dafür, am Konkurrenzkampf um attraktive berufliche Positionen überhaupt teil-nehmen zu dürfen. Ulrich Beck zeichnet ein ausdrucksstarkes Bild für diese Entwicklung: „Die Zertifikate, die im Bildungssystem vergeben werden, sind keine Schlüssel mehr zum Beschäftigungssystem, son-dern nur noch Schlüssel zu den Vorzimmern, in denen die Schlüssel zu den Türen des Beschäftigungssystems verteilt werden.“4

3 Vgl. dazu insbesondere: Bremer, R.: Was Hänschen gelernt hat, muß Hans ver-

gessen. In: „Pädagogische Korrespondenz“, Heft 5 (1989), S. 5-17. 4 Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt

a.M. 1986, S. 245.

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Schlüsselqualifikationen – Ideologiebegriff des Post-Fordismus 155

Allerdings verharmlost das Wort „Verteilen“ die Situation, die sich an der Nahtstelle zwischen (Aus-)Bildungs- und Beschäftigungssys-tem immer deutlicher abzeichnet, noch weitgehend. Unter den ge-genwärtigen Umständen, wo immer mehr Abgänger des Bildungssys-tems höhere Abschlüsse nachweisen können, gleichzeitig die Anzahl an höheren beruflichen Positionen jedoch nicht nur nicht ansteigt, sondern eine langfristige (zumindest relative) Verringerung der Ge-samtarbeitsplätze zu verzeichnen ist, entscheidet zunehmend die Be-reitschaft, sich zusätzlichen „Anpassungsmechanismen“ zu unterwer-fen, über eventuelle Startchancen im Beschäftigungssystem. Die Tat-sache, daß sich der Übergang vom Bildungs- zum Beschäftigungssys-tem für Schulabsolventen heute immer häufiger nicht in Form eines Umstiegs gestaltet, sondern eher die Form einer Erprobungsphase annimmt, fügt sich in dieses Bild. „Zwischen Ausbildung und Be-schäftigung [schiebt sich] eine risikoreiche Grenze labiler Unterbe-schäftigung.“5 Konkret bedeutet das, daß sich zunehmend erst über den Zwischenschritt der „Anpassungserprobung“ – die Bereitschaft, ungesicherte und atypische Arbeitsverhältnisse, wie zum Beispiel, Teilzeitarbeit, Anstellungen über befristete Werkverträge oder soge-nannte „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ einzugehen – und der unter Beweis gestellten Bereitschaft, in die Optimierung seiner eigenen Arbeitskraft zu investieren, die Tore zum Normalarbeitsmarkt öffnen.

Auch eine hoch qualifizierende Ausbildung garantiert heute immer weniger einen (attraktiven) Arbeitsplatz. Im Gegensatz dazu stellt aber eine nicht-Vorhandene oder eine nur gering qualifizierende Aus-bildung mit tendenziell steigender Wahrscheinlichkeit ein Ausschlußkriterium für den (Normal-)Arbeitsmarkt dar. Der Wert der

durch das Aus- und Weiterbildungssystem vergebenen „Qualifizie-

rungszertifikate“ bestimmt sich zunehmend weniger über eine Status-

zuweisungsfunktion, sondern immer mehr über eine Ausschlußfunkti-

5 Ebda., S. 239.

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on. Zwar steigt die Grenzqualifikation für den Einstieg ins Erwerbsle-ben immer weiter an6, aber es ist dennoch immer weniger die beson-

dere berufsspezifische Qualifikation, die für das Erreichen von an-strebenswerten Positionen im Beschäftigungssystem notwendig ist, sondern die permanente Weiterqualifizierungsbereitschaft. Damit ist die zur Qualifikation verkürzte Bildung aber nicht nur der gesell-schaftskritischen Potenz beraubt, die dem ursprünglichen Bildungs-begriff innegewohnt hatte, sie hat damit schließlich auch die Mög-lichkeit verloren, sich als gerechtes Kriterium für die gesellschaftliche Positionsverteilung anzubieten. Es ist so, wie wenn sich vorerst ein-zelne Zuschauer bei einem Fußballspiel auf die Zehenspitzen stellen, um besser zu sehen. Die Folge wird sein, daß sich auch die Dahinter-stehenden auf die Zehenspitzen stellen, dann die nächsten und immer mehr …, bis schließlich alle Zuschauer auf den Zehenspitzen stehen und nun zwar alle unbequemer stehen, aber dennoch bloß genau so

gut sehen wie am Anfang. Mit der Qualifikation ist es zunehmend genauso: sie bringt zwar nichts, aber sie ist notwendig, um überhaupt die Position halten zu können. In ihrer instrumentalisierten Qualifika-tionsvariante paralysiert die Bildung in letzter Konsequenz damit sogar ihren individuellen Vorteil.

Schule und Erstausbildung dienen dementsprechend – auch wenn das die wenigsten Lehrer heute schon wahrnehmen wollen und krampfhaft weiter an der Illusion vom Lernen für den „Lebensberuf“

6 Beck weist anhand der Tatsache, daß der Nur-Hauptschulabschluß unter einem

historischen Blickwinkel heute schon in die Nähe zum Analphabetentum gerückt ist, auf den permanenten Anstieg der „Grenzqualifikation“ für den Einstieg ins Erwerbsleben hin: „Im achtzehnten Jahrhundert war es noch »selbstverständ-lich«, ohne Kenntnis des Alphabets seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts wird die Beherrschung des Lesens und Schreibens mehr und mehr zur Einstiegsvoraussetzung in das expandierende in-dustrielle Beschäftigungssystem. Im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts reicht schließlich sogar der Hauptschulabschluß allein immer weniger hin, um arbeitsmarktvermittelt die materielle Existenz zu sichern.“ Beck, a.a.O., S. 245/246.

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festhalten – auch immer weniger der Vorbereitung auf eine Karriere in einem bestimmten Beruf, sondern den „Startvorbereitungen“ und dem „Fitmachen“ für den lebenslangen Wettkampf um akzeptable gesellschaftliche Positionen. Im Erstausbildungssystem geht es dar-um, die „Notwendigkeit“ des rastlosen Konkurrenzkampfes zu verin-nerlichen und die Bereitschaft zur lebenslangen Adaptierung der eige-nen Qualifikation – des eigenen „Einsatzes“ im Konkurrenzkampf – zu entwickeln. Die (Erst-) Ausbildung wird unter diesen Umständen also keineswegs unwichtiger. Im Gegenteil: im Sinne des weiter oben dargestellten Bildes von Ulrich Beck, daß die Zertifikate des (Aus-)Bildungssystems zunehmend nur mehr die Türen zu den Vor-zimmern des Beschäftigungssystems öffnen, bleibt die berufliche Zukunft ohne qualifizierenden Abschluß meist gänzlich verbaut. Denn es mag der Schlüssel für das Vorzimmer zwar unwichtig werden, sobald jemand so weit gekommen ist, sich um den „Platz im Wohn-zimmer“ streiten zu „dürfen“, jedoch signalisiert nur der erfolgreich geführte „Kampf um den Vorzimmerschlüssel“ seine Qualifikation, um zum nachfolgenden Konkurrenzkampf um eine Position im Be-schäftigungssystem überhaupt antreten zu können. Damit ergibt sich die paradoxe Situation, daß es heute zwar immer unwichtiger wird, was man lernt, aber gleichzeitig immer notwendiger, daß man lernt, um damit das eigene Durchhaltevermögen nachzuweisen und zu sig-nalisieren, daß man den wahnwitzigen Prozeß der bewußtlosen Quali-fikationsanpassung ausreichend verinnerlicht hat.

Damit verbunden ist ein weiterer Effekt: weiterführende berufs-qualifizierende Bildungsgänge werden – um noch einmal an das Bild von Ulrich Beck anzuschließen – zu „Wartesälen“ des Arbeitsmark-tes. Weil ihnen ihre Erstausbildung aufgrund der „Überfüllung“ des Beschäftigungssystems keinen (direkten) Zugang zu einem attraktiven Arbeitsplatz eröffnet, sie jedoch in der Hoffnung gehalten werden, mit einem Mehr an Qualifikationen ihre diesbezüglichen Einstiegschan-cen verbessern zu können, schließen junge Menschen heute nach ihrer

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Erstausbildung oft noch weitere Ausbildungsgänge an. Je länger sie jedoch im Bildungssystem bleiben, desto mehr muß sich bei ihnen – im Hinblick auf ihren immanenten Anspruch einer beruflichen Zu-kunft – das Gefühl herausbilden, ihre Zeit dort unnötig zu „versitzen“. (Berufsqualifizierende) Schulen wandeln sich zu gesellschaftlichen Aufbewahrungsanstalten. Die Funktion der Qualifizierung, im Sinne des Abrichtens der Schüler für eine Verwendung im Beschäftigungs-system, können sie immer schwerer erfüllen, eine Ausrichtung an nicht arbeitsmarktbezogenen Inhalten entspricht nicht ihrer Zielset-zung. Sie befinden sich in der Situation, den Schülern die paradoxe Botschaft schmackhaft machen zu müssen, daß die von ihnen offerier-ten Qualifikationen zwar in der Form der berufsrelevanten Kenntnisse und Fertigkeiten nutzlos sind – weil auch sie bei Abschluß der Aus-bildung oft schon wieder veraltet sind –, durch den Erwerb dieser „nutzlosen“ Qualifikationen aber genau jene „Persönlichkeit“ heraus-gebildet wird, die dem Ideal der post-fordistischen Gesellschaft ent-spricht.

Das verbindende Muster der skizzierten Entwicklungen im Aus- und Weiterbildungsbereich besteht darin, daß es unter den heutigen Gegebenheiten des allumfassenden Konkurrenzkampfes im „post-fordistischen Kapitalismus“ eben um wesentlich mehr geht als um neue Bereiche beruflichen Wissens und Könnens für (potentielle) Arbeitnehmer. Es geht um die endgültige Durchsetzung der „Ideolo-

gie der ökonomischen Rationalität“ auf der Ebene der Selbstvermark-

tung der Individuen. Endgültig angesagt ist der Abschied von jener seit Luther noch immer in den Köpfen der Menschen herumspuken-den Vorstellung, daß die berufliche Tätigkeit eines Menschen etwas mit dessen „Eignung und Neigung“ – mit seiner „Berufung“ – zu tun haben sollte. Heute gilt es dagegen, die wahllose Vermarktung seiner

selbst für selbstverständlich zu halten und widersinnigerweise, trotz des immer schnelleren Veraltens der Qualifikationen, alles daranzu-setzen, qualifikatorisch „am Ball“ zu bleiben. Ziel heutiger Bildung

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ist die Akzeptanz des post-fordistischen Legitimationsmusters, daß das Recht der Partizipation an den prinzipiell knappen Früchten der gesellschaftlichen Arbeit nur jenen zusteht, die ihre grundsätzliche Austauschbarkeit akzeptiert haben und, aus diesem Bewußtsein her-aus, sich permanent um ihre weitere und immer bessere Vermarktbar-keit bemühen.

Völlig unabhängig von tatsächlich gegebenen oder nicht gegebe-nen Arbeitsplatzchancen ist es heute notwendig, daß alle Gesell-schaftsmitglieder diese „Selbstdisziplinierung im Sinne der ökonomi-

schen Logik“ als eine nicht mehr zu hinterfragende Primärtugend

verinnerlichen. Als „Gebildet“ erscheint der, der sich der Anforde-rung der Anpassung angepaßt hat und den Zwang zur lebenslangen Nachjustierung seiner Selbst als „Ware Arbeitskraft“ völlig verinner-licht hat. Nicht eine bestimmte Aus-Bildung gilt es anzustreben, son-dern die ständige „Optimierung“ seiner Selbst in bezug auf vermarkt-bare Qualifikationen. Notwendig ist die Bereitschaft, das kapitalisti-sche Prinzip der grenzenlosen Ausbeutung gegen sich Selbst zu wen-den und den eigenen Verschleiß als gerechtfertigten Tribut an die Immer-mehr-Spirale der Wachstumsgesellschaft zu akzeptieren. „Das lebenslange Lernen ist zu jenem sinnlosen Sinnersatz geworden, der die »gleichgültige«, »sinnlose« Massenproduktion immer schon war. Der »ziellose« Arbeitsprozeß hat im »endlosen« Bildungsprozeß sei-nen ihm immer identischer werdenden Partner gefunden.“7 Berufliche Weiterbildung wandelt sich unter diesen Umständen von einem An-gebot, das entsprechend persönlicher Karrierewünsche angenommen werden kann oder nicht, zu einem Zwang – sie erhält totalitären Cha-rakter. Das kapitalistische Prinzip „wachsen oder weichen“ hat auch sie voll erfaßt. Ein immer größer werdendes „Angebot“ an Weiterbil-

7 Geißler, K.A./Kutscha, G.: Modernisierung der Berufsbildung – Paradoxien und

Parodontosen. Oder: Was ist modern an der Modernisierung der Berufsbildung und ihrer Theorie? In: Kipp et al. (Hg.): Paradoxien in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Zur Kritik ihrer Modernitätskrisen. Frankfurt a.M. 1992, S. 16.

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dungsmöglichkeiten korreliert mit einer immer geringer werdenden Freiheit der Individuen, bezüglich der Entscheidung, ob sie das, was da angeboten wird, überhaupt haben wollen.8 Immer weniger gibt es die Chance, sich auf dem einmal erreichten „Bildungslorbeer“ auszu-ruhen. Denn wer aus dem lebenslänglichen Prozeß der Weiterqualifi-zierung aussteigt, wird rasch von nachdrängenden, noch „Bildungs-willigen“, eigentlich: noch „Selbstausbeutungsfähigen“, verdrängt, fällt auf untere Ränge des Beschäftigungssystems zurück oder gleich gänzlich aus dem System der Humankapitalverwertung heraus.9 „A-dapt or die“ lautet die Devise, oder – in Form eines Spruchs aus der Jugendszene „Du hast keine Chance – nutze sie!“

8 Dieser Tatsache entspricht auch der Trend, daß Weiterbildung immer mehr auch

als Anreiz für überdurchschnittliche Leistungen eingesetzt wird. Zu Weiterbil-dungsveranstaltungen entsandt zu werden, gewinnt zunehmend, neben gewinn-beteiligenden Salarisierungssystemen und anderen Formen der Beteiligung an der Wertsteigerung des Unternehmens, für Mitarbeiter in höheren Positionen die Bedeutung einer Gratifikation.

9 In logischer Konsequenz zum Bisherigen zeichnet sich heute schon der Trend ab, daß es in Zukunft nicht einmal mehr genügen wird, die Bereitschaft zur Weiter-bildung zu bekunden, zunehmend wird die „selbstorganisierte Weiterbildung“ eingefordert werden. In derselben Form, wie Arbeitnehmer in modernen Unter-nehmensorganisationskonzepten heute aufgefordert sind, permanent über Ratio-nalisierungsmöglichkeiten und Optimierungsmöglichkeiten des Produktionsab-laufes nachzudenken und die Verantwortung für die Konkurrenzfähigkeit der je-weiligen Produkte an die unteren Hierarchieebenen delegiert werden, wird ihnen zunehmend auch die Verantwortung für die rechtzeitige Adaptierung ihrer Quali-fikation zugespielt. In Zukunft wird wahrscheinlich der Arbeitnehmer gefordert, der sich der Weiterbildung nicht im Sinne einer Notwendigkeit unterwirft, son-dern Weiterbildung sucht und sich, entsprechend der von ihm erkannten Mög-lichkeiten einer besseren Selbstvermarktung, Weiterbildung selbst organisiert und auch noch selbst bezahlt. So wie sich Handwerker früher ihr Werkzeug selbst kaufen mußten, läßt sich heute die Entwicklung absehen, daß Kosten und Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Verwendbarkeit des „Humankapi-tals“ quasi den Trägern des Humankapitals selbst zugespielt wird. Die ideologi-sche Legitimation dieser Entwicklung lautet dann, daß aus dem ehemals unfreien Arbeitnehmer nun der sich selbst vermarktende selbständige Unternehmer wird.

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Die lebenslang lernend artikulierte Anpassungsbereitschaft – die „Bereitschaft zum lebenslangen Lernen“ – wird heute auch gerne zu einer der neuen, zunehmend allgemein notwendig werdenden „Schlüsselqualifikationen“ hochgelobt. Dieser Begriff, der 1974 von Dieter Mertens in die Diskussion gebracht worden war10, ist seitdem zu so etwas wie einer Konsensformel in der bildungstheoretischen und der bildungspolitischen Diskussion geworden. In einer Unzahl von wissenschaftlichen Abhandlungen wurde er von (Berufs-)Päda–gogen verschiedenster Richtungen aufgegriffen und inhaltlich ausges-taltet. In den zwei Jahrzehnten seit seiner Erfindung avancierte er zu einem jener pädagogischen Zauberwörter, die dafür dienen, den Wi-derspruch von Mündigkeit und Brauchbarkeit in den Griff zu bekom-men, jenes grundsätzliche Dilemma der Pädagogik, einerseits als phi-losophisch-reflektierende Wissenschaft in die zeitlos geltende Frage nach der Humanisierung des Menschen eingebunden zu sein und an-dererseits permanent Handlungsanweisungen für pädagogisch-praktisches Geschehen unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen liefern zu müssen. Von Anfang an gab es zwar auch skeptische Stimmen, die dem Konzept eine diesbezügliche Lö-sungskapazität und besondere Originalität abgesprochen haben11, wie zum Beispiel Lisop, die unmißverständlich ablehnend von einer „Zu-

10 Mertens, D.: Schlüsselqualifikationen. Thesen zur Schulung für eine moderne

Gesellschaft. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 7 (1974), S. 36-43.

11 Mertens selbst ging ebenfalls davon aus, mit dem Schlüsselqualifikationskonzept „keineswegs einen neuartigen oder auch nur originellen Gedanken, wohl aber ei-ne zusätzliche Fundierung für lang diskutierte und gepflegte Prinzipien der lern-psychologisch orientierten Pädagogik in die Bildungsdebatte einzubringen“. Mertens, D.: Schlüsselqualifikationen. Überlegungen zu ihrer Identifizierung im Erst- und Weiterbildungssystem. (1974), zit. nach Arnold, R.: Betriebliche Wei-terbildung. Bad Heilbrunn 1991, S. 70.

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kunftsbewältigung ohne Sinn und Verstand“12 spricht, oder Strunk und Geißler, die massiven „Ideologieverdacht“ geltend machten13. Dennoch kann festgestellt werden, daß mit dem Begriff „Schlüssel-qualifikationen“ ein zentraler berufspädagogischer Leitbegriff ent-standen ist, mit dem die Berufspädagogik auch versucht, sich von jenem durch Lempert auf den Punkt gebrachten Vorwurf zu befreien, sie sei „eher eine ideologische Rechfertigungslehre als eine Erfah-rungswissenschaft, geschweige denn eine kritische Disziplin“14 und ist in diesem Sinn – wie er es an anderer Stelle ausdrückt – „sowohl hinter den Bildungsbegriff in seiner ursprünglichen Fassung zurück-gefallen als auch hinter der sich wandelnden Berufswirklichkeit zu-rückgeblieben“15.

Gleichzeitig hat sich der Terminus „Schlüsselqualifikationen“ aber auch zum bildungspolitischen Kampfbegriff entwickelt und wird diesbezüglich heute von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisatio-nen und den verschiedensten politischen Gruppierungen gleicherma-ßen genutzt.16 Offensichtlich gelang es mit dem Konzept, das von Mertens ja auch tatsächlich als ein explizit „arbeitsmarktpolitisches“ Lösungsmodell eingeführt worden war, die Vorstellung zu suggerie-

12 Lisop, I.: Schlüsselqualifikationen – Zukunftsbewältigung ohne Sinn und

Verstand. In: Siebert, H./Weinberg, J. (Hg.): Literatur und Forschungs-Report Weiterbildung. Münster 1988 Nr. 12, S. 84-88.

13 Geißler, K.A.: Schlüsselqualifikation. Die Mär vom goldenen Schlüssel. Ein Begriff, der bildungspolitische Karriere gemacht hat. In: „Lernfeld Betrieb“, (1989) 5, S. 3. Strunk, G.: Bildung zwischen Qualifizierung und Aufklärung. Bad Heilbrunn 1988.

14 Lempert, W.: Erziehungswissenschaft und Verbandsinteressen als gestaltende Faktoren des westdeutschen Lehrlingswesens. In: „Neue Sammlung“ 10 (1970) 3, S. 320.

15 Lempert, W.: Vorwort zu Stütz, a.a.O, S. I. 16 Bezeichnenderweise war das Thema der Schlüsselqualifikationen auch einer der

wenigen Bereiche, wo bei der Verbändeanhörung der Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik – Bildung 2000“ des Deutschen Bundestags Arbeit-geberverbände und Gewerkschaften unisono dieselben Erwartungen äußerten. Deutscher Bundestag, Drucksache 11/5349, S. 65.

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ren, daß sich auf der Ebene der Schlüsselqualifikationen die Interes-sen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern treffen und sich in der For-derung nach einer entsprechend ausgerichteten beruflichen Bildung der „Widerspruch von Kapital und Arbeit“ gleichsam auflöst. Geißler und Orthey, die den Schlüsselqualifikationsbegriff ob seiner Sub-stanzlosigkeit polemisch, (aber durchaus treffend) als einen „Such-begriff der Modernisierung“17 bezeichnen, haben neben einer Reihe anderer Autoren aufgezeigt, daß der Terminus trotz beziehungsweise offenbar gerade wegen seiner Unverbindlichkeit besonders gut geeig-net war, gleichermaßen zu einem (berufs-)pädagogischen und bil-dungspolitischen Zentralbegriff aufzurücken. Durch eine Verbindung „plausibler Bildhaftigkeit“ mit genügender Abstraktheit18 ist es mit diesem Begriff gelungen, positive Erwartungen bezüglich arbeits-marktpolitischer Probleme auszulösen und gleichzeitig eine Befreiung aus der Not des Hinterherhetzens hinter den permanent und immer rascher sich verändernden Arbeits- und Qualifikationsanforderungen zu versprechen.

Mertens verfolgte mit seinem Konzept die Absicht, angesichts des Prognosedefizits der Bildungsplanung Schlüsselqualifikationen quasi als Prognoseersatz einzusetzen und damit das ungelöste Problem der Anpassung von Bildungs- und Beschäftigungssystem in den Griff zu bekommen. Es ging ihm – durchaus im Sinne einer „wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwertung von Bildung“19 – um die Anpas-sungsfähigkeit an nicht Prognostizierbares. Der Schlüsselqualifikati-onsbegriff kann damit als Antwort auf die etwa Mitte der siebziger Jahre einsetzende „Sinnkrise“ der (instrumentalisierten) Bildung ge-

17 Geißler, K.A./Orthey, F.M.: Schlüsselqualifikationen. Paradoxe Konjunktur

eines Suchbegriffs der Modernisierung. In: „Grundlagen der Weiterbildung“, 4 (1993) 3, S. 154-156.

18 Vgl: Reetz, L.: Das Konzept der Schlüsselqualifikationen in der Berufsbildung (I). In „Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik“, 85 (1989) 5, S. 3.

19 Mertens, D.: Schlüsselqualifikationen. Überlegungen zu ihrer Identifizierung im Erst- und Weiterbildungssystem, (1974). Zit. nach Arnold, a.a.O., S. 73.

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sehen werden. Aufgrund des beginnenden Konjunkturrückgangs und einer damit verbundenen, anwachsenden (Jugend-) Arbeitslosigkeit wurde damals die seit Ende der fünfziger Jahre propagierte beschäfti-gungsorientierte Bildungspolitik zunehmend ihrer Legitimation be-raubt. In den späten fünfziger Jahren waren ja – im Zusammenhang mit dem sogenannten „Sputnikschock“ und dem damit ausgelösten Bestreben, „Begabungsreserven“ auszuschöpfen, – bildungsökonomi-sche Fragestellungen weit in den Vordergrund bildungspolitischer Überlegungen gerückt. Die Vorstellung, durch eine verstärkte Aus-richtung von Bildungsmaßnahmen am wachsenden Bedarf der Wirt-schaft nach höher qualifizierten Arbeitskräften, das ökonomische Wachstum ankurbeln zu können und damit insgesamt gesicherte Be-schäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, war zum weitgehend aner-kannten bildungspolitischen Argument avanciert.20 Der Konjunktur-einbruch Mitte der fünfziger Jahre und das erstmalige Ansteigen der Arbeitlosenraten seit Ende der Nachkriegsära desavouierten diese Vorstellungen dann allerdings wieder massiv.

Die Vorhersagbarkeit des Bedarfs der Wirtschaft nach einem be-stimmten Qualifikationsprofil des Arbeitskräftenachwuchses und die entsprechende Ausrichtung von Bildungsmaßnahmen wurden unter

20 In den folgenden Jahren war dann unter dem Titel der „Herstellung von mehr

Chancengleicheit“ auch der „Aufstieg durch Bildung“ für Kinder sozial weniger privilegierter Schichten propagiert worden. Mit Hilfe materieller Unterstützun-gen – wie zum Beispiel kostenloser Fahrt zur Schule, „Schulbuchaktion“ oder Abschaffung der Studiengebühren – und dem Ausbau eines flächendeckenden Netzes an höheren Schulen wurde versucht, Benachteiligten den Weg zur höhe-ren Bildung zu ebnen. Rückblickend muß heute die Vorstellung eines sozialen Aufstiegs durch den Besuch weiterführender Bildungsgänge jedoch als weitge-hend gescheitert bezeichnet werden. Zwar haben diese Maßnahmen zu einer ge-nerellen Anhebung des Qualifikationsniveaus geführt und in Einzelfällen wohl auch eine schichtuntypische höhere Bildungs- und Lebenskarriere begünstigt, insgesamt wurde die Sozialstruktur der Gesellschaft sowie die Reproduktion der sozialen Schichtung damit jedoch nur marginal verändert. Vgl. dazu: Leschinsky, A.: Bildung, Ungleichheit und Markt. In: Zeitschrift für Pädagogik 39 (1993) 1, S. 19-23.

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diesen Umständen wieder in Zweifel gezogen, genauso wie die Vor-stellung vom ständig steigenden Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräf-ten, die eine höhere Stufe der Qualifikationshierarchie erklommen haben. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wurde darin gesehen, Quali-fikationsmerkmale zu finden, die sich nicht an den aktuell geforderten Qualifikationen der bestehenden Arbeitsplätze orientieren, sondern den Einzelnen befähigen, sich flexibel unterschiedlichen, auch noch gar nicht absehbaren zukünftigen Arbeitsanforderungen zuzuwenden und diese – ohne zusätzlichen Umschulungsaufwand – zu bewältigen. Aufbauend auf die diesbezüglichen grundsätzlichen Überlegungen von Mertens wurde in der Folge durch verschiedenste Autoren ein Kanon relativ allgemeiner „Grund- oder Schlüsselqualifikationen“ entwickelt, „die keine spezielle Fachkompetenz, sondern eher eine allgemeine »berufliche Handlungsfähigkeit« beschreiben, zu der ne-ben einer allgemeinen Lernbereitschaft und situationsbezogenen Er-fahrungsfähigkeit, neben Umstellungsfähigkeit, Rationalität, Problem-lösungsfähigkeit usw. eben auch die Qualität gehört, sich relativ auto-nom und distanziert gegenüber wechselnden Bedingungen des Ar-beitsmarktes zu verhalten.“21 Quasi durch eine „Erhöhung der inneren und äußeren Flexibilität“ der zukünftigen Beschäftigten sollte deren Adaptionsvermögen an unterschiedliche Arbeitsanforderungen und damit auch ihre Chancen auf einen Lohnarbeitsplatz erhöht werden.

Aufbauend auf der Vorstellung einer Qualifizierung, deren Zielset-zung nicht in einem konkreten, detailliert benennbaren Katalog von Kenntnissen und Fertigkeiten besteht, die hingegen die Fähigkeit zur Adaption an die jeweils geforderten Arbeitsanforderungen in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellt, wurden in den letzten Jahren dann auch eine Reihe sogenannter „neuer Methoden“ der beruflichen Aus- und Weiterbildung kolportiert. Hauptsächlich in großen, „bil-dungsinnovativen“ Unternehmen der BRD wurden verschiedentlich

21 Brater, M.: Arbeit – Beruf – Persönlichkeit. In: Beiheft 4 zur „Zeitschrift für

Berufs- und Wirtschaftspädagogik“, Wiesbaden 1983, S. 38.

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Versuche gestartet, von den klassischen Methoden der Unterweisung abzugehen und mit neuen, auf berufliche Selbständigkeit und Auto-nomie ausgerichteten Formen des Erlernens beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten zu experimentieren. „Leittextmethode“, „Übungs-firma“, „Projektausbildung“, „Lernstatt“ oder „Qualitätszirkel“ sind einige der gängigen Bezeichnungen, mit denen diese neuen Methoden der beruflichen Bildung in diversen Projektberichten, Festschriften oder Informationsblättern auftauchen.22 Allen diesen Versuchen ist gemeinsam, daß sie auf die Herausbildung grundsätzlicher Kompe-tenzen des Bewältigens von Arbeitssituationen in Form sogenannter „polyvalenter Qualifikationen“ abzielen, und damit die Grundlage für die Möglichkeit des permanenten und selbständigen (Neu-)Erwerbs jeweils neuer arbeitsplatzspezifischer Kenntnisse und Fertigkeiten schaffen sollen.

Der Begriff „Schlüsselqualifikationen“ stellt quasi den zum Wort gewordenen Wunsch nach der Zielbestimmung einer Ausbildung dar, die ihr Versprechen, für die Anforderungen des Beschäftigungssys-tems vorzubereiten, trotz der Situation einlöst, daß heute niemand seriös vorhersagen kann, wie diese Anforderungen auch in nur fünf Jahren konkret ausschauen werden. Er spiegelt das Bemühen wider, „den Begriff der »Qualifikation«, der spezifisch individuell und auf-

22 Vgl. (Auswahl): Bundesinstitut für Berufsbildung (Hg.): Lernen am Arbeitsplatz,

gefördert durch Leittexte, angeleitet durch Ausbilder. Ergebnisse aus dem Mo-dellversuch „Nachqualifizierung zum Verfahrensmechaniker“. Berlin 1989. Cal-chera, F.; Weber, J.C. (Bundesinstitut für Berufsbildung): Entwicklung und För-derung von Basiskompetenzen/Schlüsselqualifikationen. Berlin/Bonn 1990. Hoesch Stahl AG (Hg.): Leittexte in der betrieblichen Berufsbildung. Ziele - Entwicklungen - Erwartungen. Salzgitter 1987. Hoesch Stahl AG (Hg.): Selbst-lernsysteme mit Hilfe des auftragsbezogenen Leittextes. Salzgitter 1987. Höpf-ner, H.D.: Entwicklung selbständigen Handelns in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Berichte zur beruflichen Bildung, Heft 142. Hrsg. durch das Bundesinstitut für Berufsbildung, Berlin/Bonn 1991. Schmidt-Hackenberg, B. et. al. (Bundesinstitut für Berufsbildung): Neue Ausbildungsmethoden in der be-trieblichen Berufsausbildung. Ergebnisse aus Modellversuchen. Berlin/Bonn 1989.

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gabenzentriert zu bestimmen ist, durch die Voranstellung eines »Schlüssels« zur endlichen Lösung der Suche nach einem universalis-tischen allgemein- und berufspädagogischen Prinzip machen zu kön-nen“. „Das Wort »Schlüsselqualifikation« lebt von der Vorstellung eines von der beschleunigten Bewegung unabhängigen, quasi absolu-ten Ortes. Dies aber um den Preis der Entleerung, das heißt der Ortlo-sigkeit.23 Der Schlüsselqualifikationsbegriff stellt damit im Hinblick auf das zur „Ware Qualifikation“ reduzierte heutige Bildungsver-ständnis gewissermaßen das Pendant zum „alten“ Bildungsbegriff dar. Eine zeit- und bedingungslos definierte Zielbeschreibung päda-gogischen Handelns, die sich in ihrer allgemeinen Fassung vergleich-bar diffus darstellt, im Zuge der Konkretisierung aber ebenfalls sehr schnell ihren gesellschaftsstützend-ideologischen Kern offenbart.

Wer den „Schlüssel“ in Form der richtigen „Qualifikationen“ be-sitzt, dem eröffnen sich – so die durch den Schlüsselqualifikations-begriff suggerierte hoffnungsfrohe Botschaft – die Tore zum Beschäf-tigungssystem, zu einem attraktiven Arbeitsplatz und zur Karriere. Aber auch das dergestalt positiv vermittelte Bild vom „Türen öffnen-den Qualifikationsschlüssel“ signalisiert zugleich auch das versperr-

bare Tor zur Berufstätigkeit, also auch die Aussperrung der Unterqua-lifizierten.24 Daß schon bald nur mehr die „Schlüssel-Qualifizierten“ einen Anspruch auf die immer weniger werdenden Arbeitsplätze gel-tend machen können, heißt eben auch, daß immer mehr Menschen von der ökonomischen Reproduktion ausgeschlossen, also arbeitslos sein werden. Und je mehr Arbeitsplätze im Zuge der fortschreitenden Erhöhung der Produktivität wegfallen werden, desto größer wird die Anpassungsleistung sein müssen, um einen der verbleibenden Plätze im Beschäftigungssystem zu ergattern. Schlüsselqualifiziert zu sein

23 Geißler/Orthey, a.a.O., S. 155 und 154. 24 Vgl.: Geißler, K.A.: Schlüsselqualifikationen – ein Schlüssel auch zum Ab-

schließen. In: Siebert, H./Weinberg, J.(Hg.): Literatur und Forschungs-Report Weiterbildung. Münster 1988 Nr. 12, S. 89-93.

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heißt eben nicht, mit einem bestimmten, definierbaren Kanon von Kompetenzen den „Schlüssel“ für das Tor zum Arbeitsmarkt zu er-werben, sondern bloß, sich bewerben zu dürfen, am Konkurrenz-kampf um die immer weniger werdenden Arbeitsplätze teilzunehmen. Den Schlüssel, der den Arbeitsmarkt einfach aufschließt gibt es nicht. Der Mechanismus des Entstehens und Verschwindens von Arbeits-plätzen ist ökonomischer Natur und hat bestenfalls einen marginalen Zusammenhang mit der konkreten Qualifikation der davon Betroffe-nen.

Dementsprechend zeigt sich ja auch immer wieder, daß Maßnah-men zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, die (nur) auf Maßnahmen zur Erhöhung der Qualifikation der Arbeitsuchenden aufbauen, zum Scheitern verurteilt sind. Statt gesellschaftlich determinierte Un-gleichheiten zu beseitigen, verstärken sie diese sogar zumeist noch. Zwar können Qualifizierungsmaßnahmen die individuellen Chancen von Personen bei der Suche nach einem Lohnarbeitsplatz erhöhen, zugleich bewirken sie jedoch auch eine weitere Verschärfung des Konkurrenzkampfes und schaffen neue Verdrängungsmechanismen unter den Arbeitnehmern. Die Zahl der Ausgegrenzten wird damit auf jeden Fall nicht geringer – wie viele Arbeitskräfte benötigt werden, bestimmt sich über den Stand der Produktivkraftentwicklung und durch die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie. Diejeni-gen, die aus ökonomischen Gründen nicht gebraucht werden, definie-ren allerdings indirekt die für den Arbeitsmarkt jeweils „ungenügen-den“ Qualifikationen und stellen gleichzeitig die Mahnung zum Wei-terlernen für die (noch) nicht vom Beschäftigungssystem Ausgegrenz-ten dar.

Insgesamt entspricht die Entwicklung völlig der Logik einer zur Ware verkommenen Bildung. Die warenförmige Bildung unterliegt eben auch dem kapitalistischen Konsumzwang. Sowohl Arbeitszwang als auch Konsumzwang sind Phänomene des fortgeschrittenen Kapita-lismus, die Chance auf gesellschaftliche Normalbehandlung hat nur

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der, der arbeitet und konsumiert. Damit auch nur der, der sich – im heutigen Warenverständnis von (Weiter-)Bildung – „bildet“, also Qualifikation konsumiert. Durch dieses tendenzielle Gleichwerden

von Bildung und Konsum trifft auf Bildung aber immer mehr auch eine andere grundsätzliche Tatsache des kapitalistischen Marktes zu: das nie eingelöste Versprechen der Wunscherlösung. Der kapitalisti-sche Markt lebt vom permanenten Versprechen des Glücks und der Befriedigung, nicht jedoch von der Erfüllung dieser Versprechungen. Auch für die zur „Ware Qualifikation“ reduzierte Bildung trifft dieser Mechanismus immer selbstverständlicher zu. Sie verspricht Glück in Form einer abgesicherten gesellschaftlichen Position, kann dieses Versprechen jedoch immer weniger einlösen, je mehr Menschen an das Glücksversprechen glauben und „Bildung“ in der Hoffnung auf Aufstieg konsumieren.

Das zwar auch heute weitgehend nur formal eingelöste sowie über eine Vielzahl gesellschaftlicher Mechanismen gebrochene und unter-laufene Eingangsversprechen der Moderne, daß prinzipiell jedem jede gesellschaftliche Position offensteht und die Bereitschaft zur Leis-tungserbringung über die erreichbare gesellschaftliche Position ent-scheiden soll, führt in Kombination mit der sich zunehmend heraus-bildenden post-fordistischen, „gespaltenen Gesellschaft“ dazu, daß die Bedeutung definierbarer, auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit be-zogener Kenntnisse und Fertigkeiten derzeit relativ abnimmt, dagegen die Bereitschaft, sich dem Zwang zu unterwerfen, „besser als andere“ zu sein, zur Primärtugend wird, um am Arbeitsmarkt reüssieren zu können. Im Gegensatz zum „Richtig“, das immanent eine Grenze beinhaltet, kann „Besser“ jedoch immer noch besser werden; besser ist nach oben offen, es ist durch nichts begrenzt. „Wer aufgehört hat, besser zu sein, hat aufgehört, gut zu sein“25 ist dementsprechend nicht bloß ein Slogan zur Steigerung der Arbeitsbereitschaft der sich selbst

25 Konzernzeitung „Audi mobil“, zit. nach „Profil“ 14/2. April 1991.

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disziplinierenden Arbeitnehmer eines Automobilwerks, sondern ein zentrales Ideologieelement der post-fordistischen Gesellschaft über-haupt.

Ganz wesentlich ist dabei, daß sich das geforderte „Besser“ nicht an einem ethisch oder ideologisch legitimierten Ziel mißt, sondern einzig und allein am Ziel der Vermarktbarkeit. Besser ist, was sich besser verkaufen läßt, was sich im System der Mehrwertproduktion als effektiver herausstellt. Besser ist demgemäß auch derjenige, der sich selbst in dem, der maximalen Mehrwertproduktion geschuldeten, allumfassenden Konkurrenzkampf so vollständig als möglich zur Ware degradiert. Derjenige also, der bereit ist, seine Persönlichkeits-merkmale weitestgehend zu relativieren beziehungsweise – noch bes-ser, der erst gar keine stabile Persönlichkeit im klassischen Sinne ausbildet, sondern flexibel mit den jeweiligen Bedingungen des Mark-tes „mitgeht“. Ganz unverblümt lautet dementsprechend die postmo-dern-euphorische Botschaft: „Das Ideal der stimmigen, ja selbst der klassisch starken Persönlichkeit hat offenbar inzwischen ausgespielt. […] Ähnlich das Ideal der »reifen« Persönlichkeit. Das heißt der sta-bilen, in sich ruhenden […], die ihre Identität gefunden [hat]. Statt dessen erweist sich zunehmend der vormals »unreife«, adoleszente Typ mit seiner ständig wechselnden, experimentellen Identität als

funktional für die schnell wachsenden Anforderungen der postindus-triellen Gesellschaft.“ Die neuen beruflichen Anforderungen „in der Epoche pluralistischer Guerrilla-Konkurrenz“ erfordern eben – so wird begeistert argumentiert – den „kreativen Opportunisten“. Die Folge ist, daß nun die „Wandlungsfähigkeit selbst zu einer Tugend [wird], ganz unabhängig vom Inhalt, unabhängig davon, wofür man offen ist“26. Und selbstverständlich auch unabhängig von irgendwel-

26 Gebhardt, E.: Abschied von der Autorität. Die Manager der Postmoderne. Wies-

baden 1991, S. 38, 12 und 11, Hervorhebungen E.R. Der Autor, Dr. Eike Geb-hard – Kultur- und Sozialwissenschafter der an verschiedenen Universitäten lehrt – gibt an, mit seinem auf postmoderner Philosophie aufbauenden Buch „Einsich-

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chen idealistischen Vorstellungen über die „entfaltete Persönlichkeit“. Denn wenn auch ein berühmt gewordenes Graffiti postuliert: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein“, definiert – wie schon im-mer im Kapitalismus, so auch unter post-fordistischen Bedingungen – die Ökonomie, was eine Tugend ist!

Unmündigkeit und Intelligenz müssen verschmelzen – selbstrefle-xives Denken ist kontraproduktiv für die Wachstumsökonomie, ge-braucht wird, wer nur das Lernen gelernt hat. Diese Tatsache wird konsequent übersehen, wenn verschiedentlich euphorisch der persön-lichkeitsbildende Aspekt der sogenannten Schlüsselqualifikationen hervorgehoben wird. Auch Autoren, denen es an anderen Stellen durchaus nicht an einer kritischen Einschätzung der persönlichkeits-prägenden Effekte der Berufsausbildung fehlt, nehmen in diesem Zusammenhang einen erstaunlich idealisierenden Standpunkt ein. Stellvertretend für eine Reihe von Autoren, die glauben, daß unter den heraufdämmernden neuen arbeitsorganisatorischen und technologi-schen Bedingungen der Berufs- und Arbeitswelt der alte Widerspruch zwischen Bildung und Ausbildung obsolet wird und „Persönlichkeits-entfaltung“ nun zu einem Ziel der Fachausbildung aufrückt, seien hier Brater/Büchele/Fucke/Herz zitiert. Sie stellen für „die Berufsausbil-dung in ihrer überkommenen Form“ zwar kritisch fest, daß diese „ein »heimliches Curriculum« der Prägung von Denkweisen und Hal-

ten und Orientierungshilfen auf Basis handfester sozialpsychologischer Erkennt-nisse“ geben zu wollen. „Erkenntnisse, die gerade in der persönlichen Neu-Orientierung erfrischende Wahrheiten ohne Rücksicht auf überholte Moralvor-

stellungen zutage fördern“ und helfen sollen, „nicht nur den Managementalltag, sondern auch die persönliche Lebensgestaltung [zu] entschlacken und berei-

chern“ In diesem Sinn fordert er: „Auch im menschlichen Umgang müssen An-gebot und Nachfrage die Arten der Kommunikation regeln. Natürlich gibt es wie überall auch hier Freihandelszonen, Sonderangebote, Geschenke, aber es gibt, selbst wenn uns diese Terminologie nicht schmeckt – menschliche Umgebung sollte doch frei sein von solchen rüden Mechanismen –, wir wissen’s alle, auch hier Investitionen, Risiken, Rendite, Konkurrenz, Gewinner, Verlierer.“ (Her-vorhebungen E.R.).

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tungsmustern, Orientierungen und personalen Grundfähigkeiten [ent-hält], die tatsächlich mit keinem der pädagogischen Bildungsbegriffe vereinbar ist“27. Bei der Einschätzung der „modernen“ Berufsausbil-dung entsteht allerdings der Eindruck, daß der Wusch der Autoren zum „Vater ihrer Analyse“ geworden ist, wenn sie enthusiastisch pos-tulieren, daß es neuerdings um die „Grundlage für selbständiges Han-deln“ und die „Autonomie der Persönlichkeit“ geht und daß „moderne Berufsausbildung wirklich tätig einlösen muß, was in der neuhuma-nistischen Bildungsphilosophie stets nur Programm geblieben ist“28.

Die von ihnen massiv befürworteten „Schlüsselqualifikationen“ bezeichnen die Autoren als „durchwegs »persönlichkeitsbezogene« Qualifikationen“29, und eine Berufsausbildung, die auf Schlüsselqua-lifikationen abzielt, ist, ihrer Meinung nach, „Persönlichkeitsbildung“ im besten humanistischen Sinne. Im Sinne ihrer engagierten Partei-nahme für eine Bildung, die im Dienste einer Entfaltung der Persön-lichkeit steht, postulieren sie begeistert: „Die Arbeitsverhältnisse heu-te verlangen ganz konkret eine »Entfaltung der Persönlichkeit«, eine Entwicklung autonomer Handlungsfähigkeit, Vielseitigkeit und »mo-ralischer Reife« als konstitutive Elemente dessen, was heute real »Persönlichkeit« sein kann. Ihre pragmatischen Lernziele konvergie-ren zusehends mit den humanen Bildungszielen der allgemeinen Bil-dung.“ Zwar schränken die Autoren das von ihnen gezeichnete positi-ve Bild ein wenig ein, indem sie einräumen, daß man die Entwicklung auch „unter dem Gesichtspunkt einer Perfektionierung der Ausbeu-tung sehen“ kann. Dennoch fassen sie in unverändert-idealistischer Diktion zusammen: „Tatsache bleibt jedoch, daß mit dieser Triebkraft aus den technisch-ökonomischen Wurzeln der Gesellschaft zumindest die Chance besteht, daß diese Bildungsziele (gemeint ist die Entfal-

27 Brater, M./Büchele, U./Fucke, E./Herz, G.: Berufsbildung und Persönlichkeits-

entwicklung. Stuttgart 1988, S. 38. 28 Ebda., S. 56 und 57. 29 Ebda., S. 76.

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tung der Persönlichkeit) nun – im Unterschied zu den Allgemeinbil-dungsdeklarationen der Vergangenheit – gewissermaßen subversiv – im Heydornschen Wortgebrauch – realisiert werden.“30

Die zitierten Aussagen stellen eine für die optimistische Behaup-tung von den persönlichkeitsentfaltenden Potentialen der neuen Ar-beitswelt durchaus typische, argumentative Kapriole dar. Erstaunli-cherweise gehen die Autoren ja eigentlich von einem materialisti-schen Standpunkt aus, wenn sie feststellen, „daß die Bildungsverläufe und Bildungsmöglichkeiten einer Epoche keine Frage subjektiver Entscheidungen oder philosophischer Ideen sind, sondern ganz ent-schieden gebunden [sind] an das zentrale gesellschaftliche Lernfeld – nämlich die Arbeit und ihre jeweiligen historischen Verhältnisse“. Aber genau das läßt ihre Annahme, daß sich der die pädagogische und insbesondere die berufspädagogische Diskussion prägende Gegensatz zwischen Mündigkeit und Brauchbarkeit heute quasi deshalb auflöst, weil die Verzweckung des Menschen unter die Bedingungen der Ar-beit neuerdings auf den unverzweckten Menschen abzielt, ganz be-sonders widersprüchlich erscheinen. Wenn im Gegensatz zur bisheri-gen – den „alten“ Anforderungen der Arbeitswelt geschuldeten – Re-duzierung der Arbeitenden auf reagierende Funktionen von der neuen Betriebsorganisation nun der mündige, ich-starke Mitarbeiter mit einem hohen Maß an persönlicher Autonomie gefordert wird, würde das ja nichts anderes bedeuten, als daß sich der selbstbestimmte Mensch als besonders brauchbar herausgestellt hätte. „Brauchbar“ heißt aber nichts anders, als nützlich zu sein, für einen vorherbe-stimmten, fremden Zweck und steht damit im diametralen Gegensatz zur Selbstbestimmung, die auf keinen fremden Zweck, sondern einen selbsterkannten Sinn bezogen ist.

Tatsächlich geht es heute nicht um eine Renaissance der humanis-tischen Bildungsidee „im Gleichschritt mit wirtschaftlichen Interes-

30 Ebda., S. 58.

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sen“, sondern um das Ausmerzen eines am unverzweckten Menschen orientierten Bildungsbegriffs durch das Verleugnen der Sinnfrage als das konstituierende Merkmal der autonomen Persönlichkeit. Bei der heute immer wieder vorgebrachten Mahnung, daß für das Funktionie-ren in der Arbeitswelt „Regelwissen und Anwendungskönnen“ bald nicht mehr ausreichen werden, weil zunehmend die selbständig pla-nende, durchführende und kontrollierende Person notwendig sei, wird normalerweise auf etwas ganz Wesentliches vergessen: auf den struk-turierenden Zweck des Ingangsetzens von Arbeitsprozessen im Rah-men der kapitalistischen Ökonomie. Die mit dem Etikett der „entfalte-ten Persönlichkeit“ versehene umfassende Selbständigkeitsforderung an den „neuen Arbeiter“, nunmehr „aus eigener Handlungsquelle, aus eigenem Ich heraus, aus seiner persönlichen Verantwortung seiner eigenen Entscheidungs- und Gestaltungskraft Prozesse in Gang zu setzen und Abläufe zu gestalten“31, gilt nur unter der Voraussetzung

einer Unterordnung unter die Absolutsetzung der ökonomischen Ver-

nunft. Das Denken ist in Zwänge hinein freigesetzt, Selbständigkeit, Autonomie und Eigenverantwortung sind gefordert, auf der Grundla-ge eines vorher klammheimlich erzielten Konsenses über die Zielset-zungen all der „eigenverantwortlich“ zu treffenden Entscheidungen – die Produktion von Mehrwert.

Wenn postuliert wird, daß in Zukunft die „Haupttugend“ der „Per-sönlichkeit des Arbeitenden“ nicht mehr darin bestehen darf, „sich exakt an Regeln zu halten und diese anzuwenden, sondern [es] neuer Anforderungskern wird, in Situationen zu handeln und Probleme zu meistern, für die es keine Regeln gibt“32, wird geflissentlich überse-hen, daß die Richtschnur für das selbst zu bewältigende Meistern der Probleme sehr wohl schon festgelegt ist, und zwar durch die ökono-

31 Bojanowski, A./Brater, M./Dedering, H.: Qualifizierung als Persönlichkeitsbil-

dung. Analysen und Ansätze zur Verbindung von Arbeit und Lernen in Schule und Betrieb. Frankfurt a.M. 1991, S. 108.

32 Ebda.

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mische Struktur, innerhalb deren die „selbständige“ Arbeitsleistung dem vorgeblich eigenverantwortlichen Individuum abverlangt wird. Nicht die eine autonome Persönlichkeit kennzeichnende Ausrichtung ihres Handelns an einem selbsterkannten „Sinn“ gibt die Richtung vor, nach der „selbst Regeln gesetzt“ und „Anwendungen definiert“ werden können, sondern die durch die kapitalistische Ökonomie dik-tierten Sachzwänge. Es geht um Produktivitätssteigerung, um Ab-satzmärkte, um Konkurrenz und Profit. Im Rahmen der Mehrwertpro-duktion gilt es zu funktionieren, die persönlichkeitsdefinierende Frage nach einem übergreifenden Sinn ist längst vom übermächtigen öko-nomischen Zweck verdrängt und würde das Individuum im letzter Konsequenz auch bloß unbrauchbar machen für den Prozeß der Ar-beitskraftverwertung.

„Die Anpassung an die Sachzwänge verdrängt das Nachdenken über die Ursachen und Auswirkungen der Sachzwänge“33. Im Sinne einer profitablen Verwertung der Menschen in Arbeit und Konsum ist sicher nicht das mündige Subjekt gefragt, das die kritische Frage nach dem Sinn einer Existenz stellt, die zunehmend herrischer einem durch die Profitökonomie determinierten Wachstum unterstellt ist, von dem niemand weiß, wie nahe es uns schon an die ökologische und soziale Katastrophe herangeführt hat, und diese Frage zum Anlaß nimmt, um über die strukturellen Bedingungen und die Folgen seiner Berufsarbeit nachzudenken. Die post-fordistische Wirtschafts- und Gesellschafts-ordnung braucht den Menschen, der die dem Kapitalismus geschulde-te Notwendigkeit der permanenten Produktivitätssteigerung so weit verinnerlicht hat, daß er bereit ist, sein sich nur über die Sinnfrage

konstituierendes Selbst aufzugeben und seinen Wunsch nach Leben-digkeit freiwillig am Altar des ökonomischen Wachstums zu opfern. Gefordert wird die autonom-verzweckt handelnde Person, die sich ganzheitlich der ökonomischen Logik unterordnet und selbst-los dem

33 Lenz, W.: Emanzipatorische Erwachsenenbildung. Bildung für Arbeit und De-

mokratie. Versammelte Aufsätze. München 1989, S. 103.

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wirtschaftlichen Nutzen dient. Die Schlüsselqualifikationen beziehen ihren Namen ja auch nicht daraus, weil sie vorgeben, einen Schlüssel zur umfassenden Entwicklung der Persönlichkeit darzustellen, son-dern weil sie angeblich das Tor zur Berufstätigkeit – unter den ent-

fremdeten Bedingungen der profitökonomisch-kapitalistischen Wirt-schaftsordnung (!) – aufschließen.

Die Triebkraft des wirtschaftlichen Geschehens unter den Bedin-gungen der kapitalistischen Ökonomie ist selbstverständlich auch unter den Begleitumständen der neuen technologischen und arbeitsor-ganisatorischen Möglichkeiten dieselbe geblieben. Es geht um die Verwandlung von Geld in mehr Geld, darum, daß das in ein Unter-nehmen investierte Kapital eine möglichst hohe Rendite bringt. Die Form, wie dieses Ziel optimal umgesetzt werden kann, ist abhängig vom Grad der Entfaltung der Produktivkräfte, und erfordert im fortge-schrittenen, post-fordistischen Kapitalismus eben eine „ganzheitliche Nutzung der Arbeitskraft“. Die dementsprechend eingeforderte „Bin-dung des »ganzen Menschen« und nicht mehr nur einzelner Teile“ an das Unternehmen macht Arbeitnehmer „mit komplexen Fähigkeiten auf intellektuellem, motivationalem und sozialem Gebiet“34 notwen-dig. Diesen Menschen heranzubilden ist die Aufgabe der neuen, unter der Zielsetzung der „Schlüsselqualifikationen“ antretenden berufli-chen Ausbildungsmethoden. Im Hinblick darauf, daß für den Bereich der Ausbildung in einem Unternehmen die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie ja nicht plötzlich außer Kraft gesetzt sind, müssen sich auch die in die Ausbildung der Beschäftigten investierten Kosten rentieren. Dementsprechend vermittelt Ausbildung auch wei-terhin ausschließlich vermarktbare Qualifikationen, das heißt solche, die den „Abnehmern der Ware Arbeitskraft“ wirtschaftliche Vorteile versprechen. Als ein Element im Prozeß der Kapitalvermehrung steht

34 Maier, W.: Arbeitstugenden im Wandel. Ein Vorschlag zur Strukturierung einer

höchst aktuellen Debatte. In: „Journal für Sozialforschung“ 27 (1987) 3/4, S. 324.

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die Berufsausbildung unter dem „Primat der Nützlichkeit“ für Zwecke außerhalb der individuellen Entwicklung. – Das heißt nicht, daß – im Sinne einer jedem (Aus-)Bildungsgeschehen innewohnenden Dialek-tik – nicht auch durch verzwecktes Lernen ein Prozeß des Mündig-werdens ausgelöst werden kann und das Denken der unter dem Nütz-lichkeitsprimat Ausgebildeten zur Sinnfrage führen kann, somit also jene Grenze überschreitet, die durch den Zweck, für den es in Gang gesetzt wurde vorgegeben ist.35 Im Sinne der ökonomisch verzweck-ten Ausbildung wäre eine solche Entwicklung jedoch kontraproduktiv einzuschätzen, also im höchsten Maße „unnütz“.

Nicht nur Hannah Arendt hat darauf aufmerksam gemacht, daß Nutzen und Sinn Begrifflichkeiten unterschiedlicher Ebenen sind und daß eine Orientierung an der Nützlichkeit nicht imstande ist, dem Leben Sinn zu geben, sondern letztendlich nur zur Sinnlosigkeit führt. Die Sinnfrage ist die zentrale Fragestellung jeder auf Mündigkeit ausgerichteten Bildung, rückt sie aus dem Horizont menschlichen Denkens, und ordnet sich der Mensch einem nicht mehr hinterfragten Zweck unter, geht auch die Utopie einer verantworteten Geschichte (jener begründende Traum der Moderne!) verloren. Die Persönlich-keits-„Bildung“ die sich im Schlüsselqualifikationskonzept wider-spiegelt, zielt nicht darauf ab, den Menschen zu befähigen, sich und die Welt, in der er lebt, zu verstehen und verantwortlich in ihr zu han-

35 Genau das ist auch gemeint, wenn Heydorn über die schlußendliche, subversive

Durchsetzung des emanzipatorischen Auftrags von Bildung scheibt: „Das dialek-tische Verhältnis von Bildung und Herrschaft, der unaufgehobene Widerspruch, wird erst mit der fortschreitenden Geschichte zu seiner vollen Vergegenwärti-gung gebracht; erst mit ihr gewinnt das Handeln einen universellen Charakter. Erst mit der entwickelten Instrumentalisierung von Bildung, ihrem konsequenten Einbezug in das System der gesellschaftlichen Macht, ihrer institutionellen Reife vermag sie auch ihren emanzipatorischen Auftrag wahrhaft zu erkennen und die in ihm enthaltene Konsequenz zu ziehen; erst nachdem sie, mit wachsender Ent-lastung der Produktivkräfte, zum notwendigen Bestandteil aller Herrschaft ge-worden ist, vermag sie sich in Wahrheit gegen die Herrschaft zu richten. Hey-dorn, a.a.O., S. 9.

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deln, auch eine dergestalt ausgerichtete berufliche Ausbildung „ver-fälscht die Frage nach Sinn zu der nach Nützlichkeit“36. Der Mensch wird, indem die Handlungsaspekte der mündigen und autonomen Persönlichkeit von der Sinnfrage abgekoppelt werden, zur Marionette eines zum Götzen erhobenen ökonomischen Nützlichkeitsdenkens degradiert.37 In Anlehnung an den Begriff der „Schein-Heiligkeit“ könnte man in diesem Zusammenhang von einer „Schein-Persönlich-keit“ reden. Gefragt sind unter den neuen organisatorischen und tech-nologischen Arbeitsbedingungen nicht „autonome Persönlichkeiten“, sondern ein – im Dienste des Unternehmensziels und der an Wachs-tum gekoppelten Profitlogik– autonom handelndes Personal. Da paßt es dann sehr gut, wenn für den „neuen“ Menschen unter postmoder-nen Lebens- und Arbeitsbedingungen postuliert wird, daß für ihn „Schein wichtiger wird als Sein“38.

36 Aus einer Aussendung des Zentralkomitee der Deutschen Katholiken; zit. nach

Geißler, K.A.: Berufliche Weiterbildung im Aufbruch. Vortragsmanuskript (hekt.).

37 Wie schon im vorigen Kapitel dargestellt, wird zunehmend auch in den Unter-nehmen erkannt, daß der ultimative Einsatz der Arbeitenden davon abhängig ist, wieweit sie in ihrer Tätigkeit einen Sinn sehen, der über das bloße Geldverdienen hinausgeht. Im Zuge der verstärkten psychischen Ausbeutung der Arbeitnehmer rückt damit das elementare Bedürfnis des Menschen, seiner Existenz einen trans-zendenten Sinn zu geben und sich damit über das Diesseits zu erheben, immer mehr in den Fokus arbeitskräftemotivierender Maßnahmen. Die amerikanischen Unternehmensberater Peters und Waterman stellen bei Forschungen zu der Fra-ge, was ein Unternehmen „erfolgreich“ werden läßt, fest, daß eine in sich schlüs-sige Firmenkultur und eine „überaus reiche Mythologie“ dem genuin menschli-chen Streben nach „Transzendenz“ entgegenkommt. Denn, so folgern sie, „das Streben nach Sinn ist so stark, daß die meisten Menschen für Institutionen, die ihnen dies bieten, bereitwillig viel an persönlicher Freiheit aufgeben.“ Und die Sicherheit, die eine sinnvermittelnde Firmenkultur den Menschen zu vermitteln scheint, ist es auch, die es japanischen Firmen ermöglicht, „rücksichtslos zu re-organisieren“ und Arbeitskräfte je nach Bedarf im Unternehmen zu rochieren. „Firmenkultur“ als Lebenssinnsurrogat – ebenfall ein Aspekt des profitsichern-den Zugriffs auf die „Herzen und Köpfe“ der Beschäftigten! Vgl.: Pe-ters/Waterman,a.a.O.

38 Gebhardt, a.a.O., S. 37.

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Während eine auf Mündigkeit ausgerichtete Erziehung in letzter Konsequenz immer subversiv wirkt, indem sie darauf abzielt, Herr-schaft abzutragen, und ihr dementsprechend immer auch das Moment des Widerstandes gegen das Diktat der Ökonomie innewohnt, werden durch eine Orientierung der beruflichen Bildung an der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen die Machtverhältnisse im System der beruflich organisierten Arbeit in keiner Weise berührt. Wenn derzeit behauptet wird, daß die Bedeutung der traditionellen Anpassungs- und Unterordnungstugenden, wie Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Pflichttreue (Unternehmenstreue), heute abnimmt und an ihre Stelle der Erwerb von Flexibilität, Handlungsfähigkeit und ganzheitlicher Sichtweise tritt, ist zuallererst einmal die grundsätzliche Frage ange-bracht, ob auf das Antrainieren der „veralteten“ Arbeitstugenden in beruflichen Erziehungsprozessen nicht bloß deshalb weniger Wert gelegt werden kann, weil diese heute im Rahmen der Primärsozialisa-tion schon perfekt verinnerlicht werden. Denn außer einer verschwin-dend geringen Anzahl von Arbeitnehmern in künstlerisch-kreativen Nischen des Beschäftigungssystems wird wohl auch weiterhin kaum jemand ohne diese angeblich „veralteten“ Unterordnungstugenden einen Lohn-Arbeitsplatz finden. Aber auch wenn von einer Verände-rung der Qualifikationsanforderungen in die Richtung des eigenver-antwortlich und selbständig tätigen Arbeitnehmers ausgegangen wird, bedeutet das sicherlich nicht, daß berufliche Ausbildung nun auf Per-sönlichkeitsbildung und Selbstverwirklichung abzielt beziehungswei-se auf die Befähigung, die Bedingungen der (beruflichen) Selbstver-wirklichung zu erkämpfen. Genau darin würde aber die Zielsetzung einer beruflichen Mündigkeit im Gegensatz zu jener der beruflichen Brauchbarkeit liegen.

Ein Berufsausbildungskonzept, das auf dem arbeitsfunktionellen Aspekt aufbaut, muß – egal welchen Charakter die durch den Ver-wertbarkeitsanspruch vorgegebene Qualifikationsforderung auch an-nimmt – im Hinblick auf eine pädagogische Zielsetzung immer zu

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kurz greifen. Denn immanent geht ein solches Konzept von einer Sichtweise aus, die den arbeitenden Menschen als Objekt und nicht

als Subjekt im Produktionsprozeß begreift. Es zielt auf Anpassung und Zurichtung ab, auch dann, wenn Postulate mit einer hohen Affini-tät zur traditionell-pädagogischen Vorstellung vom mündigen Sub-jekt, wie „Selbstbestimmung“ und „Selbständigkeit“, zum Ziel der Qualifikationsprozesse erklärt werden. Das finale Ziel eines arbeits-funktionell ausgerichteten berufs-„pädagogischen“ Konzepts ist das Funktionieren unter bestimmten – dem jeweiligen Stand der Produk-tivkraftentwicklung und dem Konkurrenzdruck geschuldeten – struk-turellen Bedingungen gesellschaftlich organisierter Arbeit. Dabei kann es jedoch nie um die Befähigung gehen, die gegebene Berufs- und Arbeitswelt, ihre Nutznießer und ihre Folgen zu durchschauen und dazu kritisch Stellung beziehen können und sicher auch nicht darum, die (zukünftigen) Beschäftigten in die Lage zu versetzen, die Arbeitsweltstrukturen – auch grundsätzlich, unter dem Gesichtspunkt eines Relativierens der Logik der kapitalistischen Ökonomie – im Sinne ihrer eigenen Bedürfnisse und Interessen beeinflussen zu kön-nen. Das selbstbestimmte, (beruflich) mündige Subjekt definiert sich aber gerade über die Fähigkeit, auf der Basis reflektierten Wissens über Ursachen, Zusammenhänge und Auswirkungen der Rahmenbe-dingungen, unter denen Lohnarbeit stattfindet, in diese – unter Über-windung einer verinnerlichten ökonomischen Logik – eingreifen zu können.

Die autonome, selbstbestimmte Persönlichkeit zum Ziel einer zweckorientierten Ausbildung zu deklarieren, stellt einen Wider-spruch in sich dar. Wenn die sich selbst bestimmende Person Gegens-tand von Strategie und Kalkulation einer auf das Funktionieren unter den entfremdeten Arbeitsbedingungen ausgerichteten beruflichen Ausbildung ist, geht es bloß noch um eine Verhaltenskategorie.39

39 Unter Fortführung des Gedankens von Lisop, daß Schlüsselqualifikationen in

ihrer realen Umsetzung an dem vorbei gehen, was als polytechnische Bildung

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Unter den Begleitumständen einer Ökonomie, in der es primär um die Vermehrung investierten Kapitals geht und die Befriedigung mensch-licher Bedürfnisse bloß einen Nebeneffekt darstellt, ist die Entfaltung von Selbstverwirklichungspotentialen nur in einer, um ihren konstitu-ierenden Kern reduzierten Form möglich. Geißler/Kutscha stellen diesbezüglich fest, daß der paradoxe Effekt kapitalistischer Moderni-sierung – ein „Gewinn an Selbstverwirklichungs-Möglichkeiten“ wird errungen durch einen gleichzeitigen „Verlust an Selbstverwirkli-chungs-Chancen“ – auch auf die gegenwärtigen neuen Trends in der Berufsausbildung zutrifft: „Nicht nur für die kommunikativen Ver-nunftpotentiale gilt der von Habermas als »paradoxe Gleichzeitigkeit« charakterisierte Prozeß kapitalistischer Modernisierung. Er gilt auch für soziale Handlungsmöglichkeiten: daß diese nämlich gleichzeitig entfaltet und entstellt werden. Will man polemisch sein, ließe sich behaupten, daß das Ende der Idee vom selbstbestimmten bürgerlichen Subjekt am deutlichsten dadurch zum Ausdruck gebracht wird, daß diese Idee jetzt auch für die Facharbeiter (beziehungsweise deren

längst angedacht und didaktisch zum Teil verwirklicht ist, konstatiert auch Hui-singa eine Reduktion des Schlüsselqualifikationskonzepts auf den Bereich der Schulung des Sozialverhaltens. Die von Mertens angepeilte wissenschaftspropä-

deutische Bildung für alle – also eine kritische Auseinandersetzung mit den strukturellen Gegebenheiten von Arbeit und Beruf, die die Selbstverwirklichung des Menschen in den Mittelpunkt der Reflexion stellt – fand bisher in der realen Umsetzung, wie Huisinga am Beispiel des vielbeachteten und mit öffentlichen Mitteln geförderten Modellversuchs „PETRA“ (Projekt- und transferorientierte Ausbildung) der Siemens AG (BRD) zeigt, nicht statt und wird auch in den di-versen Ausführungen zum Schlüsselqualifikationskonzept kaum angesprochen. Die Ursache dafür sieht Huisinga in der fehlenden bildungswissenschaftlichen Positionierung des Schlüsselqualifikationskonzeptes, also darin, daß das Konzept nicht durch pädagogische Zielsetzungen, sondern arbeitsmarktpolitische Überle-gungen legitimiert ist. Ganz im Sinne der Ausrichtung am Verhaltensaspekt stellt Huisinga auch fest, daß im Zusammenhang mit den Schlüsselqualifikationen die Organisationsform der Ausbildung und die Ausbildungsmethoden deutlich im Vordergrund der Überlegungen der meisten Rezensenten stehen. Huisinga, R.: Schlüsselqualifikation und Exemplarik. In: Harney, K./Pätzold, G. (Hg.): Arbeit und Ausbildung, Wissenschaft und Politik. Frankfurt a.M. 1990.

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Ausbildung) praktisch werden soll. Die Lösung von antiquierten, be-triebsfeudalistischen Bedingungen und Abhängigkeiten ist nur eine Teilfreiheit. Sie bleibt innerhalb der Systemzwänge des modernen Kapitalismus notwendigerweise beschränkt. Die Gleichgültigkeit der kapitalistischen Warenproduktion vermag der neu gewonnenen Frei-heit (auf der Basis entwickelter neuer Fähigkeiten) kein substantielles Fundament zu geben. Die Entwicklung von Subjektivität dient der Verfeinerung des Marketing-Ich.“40

Der den post-fordistischen Tendenzen der Arbeitskraftverwertung in Richtung „ganzheitlicher Nutzung“ geschuldete Schlüsselqualifika-tionsbegriff intendiert, seinem kolportierten Anspruch nach, zwar den „ganzen Menschen“ – durch geeignete berufliche Lernarrangements soll das kreative, selbständige, souveräne Subjekt heran-„gebildet“ werden. Dieser umfassende Anspruch kann aber aus Gründen der einengenden Bedingungen kapitalistischer Systemrationalität nicht eingelöst werden; zugleich ist er paradox, weil er selbst Produkt kapi-talistischer (einengender) Rationalität ist und darauf abzielt, diese aufrechtzuerhalten. Eine umfassende Entfaltung menschlicher Poten-tiale stellt im Hinblick auf deren Verwertung unter politisch-ökonomischen Begleitumständen, die der souveränen Persönlichkeit entgegenstehen, einen unauflöslichen Widerspruch dar – verzweckte Ausbildung kann (zumindest offiziell) nicht ihrem Zweck entgegen-arbeiten. Die in den letzten Jahren propagierten, als „ganzheitlich“ bezeichneten neuen Methoden beruflicher Aus- und Weiterbildung sind in diesem Sinn einzuschätzen. Ihre Ausrichtung am mündigen

Subjekt stellt sich unter den Begleitumständen der kapitalistischen

Arbeitskraftverwertung als bildungshumanistisches Alibi heraus. Die unter dem Titel „Schlüsselqualifikationen“ eingeforderte Ver-

haltensdisposition von (potentiellen) Arbeitnehmern meint nichts anderes als „die Aufforderung zur Selbstmodernisierung im Rahmen

40 Geißler/Kutscha, a.a.O., S. 25, unter Verweis auf Habermas, J.: Der philosophi-

sche Diskurs der Moderne (Frankfurt a.M. 1985, S.367).

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modernisierter Unternehmensverhältnisse. Es ist der konkrete Aus-druck des Sachverhalts, daß in der modernisierten Moderne (im Post-Fordismus – E.R.) die Idee der Selbstverwirklichung für den kapitalis-tischen Verwertungsprozeß nützlich ist beziehungsweise nützlich gemacht werden kann. Man investiert ins Humankapital, und dabei geht es um Personalentwicklung und nicht um Persönlichkeitsent-wicklung. Und entsprechend dem Universalitätsprinzip der Ware werden auch jene universellen Qualifikationen angestrebt, die die Abstraktion von Raum und Zeit am reinsten zum Ausdruck bringen. Im Konzept der Schlüsselqualifikationen ist die Interesselosigkeit am Arbeitsinhalt und die Selbstverleugnung der beteiligten Personen bisher am weitesten realisiert.“41

Noch ein weiterer Widerspruch offenbart sich im Zusammenhang mit dem Postulat einer Ausrichtung der beruflichen Bildung an Schlüsselqualifikationen. So signalisiert zwar der Terminus selbst sowie die kometenhafte Karriere, die der Begriff seit seinem Entste-hen durchlaufen hat, daß das Konzept klar voneinander abgrenzbarer spezifischer Anforderungen, die eine dauerhafte Charakterisierung verschiedener Berufe ermöglichen, nicht mehr durchzuhalten ist. Die sich aus neuen technologischen und arbeitsorganisatorischen Mög-lichkeiten ergebenden Veränderungen der Anforderungsprofile in den traditionellen Berufen sowie das Heranwachsen völlig neuer Arbeits-felder durch die Kombination von Anforderungsanteilen ehemals klar voneinander abgegrenzter Berufe lassen den Faktor „Beruf“ als Struk-turierungsmerkmal des Beschäftigungssystems zunehmend unbrauch-barer erscheinen. In logischer Konsequenz bedeutet das aber auch ein Fragwürdigwerden des heutigen Systems voneinander klar abgegrenz-ter und an konkreten, speziellen Einzelberufsanforderungen ausge-

richteter Ausbildungswege. Denn auch wenn man der Argumentation folgt, daß „die inhaltliche Präzisierung berufsübergreifender Qualifi-

41 Ebda., S. 26, Hervorhebungen E.R.

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kationen […] sich zunächst am spezifischen Arbeitsbereich eines Berufs orientieren [muß]“42, bleibt die Tatsache bestehen, daß nicht für einen bestimmten Einzelberuf, sondern für eine zukünftige, bezüg-lich ihrer Anforderungen und (beruflichen) Strukturierung völlig un-gewisse Arbeitswelt vorbereitet wird und daß eine Fokussierung der Ausbildung auf die Anforderungen eines Einzelberufs im Sinne der tendenziellen Entberuflichung der Arbeitswelt einen Anachronismus darstellt.

Aber obwohl seit der „Inauguration“ des Schlüsselqualifikations-begriffs die Appelle, hinsichtlich einer Orientierung von Ausbil-dungsgängen an Begrifflichkeiten mit Universalitätsanspruch – wie beispielsweise „Ganzheitlichkeit“, „Handlungsorientierung“ oder „Selbständigkeit“ –, nicht abreißen, wird über die Konsequenz eines Aufsprengens der traditionellen Einzelberufsausbildung kaum gespro-chen. Das was sich vordergründig als „Entberuflichung“ der Ausbil-dung darstellt – die intendierte Ausrichtung an Ausbildungszielen mit einem hohen Grad an Allgemeinheit – hat das System des einzelberuf-

lich strukturierten Ausbildungssystems und die entsprechenden Selek-tionsprozesse bis heute faktisch überhaupt nicht berührt. In nahezu allen Diskussionen um die Schlüsselqualifikationen wird davon aus-gegangen, daß im gegenwärtigen System einer Ausbildung, die in spezifischen Berufen (die es in einigen Jahren vielleicht überhaupt nicht mehr, sicher aber nicht mehr in Form der derzeitigen Anforde-rungsprofile geben wird) erfolgt, jene berufsunspezifischen Qualifika-tionen erworben werden können, die es jemandem ermöglichen, flexi-bel auf die sich permanent verändernden Anforderungen des Beschäf-tigungssystems zu reagieren; daß die mit einer Ausbildung verbunde-

nen Berechtigungen hinsichtlich Bezahlung und Einstufung jedoch

dennoch an das Merkmal „Beruf“ gekoppelt bleiben.

42 Vgl: Laur-Ernst (1983), hier zit. nach Huisinga, a.a.O., S. 263.

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Auch in diesem Zusammenhang offenbart sich der Charakter der sich über das Schlüsselqualifikationskonzept realisierenden Flexibili-tätsforderung: Pointiert ausgedrückt, geht es heute um das Indivi-duum, dessen Verwendbarkeit zwar durch ein hohes Ausmaß an Fle-xibilität/Mobilität charakterisiert ist, das seine intellektuelle Mobilität jedoch nicht dafür verwendet, gesellschaftliche Widersprüche auf ihren begründenden Kern, nämlich darauf, daß das gesamte System der gesellschaftlich organisierten Arbeit primär der Mehrwertproduk-tion und nicht der Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient, zu hinterfragen. Flexi-bel zu sein, meint unter diesen Umständen somit nicht bloß, sich ver-ändernden Arbeitsanforderungen des Beschäftigungssystems anpassen zu können, sondern auch, sich widersprüchlichen Gegebenheiten und Rollenanforderungen des durch Arbeit definierten sozialen Systems „flexibel anzupassen“, was konkret bedeutet: sie akzeptierend zu er-tragen, ohne zu rebellieren. So sollen die Arbeitenden zwar lernen, sich mit ihrer Arbeit im Sinne eines Beitrags zum Unternehmensziel zu identifizieren, aber dennoch die grundsätzliche Machtverteilung zwischen Kapital und Arbeit nicht anzweifeln; sie sollen anerkennen, daß „alle in einem Boot sitzen“, aber auch akzeptieren, daß der „tech-nische Fortschritt“ gegebenenfalls ihre Entlassung „erforderlich“ macht; sie sollen in ihrer Arbeitsausübung autonom und flexibel sein, sich aber darauf beschränken, kreative Lösungen für die Optimierung der Produktivität und somit auch für die bessere Verwertung ihrer eigenen Arbeitskraft zu finden. Zu guter Letzt sollen sie auch noch „flexibel“ mit dem doppelten Dilemma umgehen, zwar einerseits als Lohnarbeiter untereinander in objektiver Konkurrenz zu stehen, ar-beitsgruppenintern jedoch neuerdings verstärkt kooperieren zu müs-sen, die Kollegen anderer Unternehmungen und zum Teil auch die von anderen Abteilungen als Konkurrenten beim Kampf um die bes-sere Bilanz wahrzunehmen, aber gleichzeitig zu wissen, daß sich ihre

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186 Die Arbeit hoch?

Gesamtsituation als gesellschaftliche Gruppe nur mit solidarischem Handeln verbessern ließe.

Ein Ziel von Bildungsprozessen ist es, Menschen zu befähigen, solche Widersprüche zu erkennen und zu lösen, nicht sie flexible An-passung zu lehren. Bildung zielt auf die entfaltete Persönlichkeit, auf das Individuum, das sein Leben selbstbewußt und mündig auf der Grundlage seiner „Identität“ – also seines „Eigen-Sinns“ – gestaltet und nicht auf einen „Protean Man“43, der – so wie es der Meergott Proteus der Sage nach konnte – jede Gestalt annehmen kann, sich dabei aber nicht mehr selbst kennt und somit identitätslos ist. Schlüs-selqualifikationen zielen unter den Bedingungen der Ausbildung im post-fordistischen Kapitalismus in ihrer realen Konsequenz auf den Menschen, der in der Lage ist, sich fremdbestimmten Gegebenheiten flexibel anzupassen, und nicht auf den Menschen, der sich gegen die Fremdbestimmung zur Wehr setzen kann. Das im Hinblick auf den umfassend flexibilisierten Menschen aufrechterhaltene Postulat der Persönlichkeitsbildung erweist sich damit als bloße Ideologie. Zugleich verschleiert die Vorstellung, daß sich mit dem richtigen Schlüssel das System der kapitalistischen Arbeitskraftverwertung quasi austricksen ließe und Arbeit für alle geschaffen werden könne, die Tatsache, daß über den an der ökonomischen Verwertung orien-tierten Qualifikationserwerb systematisch Ungleichheit produziert und verteilt wird. „Das legitime Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft wird […] auf den Fetisch Schlüsselqualifikationen verschoben, der als symbolische Handlung beziehungsweise Kategorie das Gefühl er-zeugt, »sich zukunftssicher« qualifiziert zu haben beziehungsweise zu qualifizieren“44. Zusammenfassend muß also festgestellt werden, daß

43 Dieser Begriff wurde vom Psycho-Historiker Robert Lifton geprägt, um den

durch das heutige Dauer-Bombardement mit Informationen in seiner kulturellen Selbstverständlichkeit zerstörten neuen „identitätslosen Persönlichkeitstyp“ zu beschreiben. Zit. nach Gebhardt, a.a.O., S. 206.

44 Huisinga, a.a.O., S. 264.

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Schlüsselqualifikationen – Ideologiebegriff des Post-Fordismus 187

eine an ökonomisch verwertbaren Schlüsselqualifikationen ausgerich-tete (Aus-) Bildung immanent der Herausbildung von beruflicher Mündigkeit entgegensteht und ein kritisches Hinterfragen des Sys-tems der Arbeitskraftvernutzung systematisch verhindert.

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6. ENTFREMDUNG – DAS UNVERÄNDERTE MERK-

MAL DER ARBEITS-/FREIZEIT-GESELLSCHAFT

I. DIE ARBEIT HOCH? ODER: DIE ERSTAUNLICHE KARRIE-

RE EINES HISTORISCH SCHWER BELASTETEN BEGRIFFS

Vor dem Tor zur Fabrik

Hält der Arbeiter plötzlich an

Das schöne Wetter hat ihn am Rock gezupft

Und als er sich umwendet

Und die Sonne betrachtet

Die rot leuchtet und blendet

Lächelnd im bleigrauen Himmel

Zwinkert er ihr vertraulich zu

Sag Kamerad Sonne

Meinst nicht auch du

Man sollte sich verdammt bedenken

Einen solchen Tag

Dem Chef zu schenken?

„Die verlorene Zeit“ von Jacques Prevert

Unsere Gesellschaft, die ja nicht umsonst häufig als „Arbeitsge-

sellschaft“ bezeichnet wird, ist – wie schon im ersten Kapitel skizziert wurde – zutiefst von Arbeit geprägt. An der Arbeit hängen Einkom-men und Lebensstandard, Selbstwertgefühl und gesellschaftliche Stel-lung. Arbeit und arbeiten sind mit hohem gesellschaftlichem Prestige belegt, dementsprechend werden auch viele nicht im Zeichen des Erwerbs stehende Tätigkeiten unter dem Begriff „Arbeit“ subsumiert. Da wird von Hausarbeit, von Mütterarbeit, von Nachbarschaftsarbeit

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Entfremdung in der Arbeits- Freizeit-Gesellschaft 189

oder von Friedensarbeit gesprochen, auch die Beziehungsarbeit, Traumarbeit oder Trauerarbeit gehören neuerdings zu unserem ste-henden Wortschatz. Nur weniges am menschlichen Leben scheint vor der Vereinnahmung durch den Arbeitsbegriff sicher zu sein – viel-leicht noch die Nahrungsaufnahme, aber auch nur, wenn es sich dabei nicht um sogenannte „Arbeitsessen“ handelt, der Austausch von Zärt-lichkeiten unter Liebenden und verschiedene Formen der Rekreation und Erbauung.1

Dennoch gilt nicht jede Arbeit als gleich wertvoll. Erst wenn Ar-beit einen Ertrag abwirft, weil die Arbeitsleistung bzw. das Arbeitser-gebnis von einem finanziell potenten Abnehmer begehrt und gekauft wird, also erst wenn es sich um „Erwerbsarbeit“ im weitesten Sinne des Wortes handelt, verspricht die Tätigkeit gesellschaftliches Presti-ge und Anerkennung. Diese Arbeit ist es auch, die für die meisten Menschen unserer Gesellschaft unverzichtbar für ihr Überleben ist, und von entlohnter Arbeit wird auch gesprochen, wenn heute konsta-tiert wird, daß der Arbeitsgesellschaft zunehmend die Arbeit ausgeht.2 Lohnarbeit entwickelt sich zum knappen Gut – zunehmend erhält nicht mehr jeder und jede, der/die arbeiten will beziehungsweise sich nur über diesen Weg eine gesellschaftsadäquate Form der Existenz sichern kann, auch die Gelegenheit dazu. In Österreich werden derzeit die höchsten Arbeitslosenraten seit fast vierzig Jahren verzeichnet, und insbesondere weniger flexibel disponierbare ArbeitnehmerInnen sind immer häufiger auch von sehr langen Arbeitslosigkeitsphasen betroffen. „Ältere“ Arbeitnehmer haben heute in den meisten Bran-chen nur geringe Chancen, nach einem Arbeitsplatzverlust, wieder eine Anstellung zu finden. Da genügend jüngere, vielfach besser be-ziehungsweise „zeitgemäßer und technologieangepaßter“ ausgebildete

1 Vgl: Fischer, a.a.O, S. 169ff. 2 Vgl. Arendt, H.: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München 19896, sowie

Dahrendorf, R.: Geht uns die Arbeit aus? Prognos-Forum Zukunftsfragen, 2/1982, Basel 1983.

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190 Die Arbeit hoch?

und vor allem auch „billigere“ Konkurrenten am Arbeitsmarkt vor-handen sind, werden eher diese statt der teureren und unter Umstän-den sogar krankheitsanfälligeren älteren Bewerber angestellt.3 Fast in allen Industriestaaten ist man heute gezwungen, sich mit dem Problem einer relativ hohen Sockelarbeitslosigkeit auseinanderzusetzen, und abgesehen von konjunkturellen und regionalen Schwankungen ist in den nächsten Jahren eher mit einer Verschlechterung denn mit einer Verbesserung dieser Situation zu rechnen.4

Der bekannte Soziologe Oskar Negt spricht in seinem Buch „Le-bendige Arbeit – Enteignete Zeit“ in diesem Zusammenhang von einem „Grundskandal unserer Gesellschaft“: Die heutige Gesellschaft „droht an ihrem Reichtum und ihrer Überschußproduktion zu erstik-ken und ist gleichwohl außerstande, Millionen von Menschen das

3 Aus- und vor allem Weiterbildung wird in diesem Zusammenhang heute zu einer

beruflichen Überlebensfrage für „ältere“ Arbeitnehmer. Denn schaffen sie die laufend geforderten Qualifikationssprünge nicht, laufen sie Gefahr, früher oder später „ersetzt“ zu werden. Die traditionelle Hemmschwelle gegenüber dem Ent-lassen von langjährigen Mitarbeitern verliert zunehmend an Bedeutung. Immer häufiger entscheidet außerdem der Rechenstift über die (Weiter-)Beschäftigung von „älteren“ Arbeitnehmern. Von jüngeren Arbeitnehmern wird eben nicht nur erwartet, daß sie „flexibler“ sind und sich besser an neue Technologien und Or-ganisationsformen anpassen können, sie sind in der Regel auch „billiger“. Als Folge solcher Überlegungen lag z.B. die Arbeitslosigkeit, der über 50jährigen in Österreich im Jahr 1992 schon um fast drei Prozentpunkte über der durchschnitt-lichen Arbeitlosenquote was wieder dazu führte, daß bereits 23 Prozent der öster-reichischen Arbeitslosen über 50 Jahre alt sind. Vgl. „Wirtschaftswoche“ Nr. 45, 5. Nov. 1992, sowie „Der Standard“ 5. Feb. 1993.

4 In Westeuropa betrug 1992 die durchschnittliche Arbeitslosenrate 9,9%; für 1993 wurde damals von den Experten der OECD eine Steigerung auf durchschnittlich 10,4% prognostiziert (ÖGB-Nachrichtendienst Nr.: 2665, Oktober 1992). Tat-sächlich lag dann bereits im April 1993 die (saisonbereinigte) Arbeitslosenrate in der EG bei diesem Wert, in den OECD-Ländern insgesamt, waren zu diesem Zeitpunkt schon 35 Millionen Menschen arbeitslos – Tendenz weiter steigend. In besonders hohem Maß sind dabei Frauen und Jugendliche betroffen. Auch in Ös-terreich ist die durchschnittliche Arbeitslosigkeit zwischen 1992 und 1993 um etwa 1% gestiegen. (ÖGB-Nachrichtendienst Nr. 2695, Juni 1993, sowie „Der Standard“ 8. Juni 1993).

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Entfremdung in der Arbeits- Freizeit-Gesellschaft 191

zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenzweise zu sichern: nämlich einen Arbeitsplatz, einen konkreten Ort, an dem sie ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, um von bezahlter Leistung zu leben.“5 Galt noch bis vor wenigen Jahren die Formel: Wirtschaftswachstum sichert Vollbeschäftigung als Universalrezept gegen Arbeitslosigkeit, stehen wir heute vor der Situ-ation, daß in den meisten Industriestaaten, trotz prosperierender Wirt-schaft, das Problem Arbeitslosigkeit kaum bewältigbar scheint. Auch in Österreich wiesen die Wirtschaftsdaten der letzten Jahre massive Wachstumsraten aus, bezogen auf das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen gehört unser Land sogar zur Gruppe der reichsten Länder der Welt, gleichzeitig wurde es auch hierzulande für große Gruppen von Arbeitswilligen immer schwieriger, einen Erwerbsarbeitsplatz zu bekommen.

Bei der „verlorenen“ Arbeit handelte es sich vielfach um Beschäf-tigungen, die die Menschen entfremdet und verschlissen hatten; aber dennoch verschwindet für die Betroffenen mit ihrem Wegfallen auch das organisierende und definierende Zentrum ihres Lebens. In einer Gesellschaft, die sich ausdrücklich als Arbeitsgesellschaft versteht, ist Erwerbsarbeit eben – unabhängig von ihrer konkreten Ausformung – der wesentliche Schlüsselbereich für Lebenssinn und -zweck. So weist der Begriff Arbeitsgesellschaft auf zweierlei hin: Zum einen auf die Tatsache, daß der materielle Status und der immaterielle Geltungs-rang des weitaus überwiegenden Anteils der Bevölkerung direkt oder indirekt an (Lohn-)Arbeit gekoppelt ist. Zum anderen sind aber zugleich auch die gesellschaftlichen Werte und Normen unserer Kul-tur ganz wesentlich auf Arbeit und die durch sie allein erwerbbaren Entschädigungen bezogen. Das heißt, Erwerbsarbeit ist für die aller-meisten Menschen nicht nur eine unabdingbare Notwendigkeit, gleichzeitig sind die Menschen unseres Kulturraumes dahin soziali-

5 Negt, a.a.O., S. 7.

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siert, jenen Zustand auch zu bejahen, in dem ein adäquates Überleben in der Regel nur über entlohnte Arbeit möglich ist.

Dementsprechend sind – obwohl die arbeitsfreien Urlaubswochen in der Werbung als „die schönsten Wochen des Jahres“ apostrophiert werden und wöchentlich Tausende Menschen auf den großen Lotto-gewinn hoffen, mit dessen Hilfe sie sich dann zumeist ein arbeitsfrei-es Leben ermöglichen wollen – beispielsweise Diskussionen über ein allgemeines „Grundeinkommen ohne Arbeit“6 hierzulande kaum in Gang gekommen. Obwohl immer offensichtlicher wird, daß, trotz aller wirtschaftlicher Prosperität, das langjährige politische Ideal der Vollbeschäftigung anscheinend in immer größere Ferne rückt, wird krampfhaft daran festgehalten, daß, nur wer arbeitet, Achtung ver-dient. Dementsprechend leicht war es in den letzten Jahren auch, das gesellschaftliche Problem Arbeitslosigkeit zu einem individuellen Versagen umzuinterpretieren. Wer arbeitslos ist, gilt als selber schuld, entweder weil – wie vielfach behauptet wird – er wahrscheinlich gar nicht arbeitswillig ist, er sich für die angebotenen Arbeiten angeblich als „zu gut“ dünkt oder auf Grund dessen, daß seine Qualifikationen nicht arbeitsmarktgerecht sind, weil er nicht rechtzeitig für eine „Nachjustierung“ seines Qualifikationsprofils gesorgt hat.

Auch die gewerkschaftliche Forderung nach einer generellen Her-absetzung der Arbeitszeit, also quasi einer „Neuverteilung“ der vor-handenen Erwerbsarbeit auf alle Arbeitswilligen, erfährt – im deutli-chen Gegensatz zu früheren Arbeitszeitreduzierungskämpfen – nur wenig Unterstützung durch die Mehrzahl der Arbeitnehmer.7 Haupt-

6 Büchele, H./Wohlgenannt, L.: Grundeinkommen ohne Arbeit. Auf dem Weg zu

einer kommunikativen Gesellschaft. Wien 1985. 7 Daß die Gewerkschaftsforderung „Arbeitszeitverkürzung“ keine große Lobby

unter den Betroffenen hat, zeigte beispielsweise eine Exklusivumfrage unter ös-terreichischen Gewerkschaftsmitgliedern im Sommer 1990. Dabei präferierten 61 Prozent der Befragten mehr Geld, jedoch nur 35 Prozent mehr Freizeit als gewerkschaftliche Stoßrichtung. Hahn, G.: Erwachsenengerechte Didaktik an Schulen für Berufstätige,Velm-Himberg 1992, S. 13.

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sächlich mit dem Hinweis auf eine damit eventuell geschwächte Kon-kurrenzfähigkeit der heimischen Wirtschaft wird vielfach gemeint, daß „wir“ uns eine Arbeitszeitverkürzung nicht leisten können.8 Im Lichte der Tatsache, daß damit den Tausenden Menschen, die sich derzeit mit einer „Arbeitszeitverkürzung auf die Null-Stunden-Woche“ abfinden müssen, nicht nur die Möglichkeit genommen wird am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben, sondern ihnen in einer Gesellschaft, die sich weitgehend über Erwerbsarbeit definiert, damit gleichzeitig auch ihr gesellschaftlicher Wert geraubt wird, kann diese Argumentation nur als zynisch bezeichnet werden.

Die Tatsache, daß in unserer Gesellschaft Arbeit offensichtlich in erster Linie nicht bloß als Bedingung der Möglichkeit für ein ange-nehmes und erfülltes Leben – im Einklang mit Natur und Mitmen-schen – für alle begriffen wird, sondern daß „Erwerbsarbeit als Abs-traktum“ die primäre gesellschaftliche Schlüsselgröße darstellt, be-wirkt eine Reihe weiterer (scheinbarer) Widersprüche. So herrscht beispielsweise hierzulande eine Art von „hilfloser Einigkeit“ darüber, daß es durchaus vertretbar sei, die Produktion von Kriegsmaterial oder von offensichtlich sinnlosen oder schädlichen Gütern aufrecht-zuerhalten, um auf diese Art „Arbeitsplätze zu erhalten“. Mit dem Argument, daß solche Produktionen sonst eben in anderen Ländern durchgeführt würden und es noch allemal besser sei, den heimischen

Ganz in diesem Sinn hat sich auch das Tempo der Arbeitszeitreduzierung in den

letzten Jahren deutlich verlangsamt. War im Zeitraum zwischen 1964 bis 1975 die Arbeitszeit in Österreich noch um durchschnittlich 1,36% pro Jahr zurückge-gangen, verringerte sich das Verkürzungstempo zwischen 1975 bis 1986 auf 0,3% und ging bis 1992 schließlich auf durchschnittlich 0,14% pro Jahr zurück. „Der Standard“, 10. 5. 1993.

8 Neuerdings taucht im Gegensatz dazu – von der Arbeitgeberseite in der BRD und auch in Österreich – sogar die Forderung auf, die allgemeine Arbeitszeit wieder zu verlängern, um die „Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft“ zu steigern. Auch wenn derzeit eher nicht zu erwarten ist, daß dieser Wunsch umgesetzt wird, so kann als Effekt der Diskussion mit einer beschleunigten Ent-wicklung in Richtung flexibler Arbeitszeiten gerechnet werden. Vgl.: „Der Stan-dard“, 28., 29. und 31. Aug 1992.

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Nationalreichtum zu vermehren, wird damit recht leichtfertig ein Bei-trag zur weltweiten Rüstung, zur Ausbreitung von Krankheiten, zur weiteren Umweltzerstörung oder zum sinnlosen Verbrauch natürlicher Ressourcen in Kauf genommen.

Alle die genannten Widersprüche und offensichtlichen Absurditä-ten lassen sich nur erklären, wenn davon abgegangen wird, Arbeit losgelöst von den Rahmenbedingungen zu betrachten, unter denen sie in unserer Gesellschaft geleistet wird. Denn Arbeit ist durchaus nichts Überhistorisches. Die Tatsache, daß das Leben des Menschen immer schon mit Arbeit verknüpft war, daß Arbeit quasi „ewige Natur“ und Kultur-„Bedingung des menschlichen Lebens“ (Karl Marx), sozusa-gen eine „fundamentale Funktion der Existenz des Menschen“ (Labo-rem exercens, 1981), oder, noch elaborierter ausgedrückt, eine „condi-tio humana“, eine Bedingung und Bestimmung menschlicher Exis-tenz, ist, sagt ja noch nichts über die Interessen und Bedingungen aus, die zur derzeit vorfindbaren und mit spezifischen historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten verbundenen Gestalt von Arbeit geführt haben. Die Frage muß den Triebkräften gelten, die verant-wortlich dafür sind, daß die in der Antike und im Mittelalter eher ge-schmähte Arbeit im allgemeinen Bewußtsein zur „selbstverständli-chen“ Lebensform wurde, deren Aufrechterhaltung wir heute viel mehr anstreben als das, was durch Arbeit eigentlich erreicht werden sollte; sodaß uns derzeit das Einfordern eines „Rechts auf Arbeit“9 viel eher angemessen erscheint als „bloß“ ein solches auf Wohlver-sorgtheit.10

9 Ein „Recht auf Arbeit“ wurde erstmals vom französischen Sozialisten Charles

Fourier 1808 gefordert, heute ist es – faktisch allerdings wirkungslos – in der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen (Art. 23, Abs. 1) und in der Europäischen Sozialcharta verankert.

10 Der, im Gegensatz zu seinem Schwiegervater Karl Marx, eher unbekannt geblie-bene Paul Lafargue schrieb in seinem Büchlein „Das Recht auf Faulheit“ in die-sem Zusammenhang vor ca. 100 Jahren: „Eine seltsame Sucht beherrscht die Ar-beiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine

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Arbeit, so wie wir sie heute kennen, ist eine Erfindung der Moder-ne. In dieser spezifisch historischen Gestalt fällt sie „weder zusammen mit den tagtäglichen Notwendigkeiten, dem für den Lebensunterhalt und die Reproduktion eines jeden erforderlichen »Tagewerk«, noch mit der Mühsal – so anstrengend sie auch sein mag –, die ein Indivi-duum zur Erfüllung einer Aufgabe vollbringt, deren Nutznießer es selbst oder seine Angehörigen sind, noch mit den Tätigkeiten, die wir, ohne Zeit und Mühe zu zählen, aus eigenem Antrieb zu einem Zweck unternehmen, der nur in unseren Augen Bedeutung hat und den nie-mand anderes an unserer Stelle verwirklichen könnte.“11 Das definie-rende Merkmal der Arbeit, die unserer Gesellschaft zur Bezeichnung „Arbeitsgesellschaft“ verholfen hat, ist, daß sie eine Tätigkeit dar-stellt, deren Wert ausschließlich über die Bedingungen eines Marktes – des Arbeitsmarktes – geregelt wird. Zu jener Arbeit, die wir „ha-ben“, „suchen“ oder „verlieren“ können zählen nur Tätigkeiten, die von anderen nachgefragt, als verwertbar anerkannt und – genau des-halb – auch vergütet werden.

Jene das Leben in unserer Gesellschaft so grundsätzlich bestim-mende Arbeit hat nur einen marginalen Zusammenhang mit der „Ar-beit als anthropologische Kategorie“, sie tritt historisch auch erst spät, im Zusammenhang mit dem Manufakturkapitalismus, als abstrakte betriebswirtschaftliche Vernutzung menschlicher Arbeitskraft in die

Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massen-elend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Er-schöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Öko-nomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ noch Ökonom, noch Moralist zu sein behaupte, ich appelliere von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vor-schriften ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft.“ La-fargue, P.: Das Recht auf Faulheit. Wien o.J.

11 Gorz 1989, a.a.O., S. 27.

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Welt. Die bloße für den Lebensunterhalt notwendige Arbeit hingegen war noch niemals in der Geschichte gesellschaftlicher Integrationsfak-tor. Solche „Subsistenzarbeit“ versprach in keiner der vormodernen Gesellschaften Prestige und Anerkennung.12 Im Gegenteil, diejenigen, die sie ausführten, galten – da sie der „Notdurft des Lebens“ unter-worfen waren – immer als unterste gesellschaftliche Kategorie. So meinte man im Altertum, daß man Sklaven nötig habe, weil es für die Befriedigung der Lebenserfordernisse notwendige Beschäftigungen gibt, die ihrer Natur nach „sklavisch“ sind, nämlich dem Leben und seiner Notdurft versklavt. „Arbeiten hieß Sklave der Notwendigkeit sein, und dies Versklavtsein lag im Wesen des menschlichen Lebens. Da die Menschen der Notdurft des Lebens unterworfen sind, können sie nur frei werden, indem sie andere unterwerfen […]. Im Altertum war [demgemäß] die Einrichtung der Sklaverei nicht wie später ein Mittel, sich billige Arbeit zu verschaffen oder Menschen zwecks Pro-fit »auszubeuten«, sondern der bewußte Versuch, das Arbeiten von den Bedingungen auszuschließen, unter denen Menschen das Leben gegeben ist. Was dem menschlichen Leben mit anderen Formen tieri-schen Lebens gemeinsam ist, galt als nicht-menschlich.“13

Bis hinauf ins achtzehnte Jahrhundert galt Arbeit als „des freien Mannes unwürdige Mühsal“14 und bezeichnete fast ausschließlich die Beschäftigung der Knechte und Taglöhner, „die entweder Konsumgü-

12 Das gilt genauso heute für jene Reste der Subsistenzarbeit, die weiterhin not-

wendig sind, da sie (noch) nicht als Nebeneffekte der „Mehrwertproduktion“ auftreten; insbesondere ist dabei zu nennen: Hausarbeit und die Betreuung von Kindern und alten Menschen.

13 Arendt, a.a.O., S.78/79. 14 Die Übersetzung des althochdeutschen Wortes arabeit[i]. Das Wort Arbeit zeigt

eine semantische Verwandtschaft sowohl mit dem lateinischen avrum, das auf avra, den „gepflügten Acker“, verweist, als auch mit dem germanischen arba, was soviel wie „Knecht“ bedeutet. Das französische Pendant zum Arbeitsbegriff, travail, dürfte vom vulgär-lateinischen tripalare („pfählen“ oder „quälen“) ab-stammen, das russische rabota von rab, was „Sklave“ heißt (vgl. Guggenberger, a.a.O., S. 32).

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ter herstellten oder aber lebensnotwendige Dienste verrichteten, die tagtäglich erneuert werden müssen und kein dauerhaftes Resultat hin-terlassen. Die Handwerker hingegen, die dauerhafte und akkumulier-bare Gegenstände fabrizierten – Werkstücke, die von ihren Käufern meistens an die eigene Nachkommenschaft vererbt wurden –, »arbei-teten« nicht: sie »werkten«, und bei diesem »Werk« konnten sie die »Arbeit« von Handlangern für die groben und unqualifizierten Aufga-ben benutzen. Nur die Taglöhner und Handlanger wurden für ihre »Arbeit« bezahlt; die Handwerker ließen ihr »Werk« nach einem fes-ten Satz bezahlen, der von ihren berufsständischen Organisationen festgelegt wurde, den Zünften und Gilden.“15 Diese Unterscheidung zwischen zwei mit unterschiedlichem gesellschaftlichem Prestige belegten Formen zielgerichtet-produzierender Tätigkeit spiegelt sich auch in beinahe allen europäischen Kultursprachen durch jeweils se-mantisch voneinander abgesetzte Begriffe wider; z.B. ponein und ergazesthai im Griechischen, laborare und facere im Lateinischen, travailler und ouvrer im Französischen, schließlich labour und work im Englischen.16

Grundsätzlich ging das mittelalterliche Denken davon aus, daß je-der Mensch die aufgrund seiner Geburt und seines Standes von Gott für ihn vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen habe. Die dabei anfallen-den Tätigkeiten sollten der Erhaltung des Lebens, nicht der Anhäu-fung von Reichtum dienen, und der Erlös sollte im Grunde nur die standesgemäße Lebensform sicherstellen. Denn eng verbunden mit dem Gebot, der dem Menschen zugewiesenen Pflicht innerhalb der vorgegebenen sozialen Ordnung gehorsam zu sein, war das Verbot des Gewinnstrebens. Der uns heute vollkommen selbstverständlich erscheinende kaufmännische Grundsatz, eine Arbeit zum Marktpreis abzusetzen, galt als unchristlich. Der Preis sollte durch das Gewissen

15 Gorz 1989, a.a.O., S. 30. 16 Vgl: Riedel, M.: Arbeit. In: Krings et.al. (Hg.): Handbuch der philosophischen

Grundbegriffe, Bd. 1. München 1973, S. 126.

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geregelt sein, d.h. es sollte nicht mehr Gewinn erzielt werden als durch die eigene, in das Werk investierte Mühe gerechtfertigt er-schien, und zwar auch dann, wenn der Markt mehr hergegeben hät-te.17

Ganz in diesem Sinne waren auch die handwerklichen Produkti-onsmethoden ausdrücklich festgeschrieben und oft sogar unter Straf-androhung gegen Veränderungsversuche abgesichert. Die vereinzelt bis ins 19. Jahrhundert wirksamen Zunftgesetze verhinderten nicht nur willkürliche Preisfestsetzungen oder ein wahlloses Anwachsen des Warenangebots, sondern auch die Konkurrenz unter den Zunftge-nossen. Neue Techniken oder Maschinen durften, wenn sie nicht allen zur Verfügung standen, vielfach gar nicht eingesetzt werden. Streng wurde darauf geachtet, daß keiner dem anderen seine Kunden abwarb und nur in dem Umkreis Waren verkauft werden durften, in dem es von der Zunft erlaubt war. Genauso bestimmten die Zünfte die Dauer der Arbeitszeit und legten die Entlohnung der Gesellen und Taglöhner fest, womit sie sie jedes Feilschen entzogen. Außerdem war die Anla-ge von Gewinnen im Betrieb und somit dessen Vergrößerung nur bedingt erlaubt.18

Insgesamt war das christliche – und damit das damalige abendlän-dische – Arbeitsverständnis bis zur Reformation geprägt durch den biblisch vermittelten Arbeitsfluch. Der Mensch, der die Gemeinschaft mit Gott durch den Sündenfall gebrochen hat, kann „sein Brot nur im Schweiße seines Angesichts“ essen. Das Streben um eine Wiederher-stellung der Gottesgemeinschaft stand im Zentrum des mittelalterli-chen Lebens, woraus sich eine logische Unterordnung der Arbeit un-ter das Primat des geistlichen Lebens beziehungsweise der Frömmig-

17 Vgl. Blankertz 1982, a.a.O., S. 46/47. 18 Vgl. Gruber, E.: Zwischen Zunft und Manufaktur. Ein Streifzug durch die hand-

werkliche Berufsausbildung vom Mittelalter bis zur beginnenden Neuzeit. In: Gruber/Ribolits: Bildung ist mehr …, Aufsätze zur beruflichen Qualifizierung. München/Wien 1992, S. 18 u. 20.

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keit ergab. Arbeit stellte sich in diesem Verständnis als notwendige, jedoch nicht als die primäre Aufgabe des Menschen dar. Ganz im Gegenteil: Auch die Arbeit mußte sich dem Ziel der „religio“, der angestrebten Neuverbindung des Menschen mit Gott, unterordnen. So ist beispielsweise auch das Gebot der Arbeitsruhe an Sonn- und Feier-tagen zu verstehen: Damit sollte verhindert werden, daß sich der Mensch der Arbeit statt Gott als dem Wesentlichen zuwendet.

Der scholastische Theologe und Philosoph Thomas von Aquin be-handelt an vielen Stellen seiner Schriften das Verhältnis von tätigem und beschaulichem Leben. Dabei räumt er dem beschaulichem Leben, dem Leben der Betrachtung und Muße – ganz in der von ihm gepfleg-ten aristotelischen Tradition – vorerst grundsätzlich den Vorrang ein.19 In diesem Sinn formulierte er beispielsweise unmißverständlich: „Das tätige Leben heißt Knechtschaft, das beschauliche aber Frei-heit.“20 Später – im Zusammenhang mit der Verteidigung der Le-bensweise der Predigerbrüder, die neben den traditionellen Mönchs-gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams auch eine Ver-pflichtung zur seelsorgerischen Arbeit eingingen – unternimmt Tho-mas zwar eine Rehabilitierung der vita activa, indem er sich recht vehement für eine Synthese der beiden Lebensformen, des tätigen und beschaulichen Lebens, ausspricht. Jedoch handelt es sich bei den Werken des aktiven Lebens, die er für die Kombination mit dem be-schaulichen Leben empfiehlt, nur um Tätigkeiten, die um der Nächs-tenliebe willen ausgeübt werden dürfen.21 Die für die Bewältigung der

19 Vgl.: Bernath, K.: Thomas von Aquin und der Verlust der Muße. In: Tewes

(Hg.): Nichts Besseres zu tun. Über Muße und Müßiggang. Oelde 1989, S. 67. 20 Zit. nach Hund, W.D.: Arbeit. In: Sandkühler (Hg.): Europäische Enzyklopädie

zu Philosophie und Wissenschaften, Bd, 1. Hamburg 1990, S. 171. 21 Vgl. Bernath, a.a.O. Der Autor begründet im erwähnten Artikel übrigens sehr

plausibel, warum er der Meinung ist, daß mit dem „philosophischen Kunstgriff“, mit dem Thomas von Aquin erfolgreich die Existenzberechtigung seines Ordens verteidigte, der Grundstein dafür gelegt war, daß das Leben der Betrachtung und

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alltäglichen Lebensnotwendigkeiten erforderliche Arbeit bleibt uner-wähnt. Für Tätigkeiten dieser Art liefert Thomas von Aquin eine Zweckbestimmung, die deutlich zeigt, daß Arbeit im Mittelalter kei-nesfalls Selbstzweckcharakter hatte, sondern demütig angenommen und in gottgefälliger Art bewältigt werden sollte: „Die Arbeit hat ei-nen vierfachen Zweck. Zu allererst soll sie das Lebensnotwendige beschaffen; zweitens die Ursache so vieler Laster, den Müßiggang, vertreiben; drittens durch Kasteiung des Leibes die Fleischeslust zü-geln; viertens ermöglicht sie, Almosen zu spenden.“22

Erst im Zusammenhang mit der im ersten Kapitel skizzierten E-manzipation des Menschen von der Vorstellung des Ausgeliefertseins an Natur und Vorsehung begann sich die Sichtweise der Arbeit von der „Erhaltung des Lebens“ zum „Selbstzweck“ zu wandeln. Arbeiten galt nun zunehmend nicht mehr bloß als auferlegte Pflicht, sondern als Tätigkeit zur Ehre Gottes – die „vita activa“ wird der „vita con-templativa“ nun nicht mehr selbstverständlich untergeordnet. Dem göttlichen Gebot entsprechend, sollten alle Menschen die Vollstrecker des göttlichen Willens auf Erden sein; zum Maßstab wurde, wie gläu-big die Arbeit verrichtet wurde. Die folgenreichen nächsten Schritte der Entwicklung wurden durch Calvinismus und Pietismus grundge-legt. Calvin, der davon ausging, daß schon bei der Geburt festgelegt sei, ob ein Mensch von Gott gnädig angenommen oder zu ewiger Verdammnis bestimmt ist, meinte, daß sich diese „Prädestination“ am wirtschaftsberuflichen Erfolg eines Menschen ablesen ließe. Damit wurden Erfolg und Tüchtigkeit in Wirtschaft und Beruf zu einem Indikator der Heilsgewißheit hochstilisiert. In der Folge wurde der Wert eines Lebens in Betrachtung und Muße zunehmend geleugnet und dieses gesellschaftlich auch immer mehr abgelehnt – die Grund-

der Muße von nun an sukzessive an Terrain verlor und schließlich völlig unter-liegen mußte.

22 Zit. nach Kühnel, H. (Hg.): Alltag im Spätmittelalter. Graz/Wien/Köln 1984, S. 189.

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lagen für den späteren gesellschaftlichen Kampf gegen Arbeitsscheu, Faulheit und Bettelei waren gelegt.

Die skizzierte Entwicklung bedeutete den wahrscheinlich wesent-lichsten Einschnitt im Verhältnis des Menschen zur Ökonomie und auf seinem Weg hin zur Arbeitsgesellschaft. Der wirtschaftliche Er-folg, auch der sehr schnelle und unverhältnismäßig große, war damit nämlich aus der bisherigen „religiös-ethischen Verdächtigung“23 ent-lassen. Zugleich war es allerdings weiterhin nicht erlaubt, sich auf einmal erworbenem Reichtum „auszuruhen“, es mußte tätig zu dessen dauernder Vermehrung beigetragen werden; Wohlleben und Luxus galten in den calvinistischen Gemeinden ja als Zeichen der Verdam-mung. Die Folge war, daß der Gewinn aus erfolgreichem wirtschaftli-chem Handeln – da er nicht konsumiert werden durfte – nur in weitere ökonomische Unternehmungen investiert werden konnte, was wieder nur – Erfolg vorausgesetzt – zu noch größeren Gewinnen und aberma-ligen Investitionen führen konnte. Das summum bonum dieser Ethik war der Erwerb von Geld, unter strenger Vermeidung alles unbefan-genen Genießens. (Max Weber)

Der Soziologe Max Weber identifiziert in der Summe dieser Ent-wicklungen sowohl die moralischen als auch die materiellen Grundla-gen des Kapitalismus. Er meint, daß der calvinistische Geist einerseits die Rechtfertigung für hohe Unternehmergewinne, verbunden mit einer rücksichtslosen Disziplinierung und Ausnutzung menschlicher Arbeitskraft, lieferte und andererseits das über viele Generationen wirksame Gebot des Konsumverzichts auch eine sukzessive Kapital-bildung in wenigen Händen bewirkte. Zwar legitimierten die religiö-sen Gebote selbstverständlich nicht von vornherein die kapitalistische Ausbeutung lohnabhängiger Arbeiter, die Idealisierung der „vita acti-va“ und die prinzipielle Befürwortung von wirtschaftlichem Erfolg als gottgefälliges Handeln lieferten hier jedoch offensichtlich einer Ent-

23 Blankertz 1982, a.a.O., S. 48.

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wicklung Vorschub, von der auch die Skeptiker der recht pointierten These Webers, daß der Calvinismus den Kapitalismus hervorgebracht habe, annehmen, daß sie die Industrialisierung begünstigt hat. Für die Annahme einer Schlüsselfunktion der calvinistischen Wirtschaftsethik bei der Entwicklung des Kapitalismus spricht z.B. die Tatsache, daß das puritanische England in der Industrialisierung dem katholischen Frankreich und dem protestantischen Deutschland um fast ein Jahr-hundert voraus war.24

Historisch sind wir unserer heutigen Vorstellung von Arbeit nun schon sehr nahe. Der Manufakturkapitalismus, der sich im 18. Jahr-hundert durchzusetzen begann, schuf schließlich endgültig die Grund-lagen für unser heutiges System der Erwerbsarbeit. Das besondere und historisch noch nie Dagewesene an der sich nunmehr entwickeln-den Ausprägungsform von Arbeit ist, daß der Anlaß für das Ingang-setzen von Arbeitsprozessen sich vom ursprünglichen Zweck – der Herstellung von Gebrauchswerten – nun völlig löst. In allen vorher-gehenden Gesellschaftsformationen der menschlichen Geschichte traten uns Warenproduktion und Arbeit in ihrer konkreten, unmittel-bar-sinnlichen Gestalt entgegen: als das Schaffen von Gebrauchswer-ten bzw. von Eintauschmöglichkeiten für andere Gebrauchswerte. Im Gegensatz dazu stellt das Schaffen von Mehrwert die primäre An-triebskraft der modernen Warenproduktion dar, das heißt, es geht in erster Linie darum, daß eine in die Ingangsetzung von Arbeitsprozes-sen investierte Menge an Geld durch Arbeit anwachsen soll. Was und wo jeweils produziert wird, hängt dementsprechend – insbesondere seit Kapital problemlos in verschiedenste Länder transferiert werden kann – ganz allein von der erzielbaren Rendite für eingesetztes Kapi-tal ab.

Zwar bleibt die offensichtliche Tatsache bestehen, daß durch Ar-beit Gebrauchswerte geschaffen werden dadurch, daß sich aber die

24 Vgl. Weber, a.a.O., sowie Blankertz 1982, a.a.O., S. 48.

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Zielsetzung für das Ingangsetzen von Arbeitsprozessen geändert hat, stellen die konkreten sinnlichen Produkte nun nur noch einen Aus-druck der Geldabstraktion dar. Denn der eigentliche Endzweck der ganzen Veranstaltung ist nun nicht mehr die Vermittlung konkreter Güter, sondern die Verwandlung von Geld in mehr Geld; die Produk-tion von Gebrauchswerten ist dabei zwar unverzichtbar, nichtsdesto-trotz aber bloß Nebeneffekt. Genau darin ist der Grund zu finden, warum heute nicht die Relation zwischen gesellschaftlich notwendi-gem Arbeitsaufwand und Sinn sowie Zweck der erzeugten Produkte jenes Kriterium sein kann, an dem der Wert und die Notwendigkeit von Arbeit gemessen wird. Ob die Herstellung bestimmter Produkte und die damit verbundenen Arbeiten „sinnvoll“ sind, entscheidet sich derzeit ja letztlich nur daran, ob dabei eine hohe Mehrwertschöpfung möglich ist. „Die Produkte stellen jetzt in ihrem gesellschaftlichen Bezug nicht mehr das dar, was sie stofflich-sinnlich wirklich sind; es handelt sich bei ihrer Herstellung vielmehr um die Produktion von Mehrwert. Der Austausch auf dem Markt erscheint zwar nach wie vor als Kaufen und Verkaufen von konkreten Bedarfsgütern, ist aber in seiner tatsächlichen gesellschaftlichen Vermittlung nur noch die Rea-lisierung des in den Gütern inkarnierten Mehrwerts, dessen Verwand-lung in seine eigentliche Darstellungsform Geld. Die Gebrauchsgüter werden degradiert zu einem bloßen Durchgangsstadium im Form-wandlungsprozeß des abstrakten ökonomischen Werts.“25

Dieses Umschlagen des primären Zwecks von Arbeitsprozessen bewirkte in der Folge gewaltige Innovationsschübe in der Güterpro-duktion. Es existierte ja nun erstmals ein allgemeines, treibendes Mo-tiv zur Weiterentwicklung der Produktivkräfte – die „Konkurrenz“. Die möglichst hohe Kapitalrendite als alles überstrahlendes Ziel jed-weder Produktion von Waren ließ die tradierten, die gesellschaftliche Güterproduktion regelnden Ordnungsvorstellungen rasch obsolet

25 Kurz, a.a.O, S. 81.

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werden. Waren die strukturellen Bedingungen der vorkapitalistischen Produktion noch weitgehend statisch gehalten worden, wurde nun mit einem mal „Fortschritt“ möglich. Es kam zu einem unvorstellbaren Anstieg der Produktivität durch die Entwicklung neuer Werkzeuge und Maschinen, das Erschließen neuer Energiequellen und die ratio-nellere Organisation der Produktion. Damit war einerseits die Tür aufgestoßen für eine gewaltige Erweiterung der Bedürfnisse und Möglichkeiten der Individuen, und andererseits eröffnete sich durch die zunehmende Entfaltung der modernen Produktivkräfte auch die Möglichkeit einer tendenziellen Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit der Arbeit als labor, als Leid „im Schweiße seines Angesichts“26.

Erst die Freigabe der Konkurrenz als „stummer Zwang“ (Karl Marx) des warenproduzierenden Systems konnte die Produktivkräfte derart in Bewegung setzen, wenn auch in schreienden Widersprüchen

von Destruktion und Emanzipation.27 Denn genau jene „innovative Kraft Konkurrenz“ – die ja als Konkurrenz um die Aneignung eines

26 Allerding lag eine ursprüngliche, ganz wesentliche Potenz des auf der Basis von

Konkurrenz und permanentem Wachstum funktionierenden Kapitalismus in sei-ner schier unerschöpflichen Kapazität bei der „Vernutzung lebendiger Arbeits-kraft“. Heute scheint dieser wirtschaftliche Mechanismus – allerdings durch kein gesellschaftliches Regulativ positiv gewendet und dementsprechend begleitet von den letalen Auswirkungen wachsender Arbeitslosigkeit – zu dem Punkt ge-führt zu haben, an dem sich diese Fähigkeit zunehmend umkehrt. Die dem Kon-kurrenzkampf laufend geschuldeten technologischen Verbesserungen und Ratio-nalisierungen bewirken zunehmend, daß sich das Verhältnis von notwendigen Arbeitskräften zu Sachmitteln (Maschinen, Roboter, Steuerungssysteme u.dgl.) immer stärker zuungunsten der menschlichen Arbeitskraft verschiebt. Unter den gegebenen Begleitumständen bewirkt die Tatsache, daß mit immer weniger Ein-satz an lebendiger Arbeit immer mehr produziert werden kann, eine relative Entwertung der menschlichen Arbeitskraft. Außerdem erfordert der erhöhte Aufwand an den – für eine rationelle Produktion – notwendigen Sachmitteln immer höhere Vorauskosten an Geldkapital, weiters bewirkt schließlich das per-manente Mehr an Produktion, bei einem geringeren Erfordernis an menschlicher Arbeitskraft, immer höhere soziale und ökologische Folgekosten der Produktion.

27 Vgl. Kurz, a.a.O., S. 85.

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möglichst hohen Mehrwerts, vermittels und nicht zum Zweck der In-gangsetzung von Produktionsprozessen in die Geschichte trat – be-wirkte gleichzeitig eine neuerliche Unterjochung der Mehrheit unter das Diktat der Arbeit. In den vorindustriellen Gesellschaftsformen manifestierte sich Arbeit, aufgrund des relativ geringen Standes der

Produktivkraftentwicklung, als den Lebenshorizont der Mehrheit ganz und gar ausfüllende Mühe und Plage. Im gleichen Maß, wie die Pro-duktivkräfte durch Industrialisierung und Verwissenschaftlichung jedoch Zwang und Bann dieser „ersten Natur“ sprengten, wurden sie wiederum eingebannt in einen gesellschaftlichen Sekundärzwang. Die spezifische gesellschaftliche Reproduktionsform der Ware wurde nun zur „zweiten Natur“, deren Notwendigkeit den Individuen heute eben-so unerbittlich fordernd gegenübersteht wie diejenige der „ersten Na-tur“, obwohl sie rein gesellschaftlich entstanden ist.28

Da das Herstellen von Waren und das Erbringen von Dienstleis-tungen unter den gegebenen Bedingungen der Güterproduktion nur „immanente Nebeneffekte“ der Kapitalvermehrung sind, treten auch die in den Arbeitsprozessen eingebundenen Menschen nicht primär als Subjekte in Erscheinung, deren Lebensqualität im Mittelpunkt der Gestaltung und Ausrichtung dieser Arbeitsprozesse steht – ihre Be-deutung gewinnen sie ja einzig als Kalküle betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen. Damit wirken auch die Möglichkeiten einer Verringerung von Arbeitsaufwand durch die Entfaltung der Pro-duktivkräfte nicht primär und auch nicht selbstverständlich im Sinne einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitssituation der Arbeitenden, sondern bewirken von vornherein nur eine schnellere und bessere Kapitalakkumulation. Dementsprechend bedurfte es auch eines müh-seligen und opfervollen, mehr als ein Jahrhundert dauernden Kamp-fes, um den Arbeitenden einen adäquaten Anteil an der Produktiv-kraftentwicklung zu sichern.

28 Vgl. ebda., S. 15/16

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Der Preis für die Tatsache, daß es schließlich gelang, gesellschaft-liche Machtverhältnisse zu erkämpfen, in denen nicht automatisch und selbstverständlich die Interessen des Kapitals über jene der Arbei-tenden gestellt werden können, war allerdings das allgemeine Akzep-

tieren der „Logik des Kapitalismus“. Erst als die Träger der gesell-schaftlichen Arbeit das „immer mehr um jeden Preis“ und die damit verbundene möglichst große und intensive Verausgabung von Ar-beitskraft jenseits konkreter subjektiv-sinnlicher Bedürfnisse – eben die Logik der kapitalistischen Warenproduktion – akzeptiert hatten, war ihre gesellschaftliche Konsensfähigkeit hergestellt. Die Geschich-te des Kapitalismus läßt sich – wie im ersten Kapitel dargestellt – dementsprechend auch als eine Geschichte der Installierung unseres heutigen „Arbeitsethos“ schreiben. In einem umfassenden Prozeß der sozialen Disziplinierung, an dem vor allem Schule, Heer, Zucht- und Armenhäuser beteiligt waren, vollzog sich im neunzehnten und zwan-zigsten Jahrhundert die gesellschaftliche Geburt eines „neuen Men-schen“29, der einerseits den ökonomischen Anforderungen des auf-kommenden Kapitalismus entsprach und andererseits die Regeln die-ser neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung schließlich so verin-nerlichte, daß er sie zur absoluten Logik schlechthin erklärte.

Fleiß, Tüchtigkeit, Leistung und Erfolg sind heute positiv besetzte „Werte an sich“, bei denen derzeit kaum noch nach Zweck und Nutz-nießern gefragt wird. „Die Arbeit“ und die sich aus ihrer Idealisierung ergebenden Werte haben endgültig „alles gute Gewissen auf ihrer Seite“30. Nicht mehr Arbeit als (Über-)Lebensnotwendigkeit, sondern Arbeit als Selbstzweck ist es, was das Leben der Menschen in der

29 Siehe dazu vor allem Bauer/Matis, a.a.O.. 30 Nietzsche, F.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, heraus-

gegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3. München 1980, S. 356.

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industrialisierten Gesellschaft kennzeichnet.31 Damit geht die mate-riell unvergleichlich bessere Situation der Angehörigen der heutigen Industriegesellschaft, gegenüber jener der Menschen vorindustrieller Gesellschaften, aber auch einher mit Entfremdung und Sinnentlee-rung. Denn wenn der wirtschaftliche Erfolg von Einzelindividuen, Unternehmungen, Volkswirtschaften oder wirtschaftlich gemeinsam operierenden Regionen zur primären Richtschnur gesellschaftlichen Handelns wird, und sich nicht mehr gegenüber einer übergeordneten Sinngebung legitimieren muß, bleibt der Mensch mit seinen wesentli-chen Existenzfragen auf der Strecke. Der Kampf um das „Mehr-haben“ eröffnet nicht die Möglichkeit einer Antwort auf die Fragen nach dem „Sinn des Seins“ sondern treibt Menschen nur immer tiefer

31 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Argumentation von Robert

Kurz, der nicht unberechtigt darauf hinweist, daß auch in den ehemaligen osteu-ropäischen Gesellschaftssystemen, die von der eigenen Propaganda ja gerne als „real existierender Sozialismus“ bezeichnet wurden, eine im wesentlichen glei-che „Mythologisierung“ der Arbeit wie „im Westen“ herrschte. Ein exemplari-sches Beispiel dafür stellte z.B. die Idealisierung des angeblichen Musterarbei-ters „Stachanow“ in der Sowjetunion dar. Die Tatsache, daß diese Gesellschaften ihren Mitgliedern im Durchschnitt zwar nur einen wesentlich geringeren Lebens-standard als bei uns ermöglichten und daß ihr schlußendlicher Zusammenbruch auch von einem totalen Finanzbankrott begleitet war, darf nicht darüber hinweg-täuschen, daß sie im Grunde genommen ebenfalls an der Ideologie des „Immer mehr“ ausgerichtet waren. Ein anfangs auch gerne erklärte Ziel war es sogar, im Systemwettbewerb gegen die „marktwirtschaftlich-kapitalistischen“ Gesell-schaftssysteme zu gewinnen und diese auch materiell zu überholen. Allerdings hat man sich, nach beachtenswerten Anfangserfolgen, quasi selbst um die Mög-lichkeit eines Sieges im „Immer-mehr“-Wettbewerb gebracht, indem man wei-terhin systematisch die „innovative Kraft der Konkurrenz“ unterdrückt hatte. Kurz meint allerdings, daß das bei weitem noch keine echte Überwindung der „Logik des Kapitalismus“ bedeutete und daß deshalb – im Hinblick auf das grundsätzlich idente und eben nur mit untauglichen Mitteln verfolgte Paradigma „Wachstum“ – diese Gesellschaftssysteme auch gar nicht als nicht- bzw. postka-pitalistisch bezeichnet werden können. Vgl. Kurz, a.a.O.

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in existentielle Deprivationen, oftmals verbunden mit Süchten aller Art oder mit suizidalen Lebensmustern32.

Zugleich zeigt sich in den letzten Jahren aber auch immer deutli-cher, daß die unserer Wirtschaftsordnung immanente Zwangsgesetz-lichkeit von Wachstum und Konkurrenz auch jede Lösung in bezug auf die immer drängender werdenden weltweiten sozialen und ökolo-gischen Probleme verhindert. Dem weit über irgendwelche ursprüng-lichen Bedürfnisse hinausgewachsenen Warenangebot in den Indust-riestaaten steht ja einerseits eine unvorstellbare Armut der außerhalb dieser Regionen lebenden Menschen gegenüber, und andererseits entwickeln sich zunehmend auch innerhalb der Wohlstandsgebiete so etwas wie „Dritte-Welt-Inseln“33. Gleichzeitig ist es heute wohl kaum mehr möglich, die fatalen Folgen der ungebremsten Ausbeutung der Natur zu leugnen. Immer mehr und – im Sinne ökonomischer Logik – immer rationeller zu produzieren bedeutet eben zum einen die Ver-nichtung zunehmend größerer Ressourcenmengen, begleitet von ei-nem laufend ansteigenden Energieverbrauch, und zum anderen auch

32 Vgl. dazu insbesondere Richter, H.E.: „Immer mehr“ macht uns krank. In:

Copray (Hg.): Immer mehr? Die Verführung zur Sucht, München 1991, S. 62-79.

33 Gegenwärtig lebt jeder fünfte Bewohner in der sogenannten „Dritten Welt“ unter der von der Weltbank definierten absoluten Armutsgrenze von weniger als 370 $ im Jahr. Zwei Drittel davon müssen sogar mit dem Gegenwert von 275 $ Jah-reseinkommen „durchkommen“ – was nichts anderes heißt, als daß sie perma-nent am Rande des Hungertodes vegetieren („Der Standard“, 30. 10. 1990). Aber auch in den USA kann man – entsprechend den Kriterien einer Ende 1991 fertig-gestellten Studie amerikanischer und europäischer Wissenschafter – 18,1% der Haushalte als arm bezeichnen („Metall“, Nr. 11/91). In den EG-Staaten sind, im Sinne der Definition einer in Ausarbeitung befindlichen Sozial-Charta, immerhin ebenfalls 44 Millionen Menschen – das sind 14% der Bevölkerung – als arm an-zusehen (ORF-Nachrichten 6.12. 1991). Die Obdachlosigkeit ist 1990 in 28 US-Großstädten um 24%, 1991 um weitere 13% gestiegen („Die Presse“, 18. 12. 1991). In London sind 20.000 Menschen auf einen Schlafplatz in einem Asyl an-gewiesen – ihre Zahl ist damit gleich hoch wie am Anfang dieses Jahrhunderts. In Paris stellen die Clochards bereits 1% der Bevölkerung („Kurier“, 19. 1. 1992).

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die Tendenz zum Ersetzen lebendiger Arbeitskraft durch mechanische und elektronische Aggregate. Da aber die Logik der – inzwischen weltweiten – Konkurrenz eine Aufteilung der verbleibenden Arbeit auf alle Arbeitswilligen, aufgrund der damit verbundenen Wettbe-werbsnachteile, nur schwer möglich macht, ist eine weitere Folge die Ausgrenzung anwachsender Gruppen der Bevölkerung vom Arbeits-markt. Sowohl die heute bereits allgemein beklagte ökologische Krise als auch die viel zu wenig diskutierte soziale Zeitbombe haben ihre Ursache in den Prinzipien der modernen Warenproduktion. Die durch die Freigabe der Konkurrenz ins uferlose anwachsende Produktivität schlägt in einer zunehmenden Zerstörung der Biosphäre zu Buch, und der dabei aktivierte Wissenschafts- und Sachmitteleinsatz führt gleichzeitig das „Arbeits“-Prinzip ad absurdum. Es scheint somit al-lerhöchste Zeit, das „Immer mehr um jeden Preis“, einschließlich der damit verknüpften Idealisierung der Arbeit, massiv zu hinterfragen, um die Welt nicht schließlich vollends durch Arbeit zu zerstören.

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210 Die Arbeit hoch?

II. „FREIZEIT“ – FLUCHTPUNKT DER ARBEITSGESELL-

SCHAFT?

Wie zahlreich sind doch die Dinge,

deren ich nicht bedarf.

Sokrates, Viertes Jht. v. Chr.

Freedom ’s just another word

for nothing left to loose.

Janis Joplin, 1968

Wir wollen alles,

und davon möglichst viel,

und zwar sofort.

Graffiti, 1994

Häufig wird argumentiert, daß der Anteil an Lebenszeit, den die

Menschen für Erwerbsarbeit aufwenden, derzeit sowieso kontinuier-lich abnimmt, und unsere Kultur sich sukzessive von einer Arbeitsge-

sellschaft zu einer Freizeitgesellschaft wandelt. Der technische Fort-schritt bewirkt einerseits, daß, obwohl sogar immer mehr Waren pro-duziert werden, eine laufende Verringerung der gesetzlichen bzw. kollektivvertraglich vereinbarten Regelarbeitszeit möglich ist, und gleichzeitig nimmt die Lebensarbeitszeit auch durch eine Verlänge-rung der durchschnittlichen Schul- und Ausbildungszeit, die immer häufiger notwendigen Phasen der Weiterbildung sowie durch eine Vorverlegung des Pensionsalters ab. Außerdem – so könnte man zy-nisch argumentieren – stellen eben auch die erzwungenen Phasen der Arbeitslosigkeit, von denen, wie schon erwähnt, relativ viele Men-schen unserer Gesellschaft betroffen sind, quasi „durch die Hintertür“, eine Reduzierung der durchschnittlichen Lebensarbeitszeit dar. Und

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wenngleich derzeit auch noch schwer abschätzbar ist, wie die Ent-wicklung am Arbeitsmarkt unmittelbar weitergehen wird, welche Substitutionseffekte sich beispielsweise zwischen den Wirtschaftssek-toren ergeben werden und wie rasch neue technische Möglichkeiten im Sinne weiterer Arbeitszeitreduzierungen wirksam werden können, scheint es doch eine ausgemachte Sache zu sein, daß wir uns tenden-ziell einem Zustand annähern, in dem die Menschheit das Joch der Arbeit weitgehend wird abgeschüttelt haben und „die vita activa zum unbedeutenden Restposten einer Moderne“34 werden wird. Daraus ließe sich dann schließen, daß der bestimmende Charakter der (ent-fremdeten) Arbeit in unserer Kultur tendenziell ebenfalls schon wie-der im Schwinden begriffen sei.

Aber, wie Hannah Arendt schon 1958 schrieb, „dieser Schein trügt. Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert begonnen, theore-tisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahr-hunderts damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeits-gesellschaft zu verwandeln. Die Erfüllung des uralten Traums (vom leichten, von Mühe und Arbeit befreiten Leben für alle, E.R.) trifft wie die Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um derentwillen die Befreiung sich lohnen würde. Innerhalb dieser Gesellschaft […] gibt es keine Gruppe, keine Aristokratie politischer oder geistiger Art, die eine Wiederholung der Vermögen des Menschen in die Wege leiten könn-te.“ Und im Hinblick auf die Entwicklung der permanent steigenden Produktivität, also der Tatsache, daß immer mehr Produkte unter Ein-satz von immer weniger menschlicher Arbeitskraft geschaffen werden

34 Alheit, P.: Abschied von der Lohnarbeit? Bemerkungen zu einer Erweiterung des

Arbeitsbegriffs. In: Alheit/Körber/Rabe-Kleberg (Hg.): Abschied von der Lohn-arbeit. Bremen 1990, S. 11.

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können, meint sie schließlich: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhäng-nisvoller sein?“35

In diesem Sinn verspricht, abgesehen davon, daß, trotz eines unbe-streitbaren Rückgangs des Anteils der (Lohn-)Arbeit an der Gesamt-lebenszeit in den industrialisierten Ländern, ein kritisches Hinterfra-gen der Behauptung von der permanenten und „dramatischen“ Ar-beitszeitverkürzung angebracht bleibt36, auch die bloße Reduzierung

35 Arendt, a.a.O., S. 11/12 36 So weist beispielsweise Lisop nach, daß zwar große Arbeitszeitreduzierungen in

der ersten Etappe der industriellen Revolution vorgenommen wurden, damit aber bestenfalls eine Rücknahme der ungeheuren Verlängerung der Arbeitszeit der frühen Entwicklungsstadien des Kapitalismus erfolgte. Die Arbeitszeitverkür-zungen im Gefolge der wissenschaftlich-technischen Revolution sind im Verält-nis zur damit verbundenen immensen Steigerung der Arbeitsproduktivität hinge-gen nur noch geringfügig. Die Arbeitszeiten in den vorindustriellen Abschnitten der europäischen Geschichte waren – nimmt man die Arbeitsstunden während eines Jahres als Maßstab – insgesamt sogar geringer als im 19. Jahrhundert. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs gewannen verschiedene Gruppen von Fach-arbeitern wieder das gleiche Ausmaß an arbeitsfreier Zeit, das die im Handwerk Tätigen bereits zum Ausgang des Mittelalters erreicht gehabt hatten. Vgl. Lisop, I: Sozio-kulturelle Entmündigung in der Freizeitgesellschaft. Frankfurt a.M. 1986, S. 110ff.

Auch Arendt führt aus, daß, legt man den Betrachtungen zu Arbeitszeitverkür-zung etwas längere Zeiträume zugrunde, man zur überraschenden Feststellung kommt, daß wir es bisher, was die jährliche Gesamtsumme der auf jeden entfal-lenden Freizeit anlangt, noch nicht sehr viel weiter gebracht haben, als uns wie-

der einem halbwegs normalen und erträglichen Maß zu nähern. Denn z.B. „schätzt man heute, daß während des Mittelalters nicht mehr als die Hälfte der Tage im Jahr gearbeitet wurde.“ Das Ausmaß der offiziellen Feiertage beziffert sie, unter Berufung auf Levasseur und Liesse, auf 141 Tage. Arendt: a.a.O., S. 120 u. S. 346.

Ehalt gibt an, daß in Wien noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts etwa jeder dritte Tag ein Feiertag war, und daß außerdem das „Blau feiern“ des Montags bei den Handwerksgesellen eine verbreitete Methode war, um einen weiteren freien Tag zu gewinnen. Ehalt, H.Ch.: Arbeit ist aller Laster Anfang. In: Zeitschrift für So-zialpsychologie und Gruppendynamik. In Wirtschaft und Gesellschaft, 16 (1991), Heft 1, S. 15.

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der Erwerbsarbeitszeit, bei Aufrechterhaltung der strukturellen Be-dingungen, unter denen gesellschaftlich organisierte Arbeit stattfindet, keine Lösung. Freizeit stellt heute kaum einen Gegenpol zur fremdbe-stimmten Arbeitszeit dar. So wie David Riesmann schon in seinem 1961 erschienenen Buch „Wohlstand wofür?“37 geschrieben hat, kann man sie heute meist nur mehr als jene Zeit charakterisieren, „in der man sich all den Anreizen zum Erwerb neuer Konsumgewohnheiten aussetzt, die ihrerseits neue Einkommensquellen erfordern“. Unsere Arbeitsgesellschaft braucht eben nicht nur bewußtlos sich am Ziel des „Immer-Mehr“ beteiligende Arbeitende, sondern auch Konsumentin-nen und Konsumenten, die möglichst viele Modeströmungen mitma-chen, sich einreden lassen, daß genau das jetzt neu auf den Markt kommende Produkt ihr Leben lebenswerter machen wird und die un-kritisch alle Lifestylerituale, die gerade „in“ sind, mitvollziehen.

Kritische KonsumentInnen hingegen, die nach dem Sinn und Zweck der immer neuen und modeabhängig wechselnden Produkte und Designs fragen würden, könnten die Prämissen unserer Gesell-schaft genauso zum Wanken bringen wie eine kritische Arbeitnehme-rInnenschaft, von der die Grundsatzfrage nach dem Sinn einer Arbeit gestellt wird, die im Erzeugen von Produkten besteht, die man den Käufern oft erst aufwendig einreden muß und deren „Entsorgung“ in der Zwischenzeit vielfach schon mehr Probleme als ihre Herstellung bereitet. Aber Bedingungen, Form und Rhythmus der Arbeit prägen eben auch das Verhalten außerhalb der Arbeitssphäre. Das für das Funktionieren in der Arbeitswelt verinnerlichte „Immer-Mehr“ fordert seinen Tribut selbstverständlich auch in der arbeitsfreien Zeit. Selbst-findung und Selbst-verwirklichung sind dementsprechend der-zeit in beiden Sphären kaum möglich, jedenfalls nicht für die weitaus überwiegende Zahl der ArbeitnehmerInnen. Es wäre eine Illusion, Freizeit als jenen Bereich anzusehen, in dem der Mensch von den

37 Riesmann, D.: Wohlstand wofür? Essays. Frankfurt a.M. 1973.

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Entfremdungstendenzen durch die industrielle Arbeitswelt befreit wäre. Geändert sind nur die Vorzeichen der Entfremdung, statt unter dem Zwang zur Arbeitskraftverwertung steht er in seiner erwerbsar-beitsfreien Zeit unter dem Zwang des Konsums.38

In der Zwischenzeit wird ja das Aufrechterhalten der auf das „Im-mer-Mehr“ programmierten „Wachstumsgesellschaft“ schon längst nicht mehr nur durch die verinnerlichte Arbeitsmoral der Gesell-schaftsmitglieder gewährleistet. Als diesbezüglich mindestens genau-so wichtig stellte sich die „Weiter“entwicklung des Menschen zum „homo consumens“ dar. Im Hinblick auf die Notwendigkeit eines ständig steigenden Konsums im Rahmen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wurde eine entsprechende Haltung der Men-schen, auch in der von Erwerbsarbeit freien Zeit, immer wichtiger. Immer mehr zu konsumieren mußte im gleichen Maß zum bewußtlos befolgten Lebensgesetz unserer Gesellschaft werden wie die Bereit-schaft zur intensiven Verausgabung von Arbeitskraft jenseits konkret-sinnlicher Bedürfnisse. Demgemäß kann auch die Welt des Freizeit-konsums keineswegs als Antithese zur heutigen Arbeitssituation und Arbeitswelt begriffen werden. Arbeiten und Konsumieren sind nur zwei Erscheinungsformen des gleichen Prozesses der Mehrwertpro-duktion; die Freizeit bietet dem einzelnen keineswegs automatisch die Chance zum Sprengen der Fesseln, die die Arbeitsgesellschaft seinem Bewußtsein angelegt hat.

Eine auf permanentes Wachstum und auf Expansion ausgerichtete Wirtschaft muß entweder ständig ihre Absatzmärkte ausweiten oder den Konsumenten immer wieder neue Wünsche suggerieren und diese an bestimmte verkaufbare Utensilien oder vermarktbare Dienstleis-tungen heften. Nachdem die potentiellen Käufermärkte natürlich ir-gendeinmal erschlossen sind, bleibt schließlich nur mehr der Weg in die Ankurbelung der Konsumspirale. Daß die Unternehmer in diesem

38 Vgl. Heitger, M.: Bildung und moderne Gesellschaft. München 1963, S. 184.

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Sinn vorgehen, ist demgemäß auch gar keine Frage der Moral, son-dern eine Folge der gesellschaftlichen Produktionsweise, in der jeder Kapitaleigner bei Strafe des Untergangs gezwungen ist, nach steter Kapitalverwertung zu drängen. Eine von Erwerbsarbeit befreite Zeit der Gesellschaftsmitglieder wurde, im Hinblick auf das notwendige Moment des ungezügelten Konsums in unserer Gesellschaft, damit förmlich zu einem wirtschaftlichen Zwang; Freizeit fungiert heute in diesem Sinn primär als ein „Motor der Konsumbedürfnisse“. Für gan-ze Wirtschaftszweige stellt der „Zugriff auf die Freizeit“ der Indivi-duen in der Zwischenzeit durchaus eine „wirtschaftliche Überlebens-notwendigkeit“ dar.

Die Umformung des Menschen zum „homo consumens“, und da-mit seine Totalindienstnahme für die Zwecke der Kapitalvermehrung, hat mit der sukzessiven Durchsetzung des Fordismus und somit – für Europa – nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Der amerikanische Psychologe Philip Cushman beschreibt die damals eingeleitete Ent-wicklung als eine systematische „Entleerung des Selbst“39, da dieser Prozeß bei den Gesellschaftsmitgliedern, parallel zum Schaffen der psychischen Voraussetzungen für die Anpassung an den Wachstums-zwang unserer Wirtschaft, auch das jahrhundertelang gepflegte Ideal eines autonomen Selbst endgültig zerstört hat. Denn verständlicher-weise ist nicht der Mensch, der selbst-bewußt und mündig über die Gestaltung und Ausgestaltung seines Lebens entscheidet, der „Ideal-konsument“ einer auf permanentes Wachstum programmierten Wirt-schaft, in der es ja darum geht, möglichst hemmungs- und kritiklos zu konsumieren, sondern der – wie ihn Riesmann40 treffend bezeichnet – „außengeleitete Mensch“, ein anpassungsfähiger und flexibler Typ,

39 Zit. nach: Ernst, H.: Leben statt Lifestyle. Psychologie Heute, 19 (1991), Heft 6,

S. 22. 40 Vgl. Riesmann 1973, a.a.O.

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der sich problemlos in den Strom von Waren, Versuchung und Kon-sum eingliedern läßt.41

Der „Ort der Kontrolle“ darf sozusagen – im Sinne eines problem-losen Funktionierens unserer Wirtschaftsordnung – nicht mehr im autonomen Selbst der Individuen liegen, sondern bei den vielen Ma-nipulationsinstanzen der Konsumgesellschaft. Waren es früher über-wiegend die Familie, die Religion bzw. ein durch das soziale Bezugs-system vermitteltes Weltbild, wodurch den Menschen Leitbilder und Orientierungen geboten wurden, so wurde diese Funktion seit einigen Jahrzehnten auch immer mehr von der Werbung und den Massenme-dien übernommen. Heute kann man durchaus sagen, daß primär Wer-be- und Marketingexperten die gängigen Normen für sozial korrektes Verhalten, guten Geschmack sowie die Kriterien für Befriedigung und Glück vorgeben. Die Folge ist eine unverkennbare Tendenz zur zu-nehmenden „Standardisierung“ und „Uniformierung des Bewußt-seins“ der Gesellschaftsmitglieder. Diejenigen, die es sich leisten können, versuchen das, was gerade „in“ ist, an Lebensstil, Kleidung, Verhaltensweisen und neuerdings immer häufiger auch Aussehen42, möglichst perfekt zu kopieren – der selbstbewußte Mensch, der sich zu seinem einmaligen und unverwechselbaren Wesen bekennt, scheint damit endgültig passé zu sein.

41 Vgl. auch Schelsky, H,: Einführung in Riesmann, D.: Die einsame Masse. Eine

Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Hamburg 1958, S. 14.

42 So werden z.B. in der BRD bereits 180 Millionen Mark pro Jahr für „Schön-heits“-operationen ausgegeben. Der SPIEGEL kommentiert diese Zahlen mit der Bemerkung, daß damit etwas, was noch vor wenigen Jahren ein Minderheiten-programm für reiche Witwen, alternde Playboys und Popstars war, heute bereits ein Massenphänomen darstellt: das Korrigieren des Körpers, dem jeweiligen Schönheitsideal entsprechend, sowie das Rückgängigmachen von altersbedingten Körperveränderungen (den Spuren des Lebens!), um möglichst lange einem im wesentlichen über die Medien vermittelten Bild des „Normalaussehens“ zu ent-sprechen. „Der Spiegel“, 46 (1992), Heft 32, S. 108-119.

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Möglich wurde dieser „Abschied von der Individualität“, verbun-den mit der skizzierten Bereitschaft der Menschen unseres Kultur-raumes, sich relativ reflexionslos den Vorgaben der jeweiligen Mode-trends zu unterwerfen, durch eine zunehmende Sinnentleerung in modernen Gesellschaften. Als Folge läßt sich quasi auch eine „innere Entleerung“ der Menschen beobachten. Der bekannte Psychoanalyti-ker Horst-Eberhard Richter meint in diesem Zusammenhang, daß in unserer Gesellschaft die Innerlichkeit, das Nachdenken über eigene innere Probleme, eine zunehmende Entwertung erfahren hat und sich als Folge ein Verlust an Innenwelt, an selbstkritischer Reflexion, an Ernstnehmen des Inneren beobachten läßt. Als Kompensation zeigt sich ein geradezu triebhafter „Konsumismus“, eine Sucht nach unmit-telbar herstellbarer Befriedigung durch Kaufen, durch Genüsse, die man sozusagen manipulieren kann.43 Richter nimmt eine Wechsel-wirkung an, zwischen der – wie er sagt – „inneren Unseligkeit“, also der Perspektivlosigkeit der Menschen einerseits, und dem verstärkten Drang, sich manipulierbare Bedürfnisbefriedigung zu verschaffen, andererseits44. Das Konsumieren dient letztlich der Kompensation der inneren Leere, der Sinnentleerung mit dem damit unmittelbar zusam-menhängenden Gefühl, wertlos zu sein; die Menschen suchen etwas, was ihrem Leben Sinn zu geben vermag, und greifen in ihrer Not begierig nach den Angeboten der Warenwelt.

Konsumieren stellt heute für viele Menschen einen Ersatz für Le-ben und Lebendigkeit dar, für jene kreative Kraft, die sich vielfach nur noch unmittelbar bei Kindern, bei deren Spiel, beobachten läßt. Den Verlust von Sinn und Ziel in der Gesellschaft als Ganzem erlebt der einzelne als Verlust an Werten und Sicherheiten. Die Folge ist

43 Nicht zufällig findet sich die Drogenmetapher immer öfter auch in der Werbung:

„Wenn ich nur aufhören könnt’ …“ – geworben wird mit dem Anspruch, süchtig zu machen, nur der Tonfall und die soziale Realität unterscheidet Junkies von (angeblichen) Genießern von Keksen.

44 Richter a.a.O., S. 62.

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eine innere Leere, verbunden mit einem chronischen, undifferenzier-ten „emotionalen Hunger“45. Genau dieser emotionale Hunger der leeren Selbst ist aber als wesentliches „Schmiermittel“ der Arbeits- Konsum-Gesellschaft erforderlich. Im ständig steigenden Konsum von möglichst vielen Produkten durch möglichst viele Menschen liegt das „Erfolgsrezept“ unserer Marktwirtschaft. Obwohl offensichtlich ist, daß alles, was verkaufbar ist und verkauft wird, bloß warenförmi-ge Produkte und profitabel vermarktbare Dienstleistungen sind, wird dabei so getan, als ob es sich um Lebenssinn und Lebendigkeit han-deln würde. Denn „heute geht es nicht mehr (bloß) darum, die Impul-se und Triebwünsche der Menschen zu kontrollieren und zu regulie-ren [wie seinerzeit, bei der Installierung der modernen Industriege-sellschaft, E.R.] sondern ihre Sehnsucht nach Trost, Sinn und Zu-sammenhang zu manipulieren und zu beschwichtigen. Das geschieht, indem das »leere Selbst« immer wieder – allerdings nur für den Mo-ment – aufgefüllt wird. Die innere Leere muß ständig mit Konsumgü-tern, Kalorien, Erlebnissen, Unterhaltung und Politik-Symbolen auf-gefüllt werden. Auch das »Verständnis« und die »Empathie« von professionellen Lebenshelfern kann als »Füllmaterial« verwendet werden.“46

Dementsprechend geht es heute beim Konsumieren im Grunde ge-nommen auch zumeist gar nicht mehr um die gekauften Waren bzw. die warenförmigen Dienstleistungen selbst, sondern um eine diffuse und unreflektierte „Hoffnung auf Leben“. Einkaufspassagen, Malls, Fitnesscenters, Bars und Cafés sind nicht nur Orte des Konsums, son-dern ganz wesentlich die Fluchtburgen für Menschen, die der Lange-weile und dem „Frust am ungelebten Leben“ entfliehen wollen. Kon-sumiert wird primär aus Unlust an der inneren Leere und als Ersatz für ein gutes Lebensgefühl. Der Akt des Kaufens und Konsumierens ist heute überwiegend Selbstzweck, quasi eine Zwangshandlung mit

45 Ernst a.a.O., S. 22. 46 Ebda.

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irrationalem Ziel. Der Gebrauchswert des neuen Autos, der Klei-dungsstücke oder technischen Geräte ist dabei meist völlig oder zu-mindest weitgehend unwichtig, worum es vielmehr geht, ist das Hin-terherhetzen hinter dem subtilen Versprechen, daß mit dem Erwerb dieses Artikels das Leben ein wenig schöner, problemloser und vor allem „lebenswerter“ werden könne. Sexappeal, Popularität, gutes Aussehen und ganz allgemein „Gut drauf sein“ sind als Symbole für Lebendigkeit jene Versprechungen, mit denen die Werbung arbeitet, und auch das, was die Käufer – unbewußt – wirklich suchen. Kaufen und Konsumieren dienen heute in erster Linie einer Symbolfunktion; es steht für „Selbstverwirklichung“, „Lebensglück“, „Wohlbefinden“ und soll sich und den anderen bestätigen: „Ich existiere, und es geht mir gut“.

Dementsprechend arbeitet die Produktwerbung heute primär da-mit, den Waren Symbole anzuheften, die ihnen ursprünglich über-haupt nicht zukommen. Die unerfüllten Sehnsüchte nach Abenteuer, Freiheit, Lust, Sexualität, … Empfindungen, die grundsätzlich nur aus einer bejahenden Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur umge-benden Natur zu schöpfen sind, werden geschickt ausgenützt, um den Warenumlauf anzukurbeln. Angestrebt wird die emotionale Konditio-

nierung der Konsumenten. Es geht um das permanente Aufrechterhal-ten der Illusion, daß durch den Kauf und Gebrauch der Waren die Erfüllung jener Wünsche und Bedürfnisse möglich wird, deren echte Befriedigung allerdings genau durch jene gesellschaftlichen Struktu-ren und Bedingungen verhindert wird, die die unermeßliche Waren-vielfalt hervorbringen und für deren Aufrechterhaltung es auch not-wendig ist, daß immer mehr gekauft wird.

Die sekundäre Bedeutung des realen Gebrauchswertes der Kon-sumartikel zeigt sich auch darin, daß man heute auch meist gar nicht mehr kauft, um zu behalten, sondern um möglichst bald wieder weg-zuwerfen – oder, gewissensberuhigend, zu „recyclieren“. Während man früher, was man besaß, hegte und pflegte, um es so lange als

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möglich benützen zu können, lautet die Devise heute: verbrauchen, nicht bewahren. Da die Käufer das, was sie wirklich suchen – Lebens-sinn und Lebendigkeit –, durch den Erwerb der Waren und warenför-migen Dienstleistungen logischerweise sowieso nicht erhalten, haben die Dinge für sie auch sehr rasch keine Relevanz mehr47. Ein von der Industrie immer rasanter vorgenommener Modellwechsel und die zunehmend übliche Vorgehensweise, Waren wegzuwerfen, auch wenn sie noch völlig funktionsfähig sind, sind die logische Folge48. Dementsprechend stellt sich heute die Frage, ob im Zusammenhang mit dem skizzierten Verhalten gegenüber Waren überhaupt noch von „Konsumieren“ gesprochen werden kann. Konsum heißt ja eigentlich, die gekauften Waren auch zu verbrauchen, zu genießen, sie eben zu konsumieren. Genaugenommen sind die den Lebensversprechen der

47 Auch anhand des später noch zu besprechenden „Entfremdungs-Phänomens“ läßt

sich darstellen, warum die Menschen der Industriegesellschaft zwar gerne und viel kaufen, das Erworbene aber oft kaum oder nur für sehr kurze Zeit wertschät-zen. „Aufgrund seiner allgemeinen Beziehungsunfähigkeit ist (der heutige Mensch) auch Dingen gegenüber gleichgültig. Was für ihn zählt, ist vielleicht das Prestige oder der Komfort, den bestimmte Dinge gewähren, aber die Dinge als solche haben (für ihn) keine Substanz. Sie sind total austauschbar, ebenso wie Freunde oder Liebespartner, die genauso ersetzbar sind, da keine tiefen Bindun-gen an sie bestehen.“ Fromm, E.: Haben oder Sein. München 198110, S. 143/144.

48 Ein besonders deutliches Beispiel von „Konsumismus“ zitiert Elke Gruber: „Die Japaner sind technikverrückt. Leicht durch Werbung zu beeinflussen, sind sie von allem fasziniert, was neu auf den Markt kommt. Jeder will den letzten Schrei in Sachen Elektronik in seinem Wohnzimmer stehen haben, alte Geräte werden einfach weggeworfen, niemand will sie haben. Die Industrie hat mit rasanten Modellwechseln reagiert. So kommt es, daß die Japaner im Schnitt alle sechs Monate einen neuen Fernseher kaufen, um immer im Besitz des technisch raffi-niertesten Modells zu sein. In Tokio stellt man die »veralteten« Geräte einfach auf die Straße, sie werden einmal im Monat kostenlos von den Bediensteten der Stadt abgeholt, sofern sie nicht mehr als 200 Kilo wiegen. Gemeinsam mit ande-ren Abfällen werden sie dazu verwendet, vom Meer gewonnenes Land in der Bucht von Tokio aufzufüllen.“ Gruber, E.: Warum viel und schnell lernen noch nicht Bildung bedeutet. In: Gruber/Ribolits: Bildung ist mehr … Aufsätze zur be-ruflichen Qualifizierung. München/Wien 1992, S. 113.

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Warenwelt hinterherhetzenden Menschen aber nur süchtig auf das Kaufen – das Konsumieren verliert dagegen immer mehr an Bedeu-tung.

Ganz genau so, wie sich das Ingangsetzen von Arbeitsprozessen völlig vom ursprünglichen Zweck, dem Herstellen von Gebrauchs-werten, gelöst hat und die Gebrauchswerte heute de facto nur mehr als Nebenprodukt einer Mehrwertproduktion auftreten, hat sich auch der Konsum aus dem Zusammenhang des im jeweiligen Produkt impli-zierten spezifischen Gebrauchswertes gelöst. Und so wie das Um-schlagen des primären Zwecks von Arbeitsprozessen eine neuerliche, nun zwar nicht mehr, wie in der vorindustriellen Gesellschaft, natur-gegebene, nichtsdestotrotz aber genauso unerbittliche Unterjochung des Großteils der Menschen unter das Diktat der Arbeit bewirkt hat, entwickelte sich in Form von Marketing, Werbung, „Einkaufserleb-niswelten“ und ständig wechselnden Moden, Designs sowie „prestige-trächtigen“ Lebensstilen (wie z.B. bestimmten Clubmitgliedschaften, Hobbys, New-Age-„Therapien“ oder Reisen, „die man gemacht haben muß“) ein Instrumentarium zur völligen Indienstnahme der erwerbs-arbeitsfreien Zeit. Befreit von der Sorge um die Bedarfsdeckung an Gebrauchsgütern sind die Menschen heute eingeherrscht in den Se-kundärzwang der „Suche nach Leben“ und dementsprechend hilflos der „Verführung“ zum ungebremsten Warenerwerb ausgeliefert.49

49 Analysiert man die Symbole, mit denen Werbung arbeitet, läßt sich deutlich das

immanent mittransportierte Lebensversprechen erkennen. Man muß sicher kein Psychoanalytiker sein, um z.B. im Einsatz der enthüllten weiblichen Brust ein typisches „Lebenssymbol“ zu erkennen. Peter Sloterdijk meint zur Vermarktung der Frauenbrust in der Werbung: „In der Warenwelt scheint nichts mehr ohne sie zu gehen. Jeder spekuliert zynisch auf den Suchtreflex des anderen. Bei allem, was nach Leben aussehen und Wünsche wecken soll, sind sie dabei, als Univer-salornament des Kapitalismus. Alles was tot, überflüssig, entfremdet ist, macht mit lachenden Formen auf sich aufmerksam. … Reklame und Pornographie sind Sonderfälle des modernen Zynismus, der weiß, daß die Macht den Weg über die Wunschbilder gehen muß und daß man die Träume und Süchte der anderen zugleich reizen und frustrieren kann, um die eigenen Interessen durchzusetzen.“ Sloterdijk, P.: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1983, S. 280/181.

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Kaufen wurde in die „gesellschaftliche Pflicht“ genommen (Baudril-lard). Zwar wird der „Kaufzwang“ überwiegend nicht als solcher wahrgenommen – er tritt uns ja in der attraktiven Verkleidung einer „Möglichkeit“ gegenüber –, objektiv sind ihm die Menschen der Ar-beits- Freizeit-Gesellschaft genauso ausgeliefert wie dem Zwang zur Arbeit.

In logischer Konsequenz dieser Tatsache gibt heute bereits jeder zweite Amerikaner an, vom „Shopping“ mit Sachen zurückzukom-men, an die er vorher noch nicht einmal gedacht hat.50 Immer häufi-ger geht der Versuch, durch Konsumieren die innere Leere zu vertrei-ben, auch wesentlich weiter als die finanziellen Möglichkeiten erlau-ben würden. So berichtet der deutsche Freizeitforscher Horst-W. Opa-schowski, daß bei seinen Untersuchungen die Klagen über „zu hohe Geldausgaben beim Freizeitkonsum“, vor allem bei der jüngeren Ge-neration, laufend zunehmen: „1984 lebten 53 Prozent der zwanzig- bis neunundzwanzigjährigen FreizeitkonsumentInnen gelegentlich über ihre Verhältnisse, 1987 sind es bereits zwei Drittel (65 Prozent) gewe-sen.“51 Als weitere Steigerung im System des „Immer mehr – um jeden Preis“ entwickelte sich dabei die heute für den größten Teil der Bevölkerung gegebene Möglichkeit dar, Geld schon auszugeben, bevor man es überhaupt noch verdient hat. Nach dem Zweiten Welt-krieg wurde hierzulande – zuerst noch vorsichtig, in weiterer Folge dann immer problemloser – auch für „Besitzlose“ die Möglichkeit geschaffen, ihr Arbeitsäquivalent über ein Kreditsystem im voraus legitim zu konsumieren. Konnten noch in der Vorkriegszeit nur Wohlhabende, die nicht lohnabhängig waren und über Besitz verfüg-ten, Geld aufnehmen, so stellt in der Zwischenzeit der kreditfinanzier-te Kauf ein essentielles System unseres Wirtschaftssystems dar. Mit

50 Opaschowski, Horst W.: Konsum 2000 – Szenarien über die Zukunft von Kon-

sum und Freizeit. In: Rosenberger (Hg.): Konsum 2000. Veränderungen im Verbraucheralltag. Frankfurt a.M./New York 1992, S. 217.

51 Ebda.

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Hilfe von Kreditkarten, Schecks und Kontoüberziehungsmöglichkei-ten erscheint heute der vorspringende Verbrauch eines – erhofften – zukünftigen Arbeitseinkommens als die selbstverständlichste Sache der Welt. Viele Artikel wären ohne dieses Vehikel für große Gruppen von Konsumenten auch gar nicht erschwinglich. Man muß nicht mehr Geld besitzen, um zu kaufen – ein Kredit bedeutet heute, im Gegen-satz zu früher, keinen Statusverlust mehr; worauf es in erster Linie ankommt, ist zu kaufen, und erst in zweiter Linie geht es um die Fra-ge des „Leisten Könnens“. Daß mit dieser „Werteveränderung“ viele Menschen in einen unentrinnbaren Kreislauf der Verschuldung ge-trieben werden, wird als akzeptabler Nebeneffekt dieses Systems hin-genommen.

Menschliches Leben wird in unserer Gesellschaft einerseits von der Unterordnung unter die „Verausgabungsmaschine von Arbeits-kraft“ bestimmt und wird andererseits definiert durch die Prämisse: „Kaufen um zu sein!“ Dieser Umstand bedingt eine eigenartige Zwie-spältigkeit: Einerseits braucht die Wirtschaft Menschen, die hart ar-beiten, viel leisten und in diesem Sinn ein hohes Maß an Triebverzicht und Triebaufschub vollbringen. Andererseits kann die derzeitige Wirtschaftsweise nur bei ständig wachsendem Verbrauch stabilisiert werden; die Wirtschaft propagiert deshalb via Werbung mit ihren Produkten sofortigen Spaß, Lust und Vergnügen, Entspannung und Sichgehenlassen. Der hemmungslose Konsum ist gleichsam eine Funktion der heutigen Produktion. Auf der einen Seite steht die Welt der Arbeit, in der die Unterordnung unter die Prinzipien Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit gefordert ist, und auf der anderen Seite eine Welt der vermeintlichen Freiheit und des totalen Genusses, eine Welt, in der alle Vergnügungen als käufliche Ware feilgeboten werden. Gefordert ist der „Teilzeit-Hedonist“ – tagsüber, in der Arbeit, Selbst-aufgabe in Form der Triebunterdrückung, außerhalb der Arbeit Selbstaufgabe in Form von manipuliertem Konsum.

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Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, daß die Möglichkeiten des Konsumierens jedoch durchaus nicht für alle Ge-sellschaftsmitglieder im gleichen Maß gegeben sind. Auch in den „reichen Gesellschaften“ der sogenannten „Ersten Welt“ gibt es – wie dargestellt – eine wachsende Zahl von Menschen, die vom Konsumie-ren über das überlebensnotwendige Maß hinaus weitgehend ausge-schlossen sind52, damit aber gleichzeitig auch das lebende Beispiel dafür abgeben, daß die Teilnahmemöglichkeiten am Konsum nur die „Belohnung“ für Anpassung und Wohlverhalten im Bereich der Ar-beit darstellen. Und auch für jene, die in größerem Umfang als Verbraucher partizipieren können, bleibt selbstverständlich immer noch das Versprechen einer eventuellen weiteren Konsumsteigerung, mit der gleichzeitigen Hoffnung auf mehr „Lust am Leben“, aufrecht. Dies sind schließlich auch die Mechanismen, die dafür sorgen, daß Menschen bereit sind, den Widerspruch von Triebunterdrückung ei-nerseits und „triebhaftem“ Kaufverhalten andererseits zu ertragen und halbwegs in der Balance zu halten.

Die skizzierte Haltung zum Konsum bezieht sich nicht bloß auf das Verhältnis der Menschen zu dinghaften Waren, sondern sie defi-niert das gesamte (Freizeit-)Verhalten. Auf dieselbe zwanghafte Art, wie man Gebrauchswaren kauft und konsumiert,, werden heute auch Musik, Kunst, Information, Vergnügen, Reisen und dergleichen – quasi warenförmig – konsumiert. Faktisch alle Formen kultureller Entäußerung werden heute „als Ware“ feilgeboten, immer mit dem gleichen immanenten Versprechen, „durch Konsum zum Leben“ zu gelangen. In der modernen, auf Mehrwertproduktion ausgerichteten Gesellschaft nimmt schließlich alles, was zur angestrebten „Lebens-freude“ (der ausreichend Verdienenden) beizutragen imstande scheint, den Charakter konsumierbarer Waren an. Als Folge kann heute durchaus von einer „Universalität der Konsumhaltung“53 gesprochen

52 Vgl. dazu auch die Fußnote 33 in diesem Kapitel. 53 Heitger, a.a.O., S. 166f.

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werden. Dabei geht es primär immer um das „Haben“, eine aktive Auseinandersetzung, ein „Berührt-Werden“ ist nicht Teil des bewor-benen Konsums. So wie beim Auto, bei Schuhen oder sonstigen, im Sinne ihres ursprünglichen Zwecks als Gebrauchsartikel bezeichneten Waren geht es auch bei der Kultur oder beim Reisen in erster Linie um den Prestigegewinn, um das Dazugehören, darum, einen kurzen Moment lang bemerkt zu werden und sich dadurch selbst wahrzu-nehmen.

Freizeit und Arbeitsleben sind auf das engste miteinander ver-zahnt. Nicht nur daß die „Logik des Kapitalismus“ jenes von allen sinnlichen Bedürfnissen losgelöste und kaum hinterfragte „Immer mehr, um jeden Preis“ die alles umfassende Grundprämisse abgibt, bildet auch die beide Bereiche in einer ganz ähnlichen Form struktu-rierende Zeit eine unlösbare Klammer. Die Freizeit der meisten Men-schen in unserer Gesellschaft ist heute ähnlich durchorganisiert wie das Arbeitsleben. Eingepaßt in die Arbeitszeiten des Partners, die Schulzeiten der Kinder, Öffnungs- und Betriebszeiten der Dienstleis-tungsunternehmen, Frequenzen der Verkehrsmittel, Sendeschemata der Massenmedien, Termine, Fristen, Wegzeiten, ergibt sich eine immer stärkere „Verberuflichung der gesamten Lebensführung“. Was früher fast nur für die Berufsarbeit galt, überträgt sich zunehmend auch auf das übrige Leben: es gilt die Zeit nicht bloß zu verbringen, sondern sie optimal zu nutzen; die Dominanz der ökonomischen Rati-onalität macht auch vor der „Frei“-Zeit nicht mehr halt. Im Zusam-menhang mit einer zunehmenden Einführung flexibler Arbeitszeitre-gelungen kommt es zu einer tendenziellen Auflösung der klaren Wo-chenstrukturierung in Werktage, Wochenenden, Feiertage und Feier-abend. Indem die vorgegebene Struktur der Lebenszeit abnimmt, ist nun jeder selbst verantwortlich für sein „Time-Management“. Nun heißt es auch, in der arbeitsfreien Zeit geschickt einzuteilen und mög-lichst Zeit zu sparen, denn es gilt ja möglichst viel an „Leben“ unter-zubringen.

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Das Zeitbudget wird ähnlich kostbar wie das Geldbudget; Zeit ist nun Leben und nicht mehr bloß Geld. Der deutsche Konsumforscher Scherhorn berichtet, daß vor allem junge Menschen oft stolz darauf sind, möglichst viel an „Frei“zeitaktivitäten „unterzubringen“ – Ge-selligkeit, Konsum, sportliche Aktivitäten, alles in rascher Folge oder, noch besser, gleichzeitig. Die Zeit stellt nicht unbedingt ein objektives Hindernis dar, mit der begrenzten Zeit, die jedem zur Verfügung steht, lassen sich immer noch mehr und teurere Konsumgüter kombi-nieren – allerdings muß das Konsumieren selbst dabei immer flüchti-ger werden.54 Je mehr an Waren und Dienstleistungen wir konsumie-ren können und aufgrund des suggerierten „Lebensversprechens“ auch zu konsumieren bereit sind, desto weniger kommen wir zur Ru-he. Wir werden zu Konsumenten der Zeit und verlieren damit, auch in der (trotzdem noch so genannten) Freizeit, de facto immer mehr die Verfügungsgewalt über die Zeit. Selbstverständlich passen auch fixe oder überhaupt Ladenschlußzeiten zunehmend nicht mehr in das neue Zeit-(und Konsum-)verständnis. Jeder will und soll jederzeit kaufen können. In den noch „fortgeschritteneren“ Arbeits- Konsum-Gesellschaften, wie zum Beispiel den USA oder Japan, ist es längst verwirklicht: Wer Geld hat, kann immer einkaufen, 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr.

Das ökonomisch-rationale Organisationsmuster der Industriege-sellschaft zeigt sich allgegenwärtig. Ob Arbeits- oder Freizeit, alles muß sich letztendlich dem Ziel der Gewinnproduktion durch perma-nentes Wachstum, durch regionale, mengenmäßige oder strukturelle Ausweitung unterordnen. Das „Immer-Mehr“ ist schon so tief in unse-re Köpfe implantiert, daß es kaum noch kritische Stimmen dagegen gibt. Auch die sukzessive Entgrenzung der arbeitsfreien Zeit und die um sich greifende – endgültige – Ausrichtung der Arbeitszeit am wirt-

54 Vgl.: „Nur noch beim Kaufen fühlen sich die Menschen frei“. Ein Gespräch mit

dem Konsumforscher Professor Gerhard Scherhorn. In: „Psychologie heute“ 20 (1993) 1, S. 22-26.

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schaftlichen Bedarf stößt nur auf wenig Widerstand. Selten, und fast nur von Vertretern von Religionsgemeinschaften, wird eine un-verzweckte, der Be-sinn-ung gewidmete und auch entsprechend „ge-schützte“ Zeit eingefordert. Ulrich Wilckens, Bischof von Holstein und Lübeck, ist ein solcher verbliebener Mahner. Er formuliert: „Es gehört seit jeher zur Lebensqualität einer Gesellschaft, daß es regel-mäßige Zeiten der Besinnung auf die Tiefenschichten des Lebens, auf Sinnzusammenhänge und grundlegende Werte und Normen gibt; Zei-ten, in denen dies gemeinsam symbolisch erfahren werden kann.“55 Freizeit in der Form, wie sie uns heute überwiegend gegenübertritt und so wie sie unter den Bedingungen der abstrakten Vernutzung menschlicher Arbeitskraft zum Zweck der Mehrwertproduktion er-möglicht wird, kann allerdings kaum (mehr) als eine solche Zeit der Besinnung bezeichnet werden.

Die sich fast ausschließlich im Konsum artikulierende Freizeit stellt sozusagen den anderen Pol der entfremdeten Arbeitsbedingun-gen der modernen Industriegesellschaft dar, und die skizzierten Er-scheinungsformen von Freizeit lassen sich insgesamt ebenfalls nur mit dem Begriff der Entfremdung zusammenfassen. Für den derart unter zweifach entfremdeten Bedingungen existierenden Menschen, kann die Folge nur die totale Entfremdung der Person von sich selber sein. Somit läßt der vorgenommene flüchtige Blick auf die beiden Gesich-ter der Arbeits- Konsum-Gesellschaft wenig Chance, sich der radika-len Diagnose zu entziehen, mit der Leo Kofler die Situation des Men-schen in unserer Gesellschaft charakterisiert: „Der Mensch lebt heute in der tiefsten Entfremdung, das heißt in der Entgeistigung, der Ent-emotionalisierung […] [es] fehlt ihm die Fähigkeit, seine vielfältigen Kräfte und schöpferischen Tendenzen zu gebrauchen. Der Mensch ist

55 Zit. nach Lenz, W.: „Arbeit und Bildung“ in ihrer historischen Entwicklung.

Manuskript, Graz 1988, S. 50.

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in seiner großen Masse ein armseliges Wesen geworden.“56 Auch für den Psychoanalytiker Erich Fromm ist der Begriff der Entfremdung ein Schlüsselbegriff, um das Verhalten der „modernen Persönlichkeit“ zu erklären, und bestens dafür geeignet, „das Wechselspiel zwischen der heutigen sozioökonomischen Struktur und der Charakterstruktur des Durchschnittsmenschen aufzuzeigen.“57 Er versteht darunter jene Art von Erfahrung, „bei welcher der Betreffende sich selbst als einen Fremden erlebt. Er erlebt sich nicht mehr als […] Urheber seiner ei-genen Taten – sondern seine Taten und deren Folgen sind zu seinem Herrn geworden […]. Der entfremdete Mensch hat den Kontakt mit sich selbst genauso verloren, wie er auch den [echten, unmittelbaren, E.R.] Kontakt mit allen anderen Menschen verloren hat. Er erlebt sich und die anderen so, wie man Dinge erlebt – mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Außenwelt in eine produktive Beziehung zu treten“58

Nicht zufällig bezeichnet im Englischen das Wort für Entfremdung – alienation – auch den Zustand eines psychisch Kranken. Denn ganz so wie der neurotisch kranke Mensch von Kräften getrieben wird, die zwar aus ihm heraus und durch ihn wirken, ihm aber nicht einsichtig sind, so befindet sich auch der entfremdete Mensch in einem Zustand, in dem durch ihn selbst und durch sein Tun aktivierte Kräfte sich ihm gegenüber verselbständigen und umschlagen zu einer Art „Naturge-setzlichkeit“ bzw. ihm als eine solche erscheinen. Karl Marx, der den Begriff der „Entfremdung“ von Hegel übernommen und zu seinem Durchbruch in der sozialpsychologischen Diskussion verholfen hat, definiert damit einen Zustand, in dem „die eigene Tat des Menschen

56 Kofler, L.: Mit einer Zehe im echten Reich der Freiheit stehen. In: Ernst (Hg.):

Die Seele und die Politik. Psychologie heute Sonderband. Weinheim/Basel 1983, S. 47.

57 Fromm, E: Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung. München 1991, S. 99.

58 Ebda., S. 107.

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ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unter-jocht, statt daß er sie beherrscht.“59 Die Ursache für das Umschlagen des ursprünglich Subjektiven (Individuell-Tätigen) ins Objektive (Ü-berindividuell-Naturgesetzliche) liegt in einem verstellten Bewußtsein des Menschen, das ihn hindert, den wahren Charakter des Geschehens und seine eigene Potenz zu erkennen. Er erlebt sich selbst und die anderen im Lichte der Täuschung einer objektiven Macht, die die Freiheit beschneidet und das Verhalten steuert. Indem der entfremdete Mensch sich selbst nicht mehr als den Herrn über seine eigenen Taten zu erkennen imstande ist, wird er sich quasi selbst zu einem Fremden, genauso wie auch sein Nächster ihm fremd wird – die Unfähigkeit, echte, tiefgreifende Beziehungen aufzubauen, ist dabei eine logische und unmittelbare Folge.

Die Tatsache der Entfremdung läßt somit das historisch Geworde-ne und dementsprechend aber auch grundsätzlich wieder Veränderba-re, als ein den Menschen auferlegtes, unüberwindliches Schicksal erscheinen. Je stärker aus dem Bewußtsein der Menschen das Wissen darüber ausgelöscht ist, daß sie selbst die Urheber der jeweiligen his-torisch-gesellschaftlichen Erscheinungen sind, desto selbstverständli-cher erscheint es ihnen, sich dem – vermeintlich unentrinnbaren – Schicksal zu unterwerfen. Die allgemeine Erscheinungsform von Ar-beit und Freizeit in unserer Gesellschaft und das dahinter stehende Interesse der Kapitalverwertung sind somit nicht nur Ursache der Entfremdung, sondern gleichzeitig auch die Grundlage für deren Auf-rechterhaltung. Es gehört zu den grundsätzlichen Irrtümern bestimm-ter, sich meist auf den Marxismus berufender Gesellschaftsinterpreta-tionen, monodirektional das Interesse bestimmter Klassen für die Unbewußtheit der gesellschaftlichen Mehrheit verantwortlich zu ma-chen. Tatsächlich kann ein bestimmtes klassengebundenes Interesse jedoch nur auf dem Boden der gedanklichen Nichtbewältigung des

59 Marx, K.: Die Frühschriften. Hg. von Friedrich Landshut. Stuttgart 1971, S. 361.

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objektiven Geschehens – das wieder in einer gesellschaftlichen Ge-samtsituation begründet ist – zur scheinbar objektiven Naturgesetz-lichkeit mutieren60. Entfremdung ist die Folge der verbreiteten Bereit-schaft, eher in Unmündigkeit zu verharren als sich seines Verstandes zu bedienen, und dementsprechend – wenngleich selbstverständlich durchaus im Interesse derjenigen, die aus der Unmündigkeit der Mehrheit Kapital schlagen! – auch mitverschuldet. Aber sicher gilt heute noch viel mehr, was Immanuel Kant schon 1784 formuliert hat, daß nämlich Mut dazu gehört, sich seines Verstandes zu bedienen61. Sich mit dem Wahn-sinn einer Gesellschaft zu konfrontieren, die auf der Logik des „Immer-Mehr“ aufbaut, würde nämlich gleichzeitig auch bedeuten, den Mut aufbringen zu müssen, um dem Grauen der inneren Leere zu begegnen.

Diesen Mut aufzubringen gelingt nur wenigen Menschen. Den ge-sellschaftlichen Wahnsinn zu reflektieren, jedoch gleichzeitig erken-nen zu müssen, Gefangener dieser Gesellschaft zu sein, ist offenbar zumeist eine allzu schreckliche Perspektive. Dementsprechend total stellt sich heute die Entfremdung der Menschen der industrialisierten Gesellschaften dar – faktisch niemand kann sich der Unterordnung von Erwerbsarbeit und erwerbsarbeitsfreier Zeit unter die sinnlose Mehrwertproduktionsmaschinerie entziehen. Arbeit und Konsum erscheinen heute weitestgehend losgelöst von den realen Bedürfnissen der Menschen, gleichzeitig ist damit jeder Maßstab für eine sinnvolle Lenkung und Begrenzung in diesen Bereichen verlorengegangen.

60 Vgl.: Kofler, L.: Der proletarische Bürger. Marxistischer oder ethischer Sozia-

lismus. Wien 1964, S. 58. 61 Vgl.: Kant, I.: Was ist Aufklärung? (1784). In: Kant: Werke, hg. von Cassirer,

E., Bd. IV. Berlin 1921-1923, S. 169.

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7. MUSSE – DIE VERGESSENE CHANCE

Wer das Lernen übt, vermehrt täglich.

Wer den Sinn übt, vermindert täglich.

Er vermindert und vermindert,

bis er schließlich ankommt beim Nichtsmachen.

Beim Nichtsmachen bleibt nichts ungemacht.

Das Reich erlangen kann man nur,

wenn man immer frei bleibt von Geschäftigkeit.

Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt,

das Reich zu erlangen.

Tao te king, Vers 48 (Köln 1982)

Unter den geschilderten Bedingungen der faktisch totalen Ent-

fremdung in der Arbeits- Freizeit-Gesellschaft sich heute bloß damit zu begnügen, appelatorisch ein „Besinnen“ der Menschen zu fordern, erscheint nicht nur wenig zielführend, sondern schlichtweg scheinhei-lig. Sollensforderungen, die die gegebenen historisch-gesellschaftli-chen Bedingungen und Möglichkeiten nicht mit berücksichtigen, die-nen bestenfalls der intellektuellen Selbstbeweihräucherung. Zwar ist es zu einfach, bloß davon auszugehen, daß die jeweiligen gesell-schaftlichen Verhältnisse, im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Relation, einen bestimmten Bewußtseinsstand der Menschen „determinieren“; dennoch ist evident, daß das Bewußtsein sich nicht unabhängig vom jeweiligen Sein entwickelt. Sein und Bewußtsein stehen zueinander in einer dialektischen Wechselbeziehung, was nichts anderes bedeutet, als daß sie – wenngleich es unserem, in den Entweder-Oder-Kate-gorien des linearen Weltbilds geschulten Denkens auch schwerfällt, das zu begreifen – für einander jeweils Wirkung und Ursache sind.

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Dementsprechend ist es aber für ein Wirken unter pädagogischem Anspruch weder akzeptabel, sich nobel auf den – noch so einsichtig begründeten (und wahrscheinlich dennoch viel zu selten verstande-nen) – Appell zum (Um-) Denken zurückzuziehen, wie es aber ande-rerseits nur blanken Zynismus bedeuten würde, in Erkenntnis der Katastrophenperspektive unserer „Immer-Mehr“-Gesellschaft, zu warten bis sich die Verhältnisse so zugespitzt haben, daß das gesell-schaftliche Sein die Bewußtseinsveränderung der Mehrheit quasi er-zwingt.

Worum es heute geht, ist einerseits, „trotz allem“ nicht müde zu werden, die Entfremdung als das grundlegende und bestimmende Phänomen unserer Gesellschaft mit all ihren Facetten zu thematisieren und in den Mittelpunkt pädagogischer Reflexion zu stellen. Zum an-deren und vor allem aber ist es heute dringender denn je notwendig, eine Gegenkultur zur be-sinn-ungslosen Unterordnung unter Arbeit und Konsum, eine Kultur des (echten) Genusses und der Muße, zu propagieren.

Zynische Selbstkritik ist in den Wohlstandsgesellschaften der in-dustrialisierten Welt heute „in“. Es ist derzeit geradezu „modern“, weinerlich darüber zu jammern, daß die Menschen unserer Gesell-schaft süchtig nach Genuß wären, vor lauter egoistischem Glücksstre-ben hemmungslos Natur und „Dritte Welt“ ausbeuten und sich als unfähig zum Teilen und zum Einschränken zeigten. Dementsprechend häufig sind die moralischen Aufforderungen zum Verzicht. Gefordert werden eine radikale Einschränkung der Bedürfnisse, und von man-chem Kritiker ein wirtschaftliches „Nullwachstum“. Alle diese Appel-le gehen davon aus, daß es sich bei den Wohlstandsbürgern unserer Gesellschaft tatsächlich um sinnenfrohe Hedonisten handeln würde, die aus Gründen des selbstsüchtigen Genusses die Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen betreiben. Genau das ist jedoch nicht der Fall, ganz im Gegenteil ist es wahrscheinlich nicht einmal eine Über-treibung, zu behaupten, daß der Mensch noch nie weiter von Lebens-

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lust und Genuß entfernt war als heute! Die These lautet: Nicht ein unersättlicher Hedonismus macht uns zu Sklaven des „Immer-Mehr“, sondern die zunehmende Entfremdung von unseren vitalen Lebensbe-dürfnissen, die Disziplinierung unserer Sinne im Dienste einer immer höheren Entwicklung der Arbeit und der Produktivität.

So wie Marx die Arbeiterklasse seiner Zeit als Menschen be-schrieb, denen es „an Bedürfnissen fehlt“, kann heute generell davon gesprochen werden, daß die Menschen unserer Gesellschaft keine Bedürfnisse außer den zugewiesenen und somit erlaubten mehr ken-nen. Unser Begehren ist weitgehend gegängelt von jenen Wünschen, die uns die Werbung suggeriert, und zu wissen, was er wirklich be-darf, kann heute wahrscheinlich kaum jemand von sich behaupten. „Wir sind Genarrte des Reichtums, des Überflusses, Genarrte der Möglichkeiten von Angeboten, nicht aber Genießer der Wirklichkeit, auch da nicht, wo wir sie zu konsumieren vermögen. Wir leiden dar-unter, daß Konsum uns zwar überleben, aber nicht leben, nicht das Leben genießen läßt.“1 Die Entfremdung des Menschen der Industrie-gesellschaften bedeutet eben auch die Entfremdung von seinen Be-dürfnissen und Interessen. Wir stehen heute vor der Situation, daß „die Bedürfnisse zugleich das Zentrum der Beherrschung der Indivi-duen und Ausdruck des eigenen Willens sind […]. Bedürfnisse sind der Ort der Unterworfenheit und der einwilligenden – d.h. nicht not-wendigerweise bewußten – Unterwerfung unter Herrschaft.“2 Eine Kritik an der heutigen Gängelung der Bedürfnisse sowie der ins u-nermeßliche hochgeputschten Bedürfniseskalation bedeutet demge-mäß nicht ein Votum für die Bedürfnislosigkeit. „Vielmehr läßt die Ambivalenz der Bedürfnisse beides fordern, die Entfaltung von Be-dürfnissen und die konsequente Verweigerung ihnen gegenüber. Be-

1 Pfaff, K.: Muße – eine Reise zu den Quellen der eigenen Kraft. In: Tewes, a.a.O.,

S. 36. 2 Gronemeyer, M.: Die Macht der Bedürfnisse. Reflexion über ein Phantom. Rein-

bek bei Hamburg 1988, S. 22/23.

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dürfniskritik umschließt die Kritik am Zuviel wie am Zuwenig der Bedürfnisse.“3

Marianne Gronemeyer hat aufgezeigt, daß es ein wahrscheinlich unlösbares Unterfangen darstellt, ein trennscharfes, „objektives Krite-rium“ für die Grenze zwischen entfremdeten und nicht-entfremdeten oder, in anderer Diktion, von „wahren und falschen“ (insbesondere J. Habermas und H. Marcuse unter Rückgriff auf K. Marx) Bedürfnis-sen festzulegen. Sie meint, daß ein Versuch in dieser Richtung des-halb zum Scheitern verurteilt sein muß, weil er mit einem Paradoxon fertig werden muß: So sind einerseits die „falschen“ Bedürfnisse im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß sie fremde, also oktroyier-te Bedürfnisse, Bedürfnisse „von außen“, sind. Die „wahren“ Bedürf-nisse andererseits sind jedoch auch „nicht einfach dadurch wahr, daß sie aus dem tiefsten unverdorbenen Innern des Individuums aufstei-gen, nicht korrumpiert durchs niedere Erdendasein gesellschaftlicher Existenz. Alle Bedürfnisse sind »von außen«, insofern sie sich an Gegenständen (= Objektivationen) entfalten. »Wahr« sind sie viel-mehr dadurch, daß sie lebensdienlich sind.“4 Demgemäß können die den Individuen aufgeherrschten, entfremdeten Bedürfnisse durchaus auch „erträglich, lohnend und bequem“ (Marcuse) sein. Am Beispiel der sich in den industrialisierten Gesellschaften bereits zu einem neu-en Krankheitsbild verdichtenden Unfähigkeit, seinem Körper ausrei-chende Ruhephasen zu gönnen, läßt sich das recht deutlich aufzeigen. Immer mehr Menschen zeigen heute Symptome chronischer Müdig-keit5, da sie – bombardiert von den „Lebensversprechungen“ der Konsum- und Freizeitindustrie – nicht mehr in der Lage sind, den Bedarf ihres Körpers nach Ruhe und Schlaf ausreichend wahrzuneh-

3 Ebda. S. 25. 4 Ebda. S. 26. 5 Vgl: Wolf, A.: Die große Müdigkeit. In: „Psychologie heute“ 19 (1992) 4, S. 20-

23, sowie: Buchacher, R., Gergely, S.M., Kremsmayer, U.: „I bin aa so hin“. In: „profil“, Nr. 16/13. April 1992, S. 72-75.

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men. Die höheren Leistungsanforderungen durch immer härtere Kon-kurrenzsituationen im Arbeitsleben einerseits und der Freizeitstreß andererseits, größtenteils bedingt durch den Wunsch, in der Freizeit das in der Arbeit „versäumte Leben“ nachholen zu wollen, führen dazu, daß viele Menschen ihrem Körper gegenüber keinerlei Verant-wortung mehr wahrnehmen und ihn bis zum Zusammenbruch auslau-gen. Mit Kaffee, Tee oder chemischen Weckaminen wird das – durchaus „wahre“, da lebensdienliche – vitale Bedürfnis des Körpers nach Schlaf unterdrückt, um mehr von den Verheißungen der „Be-dürfnisindustrie“ konsumieren zu können.

Stand am Anfang der kapitalistischen Ära die von Max Weber eindrucksvoll beschriebene Umerziehung des „präkapitalistischen Menschen“, weg von der Ausrichtung an einem genügsamen und am Genuß orientierten Lebensstil, hin zur „Hingabe an den Beruf des Geldverdienens“, erfolgte in der Folge die oben skizzierte, weitge-hende Entkopplung zwischen Konsum und Bedürfnissen. „Die Grenze zwischen Bedürfnissen, Begierden und Gelüsten mußte ausgelöscht werden“, schreibt André Gorz in diesem Zusammenhang, „das bloß Wünschbare mußte zum Erforderlichen gemacht werden; Gelüsten galt es die gebieterische Notwendigkeit von dringenden Bedürfnissen zu verleihen.“6 Die Funktion der kapitalistischen Produktion ist es eben nicht, „Lebensbedürfnisse“ möglichst effektiv zu befriedigen. Worum es vielmehr geht, ist, die Menschen von ihren Bedürfnissen zu entfremden, ihnen das Bewußtsein über Wege und Formen der Be-dürfnisbefriedigung zu rauben, um ihnen statt dessen den Fetisch Wa-re anzubieten, der zwar verspricht, psychisch zu nähren und Befriedi-gung zu verschaffen, die emotional Hungrigen jedoch immer unbe-friedigt zurückläßt. Nur so konnten die dergestalt permanent Unbe-friedigten schließlich zum „dankbaren“ Objekt einer ungehemmten Ausweitung der Produktion werden.

6 Gorz 1989, a.a.O., S. 165

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Dementsprechend greift der Appell, vom ungezügelten Wollen Abschied zu nehmen und die eigenen Bedürfnisse zugunsten materiell weniger Privilegierter und einer Schonung der Umwelt einzuschrän-ken, viel zu kurz. Als Lösung aus der Unterjochung der Menschen unter das Diktat des „Immer-Mehr“ in Arbeit und Konsum gilt es heute in erster Linie, nicht eine Einschränkung der Bedürfnisse zu fordern, sondern Wege zur Bewußtwerdung der tatsächlichen Bedürf-nisse und Interessen zu propagieren. Im gegebenen System der Ent-fremdung bedeutet ja außerdem ein „bloßes“ Einschränken auch noch lange nicht eine wirkliche Abkehr von den lebensfeindlich-zynischen Mechanismen der Arbeits- Konsum- Gesellschaft. Ganz im Gegenteil – so scheint sich derzeit beispielsweise in den Kreisen derer die schon „alles“ haben bzw. haben könnten, sogar ein Trend zum Spiel mit einer „neuen Bescheidenheit“ abzuzeichnen. Partieller Konsumver-zicht wird dabei nur zu einer besonders raffinierten Variante des zeit-geistigen Konsumenten. Wer es sich leisten kann (und wer vor allen Dingen auch weiß, daß alle anderen wissen, daß er es sich leisten kann), pendelt neuerdings lässig zwischen einer Alles-oder-Nichts-Haltung beim Konsum. An einem Tag im Maßanzug um 25.000 Schilling und am nächsten Tag mit den völlig „zerfransten“ Jeans ins Büro. Das Floaten zwischen vernünftig sparsamen „Versorgungskon-sumenten“ und dem lustbetont verschwenderischen „Erlebniskonsu-menten“ ist „in“ und stellt zugleich eine Chance dar, sich von der Masse der gewöhnlichen „Konsumtrotteln“ abzuheben.7 Nicht eine auf der Basis einer Analyse der realen Bedürfnisse vorgenommene Entscheidung zu einem veränderten Lebensstil steht hinter der modi-schen „neuen Bescheidenheit“, sondern nur eine neue Facette des Konkurrenzkampfes um die prestigeträchtigen Plätze in unserer Ge-sellschaft. Nachdem das Shopping zur (fast) allgemein zugänglichen Massendroge geworden ist, genügt eben „das Haben“ nicht mehr, um

7 Vgl. „Wirtschaftswoche“ Nr. 35/27. Aug. 1992, S. 46ff

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sich vom Durchschnitt abzuheben, sondern es ist nun notwendig, zur Schau stellen zu können, daß man es sich leisten kann, (zumindest fallweise) auch ohne erkennbare Statussymbole aufzutreten. „Be-scheidenheit“ oder das, was dafür gehalten wird, mutiert zum Symbol des Hyper-Luxus8 und verhilft zugleich auch noch zu ein wenig Ge-wissensberuhigung im Hinblick auf die weiter vorne erwähnten Ap-pelle zum Verzicht.

Schon Max Weber hatte erkannt, daß nicht Habgier, Freude am Genuß und schon gar nicht ein ungezügelter Hedonismus die Anstart-kräfte des Kapitalismus darstellten, sondern, im Gegenteil, eine e-thisch-moralische „Verpflichtung des einzelnen gegenüber dem als Selbstzweck vorausgesetzten Interesse an der Vergrößerung seines Kapitals.“9 Nicht skrupellos auf ihren materiellen Vorteil bedachte und ganz sicher auch nicht besonders genußsüchtige oder lebenslusti-ge Menschen waren für Max Weber die Protagonisten der neuen ge-sellschaftlichen Ordnung, sondern „nüchtern und stetig, scharf und völlig der Sache hingegebene Männer mit streng bürgerlichen An-schauungen und Grundsätzen.“10 – „Hingabe an den „Beruf des Geld-verdienens“ zeichnete diese „Männer“ aus und nicht der Wunsch nach einem luxuriösen Lebensstil oder eine Vorliebe für exzessiven Genuß. Ihr Leben war – ganz im Gegenteil – bestimmt von „einem gewissen asketischen Zug“.

8 Ganz in diesem Sinn läßt sich neuerdings auch ein Trend zur Abkehr von einem

allzu vordergründig zur Schau gestellten Luxus erkennen. Was zum Beispiel die letzten Jahre als modern galt, das prestigeträchtige Firmenetikett möglichst groß und deutlich außen an der Kleidung zu tragen, signalisiert nun zunehmend Sno-bismus; „man“ zeigt heute Gediegenheit erst auf den zweiten Blick. Die Desig-ner haben schon auf die Zeichen der Zeit reagiert. So werden besonders teure Hi-Fi-Geräte neuerdings vielfach ohne optisch aufwendigen Schnickschnack ange-boten, und für die schlichte Eleganz der exclusiven „No-names“-Moden sind entsprechend situierte Kunden heute bereit, horrende Beträge zu bezahlen.

9 Weber, a.a.O., S. 42. 10 Ebda. S. 59.

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Genau darin lag ja die grundsätzliche Erziehungsleistung des Ka-pitalismus; den zwar genügsamen, aber am Genuß orientierten präka-pitalistischen Menschen zu überwinden. Denn die neue Ethik, die – wie Max Weber schreibt – den Menschen vorerst auch entsprechend „unfaßlich, rätselhaft, schmutzig und verächtlich“ erschien, fordert nun, sich den Genuß auch dann zu versagen, wenn die materiellen Bedingungen dies gar nicht erfordern, und zum primären Zweck des Lebens die Vorstellung zu machen, „dereinst mit hohem materiellen Gewicht an Geld und Gut belastet ins Grab zu sinken“.11 Es galt, den Menschen die traditionelle Genügsamkeit und Genußorientierung

auszutreiben und sie dazu zu bringen, ihre Arbeitsleistung von den Lebensbedürfnissen zu entkoppeln. Sie mußten lernen, ihre vitalen Genüsse zurückzustellen und mehr und intensiver für eine Entschädi-gung in Form eines zunehmenden Warenkonsums zu arbeiten, dessen Wert sich im Bewußtsein der Individuen gleichzeitig immer weniger darüber bestimmen durfte, wieweit er zu Befriedigung und Zufrieden-

heit des einzelnen beizutragen imstande ist. Nicht die sogenannten „menschlichen Schwächen“ Genußsucht,

Bequemlichkeit und Egoismus können demgemäß für das gesell-schaftliche Metaziel des „Immer-Mehr“ verantwortlich gemacht wer-den, sondern, ganz im Gegenteil, die Tatsache, daß diese uns so gründlich ausgetrieben wurden. Nicht Hedonismus und unmoralischer Zynismus treiben uns zur hemmungslosen Ausbeutung von Natur und Mitmenschen sowie zur eigenen Selbstausbeutung, sondern die ge-lungene Erziehungsleistung des Kapitalismus, die in der allgemeinen Verinnerlichung „jenes eigentümlichen Ethos“ besteht, das sich durch eine Hingabe an die „Sache“ auszeichnet und dadurch, daß nach ei-nem Beitrag für die Befriedigung oder das Glück der Individuen gar nicht mehr gefragt wird. Derzeit hingegen wird bei der Kritik von Egoismus und Habgier der heutigen Menschen meist davon ausge-

11 Vgl. ebda, S. 60.

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gangen, daß das bestehende Modell von Arbeit und Konsum auf der

subjektiven Ebene in Ordnung und dem einzelnen tatsächlich ein Mehr an Befriedigung, Glück und Zufriedenheit zu verschaffen im-stande sei. Selbst in den Anklagen über die Zerstörung der Umwelt und der Ausbeutung der Menschen in den armen Regionen der Welt schwingt noch die Botschaft mit: Es geht uns gut – nur eben leider auf Kosten anderer sowie einer unverantwortlichen Zerstörung der Um-welt.

Eine tatsächliche Chance, die wahrlich in jeder Hinsicht zerstöreri-sche Tretmühle des „Immer-Mehr“ zu überwinden, kann nach dem vorher Gesagten allerdings nur im Durchschauen der grundsätzlichen Täuschung liegen, daß dieses gesellschaftliche Metaziel, das die un-mittelbare Folge einer auf abstrakte Mehrwertproduktion ausgerichte-ten Wirtschaftsordnung darstellt, tatsächlich die subjektive Befriedi-gung und das Glück der Individuen erhöht. Ein politischer Slogan der letzten Jahre, in dem der für das im „Geist des Kapitalismus“ gefan-gene Denken der Menschen in den Industrieländern prägende Ansatz recht klar zum Ausdruck kam, lautete: „Es ist uns noch nie so gut gegangen wie heute“. Ganz typisch wird bei dieser Aussage mit einer immanenten Gleichsetzung von Warenvielfalt, materiellem Wohlstand und individuellem Glück operiert. Es spricht allerdings auch für sich, daß jene Menschen, denen es angeblich so gut wie nie zuvor geht, durch Plakataktionen auf diesen Zustand erst aufmerksam gemacht werden müssen. Ein wenig klingt das so, wie wenn Kinder im finsteren Keller durch möglichst lautes Pfeifen und Singen ihre Angst unbemerkbar machen wollen. Sind jene, denen da via Plakat mitgeteilt wird, daß es ihnen gut geht (oder gefälligst gut zu gehen hat!), vielleicht gar nicht so zufrieden? Sind vielleicht – ganz im Ge-gensatz zur Plakatbotschaft – die grauen, mürrischen Gesichter, die sich tagtäglich bei den Konsumenten in den diversen Einkaufspalästen beobachten lassen, der tatsächliche Indikator für den Gemütszustand der Menschen in der heutigen Welt des „Shopping macht happy“?

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Gefühle der Zufriedenheit, Geborgenheit, des Glücks oder einer allgemeinen Lebenslust scheinen heute eher nur selten die dominante Stimmung der Menschen unseres Kulturraumes wiederzugeben. Mit einem Hedonismus, bei dem das private Glück als höchstes Gut in der Erfüllung individueller Lust gesehen wird, scheint es demgemäß nicht weit her zu sein. Der „Geschmack des (Er-)Lebens“ (André Gorz), der früher einmal den konkreten Bedürfnissen zugrunde lag, ist selten geworden. Nicht nur die Arbeit, sondern auch die arbeitsfreie Zeit und der Konsum sind in die gesellschaftliche Pflicht genommen. Eine Verbindung zwischen diesen Formen der Lebensentäußerung und den „wahren Bedürfnissen“ der Individuen existiert schon längst kaum mehr. Der Vorwurf der Genußorientierung gehört demgemäß in die Reihe der großen Absurditäten der heutigen Diskussionen um die Notwendigkeit eines „Besinnens“ der Menschheit und der diesbezüg-lichen Appelle zur Einschränkung und zum Verzicht.

„Etwas Gutes kann der Mensch nur sein lassen um des Besseren willen und nicht aus bloßer Negation.“12 Wenn es heute immer offen-sichtlicher wird, daß ein weiteres Ankurbeln der gesamtgesellschaftli-chen „Immer-Mehr“-Spirale nur einen weiteren Schritt in Richtung sozialer und ökologischer Katastrophe bedeutet, dann bedarf es pri-mär nicht des Appells zur Mäßigung, sondern der Frage, was imstan-de sei, die Menschen aus der Not zu befreien, rastlos den Surrogaten des Lebens hinterherzuhetzen und es ihnen zunehmend verunmög-licht, auch nur fallweise „befriedigt und satt“ verharren zu können. Denn auch die neuerdings zuhauf angebotenen „Entspannungssemina-re“ können in der derzeitigen Situation wohl kaum die gesuchte Er-leichterung bieten. Eingebunden in die Gesetzmäßigkeiten von Markt und Konsum, entsprechen diese Seminare meist nur dem Ziel der Gehetzten nach einer möglichst effektiven Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft. Es geht dabei vorwiegend darum, aus sich doch noch

12 Vgl. Heitger, a.a.O., S. 188.

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herauszuholen, was schon längst nicht mehr drin ist. Die Seminare für Entspannungstechniken, Übungen zum positiven Denken oder zum Erlernen effektiverer Methoden des Ausnützens der körpereigenen Energiequellen sind symptomatisch für eine gesellschaftliche und ökonomische Ordnung, die in jeder Hinsicht an die Grenzen ihrer Ressourcen stößt.

Auch nicht eine „verzweckte“ Entspannung, im Sinne eines hekti-schen Atemholens für die nächste Runde in der aus sich selbst nie-mals zu einem Ende findenden Spirale der Mehrwertproduktion, wird die Menschen aus der Tretmühle des „Immer-Mehr“ befreien. In letz-ter Konsequenz wird kein Weg vorbeiführen an der Konfrontation mit jenem Erschrecken, das sich bei einem tatsächlichen Heraustreten aus der Vereinnahmung durch Arbeit und Konsum einstellt. In diesem Augenblick bricht nämlich die Illusion der „machbaren“ Welt und des „machbaren“ Lebens wie ein Kartenhaus zusammen, und der Mensch ist konfrontiert mit jenem unbeeinflußbaren, unerbittlich bestimmen-den Element der Existenz, das die Arbeits- Konsum-Gesellschaft sys-tematisch verdrängt – mit dem Tod. Vieles deutet darauf hin, daß das, was es den Individuen unseres Kulturraumes verunmöglicht, anstatt sich mit den konsumierbaren Lebenssurrogaten zufriedenzugeben sich tatsächlich zu ihren vitalen Bedürfnissen – zu Leben und Lebendig-keit in seiner ursprünglichen Form – zu bekennen, in einem engen Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Verdrängung der Endlich-keit der (materiellen) Existenz des menschlichen Lebens zu sehen ist.

Unübersehbar ist, daß, parallel mit dem immer stärkeren Durch-dringen aller Lebensbereiche durch das „Immer-Mehr“-Prinzip der auf Wachstum programmierten modernen Gesellschaften, eine suk-zessive Tabuisierung von Tod und eine Ausgrenzung des Sterbens aus dem gesellschaftlichen Alltag Platz gegriffen hat. Alle antiken Kultu-ren waren durchzogen von der Anerkennung des Todes als einem integralen Bestandteil des Lebens, und auch für unsere „westliche“ Zivilisation läßt sich zumindest bis zum Beginn der Neuzeit ein star-

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ker Einfluß des Themas Tod auf Alltag, Religion, Riten, Mythologie, Kunst und Philosophie nachweisen.13 Die dann zunehmend total wer-dende Entfremdung – wie beschrieben, zuerst in der Arbeit und dann immer stärker auch in der von Erwerbsarbeit freien Zeit – artikulierte sich auch in einer immer tieferen Entfremdung von den biologischen Grundaspekten des Daseins. Dieser Prozeß hat sich am dramatischs-ten auf die Grundtriade des Lebens – Geburt, Sexualität und Tod – ausgewirkt. Die derzeit stattfindende hemmungslose Vermarktung der sichtbar körperlichen Anteile der Sexualität sowie auch die Allge-genwart des Todes in Form von Krieg, Mord und Gewalt in den Me-dien sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Bereiche dem heutigen Menschen als unmittelbare Zugangs- und Erkenntnisfelder für eine Begegnung mit dem „Geschmack des Lebens“ weitgehend verschlossen sind. In der Tat unterliegt in unserer Gesellschaft ja nicht das Töten einem Tabu, sondern der Tod einschließlich seiner Antipo-den, den Äußerungen der vitalen Lebendigkeit. „Die Lust am Leben unterliegt schärferen Zensuren als die Lust an der Gewalt, an der Fol-ter und am Töten.“14 Sowohl Lebenslust als auch Todesangst, beides bestimmende Elemente einer „vollständigen“ menschlichen Existenz, sind den Individuen der „zivilisierten Welt“ weitgehend entfremdet.

Noch im neunzehnten Jahrhundert übte das Sterben eines einzel-nen Menschen einen tiefgreifenden Einfluß auf das soziale Leben der Menschen einer Wohngemeinde, wie zum Beispiel eines Dorfes oder Stadtviertels, aus. Der Tod war etwas Soziales und Öffentliches und veränderte auf feierliche Weise das Leben einer großen Gruppe von Menschen. Im Gegensatz zu heute, wo der Tod eines Menschen selbst

13 Mit der Verdrängung des Todes als integralen Bestandteils des Lebens aus dem

Bewußtsein der Menschen korreliert auch die zunehmende Verdrängung der Be-gräbnisstätten aus den Zentren an die Peripherien der Städte, sowie die Tatsache, daß heute kaum mehr jemand zu Hause, „im Kreise seiner Verwandten“, stirbt, sondern das Sterben üblicherweise, klinisch „unterstützt“ im Spital stattfindet.

14 Negt, O.; Kluge, A.: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unter-scheidungsvermögen. Frankfurt a.M. 1992, S. 166.

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für seine unmittelbaren Angehörigen unter Umständen nicht einmal eine grundsätzliche Zäsur im kontinuierlichen Ablauf des Alltags bedeutet, erzwang der Tod früher – im Umfeld welcher Religion auch immer – quasi eine gesellschaftliche Pause. Die feierliche Prozession mit dem Corpus Christi zum Haus des Verstorbenen, begleitet vom weithin hörbaren Totenglöckchen, öffentlich angeschlagene Trauer-anzeigen, die private Aufbahrung des Leichnams, der Trauerzug zum Friedhof, die rituell vorgeschriebenen Besuche der Angehörigen und Freunde im Hause des Verstorbenen und vieles mehr machten den Tod zu einem öffentlichen Ereignis, „das die gesamte Gesellschaft im doppelten Sinne, wörtlich und übertragen, »bewegte«: nicht nur ein einzelner war dahingegangen, sondern die Gemeinschaft als Ganze war getroffen und mußte nun ihre Wunde heilen.“15 Spätestens im zwanzigsten Jahrhundert hat die Gesellschaft den Tod – ausgenom-men vielleicht den „großer Staatsmänner“ – „ausgebürgert“, sein Einfluß auf das Alltagsleben ist heute minimal. Selbst die schwarz-silbrigen Leichenwagen sind zu unscheinbar grauen Limousinen ge-worden, die im Straßenverkehr kaum noch auffallen, im Alltagsleben der heutigen Großstädte deutet nichts mehr auf den Tod und seine unerbittliche Endgültigkeit hin.

Die Ausgrenzung des Todes wurde begleitet, beziehungsweise vorbereitet, von einer grundsätzlichen Veränderung des Verhältnisses zwischen Sterbenden und seiner Umgebung. Galt es bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhundert noch als selbstverständlich, einem Ster-benden die Auseinandersetzung mit seinem nahenden Tod zu ermög-lichen, ihn, wenn es notwendig erschien, mit aller Deutlichkeit in Kenntnis seines nahenden Schicksals zu setzen, wurde diese Pflicht der Umgebung – des behandelnden Arztes, eines Angehörigen oder Freundes – dann immer öfter abgelehnt beziehungsweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Es setzte sich die Ansicht durch, daß es besser sei,

15 Aries, Ph.: Geschichte des Todes. München 19915, S. 716.

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Sterbende in Unkenntnis über ihren Zustand zu belassen, ihnen diesen sogar mit allen Mitteln zu verheimlichen. Der Wunsch, Todgeweihte vor der Konfrontation mit ihrem Schicksal zu bewahren, unterlief bald sogar religiöse Regeln und Traditionen: „Selbst in den religiösesten Familien aufrichtig praktizierender Katholiken hat sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Angewohnheit verbreitet, den Priester erst zu rufen, wenn sein Erscheinen am Bett des Sterbenden ihn nicht mehr beeindrucken kann, weil er entweder das Bewußtsein verloren hat oder bereits tot ist“.16 Aus dem Bewußtsein des heutigen Men-schen ist der Tod als jener Punkt, auf den sich das Leben schon immer hinbewegt, faktisch endgültig ausgeblendet. Er wird zum Zwischen-fall einer Krankheit, zur Verkettung ungünstiger Umstände, zum Un-glück. Und wir bezeichnen heute genau das als einen „schönen Tod“, was die Menschen früher mit Schrecken erfüllte, den unbewußten, den einzelnen unvorbereitet ereilenden Tod – den mors repenita et

improvisa. Die logische Konsequenz des unbewußten, entfremdeten Lebens ist, daß uns auch der „unbewußte“ Tod als attraktiv erscheint.

Ein wesentliches Element der Ausblendung des Todes aus dem Bewußtseinshorizont der westlich-zivilisierten Menschen ist die Ab-schaffung und gesellschaftliche Verweigerung der Trauer. Das begann mit dem Verfall traditioneller Trauerbräuche, angefangen den um-fangreichen Begräbnisfeierlichkeiten, und endete damit, daß es heute fast im gesamten Abendland die Regel geworden ist, Schmerz und Trauer über den Tod einer geliebten Person möglichst nicht zu zeigen. Ganz im Gegenteil zu früher wird heute erwartet, daß man sich dies-bezüglich weitgehend „beherrscht“. „Heute gilt es offenbar als gänz-

16 Ebda, S. 719. Aries weist übrigens darauf hin, daß die Kirche, mit ihrer Reaktion

auf die beschriebene Tatsache, den Begriff der „Letzten Ölung“ durch das „Sak-rament des Kranken“ zu ersetzen, viel weitergegangen ist, als daran zu erinnern, daß man bei vollem Bewußtsein zu sein hat, wenn man die Letzte Ölung erhält. Das Sakrament wurde vom Tode abgetrennt und dient nun nicht mehr einer di-rekten Vorbereitung auf ihn. – Ein Beitrag dazu, sich auch weniger mit dem na-henden Tod auseinanderzusetzen.

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lich normal, daß sensible und vernünftige Männer und Frauen sich durch ein gehöriges Maß von Willen und Charakterstärke während der Trauerzeit völlig in der Gewalt behalten.“17 Die öffentliche Zur-schaustellung der Trauer gilt als peinlich, das Bestehen auf einer Trauerzeit und einer entsprechend geringeren Belastbarkeit als unge-bührliche Einschränkung der gesellschaftlichen und beruflichen Ab-läufe. Die Gesellschaft weigert sich, durch die emotionale Betroffen-heit von Leidtragenden beeinflußt zu werden, wer Trauer öffentlich und über eine kurze, gerade noch tolerierbare Zeit hinweg zeigt, pro-voziert mit seinem Verhalten den Verdacht der psychischen Minder-belastbarkeit. Im völligem Gegensatz zu den einhelligen Befunden der Psychologie über die psychische Problematik der Verdrängung von Trauer und Schmerz18 gelten öffentliche Tränen als Nervenkrise und Charakterschwäche und werden bestenfalls noch alten Frauen zuge-standen. Tod und Trauer sind heute schambesetzt und ähnlich tabui-siert wie Liebe und Lust.

Die gesellschaftliche Tabuisierung des Todes und die entfremdeten Bedingungen des Lebens in unserem Kulturraum sind bloß zwei Sei-ten desselben Phänomens. Denn „das Leben ist nicht ohne den Tod zu haben. Lebendigsein kann man nicht ohne die Wahrnehmung von Gefährdung und Tod. Jeder Versuch, durch Verdrängung von Angst und Gefahr eine künstliche Lebendigkeit zu erzeugen, bringt eine psychische »Totenstarre« bei lebendigem Leibe mit sich und macht es dem derart »lebendigen« Menschen unmöglich, sich für das Leben und das seiner Nachkommen einzusetzen.“19 Auch in der Antike war bekannt, daß für den, der nicht zu sterben weiß, das Leben ohnehin

17 Gorer, G.: Death, Grief and Mourning in Contemporary Britain. New York/

Doubleday, 1965. Hier zit. nach. Aries, a.a.O., S. 742. 18 Vgl. dazu insbesondere: Mitscherlich, A. und M.: Die Unfähigkeit zu trauern.

München 196712. 19 Bauriedl, T.: Das Leben riskieren. Psychoanalytische Perspektiven des politi-

schen Widerstands. München/Zürich 1988, S. 20.

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nur Knechtschaft ist (Seneca). Heute drücken die beiden Sozialwis-senschafter Oskar Negt und Alexander Kluge denselben Zusammen-hang ganz ähnlich aus: „Wo das Leben unter Zeitdruck steht, da bleibt für die Beschäftigung mit dem Tod keine Zeit. Die innere Unruhe, Zeit zu nützen, ist selbst schon ein Element des Toten, des zum Ge-

genstand-Werdens.“ Und weiter meinen sie: „Die Aufhebung der Ver-

drängung des Todes beginnt mit der Umgestaltung des Lebens. Wenn die Menschen keine Muße im Leben haben, also Zeitverhältnisse, die Ruhepunkte und abwegige Phantasien ermöglichen, dann werden Sterben und Tod für sie zu einem stumpfen Ende, das nichts von er-fülltem Leben enthält.“20 Hier wird Wesentliches angesprochen: die Chance einer Befreiung durch Muße, eines Aktes des bewußten He-raustretens aus dem Diktat verzweckter Lebensvollzüge und ökono-misch genutzter Zeit.

Der unserem dem „dynamischen Leben“ verpflichteten Denken leicht verstaubt anmutende Begriff „Muße“ zielt – im hier angespro-chenen Sinn – auf Sammlung und hat weder etwas zu tun mit einer marktorientierten, verwertungslogisch-befangenen Entspannung in der weiter oben angedeuteten Form, noch hat er etwas gemeinsam mit konsumierbarer Zerstreuung, jener Domäne der kulturellen Megama-schine, der modernen Unterhaltungsindustrie. Muße ist auch nicht gleichzusetzen mit Trägheit oder Faulheit; womit sie umschrieben werden kann, ist aktive Rezeptivität, eine bewußte Entscheidung zur Selbstbefreiung vom allumfassenden Verwertungszwang moderner Gesellschaften einerseits, verbunden mit der Bereitschaft zur kriti-schen Reflexion der Daseinsbedingungen andererseits. In diesem Sinn stellt Muße einen radikalen Gegenentwurf zum entfremdeten Leben dar, womit sich gleichzeitig aber auch ihre derzeitige gesellschaftliche Mißachtung, ja sogar weitgehende Diffamierung erklären läßt. Denn, so wie Gisela Dischner meint, „angesichts der Teilung in entfremdete

20 Negt/Kluge 1992, Hervorhebung im Original.

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Arbeit und ebenfalls entfremdete unproduktive Konsumtion in der »Freizeit« läßt sich freilich über den Müßiggang schwer diskutieren, über seine Notwendigkeit für alle Formen nicht verwertbarer (und damit tendenziell subversiver) Kreativität und Phantasie.“21 Mit Muße ist damit – so wird ersichtlich – eine subversive Kraft angesprochen, die in der Lage wäre, eine Gegenkraft zu der alle Aspekte des heuti-

gen Lebens einbeziehenden Mehrwertproduktionsmaschine darzustel-len.

Muße ist – wie auch im Zitat von Negt/Kluge zum Ausdruck ge-bracht wird – auf das engste verbunden mit der Verfügung über Zeit. Das Gebot jedoch, die Zeit ökonomisch zu nutzen, sowie die Behaup-tung, daß Müßiggang aller Laster Anfang sei, war die Grundlage für den Wandel unserer Gesellschaft zur Arbeitsgesellschaft. Erste Ansät-ze für eine Sichtweise von Zeit unter dem Nützlichkeitsaspekt lassen sich im christlichen Abendland seit dem zwölften Jahrhundert beo-bachten. Die protestantische Ethik und der von ihr beförderte „Geist des Kapitalismus“ waren es, die dann schließlich, im Zuge der be-schriebenen Idealisierung von Arbeit zu einer Tätigkeit zur Ehre Got-tes, die nutzlose Verschwendung von Lebenszeit endgültig verteufel-ten und eine nach ökonomischen Kriterien geplante Gestaltung der Gegenwart und Zukunft zur ethischen Pflicht erhoben.

Das wohl bekannteste Beispiel für die ökonomisierte Sichtweise von Lebenszeit stellt der von Max Weber in seiner „Protestantischen Ethik“ zitierte Aufsatz Benjamin Franklins aus dem Jahr 1748 dar. Gleich am Beginn heißt es da: „Bedenke, daß Zeit Geld ist; wer täg-lich zehn Schilling durch seine Arbeit erwerben könnte und den hal-ben Tag spazieren geht, oder in seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat nebendem noch fünf Schilling ausgegeben

21 Dischner, G.: „O Müßiggang, einziges Fragment von Gottähnlichkeit …“. F.

Schlegel. Spaziergänge in Sprachlandschaften. In: Tewes, a.a.O., S. 100.

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oder vielmehr weggeworfen.“22 Aber auch anhand anderer Quellen lassen sich die damaligen ethisch-moralischen Appelle zur ökonomi-schen Nutzung der Lebenszeit durch Arbeit recht gut nachempfinden. So formulierte in Deutschland – etwa zeitgleich mit Benjamin Frank-lin – der bekannte evangelische Theologe und Liederdichter Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf: „Man arbeitet nicht allein, daß man lebt, sondern man lebt um der Arbeit willen.“23 Ein weiteres, diesbe-züglich ausdrucksstarkes Zitat wurde schon 1690 verfaßt: „Die Zeit ist ein allzu wertvolles Gut, um mißachtet zu werden. Sie ist eine gol-dene Kette, an der die ganze Ewigkeit hängt; der Verlust von Zeit ist unverzeihlich, denn er ist durch nichts wiedergutzumachen. […] Wo bleibt der Verstand jener Menschen und aus welchem Metall sind ihre verhärteten Herzen, daß sie müßig gehen und die Zeit vertändeln, diese kurze Zeit, diese einzige Zeit, die ihnen für die ewige Rettung ihrer Seelen gegeben ist.“24 Die Arbeitshaltung der protestantischen Ethik speiste sich aus dem Versprechen, durch Arbeit einen Platz im Paradies erwerben zu können, dementsprechend war sie immer ver-bunden mit der Botschaft von der Sündhaftigkeit des Müßiggangs und der nicht der Arbeit gewidmeten – eben der ungenutzten – Lebenszeit.

Das Gebot, Lebenszeit ökonomisch zu nutzen, korreliert mit einem linearen Zeitverständnis. Dabei wird davon ausgegangen, daß das Subjekt etwas mit der Zeit macht, die ihrerseits als etwas verstanden wird, was unabhängig von konkreten Erlebnisinhalten der Individuen – quasi objektiv – existiert und stetig, unerbittlich und linear voran-schreitet. In das Bewußtsein der Individuen gelangt Zeit einerseits über das Betroffensein von ihrem unbeeinflußbaren Ablauf und ande-

22 Weber, a.a.O., S. 40. 23 Zit. nach Seibt, F.: Die Zeit als Kategorie der Geschichte und als Kondition des

historischen Sinns. In: Gumin/Meier (Hg.): Die Zeit. Dauer und Augenblick. München 19923, S. 182.

24 Zit. nach Geißler, K.A.: Zeit leben. Vom Hasten und Rasten, Arbeiten und Ler-nen, Leben und Sterben. Weinheim/Berlin 19924, S. 35/36.

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rerseits über die Möglichkeit der Zeit„verwertung“, darüber, daß die Zeit (ökonomisch) sinnvoll oder weniger sinnvoll verwendet werden kann. Diese Form der Zeiterfahrung ist durchaus nicht selbstverständ-lich; sowohl aus fremden Kulturen als auch aus früheren geschichtli-chen Epochen unseres Kulturraumes wissen wir, daß die Art, wie sich Zeit im jeweiligen Erfahrungshorizont der Individuen widerspiegelt, auch völlig anders sein kann. Vergleicht man beispielsweise die sprachlichen Formen, mit denen in verschiedenen Kulturen „Zeitli-ches“ ausgedrückt wird, fallen gravierende Unterschiede auf. Nicht einmal den Begriff „Zeit“ selbst gibt es in allen Sprachen, manche Kulturen kennen keine sprachliche Trennung in „Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft“ sondern unterscheiden nur in „Jetzt“ und „Nicht-Jetzt“, und das Chinesische kennt beispielsweise überhaupt keine Zeitform.25

Im abendländischen Europa lassen sich im zwölften/dreizehnten Jahrhundert, in der Form des damals entstehenden Fortschrittsgedan-kens, die ersten Ansätze der späteren Entwicklung zum linearen Zeit-verständnis erkennen. Seibt weist darauf hin26, daß in dieser ge-schichtlichen Epoche durch eine Reihe von Autoren ein Bruch mit dem Denken des frühen Mittelalters vollzogen wird, das von einer unbeeinflußbaren Statik der Dinge ausging, davon, daß die Gegenwart eine auferlegte Wartezeit zwischen vergangener Heilszeit und künfti-ger Heilserwartung darstellt. Nun taucht erstmals die Hoffnung auf, „daß anstelle des Weltendes, des Jüngsten Gerichts und der Rückkehr des irdischen Lebens ins Jenseits, eine mehr oder minder vervoll-kommnete Menschheit schon hier auf Erden zu erwarten sei.“27 Mit der schon als Grundlage einer grundsätzlichen Veränderung der Hal-tung des abendländischen Menschen zur Arbeit angesprochenen Idee der Errichtung einer irdischen „vollkommenen Gemeinschaft“, die es

25 Vgl. ebda. S. 17/18. 26 Seibt, a.a.O. 27 Ebda. S. 163.

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im bisherigen Mittelalter überhaupt nicht gegeben hatte, kündigten sich die Anfänge eines neuen Zeitbewußtseins an, und es sind die Grundlagen gelegt für jenen „universalen Fortschrittsoptimismus, den sechshundert Jahre später die sogenannte Aufklärung aus ihrer säkula-risierten, nicht mehr biblischen, sondern nach ihren Kräften und Ein-sichten universalen Geschichtsphilosophie herleiten wird.“28

Dennoch unterschied sich das Zeitbewußtsein des mittelalterlichen Menschen noch ganz wesentlich vom heutigen. Zeit war ident mit den Zyklen der Natur, vorgegeben durch Tages- und Jahreszeiten, Prozes-se der Nahrungsaufnahme und Verdauung, Wachstumsabläufe sowie Geburt und Tod. Insbesondere die bäuerliche Arbeit war in bezug auf Dauer und Intensität durch den Rhythmus der Natur bestimmt und eingegrenzt. Die zyklische Zeitstruktur der agrarischen Arbeitsprozes-se blieb auch dann grundsätzlich erhalten, als im Feudalismus die sich aus der Bedarfsdeckung der bäuerlichen Produzenten, ihrer Familien sowie des Gesamtgemeindewesens ergebende „natürliche“ Begren-zung des Arbeitsumfangs durch die Verpflichtung zur Fronarbeit un-terminiert wurde. In ganz ähnlicher Art waren auch die anderen Er-werbszweige des Mittelalters in hohem Maß durch zyklische Arbeits-bedingungen geprägt. Sie hatten Saisoncharakter, der sich einerseits aus den Witterungsbedingungen ergab und andererseits durch das jahreszeitlich wechselnde Angebot an Rohstoffen und Arbeitskräften bedingt war. Sogar der Handel unterlag in hohem Maß den Jahreszei-ten entsprechenden Schwankungen von Angebot und Nachfrage.29 Die vorindustrielle Gesellschaft stand auch noch nicht unter dem Zwang, die Zeit in immer kleinere, objektiv definierte Einheiten zu zerlegen, man orientierte sich am Sonnenstand und behalf sich, wo tatsächlich einmal kleinere Zeiteinheiten eingehalten werden mußten

28 Ebda. S. 164. 29 Vgl. Scharf, G.: Zeit und Kapitalismus. In: Zoll (Hg.): Zerstörung und Wieder-

aneignung von Zeit. Frankfurt a.M. 1988, S. 143/144.

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– etwa bei der Kochzeit eines Eies – mit Angaben wie: ein, zwei, drei Ave Maria lang.

Bestimmend für das mittelalterliche Zeitverständnis war auch, daß das Handwerk, als der neben der Landwirtschaft damals wichtigste Wirtschaftszweig, nicht auf Bereicherung, sondern „nur“ auf das standesgemäße Überleben der Handwerker ausgerichtet war. Die handwerkliche Produktion war auftragsbezogen und war weder durch Konkurrenz noch durch einen expansionsfähigen Markt zur Rationali-sierung gezwungen. Damit orientierten sich die Zeitstrukturen des Handwerks an den Zeitmaßen, die die künstlerische Gestaltung eines Werkes, den damaligen Qualitätsstandards entsprechend, eben erfor-derte. „Eine von dieser »Sachdimension« getrennte zeitliche Struktur des Handelns existiert zunächst nicht. […] Die handwerkliche Pro-duktion kann deshalb (damals) auch noch weitgehend den natürlichen Rhythmen der lebendigen Arbeitsvermögen folgen, sowohl hinsicht-lich des Umfangs der Arbeitszeit […], als auch hinsichtlich des Tem-pos.“30

Die damaligen technologischen Möglichkeiten erlaubten auch kaum ein Ausbrechen aus dem durch Naturablauf und Tradition vor-gegebenen Korsett. Niemand konnte auf die Idee kommen, die „Natur zu überlisten“ und sich einen „Überschuß an Zeit“ herauszuschinden, Zeit zu „sparen“ oder einzubringen. Für uns heute selbstverständliche Eingriffe in den Naturablauf, wie zum Beispiel durch den Einsatz von künstlichem Licht, externen Nährstoffgaben oder – womit derzeit experimentiert wird – durch gentechnische Veränderungen, Pflanzen unabhängiger von den vorgegebenen Wachstumsbedingungen zu ma-chen, Wachstumszyklen zu beschleunigen und schnellere Erntefolgen zu erreichen, waren außerhalb der damals vorstellbaren Welt. Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit war ebenfalls – der Prägung durch die zyklische Zeitwahrnehmung entsprechend – vorgegeben

30 Neckel, S.: Zeitstruktur und Gesellschaftsform. Dipl.-Arbeit FU Berlin 1982. Zit.

nach Scharf, a.a.O. S. 145.

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durch die regelmäßige Wiederkehr der natürlichen Ereignisse im Menschen und in seiner Umwelt. Demgemäß folgte auch die Organi-sation des sozialen Alltags dem zyklischen Zeitverständnis und war in hohem Maß bestimmt durch einen Wechsel von (vielfach schwerer) Arbeit mit den Festen und Feiern des Jahreskreises.

Die „Linearisierung der Zeit“ und ihre sukzessive „Beschleuni-gung“ dauerte mehrere Jahrhunderte. Erst im sechzehnten und sieb-zehnten Jahrhundert war, in Form der „protestantischen Ethik“ der ideologische Begründungsrahmen geschaffen, für das endgültige Um-sichgreifen der ökonomischen Sichtweise von Zeit und einer damit einhergehenden, tatsächlich wortwörtlich zu verstehenden „Verteufe-lung“ des Müßiggangs – Zeitvergeudung wurde „die erste und prinzi-piell schwerste aller Sünden“.31 Die Entwicklung dorthin muß auch im Zusammenhang mit technologischen Entwicklungen im Spätmit-telalter und der beginnenden Neuzeit gesehen werden. Die Erfindung der Räderuhr im vierzehnten Jahrhundert sowie ihre „Miniaturisie-rung“ und Verbreitung in den folgenden Jahrhunderten ist in diesem Zusammenhang sicher an erster Stelle zu nennen. Sie ist die wahre „key-machine des Industriezeitalters“ (Lewis Mumford), indem sie die primäre technische Grundlage und gleichzeitig auch das unüber-sehbare Symbol für ein neues Zeitverständnis darstellt.32 Aber insbe-sonders auch der „Import“ des Kompasses nach Europa und seine Weiterentwicklung für die Verwendbarkeit in der Seefahrt im drei-zehnten Jahrhundert sowie die neuen, mit dem Kompaß erarbeiteten

31 Weber, a.a.O., S. 167. 32 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Uhr bis heute das

beliebteste Firmungsgeschenk darstellt. Wippersberger meint, daß – bedenkt man den Sinn der Firmung als eine Art von katholischer Initiation – das geradezu als Symbol dafür genommen werden kann, daß wer von seiner Kindheit Abschied nimmt, von nun an dem Diktat der Uhr unterworfen ist. Wippersberger, W.: In-dustrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. In: Arbeit/ Mensch/Maschine. Der Weg in die Industriegesellschaft. Katalog zur oberösterreichischen Landesaustel-lung 1987. Linz 1987. S. 92.

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Karten waren wesentliche Grundlagen für die zunehmende Herausbil-dung des neuen gesellschaftlichen Zeit-(und Raum-)bewußtseins. Dabei dürfen die Erfindungen und technologischen Entwicklungen jedoch nicht eindimensional als Auslöser für das veränderte Umgehen mit Zeit gesehen werden, sie sind gleichzeitig ja selbst wieder Effekte jenes heraufdämmernden, untrennbar mit der Hoffnung auf Fortschritt verknüpften neuen Zeitbewußtseins. Das sukzessive Heranwachsen des „Kapitalistischen Geistes“ und die sich parallel entwickelnden technologischen und arbeitsorganisatorischen „Voraus“-setzungen für den Kapitalismus standen zueinander zu jedem Zeitpunkt ihrer Ent-wicklung in einer untrennbaren Wechselbeziehung.

Der Wandel vom zyklischen Zeitempfinden zur Sichtweise von Zeit als eine „unendlich ansteigende Linie“ hat dann wohl auch den Tod aus dem Wahrnehmungshorizont des modernen Menschen ver-drängt. Thomas Mann bezeichnet es in seinem Roman „Zauberberg“ als einen der genialsten Gedanken des Menschen, sich mit der Uhr ein Instrument zu schaffen, um den „Inbegriff des Flüchtigen“ zu messen. Die Uhr ermöglichte die Zeit zu objektivieren, sie zur abstrakten Grö-ße zu erklären, die „gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand verfließt“ (Isaac Newton). Sie ermöglicht die Illusion, die Zeit „in den Griff“ zu bekommen, und sie hat für den Menschen als das einzige „zeitgebundene“ Lebewesen auf der Erde zugleich auch einen Schutz vor dem Bewußtsein seiner Vergänglich-keit geschaffen. Die Illusion der „Machbarkeit der Welt“ wurde damit perfekt. „Der Tod nämlich ist das unendliche und unwiderlegbare Dementi aller radikalen Fortschrittshoffnungen, die (in letzter Konse-quenz immer – E.R.) darauf bauen, die Zeit zum beliebig manipulati-ven Instrument machen zu können.“33

Der Zwang, seine Lebenszeit im Sinne ökonomischer Logik nicht zu vergeuden, sondern (materiell) gewinnbringend anzulegen, führte

33 Geißler, K.A.: Bess’re Zeiten. In: Zoll (Hg.), a.a.O. S. 674.

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schließlich dazu, daß die heutigen Menschen weitgehend so leben, als ob ihr Leben nicht dem Zyklus der Vergänglichkeit unterworfen sei und sie „alle Zeit der Welt“ zur Verfügung hätten, um (ihre vitalen Bedürfnisse) „irgendwann später“ zu leben. Im Grunde genommen glaubt eigentlich niemand so recht an seinen eigenen Tod – Sterben,

das tun immer nur die anderen. Die Folge davon ist, daß das Bewußt-sein der Individuen aber auch seine Verankerung im „Hier und Jetzt“ völlig verloren hat und ständig in die Zukunft vorauseilt – der moder-ne Mensch ruht dementsprechend nie in sich, er ist sich selbst ent-fremdet und quasi ständig „außer sich“. Die Gegenwart dient ihm nur dazu, Verfügungsgewalt über eine bestimmte gewünschte Zukunft zu erlangen. Damit gilt heute noch viel mehr, was Blaise Pascal schon im siebzehnten Jahrhundert bedauernd registriert hatte: „Die Gegenwart ist niemals unser Ziel; die Vergangenheit und die Gegenwart sind unser Mittel; einzig die Zukunft ist unser Ziel. So leben wir nie, son-dern wir hoffen zu leben; und während wir uns immer dazu bereiten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, daß wir es niemals sind […].“34

Hinter der Vorstellung, man könne Zeit gewinnen und vergeuden, stehen zwei, von den Menschen der christlich-zivilisierten Welt voll-ständig verinnerlichte und nur selten reflektierte Annahmen: zum einen die Betrachtung der Zeit als Abstraktum – Zeit wird als Konti-nuum wahrgenommen, die einzelnen Zeitelemente als untereinander im Prinzip gleichwertig und nicht mit (zyklisch wiederkehrenden) Ereignissen und Bedeutungen verknüpft. Es gibt im Zeithorizont des modernen Menschen keine spezifische „Zeit der Ruhe“, „Zeit der Arbeit“, „Zeit des Feierns“ oder „Zeit der Trauer“. Zeit wird erlebt als eine abstrakte, von Bedeutungszusammenhängen losgelöste Größe, sie ist in sich austauschbar, quasi „gleichgeschaltet“, und „jede Zeit“

34 Pascal, B.: Größe und Elend des Menschen. Auswahl, Übersetzung und Nach-

wort von W. Weischedel. Frankfurt a.M. 1978, S. 47.

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kann mit jedem Inhalt gefüllt werden.35 Zum anderen impliziert die Idee des Zeit gewinnens und verlierens auch die mit der abstrakten Zeitwahrnehmung eng verknüpfte Illusion, daß es möglich sei, mit Lebenszeit zu schachern, sie quasi jetzt noch „nicht zu leben“ und zu investieren, um sie später in einer qualitativ verbesserten Form – so-zusagen verzinst – genußvoll aufzubrauchen, ihr Erleben erst später zuzulassen.

In seinem Erwachsenenmärchen „Momo“ bereitet Michael Ende dieses gesellschaftliche Phänomen als Geschichte auf: Da gibt es graue Zeitdiebe, die den Menschen die Zeit stehlen, indem sie ihnen einreden, sie könnten ihre Lebenszeit in einer Zeitsparkasse anlegen. Das Mädchen Momo – ein kleiner Außenseiter – rettet schließlich alle vor den Zeitdieben, die, wie Vampire von Frischblut, von der Lebens-

35 Ohne die zunehmende Verinnerlichung der abstrakten Zeitwahrnehmung wäre

die radikale Reduzierung der kirchlichen Fest- und Feiertage sowie auch die mit der Industrialisierung eng verknüpfte Einführung von regelmäßiger Nacht- und Schichtarbeit für verschiedene Arbeitnehmergruppen kaum möglich gewesen. Derzeit tritt die „Abstrahierung der Zeit“ offensichtlich in ihre letzte Phase: Un-ter dem wohlklingenden Titel der „Arbeitswoche à la carte“ (Günter Stummvoll in der Zeitschrift „Unternehmer“ Nr. 9/1992) wird die Totalflexibilisierung der Arbeitszeit vorbereitet. Die Arbeitszeit soll – völlig unabhängig von einer „tradi-tionellen“ Einteilung in Arbeitstage, Sonn- und Feiertage oder Tages- und Nachtzeit – nun restlos den Notwendigkeiten ökonomischer Rationalität unterge-ordnet werden. Das allgemein verinnerlichte abstrakte Zeitverständnis im Zu-sammenhang mit der Internationalisierung der Wirtschaft, dem zunehmenden wirtschaftlichen Wettbewerbsdruck, der Notwendigkeit einer rund um die Uhr abrufbereiten Betreuung der extrem teuren technischen Aggregate u.dgl. machen einen besonderen Wert eines arbeitsfreien Sonntags oder den besonderen Vorzug von nächtlichen Ruhephasen immer schwerer argumentierbar. Der von Kaiser Konstantin I. im Jahr 321 zum „Tag des Herrn“ erklärte siebente Wochentag wird damit endgültig wieder zu einem Tag wie jeder andere. Zugleich verringern sich die Möglichkeiten „ritualisierter Sozialbeziehungen“ damit ebenfalls wieder um ein gewaltiges Stück. Der gemeinsame „Feierabend“, der Sonntag als ein Tag der gemeinsam mit der Familie verbracht wird und an dem die auch problemlose Möglichkeit der Begegnung mit Freunden und Bekannten gegeben ist, oder ganz allgemein, der soziale Ritus des gemeinsamen Feierns von „Festen“ wird immer unmögliche und die sozialen Bande zwischen den Menschen werden immer schwächer.

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zeit anderer Leute leben. Diese Lösung der Geschichte macht die ein-gekleidete Beschreibung dessen, was in unserer Gesellschaft letztlich in einer ganz ähnlichen Form ja tatsächlich passiert, zum Märchen. Auch im „wirklichen Leben“ verschieben die Menschen ihr Leben immer hektischer auf eine ungewisse Zukunft und gleichen immer mehr jenen Automaten, von denen sie demnächst ersetzt werden kön-nen. Angesichts dieser Tatsache fällt es schwer, Hans-Jochen Gamm nicht recht zu geben, wenn er meint, daß heute „die Erkenntnis von der Unwiederholbarkeit der Zeit zu den bestgehütetsten Geheimnissen der Gesellschaft zählt, denn diese ist aufgrund materieller Interessen bemüht, ein solches Geheimnis weiter verriegelt zu halten. Wenn dem Individuum nämlich schmerzhaft bewußt würde, daß es den unersetz-baren Vorrat an Zeit ohne Sinn verschwendete und dafür buchstäblich gar nichts als Gegenwert erhielte, so wäre wahrhaft unsicher, ob der außengesteuerte Konsum im üblichen Maßstab fortgesetzt werden könnte.“36

So zeigt sich, daß entfremdetes Leben immer auch aufgeschobenes Leben bedeutet. Die Voraussetzungen für Muße als den Inbegriff be-

wußten Daseins und damit Gegenpol zum Leben in Entfremdung sind somit erst dann gegeben, wenn es gelingt, aus dem der ökonomischen Logik unterworfenen Verwertungszwang für Lebenszeit auszusteigen. Das heißt, Muße erfordert den Entschluß zu einer Grenzziehung. Da-mit ist nun überhaupt nicht gemeint, sich im Sinne der weiter vorne zitierten moralischen Appelle Genuß und Lebensfreude zu versagen. Für den Menschen unserer Gesellschaft erfordert Muße jedoch den-noch einen ganz entscheidenden Verzicht, den Verzicht auf die eigene

Totalvermarktung. Das Kultivieren von Muße im Sinne eines Gegen-projekts zur alles umfassenden Entfremdung beginnt mit dem Schaf-fen unverzweckter – „nutzloser“ – Freiräume, also von Lebensberei-chen, die nicht verpfändet werden für (die Hoffnung auf) späteres

36 Gamm, H.-J.: Umgang mit sich selbst. Grundriß einer Verhaltenslehre. Reinbek

1977, S. 57.

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Leben, die für sich selbst stehen und ihren Wert aus sich selbst schöp-fen. Damit ist auch klargestellt, daß es sich bei der Muße weder um eine besonders raffinierte Form des Hervorlockens schöpferischer Reserven für Arbeitsprozesse handelt, noch um Erholung oder Ent-spannung im Sinne einer Reproduktion von Arbeitskraft. Der Begriff Muße steht für unvernutztes Leben, unmittelbares Dasein und die nicht entfremdete Existenz – allerdings auch für die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit und der Angst vor dem Tod.

Der Müßiggänger ist damit keinesfalls das, als was er mit dem be-kannten Spruch: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ phantasiert wird, nämlich einer, der bloß faul ist und nichts tut, sondern er ist einer, der bewußt und im „hier und jetzt“ lebt und seine Existenz un-ter keinem anderen Aspekt als den des Da-seins stellt. Das heißt, Mü-ßiggang ist nicht das Gegenteil von Arbeit, sondern Müßiggang ist etwas, was aus der Arbeitswelt herausfällt, was weder in die (heutige Form von) Arbeit noch in die ihr korrespondierende Freizeit einzu-ordnen ist, er ist ein Zustand, der die Werte der heutigen Arbeits- Freizeit-Gesellschaft für sich nicht mehr anerkennt. Der Müßiggang umfaßt sowohl Momente des totalen Ausatmens, des Nichtstuns als auch Momente ganz konzentrierter Tätigkeit, der lustvollen Anstren-gung37 in dem Sinn, wie sich beispielsweise Kinder bis zur Erschöp-fung anstrengen, wenn ihnen etwas Spaß macht. Müßiggang meint weder Faulheit im Sinne trägen geistlosen Dahinlebens noch blinde Betriebsamkeit; sie steht für selbstbestimmtes Handeln und für die ruhige Reflexion dieses Handelns. Zum Müßiggang gehören alle jene Dinge, die wir selbstbestimmt und lustvoll nur um ihrer selbst willen tun, und die Grenze des Müßiggangs ist erst dort erreicht, wo Verwer-tungsinteressen einsetzen. Freie, bewußte Tätigkeit, die Teil des Mü-ßiggangs ist, kennt auch nicht die den Entfremdungsbedingungen

37 Nicht zufällig stellen sich hier Assoziationen zum „Liebesspiel“ ein, einem der

letzten nicht dem Verwertungszwang und der Entfremdung unterworfenen Be-reich menschlicher Tätigkeiten.

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innewohnende Unterscheidung in Arbeitszeit und Freizeit. „Der Mü-ßige hört nicht auf, müßig zu sein, wenn er ißt, trinkt, liebt. Der Den-kende stellt sein Denken nicht in der Freizeit ab.“38

Erst im Zustand der Muße gewinnt das Individuum wieder Herr-schaft über sich selbst. „In der Muße wirkt der Widerstand des Men-schen gegen die Gefahr, zum reinen Funktionär in einer totalen Ge-sellschaft und Arbeitswelt zu werden.“39 Müßiggang ist der Weg vom verzweckten zum sinnvollen, vom entfremdeten zum bewußten Le-ben. Das „egoistische“, weil gesellschaftlich nicht zu funktionalisie-rende Ziel des Müßiggängers ist, wie Nietzsche sagt, bloß „sich selbst auszubilden, zu etwas Neuem, Höherem“.40 Dementsprechend ist „der Müßiggänger (auch) nicht der Held, der bewußt »Sand ins Ge-triebe streut«, das wäre schon wieder ein bestimmter Nutzen, zu des-sen Wesen gehört, von sich selbst abzusehen, von sich zu abstrahie-ren, Bedürfnisse zu verdrängen, Wünsche zu verschieben, auf Genüs-se zu verzichten.“41 Der Müßiggänger kann in diesem Sinn als „amo-ralisch im Bewußtsein der Immoralität aller Moral“42 bezeichnet wer-den. Aber genau damit stellt Müßiggang – als ein Akt des bewußten Heraustretens aus der „Sklavenmoral der Entfremdung“ – die Chance der Überwindung der lebensfeindlichen Bedingungen der „Immer-Mehr“-Gesellschaft dar. Denn „die Menschen, die in der Sklavenmo-ral sozialisiert wurden und nicht fähig sind, diese zu überwinden, weil sie sich vor der notwendigen Selbstaufhebung der Moral fürchten, werden schließlich an der Ausbeutung als Form der Selbstausbeutung zugrunde gehen. Der Müßiggänger wäre sozusagen das Gegenteil von allem, was mit der Ausbeutung und Selbstausbeutung noch zu tun hat

38 Dischner, a.a.O., S. 101. 39 Fell, M.: Ohne Muße keine Bildung. In: „Erwachsenenbildung in Österreich“, 43

(1991), Heft 4, S. 182. 40 Zit. nach Dischner, a.a.O., S. 99. 41 Dischner, a.a.O., S. 99. 42 Ebda., unter Hinweis auf Nietzsche und Schleiermacher.

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– deshalb vom Standpunkt der alten Moral aus notwendig egoistisch –, aber genau dies wäre Lebensbejahung, Voraussetzung der Befreiung aller.“43

Anders als Freizeit bezeichnet Muße keinen Zeitabschnitt, sie stellt dagegen eine Lebenseinstellung und eine Lebenspraxis dar, die sich den Kriterien der ökonomischen Logik des heutigen Denkens radikal verweigert – Muße gibt dem Leben Vorrang vor dem Fetisch Ware. Unsere moderne, unmüßige Zivilisation ist hingegen dadurch gekenn-zeichnet, daß wir die uns umgebende Welt faktisch nur noch als Aus-beutungsobjekt und unsere Mitmenschen als Konkurrenten und Hin-dernisse wahrzunehmen imstande sind. Wir arbeiten nicht, um zu leben, sondern wir leben um der Arbeit willen. Die Ordnung scheint auf den Kopf gestellt – sowohl das Griechische als auch das Lateini-sche kannten den Begriff der Arbeit als Verneinung von Muße: a-

scholia, ne-gotium; heute stellt die Arbeit den primären Bezugspunkt dar, Frei-zeit bestimmt sich über die Tatsache, daß sie Nicht-Arbeit ist. Das heißt, daß Müßiggang als Weg der Selbstbefreiung mit dem Vertreiben der (entfremdeten) Arbeit aus dem Zentrum unseres Le-bens beginnen muß. Notwendig ist die Überwindung der bürgerlichen Sozialisation und der kulturellen Hegemonie (die ja auch vom soge-nannten „realen Sozialismus“ in keiner Weise angetastet wurde) der Arbeits- Freizeit-Gesellschaft. Es gilt dem Nichtstun und der Kon-templation wieder den ihnen zustehenden Platz einzuräumen.

„Faulheit und Schlendrian“ sind, das hat schon Max Weber be-merkt, die ärgsten Widersacher gegen den „Geist des Kapitalismus“. Muße ist jedoch wesentlich mehr als Faulheit, sie stellt nicht nur die kapitalistische Arbeitsethik in Frage, sondern ist radikaler Gegenent-wurf zu den Entfremdungsbedingungen des Kapitalismus. Faulheit ist bloß die Umkehrung des Arbeitszwangs, sie bleibt – als quasi „sys-temimmanente Flucht“ – der Fremdbestimmung verhaftet; hingegen

43 Ebda.

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stellt Muße den Schritt zu Bewußtheit und Selbstbestimmung dar. Dementsprechend ist das Propagieren einer „Kunst des Müßiggangs“ eine durchaus ketzerische und subversive Lehre. Denn es ist zu erwar-ten (und zu hoffen), „daß die Leute, die diese Kunst beherrschen, nicht mehr freiwillig mehr als nötig arbeiten wollen und werden – das Versprechen von Konsumgütern wird sie dann kaum mehr reizen.“44 Damit wäre tatsächlich ein Mittel gefunden, gegen das zunehmend außer Kontrolle Geraten jener alles vereinnahmenden Produktions- und Konsumptionsmaschine sowie dagegen, daß die „Immer-Mehr“-Gesellschaft ungebremst weiter in Richtung ökologischer und sozialer Katastrophe „fortschreitet“. Durch die „Kunst des Müßiggangs“ aus dem Wahn-sinn des vernutzten Lebens auszusteigen würde damit heißen, den uns weitgehend verlorengegangenen zweiten Pol der E-xistenz wiederzufinden und von der Überzeugung Abschied zu neh-men, daß Arbeit an sich schon wertvoll und eine Tugend sei.

In der Überhöhung von Arbeit und Leistung und dem Verdammen des Nichtstuns offenbart sich, so wie in der Verleugnung des Todes zugunsten des – dann eben nur mehr entfremdet möglichen – Lebens, das durchgängige Prinzip unserer Kultur, nur die „positive Hälfte“ der Existenz akzeptieren zu wollen. Genauso, wie wir den Tod „durch Ausgrenzung besiegen“ wollen, glauben wir, daß wir uns ewige Freu-

de ohne Leid verschaffen könnten, irgendwann unbegrenzter Reich-

tum für alle möglich sei und wir, um Gesundheit wirklich er-leben zu können, ohne ihren Gegenspieler, die Krankheit, auskommen könn-ten. Wir leben permanent im Bewußtsein, dann glücklich und zufrie-den zu sein, „wenn wir erfolgreich gegen alles Negative, gegen Mi-ßerfolg, Frustrationen, Krankheiten, Leiden und in unserer Phantasie auch gegen den Tod zu Felde ziehen. Wir teilen das Leben also in zwei Teile, versuchen davon nur den »guten« Teil zu akzeptieren und den »schlechten« zu vermeiden. […] Anstelle des (ganzen, des nicht

44 Ebda.

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entfremdeten – E.R.) Lebens, das Befriedigung und Frustration, Si-cherheit und Unsicherheit enthält, wollen wir das Paradies […].“45 Was dabei herauskommt, ist allerdings die „Hölle der Entfremdung“, jenes Zerrbild von Leben, in dem wir als Sklaven einer sinnlosen Mehrwertproduktion uns selbst in Arbeit und Konsum vernutzen.

Muße und Müßiggang als Widerstand gegen die Verzweckung al-ler Lebendigkeit ist dementsprechend durchaus als politisches Projekt zu sehen. Diesbezüglich formulierte ja schon Aristoteles vor über 2300 Jahren in seiner Politeia: „Denn es bedarf der Muße, wer poli-tisch handeln will“. Damals war „Muße zu haben“, also „Herr seiner Zeit“ zu sein, primäre Voraussetzung, um überhaupt an der Agora, der Volksversammlung der griechischen Polis, teilnehmen zu können und an den Entscheidungen für die Fortexistenz und innere Organisation des Gemeinwesens beteiligt zu sein. Nur dem „freien Mann“, der über seine Zeit selbst bestimmte, war es möglich, die gesellschaftlichen Entscheidungen zu beeinflussen, also politisch tätig zu sein. Heute ist Politik komplizierter geworden, sie wird durch „Stellvertreter“ be-sorgt. Der entfremdete und schwerbeschäftigte Mensch erscheint heu-te – trotz seines offensichtlichen Mangels an selbst-bestimmter Zeit – nicht politisch entmündigt. Er ist ja trotzdem aufgerufen, durch die regelmäßige „Abgabe seiner Stimme“ die Entscheidungsträger des politischen Handelns mitzubestimmen. Und so geschieht es ja auch: Demokratisch entscheidet sich die Mehrheit für die Politik des „Im-mer-Mehr“; Entfremdung und Verzweckung sind heute weitgehend politisch-demokratisch legitimiert. Aber ist jener in Arbeit und Frei-zeit vernutzte und seinen eigenen ursächlichen Bedürfnissen entfrem-dete Mensch überhaupt noch in der Lage, eine politische Gegenvision zur Unterordnung allen menschlichen Daseins unter den Zweck der Mehrwertproduktion zu entwickeln? Bedarf es nicht vorerst der indi-

45 Bauriedl, a.a.O., S. 27.

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viduellen Selbstbefreiung von der Totalverzweckung um auch „ge-sellschaftliche Mußevorstellungen“ zu entwikkeln?

Unter Bedachtnahme auf solche Fragen kann hinter einer – vorerst bloß individualistischen – Entscheidung zu Muße und Müßiggang durchaus gewaltige politische Sprengkraft vermutet werden: „Ein Volk, das keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Kämp-fen“, formulierte Che Guevara und drückte damit nichts anderes aus, als daß ein Heraustreten aus dem verzweckten Alltag unabdingbare Voraussetzung dafür ist, Visionen humanen politischen Handelns zu entwickeln. Zur Sichtweise der Muße, als die Grundlage für eine „bewußte und vorausschauende Gestaltung der Gesellschaft im Inte-resse menschlicher Lebensverhältnisse“ (Oskar Negt), schreibt Joseph Tewes: „Würde diese, dem politischen Handeln vorausfliegende und es vorentwerfende Phase fehlen, würden die weitreichenden Perspek-tiven gesellschaftlicher Entwicklung, kurz – die idealen und utopi-schen wie auch die eigentlich kritischen Momente – ausbleiben. Sie alle benötigen, um sich zu entfalten, eine Distanz zum Alltag.“46 Nur in Muße kann man sich über seine wahren Interessen klarwerden – und Wege suchen, sie auch zu verwirklichen. In diesem Sinn ist das Propagieren einer „Muße für Alle“ – und nicht bloß für jene, die die Voraussetzung dafür schon immer aus der Arbeitsmoral der Mehrheit erworben haben – heute durchaus als radikal-politische Forderung zu verstehen. Muße hat viel gemeinsam mit Liebe, sie ist „nutzlos“ wie diese, aber gerade deshalb gefährdet sie auch wie diese die Mecha-nismen der Macht!47

46 Tewes, J.: Nichts Besseres zu tun. In: Tewes, a.a.O. 47 Vgl. Pfaff, K.: Muße – eine Reise zu den Quellen der eigenen Kraft. In: Tewes,

a.a.O.

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8. OHNE MUSSE KEINE (BERUFLICHE) BILDUNG!

Die Unfähigkeit zur Opposition ist Zeichen der

Verknechtung durch die eigene Vergangenheit.

Hans-Jochen Gamm1

Selbst-Bewußtsein – das Bewußtsein seiner selbst – und die damit

verbundene Fähigkeit zur Selbst-Reflexion ist es, was den Menschen spezifisch auszeichnet und ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Dieses konstituierende Merkmal ermöglicht es ihm, seine individuelle Geschichte in bezug auf eine selbstgewählte Richtung zu beeinflussen sowie die Geschichte seiner gesellschaftlichen Einheit und der Gat-tung insgesamt mitzugestalten. Der Mensch ist grundsätzlich in der Lage, die aus der kritischen Reflexion seiner Erfahrungen gewonne-nen Erkenntnisse in einen Sinnzusammenhang zu bringen, darauf aufbauende „sinn-volle“ Zielvorstellungen zu entwickeln und diese zu verfolgen. Durch die Befähigung zur vernünftigen Reflexion ist der Mensch aus dem Tierreich mit seiner instinktiven Ausstattung heraus-gehoben, sie stellt die grundsätzliche Basis seiner Emanzipation von der Natur dar2, wenngleich er seine Anbindung an die Natur auch nur

1 Gamm 1978, a.a.O., S. 14. 2 Symbolisch wird diese Tatsache im jüdisch-christlichen Mythos des Sündenfalls

ausgedrückt: Indem die ersten Menschen vom „Baum der Erkenntnis gegessen“ hatten und damit in die Dualität des Denkens gefallen waren, somit also ihr Han-deln nach Gut- und Böse-Kriterien beurteilen konnten, waren sie „menschlich“ geworden und hatten sich von der ursprünglichen animalischen Harmonie mit der Natur emanzipiert. Vgl: Ribolits, E.: Der Unterschied zwischen Wissen und

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graduell abzuschütteln vermag. Die Vernunftausstattung ermöglicht ihm die Reflexion seiner Vergangenheit und die Einflußnahme auf seine Zukunft; sie läßt ihn jedoch auch gewahr werden, „daß er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, daß er ohne seinen Willen geboren wurde und gegen seinen Willen sterben wird“3.

In der Gestaltungskompetenz des Menschen gegenüber seinem Leben erkennen wir die Würde seines Daseins. Die Kraft zur Reflexi-on ermöglicht ihm „Autonomie“ im Kantschen Sinn, sie befähigt ihn zur Selbstbestimmung und zum Widerstand.4 Extra betont braucht wohl nicht zu werden, daß diese Konstitution des Menschen prinzi-pieller Natur ist und real in vielfacher Weise an den Phänomenen der schicht-, geschlechts- und kulturspezifischen Sozialisation und den daraus folgenden Behinderungen gebrochen wird. Aber trotz der zweifellos tiefgreifend und umfassend prägenden gesellschaftlichen Einflüsse bleibt das einzelne Individuum immer auch das Werk seiner eigenen lebenslangen Bemühungen um Selbstreflexion und Sinnfin-dung. Im Hinblick auf die Zielsetzung der „Entfaltung der Persönlich-keit“ zielt Bildung somit immer auf die mündige Gestaltung des Le-bens durch die Entwicklung reflektierten Verhaltens gegenüber sich selbst und der sozialen Umwelt; oder – in der Formulierung von Hans Jochen Gamm – auf die „Selbstvergegenwärtigung des Menschen unter historischem, aktuellem und utopischem (= zukünftigem) Hori-zont“5.

Weisheit. Überlegungen aus Anlaß des derzeitigen Bildungsverständnisses. Un-veröffentlichte Diss., Wien 1984, S. 22ff.

3 Fromm, E.: Die Kunst des Liebens. Frankfurt a.M./Berlin 1993, S. 20. 4 Vgl. dazu: Adorno, T.W.: Erziehung nach Ausschwitz. In: Adorno, T.W.: Erzie-

hung zur Mündigkeit. Berlin 1971, S. 93. 5 Gamm 1977, a.a.O., S. 98.

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Ohne Muße keine (berufliche) Bildung 265

Definiert man Bildung solcherart als die Entfaltung reflektierenden

Denkens und entsprechend fundierten selbstbestimmten Handelns6, so ist leicht erkennbar, daß Bildung und Muße zueinander eine große Affinität aufweisen. Zu reflektieren bedeutet, die über eigene und vermittelte Erfahrungen gewonnenen Informationen zu ordnen, sie zu kombinieren, Übersicht zu gewinnen, sie im Hinblick auf einen, den bisherigen Erfahrungen entsprechenden Sinn zu bewerten und neue Sinnzusammenhänge zu entwickeln – sich also zu „be-sinn-en“. In-dem er dies tut, dient der Mensch keinem wie immer gearteten (von außen gesetzten) Zweck, er wird damit „bloß“ seiner Bestimmung gerecht und kreiert sich selbst als unverwechselbares Einzelwesen – als selbstbestimmtes, autonomes Individuum. Daraus ergibt sich, daß eine Beschränkung des Reflektierens auf begrenzte Zeitabschnitte und bestimmte Situationen wenig Sinn gibt. Nicht bestimmte, von anderen Aktivitäten freigehaltene Zeiten und Gelegenheiten braucht es, um Reflexivität zu entwickeln, sondern jene mit dem Begriff „Muße“ umschriebene Lebenseinstellung und Lebenspraxis des bewußten Da-

seins. Wie schon ausgeführt, definiert sich Muße ja nicht über Passivität

im Sinne von Faulheit und bloßem Nichtstun, sondern über bewußtes

Sein im „Hier und Jetzt“; sie beruht – wie Oskar Negt schreibt – „auf höchster Aufmerksamkeit des Kopfes und der Sinne und in einer eher allseitigen Betätigung des Menschen“7. Mit dem Begriff „Muße“ wird weder – wie mit „Freizeit“ – ein Zeitabschnitt angesprochen, noch ist Muße ein Gegenbegriff zur Aktivität, wie es die Faulheit und das ziellose Nichtstun sind. Während die Faulheit, als Synonym der Ar-beitsverweigerung, nur die Kehrseite des Arbeitszwanges darstellt – eine zwar verständliche menschliche Neigung unter der Bedingung

6 Vgl.: Cube, F.v.: Informationsgesellschaft, Qualifikation und Bildung – eine

kritische Analyse. In: Roth, L. (Hg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. München 1991, S. 279.

7 Negt 19873, a.a.O., S. 178.

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der ökonomischen Totalvernutzung als Arbeitskraft und Konsument, aber absolut nichts Naturwüchsiges, sondern genauso wie die ent-fremdete Erwerbsarbeit eine historische Größe, „etwas gesellschaft-lich Produziertes, durch Arbeitsleid Vermitteltes“8 –, wird mit Muße eine bestimmte Seinsform, ein Lebensprinzip charakterisiert. Das führt allerdings dazu, daß sich unter ihrem Einfluß Aktivität von blin-der Betriebsamkeit zu bewußter Tätigkeit verändert. Wofür Muße die unverzichtbare Grundlage darstellt, ist das bewußte und reflektierte – und somit der Selbstbestimmung zugängliche – Handeln.

Dazu ist ohne Zweifel auch Ruhe und der zeitweilige Rückzug von der „lauten Welt“ – also eine von äußeren Aktivitäten freigehaltene Zeit – notwendig. Wird das Bewußtsein nämlich permanent und mit voller Kapazität mit neuen Informationen bombardiert, so bleibt keine Kapazität mehr frei für Reflexion. Aber diese Phasen der kontempla-tiven Ruhe sind bloß ein Pol der Muße. Außerdem unterscheidet sich das müßige – reflexionsaktive – Nichtstun grundsätzlich von dem mit Faulheit angesprochenen „passiven Nichtstun“. Während passives Nichtstun im Sinne einer Gegenabhängigkeit, ganz genauso wie Ar-beit und Freizeithektik, der Fremdbestimmung verhaftet bleibt, orien-tieren sich die Phasen der ruhevollen Muße am Ziel der Selbstbe-stimmung. Faulheit ist nicht in der Lage, das Korsett der gesellschaft-lich verursachten Unfreiheit aufzusprengen; sie ist bloß blinde Ver-

weigerung gegen die fremdbestimmte Arbeit und die durch die Frei-zeitindustrie oktroierte Betriebsamkeit in der von Arbeitsvernutzung freigehaltenen „Freizeit“. Erst durch das „Prinzip Muße“ kann Frei-

zeit tatsächlich zur Grundlage von Freiheit werden. Ohne die Muße holen jedoch – wie Negt schreibt – „die auf den Nichtarbeitenden gerichteten Angebote der Kultur- und Bewußtseinsindustrie […] den einzelnen, der sich in seiner eigenen Zeit, seiner Freizeit, zu bewegen glaubt, doch wieder in die Zeitökonomie der kapitalistischen Produk-

8 Ebda., S. 177/178.

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tion zurück; wenigstens durch Geldausgeben, durch Konsum, wird der Nichtarbeitende oder Arbeitende in der Zeit der Nichtarbeit daran gemahnt, daß sich lediglich eine Formveränderung der Zeit vollzogen hat, daß Geldausgeben sein Beitrag zur Produktion ist.“ Erst Muße verändert den Charakter einer bloß von Arbeit freien Zeit zu einer „Emanzipations- und gesellschaftlichen Orientierungszeit“9.

„Muße als Prinzip der Erfüllung des Lebenssinns“ zielt auf Refle-xion, sie „stellt die Forderung nach dem Überschauen seiner selbst angesichts des Zeitlosen“10 dar. Sie dient der Besinnung, dazu, um sich seiner Wünsche, Bedürfnisse und Interessen klarzuwerden und Wege zu suchen, diese zu verwirklichen, und sie stellt damit die Vor-aussetzung für das selbstbestimmte Individuum dar. „Wenn er [der Mensch] sich der zeitlosen Bindung entledigt, gerät er in die Diktatur des Zeithaften; er wird Sklave der Mode, der Repräsentation, der Massenmedien, des gesamten Zeitgeistes.“11 Muße stellt genau des-halb die Basis für das selbst-bewußte Eingreifen in die historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten – und damit für ein politisches Handeln, das nicht an einem ökonomisch determinierten Wachstum, sondern an human und ökologisch vermittelten sinn-vollen Zielen orientiert ist – dar, weil sie nicht dem Zeithaften verhaftet ist, sondern ihre Kraft aus dem Zeitlosen schöpft. Das schafft die Voraussetzung für jene innere Distanz zum Status quo, die eine kritische Haltung ermöglicht. Die „Erscheinungen der Zeit“ zu verändern setzt die Ori-entierung an etwas voraus, was außerhalb der Zeit liegt, und setzt das Abbauen der Angst vor der im Sinne des gesellschaftlichen Status quo (ökonomisch) ungenutzten, der „nutzlos vergeudeten“ Zeit voraus.

Schon im vorigen Kapitel wurde darauf hingewiesen, daß der we-sentliche Schlüssel für eine veränderte Haltung gegenüber der Zeit im bewußten Annehmen der Endlichkeit der menschlichen Existenz liegt.

9 Ebda., S. 178. 10 Heitger, a.a.O., S. 189. 11 Ebda., S. 190.

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„Wer sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr“ formulierte schon im sechzehnten Jahrhundert Michel de Montaigne12, und Mar-tin Buber hat den Sinn des Lebens geradezu im „Sterben lernen“ ge-sehen13. Der Alltag des Menschen der zivilisierten Welt ist jedoch so hektisch, daß ein Besinnen auf seine subjektive Begrenztheit und sei-nen absolut sicheren Tod das letzte ist, wofür ihm Zeit bleibt. Zudem ist das Aufrechterhalten der Bewußtheit der eigenen Endlichkeit ver-bunden mit tiefer Angst und Verunsicherung, der sich die meisten Menschen zu entziehen versuchen. Die traditionelle Form der diesbe-züglichen Verdrängung, die darin besteht, den „Trost des Glaubens“ dafür zu „mißbrauchen“, um sich an das Leben zu klammern14, scheint in der gegenwärtigen Epoche des „Endes der großen Erzäh-lungen“15 für viele Menschen nicht mehr adäquat zu sein. Heute, wo allerorts das Brüchigwerden der traditionellen „Meta-Garantien“ pro-klamiert wird, versuchen immer mehr Menschen, die rational unbe-wältigbare Tatsache ihrer Endlichkeit durch die Flucht in Geschäftig-keit sowie in Konsum- und Beziehungshektik zu verdrängen. Die geheime Angst vor der Vergänglichkeit wird systematisch erstickt durch ein Immer-Mehr an Gütern und Bequemlichkeiten.

12 Montaigne, M. de: Essais, „Philosophieren heißt Sterben lernen“, übertragen von

Johann Joachim Bode. Frankfurt a.M. 1991, S. 11. 13 Buber, M.: Werke Bd. 3, Schriften zum Chassidismus (1963). Nach Gamm 1977,

a.a.O., S. 210. 14 Rolf Arnold weist in einem Artikel zu Thema „Gelassenheit als Lebenshaltung“

auf einen Text des großen anglo-amerikanischen Theologen und Philosophen Alan Watts hin, in dem dieser feststellt, daß die meisten Menschen unseres Kul-turraumes „glauben, um sich sicher zu fühlen, um ihrem Leben Wert und Bedeu-tung zu geben. Glauben ist auf diese Weise zu einem Versuch geworden, sich an das Leben zu klammern, es zu fassen und für sich zu behalten.“ Watts A.W.: Weisheit des ungesicherten Lebens (1990), zit. nach: Arnold, R.: Gelassenheit als alte neue Lebenshaltung – eine Gedanken-Collage. In: Lisop, I.: Die andere Seite: Profile und Liebhabereien gelehrter Männer, Frankfurt a.M. 1993, S. 116.

15 Lyotard, J.-F.: Das postmoderne Wissen. Graz/Wien 1986, S. 16.

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Damit bleibt der Mensch gegenüber der grundsätzlichen Tatsache seiner Existenz – seiner Sterblichkeit – entfremdet und stellt sich schließlich als Sklave jener Umstände heraus, die er (angeblich) zu seinem eigenen Vorteil geschaffen hat. Dementsprechend ist es ja auch nicht ein bloßer Verzicht auf Annehmlichkeiten der industriali-sierten Welt, durch den sich der am Sein gegenüber dem am Haben orientierte Mensch (E. Fromm) auszeichnet, sondern die aus dem Bewußtsein um seine subjektive Begrenztheit gespeiste innere Dis-

tanz zu ihnen, die erst eine kritische Haltung ermöglicht. Erst ein be-wußtes Annehmen des Todes als Ziel und „einzige Gewißheit des Lebens“16 stellt die Grundlage für die als Muße umschreibbare innere

Freiheit des Menschen dar; jene unverzichtbare, verschiedentlich auch als Gelassenheit bezeichnete Basis für den Kampf gegen die dem gesellschaftlichen System geschuldete Entfremdung. Nach Ar-nold wird damit eine Lebenshaltung angesprochen, „die Unsicherheit nicht (mehr) als Bedrohung zu vermeiden sucht, sondern diese gera-dezu als Chance zur Gestaltung von Gesellschaft und Zukunft und als

16 Nichts ist im Leben eines Menschen sicherer, als die Tatsache seines unerbittlich

herannahenden Todes. Selbst Aufstieg und Höhepunkt der menschlichen Exis-tenz sind nur Stufen und Mittel zu dem Zweck, dieses letztendliche Ziel zu errei-chen. Der Tod ist das Ziel des Lebens. Diese unerbittliche Aussage ist – so er-schreckend und unbegreiflich sie den der materiellen Existenz verhafteten Men-schen auch erscheint – bloß der logische Schluß aus der Tatsache der Zielstre-bigkeit und Zweckbestimmtheit des Lebens. In diesem Sinn gehen auch alle gro-ßen Religionen der Welt davon aus, daß der Sinn des Lebens sich im Tod erfüllt, und man kann die Religionen durchaus als komplizierte Systeme der Vorberei-tung des Menschen auf den Tod interpretieren. (Vgl.: Jung, C.G.: Wirklichkeit der Seele. München 1990, S. 120/121) Auch das christlich-abendländische Den-ken war bis in die Epoche der Aufklärung in diesem Gedankengang verwurzelt. Die zunehmende Distanzierung von der Betrachtungsweise des Lebens als Vor-bereitungszeit auf den Tod, hat dem Menschen seine transzendente Orientierung geraubt und seinen Blick in einer immer engstirnigeren Form auf das Diesseits fokussiert. Zugleich hat das säkularisierte Denken auch das Bewußtsein der Ver-antwortung gegenüber einer ewigen Ordnung abgebaut und kann somit durchaus als die Quelle des menschenverachtenden und zerstörerischen Materialismus der modernen Welt gedeutet werden.

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notwendiges Element des Lebendigen zu begreifen vermag“17. Er zitiert in diesem Zusammenhang Tausch/Tausch, die diesbezüglich schreiben: „Wenn wir uns die Endlichkeit unseres Lebens vor Augen führen, wenn wir uns vorstellen, wie wir uns beim Sterben fühlen und was wir dabei denken werden, dann erscheinen uns viele unserer all-täglichen Schwierigkeiten in anderem Licht. Sie verlieren für uns oft an Bedeutung oder bekommen einen neuen Bedeutungsgehalt, und wir begegnen ihnen mit größerer Gelassenheit.“18

Sogyal Rinpoche, ein tibetischer Mönch, der im Westen studiert hat und die europäisch-amerikanische Lebensform aus eigener An-schauung kennt, bezeichnet die Art, wie mit dem Leben (und dem Tod) in den sich selbst als „zivilisiert“ bezeichnenden Kulturen um-gegangen wird, als „aktive Faulheit“19. Gegenüber dem östlichen Stil der Faulheit, der im schlichten Nichtstun und dem Vermeiden von Arbeit besteht, stellt sich die Faulheit im Westen als zwanghafte Akti-

vität dar, die keine Zeit mehr läßt, um sich mit den grundsätzlichen Fragen der Existenz auseinanderzusetzen. Die Bewohner der von der bürgerlich-kapitalistischen Ökonomie geprägten Gesellschaften er-scheinen in höchstem Maße geschäftig, sie sind jedoch in so hohem Maß durch das ökonomische Denken determiniert, daß sie überhaupt nicht mehr die Frage nach dem Sinn ihrer Aktivitäten stellen, sondern sich mit dem systemadäquaten Funktionieren begnügen. Rinpoche argumentiert hier ganz im Sinne der Lebenslehre des europäischen Mittelalters, nach der die Unfähigkeit zur Muße, die Rastlosigkeit des Arbeitens um der Arbeit willen, aus der der Trägheit vor der Begeg-nung mit sich selbst resultiert. Es scheint, daß der westliche Mensch nicht in aktiver Selbst-bestimmung sein Leben lebt, sondern von sei-nem Leben gelebt wird, daß er einer bizarren ökonomischen Dynamik

17 Arnold, R., a.a.O., S. 115. 18 Tausch, R./Tausch, A.: Wege zu uns (1983), zit. nach ebda., S. 114. 19 Rinpoche, S.: Das tibetische Buch vom Leben und Sterben. Ein Schlüssel zum

tieferen Verständnis von Leben und Tod. Bern/München/Wien 19947, S. 35ff.

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unterworfen ist, die ihn zu einem Leistungsroboter degradiert und dazu verführt, seine gesamte Lebenszeit bewußtlos einem Wettkampf zu opfern, bei dem am Ende gar kein Gewinn wartet. In den manisch-

forteilenden Kulturen bleibt vor lauter Funktionieren schlichtweg keine Zeit zu jener Aktivität, mit der der Mensch sich über die be-wußtlose Natur erhebt zur Reflexion des eigenen Tuns, zum Nach-denken und zum Besinnen.

In einer ganz ähnlichen Form relativiert Erich Fromm in seinem bekannten Buch „Die Kunst des Liebens“ die zwanghafte Aktivität des Menschen der modernen, an Arbeit orientierten Welt. Im Verhaf-tetsein der Menschen unseres Kulturraums in einem sehr einseitigen Aktivitätsbegriff sieht er eine grundlegende Ursache für die von ihm konstatierte zunehmende Liebesunfähigkeit in der heutigen westlichen Gesellschaft. Er argumentiert, daß sich die gängige Auffassung von Aktivität faktisch ausschließlich auf die Verwendung von Energie für das Erreichen äußerer Ziele bezieht. „So betrachtet man (in unserem Kulturraum – E.R.) jemanden als aktiv, wenn er geschäftlich tätig ist, wenn er Medizin studiert, am Fließband arbeitet, einen Tisch herstellt oder Sport treibt.“ Da allen diesen Tätigkeiten gemeinsam ist, daß sie sich jeweils auf ein bestimmtes äußeres Ziel richten, welches jemand – empirisch erkennbar – zu erreichen versucht, erscheinen sie uns gemeinhin als Aktivitäten. Bei dieser Betrachtungsweise bleibt die Motivation der Aktivität völlig unberücksichtigt, es kann jedoch – so Fromm – überhaupt nur unter Berücksichtigung dieser festgestellt werden, ob jemand in einer aktiven oder passiven Form handelt. „Nehmen wir zum Beispiel einen Menschen, der sich durch ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und Einsamkeit zu pausenlosem Arbeiten getrieben fühlt; oder einen anderen, den Ehrgeiz oder Geldgier treibt. In all diesen Fällen ist der Betreffende der Sklave seiner Leidenschaft, und seine Aktivität ist in Wirklichkeit Passivität, weil er dazu getrie-ben wird. Er ist ein »Leidender«, er erfährt sich in der »Leideform« (Passiv) und nicht in der »Tätigkeitsform« (Aktiv); er ist gar kein

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»Tätiger«, er ist nicht selbst der »Akteur«. Im Gegensatz dazu hält man einen Menschen, der ruhig dasitzt, sich der Kontemplation hin-gibt und keinen anderen Zweck und kein anderes Ziel im Auge hat, als sich selbst und sein Einssein mit der Welt zu erleben, für »passiv«, weil er nichts »tut«. In Wirklichkeit aber ist diese konzentrierte Medi-tation die höchste Aktivität, die es gibt, eine Aktivität der Seele, derer nur der innerlich freie, unabhängige Mensch fähig ist.“20

Auch durch die organisierte Bildung wird heute das Gewinnen ei-ner solchen „inneren Freiheit“, jener kritischen Distanz des autono-men Individuums zu den vielfach nur durch die Preisgabe der Sinn-frage möglich gewordenen „Segnungen des Fortschritts“, eher nicht gefördert. Durch die derzeit vorherrschende einseitige Ausrichtung von Lernprozessen am Ziel ökonomischer Zweckmäßigkeit und dem Optimieren des Zeit-Leistungs-Verhältnisses arbeitet das Bildungs-system dem systemadäquaten Verdrängen der Frage nach dem Sinn eines Lebens, das sich darin erschöpft, immer hektischer auf den Tod zuzueilen, in die Hände. So wie das alles überstrahlende Ziel der auf ökonomisches Wachstum ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaft Leistungsmaximierung heißt, geht es auch in der „Bildung“ fast aus-schließlich nur mehr darum, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu lernen. Die ökonomische Rationalität hat auch den Bildungsbe-reich vollständig erfaßt. Schule und Erwachsenenbildung können heute eher als Lern-„Fabriken“ denn als Stätten der Reflexion, des gemeinsamen Nach-Denkens und der Persönlichkeitsbildung bezeich-net werden. Ähnlich der Betrachtungsweise von mechanischen Abläu-fen werden Lernprozesse primär danach bewertet, wieviel an Zeit, Hilfsmaterial, Erklärungen und ähnlichem notwendig sind, um einen möglichst hohen „Behaltegrad“ zu erreichen. Mit immer „effektive-ren“ Methoden, wie zum Beispiel neuerdings dem „Superlearning“, der „Suggestopädie“ oder sogenannten „Schnellesetechniken“, wird

20 Fromm 1993, a.a.O., S. 40/41.

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versucht, den „Wirkungsgrad des Lernens“ noch weiter zu steigern. Auch für Bildung gilt schon längst die Aussage von André Gorz: „Die Suche nach Leistungsmaximierung beherrscht weiter unser Denken, und wir scheinen nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, daß das Bestreben, durch maximale Effizienz möglichst viel Arbeit und Zeit zu sparen, zu einem Ergebnis führt, welchem das ökonomische, utili-taristische Denken weder Wert noch Sinn zu geben weiß.“21

Organisierte „Bildung“ ist Teil der riesigen Mehrwertprodukti-onsmaschine und unterliegt somit auch dem der Profitökonomie in-newohnenden Zwang zur permanenten Beschleunigung. Das optimale „Ausnützen“ der Zeit – die Zeitökonomie des Kapitalismus – be-stimmt auch den Alltag in Bildungsinstitutionen. Damit ist die grund-legende Voraussetzung für Subjektivitätsentwicklung verhindert, den Individuen nämlich jene Zeit zu lassen, die sie für eigene Erkenntnis-se, für subjektive Erfahrungen und deren Verarbeitung brauchen. Das Erfolgskriterium für jedwedes Handeln im Bereich der Profitökono-mie ist das Minimieren des Aufwands in Relation zum Erfolg. Das heißt, es geht immer auch darum, den Zeitaufwand für das Erreichen gewünschter Ergebnisse zu verringern. Das Heranwachsen von Selbstbewußtsein und Selbstreflexivität ist jedoch kein Prozeß, der zeitökonomisch optimierbar ist. Der Mensch, der zwar – wie sich Negt/Kluge ausdrücken – als „Träger der Ware Arbeitskraft“ in Er-scheinung tritt, aber, wie sie weiter schreiben, sehr wohl mehr ist als bloß ein „Arbeitstier“, kann „ohne Umwegproduktion, ohne qualitati-ve Verdichtung von lebensgeschichtlichen Entwicklungsstufen (Reife, »Zeit totschlagen«, freie Zeit, in der man sich verliert, Regression und Entspannung, Erinnerung, Passivität und so weiter) weder erzeugt noch erhalten werden“22. Bildungsprozesse, die diesen Namen wirk-lich verdienen, weil es dabei nicht bloß um die Herausbildung öko-

21 Gorz 1991, a.a.O., S. 69. 22 Negt, O./Kluge, A.: Öffentlichkeit und Erfahrung. Frankfurt a.M. 1972, S.

48.

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nomisch verwertbaren Arbeitsvermögens, sondern um die Entfaltung des menschlichen Potentials geht, sind mit quantitativer Logik nicht in den Griff zu bekommen. Oder, wie es Karlheinz Geißler ausdrückt: „Bildungserfolg kann nicht – wie im betrieblichen Produktionsprozeß der Output – schematisch, durch ein Mehr an Zeit, gesteigert wer-den.“23

Wenn es uns Menschen der industrialisierten Welt gelingen soll, eine Antwort auf die Frage zu finden, was in Zukunft jenseits von ökonomischer Zweckmäßigkeit und der Erwerbsarbeit unsere persön-liche Lebensführung und die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt bestimmen soll, dann müssen wir darangehen, Arbeit und Leistung nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der quantitativen Ausweitung, sondern unter dem Aspekt ihres Beitrags zur Erhöhung der Qualität des Lebens zu sehen. Die Kehrseite des, durch die Logik der Profit-ökonomie determinierten, „mörderischen Leistungsprinzips“ (Hein-rich Böll) – der Raubbau im ökologischen und im humanen Bereich – ist heute bereits unübersehbar. Die absolute Vorherrschaft der Öko-nomie mündet im sozialen Darwinismus. Doch während für die Zer-störung der Umwelt heute zunehmend ein öffentliches Problembe-wußtsein heranwächst, wird die „Plünderung des Menschen durch die Ausbeutung seiner psychosozialen Ressourcen“24 noch viel zu wenig beachtet. Der Mensch stellt sich heute als ein sich selbst entfremdetes Wesen dar, er ist seines wichtigsten Wesensmerkmals – der (Selbst-)Reflexivität – beraubt. Es geht darum, gegen das bewußtlose Funkti-onieren im Sinne der Vernutzung in Arbeit und Freizeit eine Kultur der Muße zu setzen, jene distanzierte Gelassenheit, die die unver-zichtbare Grundlage für ein Besinnen in allem Tun darstellt.

Dazu bedarf es vor allen Dingen des Widerstands gegen das der kapitalistischen Ökonomie innewohnende Diktat der Beschleunigung. Schnelligkeit und Beschleunigung sind Zentralbegriffe der politisch-

23 Geißler 19924, a.a.O., S. 117. 24 Martin, R.: Zeitraffer. Der geplünderte Mensch. Frankfurt a.M. 1993, S. 13.

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ökonomischen Formation Kapitalismus; sie stehen im Rahmen dieses Systems für Überlegenheit; Langsamkeit stellt sich dagegen als Be-hinderung dar, sie gilt – wie Ferdinand Menne unter Bezugnahme auf den Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny schreibt – „im ungeschriebenen Moralkodex des industriellen Zeital-ters […] als etwas Blamables, als menschlicher Makel: Es gibt keinen Flug zwischen A und B, der nicht grundsätzlich als zu lange gilt; wel-ches Versagen, wenn wir für die Überbrückung einer Strecke, die jetzt sechs Stunden dauert, im nächsten Jahr mehr als fünf, im übernächs-ten mehr als vier Stunden benötigen. Zeit gehört (im Kapitalismus – E.R.) zu den »Grundformen der Behinderung«.“25 Menne zitiert in diesem Zusammenhang Günther Anders, der unser heutiges Verhält-nis zur Zeit folgendermaßen charakterisiert: „Was immer Dauer er-fordert, dauert zu lange. Was immer Zeit beansprucht, beansprucht zuviel Zeit. Das Faktum, daß Handlungen Zeit kosten, gilt heute als Vergeudung. Gleich, wie kurz sie währen – niemals sind sie kurz genug. Die bloße Tatsache, daß sie währen, macht sie zu Verzögerun-gen. Zeit = Langsamkeit. Welch unsinnige Gleichung!“26 In der Op-position gegen den Makel, der in unserer „Hochgeschwindigkeitskul-tur“ grundsätzlich allem anhaftet, was Zeit in Anspruch nimmt, liegt demgemäß der wesentliche Ansatzpunkt zur Überwindung der kapita-listischen „Kultur der Entfremdung“.

Muße ist auf das engste mit dem Umgehen mit Zeit verknüpft, sie stellt geradezu das Synonym für das Heraustreten aus dem Diktat der ökonomisch vernutzten Zeit dar. Die Grundlage für das beschleunigte Leben der modernen Gesellschaft und die Profitökonomie wurde durch das historisch-gesellschaftliche Konstrukt des abendländisch-linearen Zeitmodells gelegt. Eine Überwindung der Kultur des profit-

25 Menne, F.W.: Verlangsamung. Ein notwendiges Stichwort. In: Tewes (Hg),

a.a.O., S. 234. 26 Anders, G: Die Antiquiertheit von Zeit und Raum. In: Anders, G: Die Anti-

quiertheit des Menschen. Zit. nach Menne, ebda.

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gepeitschten, besinnungslosen Wachstums inkludiert somit auch eine völlig veränderte Form des Umgangs mit (Lebens-)Zeit in der, wie es Rainer Zoll ausdrückt, die „Eigenzeiten der Individuen eine weit grö-ßere Bedeutung haben müßten, als in dem Zeitmuster der protestanti-schen Ethik“27. Im Sinne der antiken Unterscheidung in den „Chro-nos“, für den gleichmäßig dahinfließenden und alles equalisierenden Strom der Zeit, und den „Kairos“, für eine Zeitdimension, die den günstigen Zeitpunkt für ein Vorhaben umschreibt, müssen wir wieder lernen, innezuhalten, um „unsere Zeit“ wahrzunehmen. Uns Bewoh-nern der leistungsfixierten Kultur ist weitgehend die Fähigkeit zum

Verweilen verlorengegangen, wir haben verlernt, uns „Zeit zu neh-men“, in uns hineinzuhorchen und den „rechten Zeitpunkt“ abzuwar-ten. Auch in Lernprozessen erlaubt das heute vorherrschende „indust-rialisierte Lernen“ kaum, auf den Kairos, den „fruchtbaren Moment“, zu warten und Lernumwege – einschließlich entsprechender Irrwege – als sinnvoll und notwendig wahrzunehmen.

Ein Lernen, das zur Selbstfindung, zur Reflexionsfähigkeit und zur Selbstbestimmungsfähigkeit von Individuen beiträgt, „erfolgt nicht gradlinig-linear; beim Fortschreiten nimmt es notwendige Rückversi-cherungen vor. Auf der Suche nach Zusammenhängen gerät es auf scheinbare Neben- und Abwege. Solche Umwege brauchen Zeit.“28 In den Lernfabriken der heutigen Zeit wird Bildung jedoch zu einem quantifizierbaren Lernprozeß verkürzt und damit in logischer Konse-quenz der Mensch zum kalkulierbaren Humankapital reduziert. Im gleichen Maß, in dem (Aus-)Bildung zur „entscheidenden sozialen Dirigierungsstelle“ (H. Schelsky) und somit zur zentralen Größe für die Legitimierung einer sich ökonomisch artikulierenden gesellschaft-lichen Ungleichheit geworden ist, hat die ökonomische Logik auch

27 Zoll, R.: Krise der Zeiterfahrung. In: Zoll (Hg.): Zerstörung und Wiederaneig-

nung von Zeit. Frankfurt a.M.1988, S. 22. 28 Becker-Schmidt, R.: Erfahrungen, Denken, Wirklichkeiten: Zur Komplexität

sozialen Lernens (1983). Zit. nach: Geißler 1992, a.a.O., S. 117.

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das Bildungswesen vereinnahmt. Das eindimensional auf ökonomi-

sche Verwertbarkeit ausgerichtete „Leistungsprinzip“ unserer „Leis-tungsgesellschaft“ ist heute auf allen Ebenen des Bildungssystems fest verankert. Systematische Planung, Rationalisierung, Objektivierung und Effizienzsteigerung sind zu zentralen Vokabeln des Bildungsge-schehens geworden. Allenthalben geht es um die quantifizierbare Optimierung am Markt nachgefragter Qualifikationen. Statt um das Zur-Ruhe-Kommen und ein Vertiefen in die Sache geht es in der di-daktischen Fachliteratur nur mehr um Stufen, Schritte und Phasen des Unterrichts. Es gilt, Zeit, die ökonomisch anderweitig profitabel ein-setzbar ist, zu sparen und möglichst viel von dem zu lernen, was im Rahmen profitökonomisch ausgerichteter Arbeitsprozesse verwertbar ist. Das Erwerben der Befähigung von reflektiertem Verhalten gegen-über sich selbst und der Umwelt bleibt dabei auf der Strecke. In der Ablösung des Bildungsbegriffs durch den Qualifikationsbegriff findet die gesellschaftliche Funktionalisierung der Individuen ihren sicht-barsten Ausdruck – „der Mensch ist zum bloßen Konsumenten seiner Daseinsbedingungen geworden“29.

Selbstbestimmung und Selbstfindung als Synonyme für Bildung sind nicht im Sinne einer Wenn-Dann-Relation erreichbar. Ihre Her-ausbildung folgt nicht den Regeln der quantitativen Logik und läßt sich nicht mit dem Modell linearer Prozesse einfangen – dementspre-chend ist sie auch mit Optimierungsstrategien nicht in den Griff zu bekommen. Im Zusammenhang mit Bildung geht es darum, „die Din-ge wachsen und reifen“ zu lassen und auf den geeigneten Zeitpunkt, den Kairos, warten zu können. Ist das Ziel tatsächlich „Bildung“ und nicht bloß „Zurichtung“, kann es somit nicht darum gehen, Zeit zu

sparen, sondern Zeit zu lassen. In gewissem Sinn läßt sich Bildung ja als das Herstellen einer „Liebesbeziehung zum eigenen Selbst“ be-greifen. Und es ist wohl unbestritten, daß eine liebevolle Beziehung

29 Fell, a.a.O., S. 182.

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im Hinblick auf Entstehen, Verlauf und Dauer nicht einer berechenba-ren oder optimierbaren Dynamik folgt, für ihr Heranwachsen braucht sie die „Sehnsucht“ und die Fähigkeit des „Warten könnens“ der Be-teiligten. Für Christa Wolf ist dementsprechend auch der Müßiggang der Anfang aller Liebe. Liebe entwickelt sich diskontinuierlich, eben in „ihrer“ Zeit (und möglicherweise auch gar nicht). Zuviel „Voraus-planung“ schadet ihr eher als ihr nützt. Ganz ähnlich kann die Dyna-mik von Bildungsprozessen gesehen werden; ihre „Krisenhaftigkeit liegt“, wie es Geißler ausdrückt, „näher bei der Logik des platzenden Knotens, der überraschenden Kristallisation als bei der des ins Unend-liche abgeschossenen, stetig aufsteigenden Pfeils“30. Bildung braucht zwar „Bedingungen der Möglichkeit“ ihres Heranwachsens, sie ist jedoch – ganz so wie die Liebe – prinzipiell unberechenbar.

Das was dagegen heute unter dem Begriff Bildung firmiert, gleicht eher „Geschäftsbeziehungen“ – berechnende und berechnete Kontakte zum Zweck quantifizierbaren Erfolges. Diese sind nicht getragen von Sehnsucht und Liebe, sondern Ausdruck eines kalkulatorischen Um-gangs mit der Zeit und der Interaktionspartner miteinander. Unter einem diesbezüglich kritischen Gesichtspunkt charakterisiert Max Horkheimer in den „Frankfurter Universitätsreden“ auch die gegen-wärtige Situation der Bildung: „Der Prozeß der Bildung ist in den der Verarbeitung umgeschlagen. Die Verarbeitung – und darin liegt das Wesen des Unterschiedes – läßt dem Gegenstand keine Zeit, die Zeit wird reduziert. Zeit aber steht für Liebe, der Sache, der ich Zeit schenke, schenke ich Liebe, die Gewalt ist rasch.“ Und Peter Bichsel meint mit Blick auf die „Bildungsinstitution“ Schule dazu resignativ-ironisch: „[…] zum Lernen braucht es Geduld und Langeweile. Und genau diese Langeweile wird sich diese Schule, die auf diese Wirt-schaft und diese Gesellschaft vorbereiten muß, nie leisten können. Und deshalb wird sie auch nur auf Arbeit vorbereiten können und

30 Geißler 1992, a.a.O., S. 117.

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nicht auch auf die Freizeit. Weil echte Freizeit heißt, mit der Lange-weile umgehen zu können. Wo kämen wir hin, wenn die Menschen in der Schule lernen würden, mit einem Überfluß an Zeit umzugehen? Der Schaden im gelobten Bruttosozialproduktstaat wäre doppelt, sie würden zu wenig produzieren, und sie würden ihre Freizeit verbrin-gen, ohne zu konsumieren. Wer will das?“31

Peter Bichsel spricht hier mit „Langeweile“ gewissermaßen einen „Antibegriff“ der heutigen, sich selbst weitgehend zur Didaktik ver-kürzenden Pädagogik an. Langeweile wird von der Pädagogik be-kämpft und in der Regel abgetan als etwas Unangenehmes, das päda-gogische Handeln Störendes. Kaum ein Erziehungswissenschafter zeigt heute forschendes Interesse dafür, was Langeweile signalisiert, welche Widerstände, Sehnsüchte, Hoffnungen sich hinter ihr verber-gen. Und in pädagogischen Lexika sucht man unter dem Stichwort „Langeweile“ vergebens. „Motivieren“ lautet im Gegensatz dazu der zentrale Begriff der heutigen Pädagogik. Und das Motivieren ist auch die gängige „erziehungswissenschaftliche“ Antwort auf die Frage, wie Menschen dazu gebracht werden können, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel von dem zu lernen, was sie zu brauchbarem „Human-kapital“ macht. Kaum jemals wird die Frage gestellt, warum eigent-lich in allen Lebenslagen motiviert und animiert werden muß. Geht man dagegen von der Grundeinsicht aus, daß die Möglichkeit von Bildung zu tun hat mit Suchen, Abschweifen und Phantasieren, mit dem Gehen von Umwegen und Abwegen, dann muß rasch klarwer-den, daß das ständige Motivieren für fremdbestimmte Ziele mit dem Fördern der „entfalteten Persönlichkeit“ keinen Zusammenhang hat und zugleich verliert auch die verpönte Lange-Weile schnell ihren negativen Beigeschmack.

In der Langeweile artikuliert sich die einzige Erscheinungsform, in der die Muße unter den Begleitumständen einer allumfassenden Stan-

31 Bichsel, P.: Arbeitserziehung. Die heutige Schule als Ersatz für die Kinderarbeit

(1980). Zit. nach Geißler 1992, a.a.O., S. 114/115.

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dardisierung, Normierung und Rationalisierung heute noch in Er-scheinung treten kann. Ihre negative Bewertung durch die nach Erfah-rung und Aufregung süchtigen Menschen der dynamischen Gesell-schaften erklärt sich wohl daraus, daß das „Funktionieren“ der allge-mein verinnerlichte Wert in diesen Gesellschaften ist – unter diesen Begleitumständen kann jede Lücke im Arbeits- und Freizeitstreß, also Zeit, in der es nichts zu funktionieren gibt, nur als schrecklich lang-weilig erlebt werden. Ganz anders wird Langeweile in den ostasiati-schen Weisheitslehren – zum Beispiel der Philosophie und Meditati-onspraxis des Buddhismus, Taoismus und Hinduismus – bewertet. In der buddhistischen Meditation wird sie als das Tor zur Erleuchtung

angesehen. Meditation wird bisweilen sogar explizit als „Übung in Langeweile“ beschrieben (Chogyam Trungpa). Um nicht dem „spiri-tuellen Materialismus“ anheimzufallen, gilt die Konfrontation mit Langeweile und Monotonie in den angesprochenen „Weltanschauun-gen“ als überaus wichtig. Es ist ja in der Tat sehr unspektakulär und „langweilig“, sich – wie es in buddhistischen Meditationstechniken gefordert wird – auf einen monotonen Vorgang, wie beispielsweise auf seinen Atem, zu konzentrieren, dennoch gilt diese Übung – falls sie konsequent und diszipliniert ausgeübt wird !– als ein ganz wichti-ger Schritt auf dem Weg zu Selbsterkenntnis.

Dagegen wird in unserer aktivitätsverherrlichenden Kultur ein her-ankeimendes Gefühl der Langeweile üblicherweise sofort mit neuer Stimulation bekämpft. Schnell wird versucht, die empfundene Leere mit Arbeit oder Konsum, mit Alkohol, Essen oder einer neuen Bezie-hung „aufzufüllen“. Auch der gängige Rat der professionellen Le-benshelfer geht in die Richtung, sich aus der „Lethargie“ zu reißen. Aktivität, Besuche, Spaziergänge, Briefe schreiben, …, irgend etwas tun wird als Rezept gegen die Langeweile angepriesen. Kaum jemals wird thematisiert, daß genau in der heutigen Hyperaktivität die Ursa-che dafür zu suchen ist, daß Momente der Ruhe und Stille sowie der anspruchslosen Monotonie von den Menschen nicht als beglückend,

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sondern fast durchwegs nur als belastend – eben als „langweilig“ – erlebt werden können. Zwanghafte Aktivität als Antwort auf die Lan-geweile ist jedoch die perfekte Methode, um ein Nachdenken über den Sinn hinter seinen Aktivitäten auch weiterhin zu verhindern. Lan-geweile stellt die unumgehbare Hürde auf dem Weg zu einem reflexi-ven, mußevollen Leben dar. Sie ist – im Sinne eines unvermeidlichen „Entzugsphänomens“ – Durchgangsstadium, das der nach permanen-

ter Stimulation süchtige Mensch auf dem Weg zu seiner Heilung durchleiden muß; ihr Vermeiden bedeutet somit, auch weiterhin in der Sucht zu verharren. Langeweile ist das Tor, das den Anfang jenes Weges markiert, der zum Transzendieren der allumfassenden Ent-fremdung führt. Somit gilt es nicht, die Langeweile als solche zu be-kämpfen, sondern die Ursache für die Tatsache, daß „freie“, unver-plante und nicht mit abwechslungsreicher Aktivität angefüllte Zeit als Belastung erlebt wird.

Das pädagogische „Lange-Weile-Tabu“ – also die fast ausschließ-liche Betrachtungsweise der Zeit, die für Bildungsprozesse aufge-wandt wird, im Sinne der ökonomischen Logik – stellt einen der vie-len Aspekte im Rahmen der einseitigen Indienstnahme der Pädagogik für Zwecke der Funktionalisierung der Gesellschaftsmitglieder dar. Wie schon in den vorigen Kapiteln32 ausgeführt, hat sich im Zusam-menhang mit der Tatsache, daß dem Faktor Qualifikation immer stär-kere Bedeutung im allumfassenden ökonomischen Konkurrenzkampf zukommt, mit der endgültigen und die gesamte Gesellschaft betref-fenden Etablierung des Marktsystems die Sichtweise von Bildung zunehmend in eine instrumentelle Richtung verengt. Ihre Aufgabe wird heute im allgemeinen Verständnis nahezu ausschließlich darin gesehen, Menschen fit zu machen für die Übernahme von Funktionen in Wirtschaft und Gesellschaft. Bildung wird wahrgenommen als Faktor der Integration, als „Methode“, um Menschen zum Funktionie-

32 Vgl. dazu insbesondere die Kapitel 1, 2 und 5.

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ren unter den Bedingungen des Status quo zu bringen. Die dem ur-sprünglichen Bildungsgedanken innewohnende emanzipatorische Dimension, im Sinne einer Befähigung zur vernünftig-kritischen Re-flexion der gegebenen gesellschaftlich determinierten Bedingungen des Lebens, wird derzeit kaum mehr eingefordert. Der reflexive – zu einer kritischen Sichtweise des Bestehenden befähigende – Aspekt der Bildung ist am Altar des, der Profitökonomie geschuldeten, unge-hemmten Wachstums geopfert worden. Indem die wirtschaftlich-gesellschaftliche Formation „bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft“ mit dem Nimbus eines Naturgesetzes versehen worden ist, ist quanti-tatives (Wirtschafts-)Wachstum zum sakrosankten Wert avanciert – die Reduzierung des kritisch-emanzipatorischen Bildungsanspruchs zum „ideologischen Aufputz“ war die logische Konsequenz. Alle gesellschaftlichen Bereiche – und somit auch der „Bildungssektor“ – mußten sich unter diesen Umständen dem Ziel „quantitatives Wachs-tum“ unterordnen. Kritikfähigkeit, die ja per Definition keine sakro-sankten Werte kennt, wurde an die Zügel genommen, auch sie wurde funktionalisiert. Die Folge ist die Reduzierung einer „Bildung“, die der dialektischen Verschränkung von Integration und Emanzipation gerecht wird, zur bloßen Qualifizierung, die sich in der Anpassung an die gegebenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen erschöpft und im Sinne eines an profitökonomischen Kriterien ausge-richteten Input-Output-Verhältnisses organisiert ist.

„Anpassungsbildung“ zwängt die Bildungsadressaten in ein Kor-sett, ermöglicht ihnen nicht, eine selbstbestimmte Persönlichkeit zu werden, sondern macht sie zu der als Humankapital bezeichneten brauchbaren Person. So wie der Schauspieler im antiken Theater zur „persona“, der Theatermaske, wurde, ist der Preis der unreflektierten Anpassung an den Status quo der gesellschaftlichen Anforderungen die „Charaktermaske“ des bürgerlichen Individuums. Funktionieren bedeutet berechenbar zu sein, es bedeutet, sich an die geforderten Rollen, Haltungen, Abwehrmechanismen zu halten, das heißt das

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Leben in ein Korsett adäquater Reaktionen zu zwängen. Aus der Norm Fallendes, Neues und Spontanes gilt es zu vermeiden, die Ge-fangenschaft in der „zugewiesenen Rolle“, jener Routine des „gefes-tigten Charakters“, ist die Konsequenz. Genau darin kann aber die Ursache dafür gesehen werden, daß stimulationsfreie Zeit für die meisten Menschen so schwer erträglich ist: Die Konfrontation mit dem „langweiligen Ego“, jener „inneren Leere“ des auf Funktionieren programmierten Individuums, das Erkennen des Festgefahrenseins in einer bestimmten auferlegten Art des Sehens, Fühlens und Handelns.

Der bekannte Psychologe und Philosoph Carl Gustav Jung hält es in Anbetracht dieser Tatsache für unumgänglich, zur Entfaltung der selbstbewußten und über sich selbst bestimmenden Persönlichkeit, aus dem Kokon der moralischen, sozialen, politischen, philosophischen und religiösen Konventionen zu schlüpfen. Die durch Erziehungs- und Sozialisationsprozesse erworbenen „Konventionen sind nämlich“ – so führt er aus – „seelenlose Mechanismen, welche nie mehr kön-nen, als die Routine des Lebens erfassen. Das schöpferische Leben aber ist immer jenseits der Konventionen.“33 Das zunehmende He-raustreten aus dem Charakterpanzer der auf Aufrechterhaltung des Status quo programmierten „konventionellen Person“ – das Ent-wickeln der freien Persönlichkeit – läßt sich seiner Meinung nach somit als eine „Entscheidung für den eigenen Weg“ charakterisieren; dieser ist aber nur durch Innehalten, ein in sich Hineinhorchen und geduldiges Warten zu finden. So wie Jung gehen auch östliche Philo-sophien und im Grunde genommen alle Meditationsformen davon aus, daß der Schritt zur „Entfaltung jener Ganzheit des menschlichen Wesens […], welche man als Persönlichkeit bezeichnet“34, nur über das Transzendieren der „Charaktermaske“ möglich ist. Durch die bewußte Konfrontation mit der erschreckenden Substanzlosigkeit eines nur auf Funktionieren abgestellten Lebens, das in den gesell-

33 Jung, C.G.: Vom Werden der Persönlichkeit. In: Jung, a.a.O., S. 107. 34 Ebda., S. 97.

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schaftlich vermittelten Konventionen gefangen ist, wird ein Über-schreiten der Grenzen des Egos und das Ent-Decken des freien Selbst für möglich gehalten. Alle Meister in der Kunst der Meditation stim-men darin überein, daß das wichtigste Werkzeug, um dem „Gefängnis des Ich“ zu entkommen, die „bewußte Wahrnehmung“ (awareness) ist. „Sich einfach hinsetzen“, den Fluß der eigenen Gedanken beo-bachten und sich auf die Routine seiner Atmung konzentrieren lautet dementsprechend die „banale“ Anweisung. Das Rezept heißt: „kon-zentriertes Nichtstun“ – bewußter Beobachter und Zeuge sein, für die Vorgänge in uns und um uns. Dieses aufmerksame Verharren und das Aushalten der Langeweile, die sich notwendigerweise einstellt, wenn wir – süchtig nach Erfahrung und Aufregung – einmal auf geschäftige Betriebsamkeit verzichten, soll zur Erkenntnis führen, daß die als unangenehm erlebte Dimension der Langeweile in der Flucht vor dem Unberechenbaren begründet ist.

Auf diese Art betrachtet, eröffnet sich ein völlig neuer Aspekt der Langeweile. Sie wird zum Ausgangspunkt einer Reise zum Selbst, zur Voraussetzung für ein, wie es Hans-Jochen Gamm ausdrückt, „Ge-spräch des Menschen mit sich selbst“35. Sie offenbart sich als die Form, mit der das biblische Ruhegebot, jenes „Innehalten“, das von kritischen Vertretern der verschiedensten philosophischen und welt-anschaulichen Positionen immer wieder eingefordert wird, in unser Bewußtsein tritt. Das Zulassen der Langeweile zeigt sich als ein we-sentlicher Schritt in Richtung Muße und damit auch als ein Schritt, um vom Funktionär – dem auf Aufgabenerfüllung programmierten Menschen – zur selbstbewußten, mündigen Persönlichkeit zu werden. In diesem Sinn empfiehlt auch der Philosoph Bertrand Russel das „Aushalten der Langeweile“ als den notwendigen Schritt, um zum „ganzen Menschen“ zu werden. Er meint: „Ein Leben übervoll von Aufregung ist ein erschöpftes Leben, in dem ständig stärkere Reize

35 Gamm 1977, a.a.O., S. 65

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nötig sind, um die angenehme Erregung zu verschaffen, die als we-sentlicher Bestandteil von Genuß betrachtet wird. Eine gewisse Kraft zum Aushalten von Langeweile ist deshalb wesentlich für ein glückli-ches Leben. […] Alle großen Werke der Literatur enthalten langwei-lige Passagen, und all die großen Biographien enthielten lange uninte-ressante Zeiträume. Das Leben der meisten großen Männer war nur in wenigen Augenblicken wirklich aufregend. Von Kant sagt man, daß er nie mehr als zehn Meilen weg von Königsberg gewesen ist, und Darwin hat nach seiner Weltreise den Rest seines Lebens in seinem Landhaus verbracht. […] Eine Generation, die Langeweile nicht mehr aushalten kann, wird eine Generation kleiner Menschen sein.“36

Hektik und die Sucht nach immer mehr Stimulation – die unserer Gesellschaft immanente Flucht vor der Langeweile – sind die Krank-heit, für deren Therapie sie sich hält. Wenn heute immer mehr Men-schen durch eine einseitige Fokussierung ihres Lebens auf Arbeit, durch wahlloses Konsumieren mit Hilfe der Angebote der Freizeitin-dustrie oder verschiedenste Drogen der inneren Leere zu entkommen versuchen, so flüchten sie damit gleichzeitig vor der Sinnleere einer zwischenmenschlichen Ordnung, deren Paradigmen immer unerbittli-cher durch das Diktat der Profitökonomie bestimmt sind. Zeit-lassen, Verharren, ritualisierte Zeiten der Ruhe und des Rückzugs galten in allen Kulturen als notwendig zur Sinnfindung und dafür „sich nicht selbst zu verlieren“. So schrieb zum Beispiel der mittelalterliche Mys-tiker Bernhard von Clairvaux im zwölften Jahrhundert: „Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und kei-nen Raum mehr für die Besinnung vorsiehst, soll ich Dich da loben? Darin lobe ich Dich nicht. Ich glaube niemand wird Dich loben, der das Wort Salomons kennt: »Wer seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit«. […] Wie kannst Du voll und echt Mensch sein, wenn Du Dich selbst verloren hast? Auch Du bist ein Mensch. Damit Deine

36 Zit. nach: Keen, S.: Sich Zeit nehmen für die Langeweile. In „Psychologie heu-

te“ 7 (1980), Heft 10, S. 24.

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Menschlichkeit allumfassend und vollkommen sein kann, mußt Du also nicht nur für die anderen, sondern auch für Dich selbst ein auf-merksames Herz haben. Denn was würde es Dir sonst nützen, wenn Du – nach dem Wort des Herrn – alle gewinnen, aber als einzigen Dich selbst verlieren würdest? […]. Bist Du Dir etwa selbst ein Frem-der? Und bist Du nicht jedem fremd, wenn Du Dir selber fremd bist?“

Heute sind es primär Psychologen und Psychoanalytiker – Men-schen, die aufgrund ihres Berufes unmittelbar mit den psychisch zerstörerischen Folgen der Totalverzweckung der Individuen konfron-tiert sind –, die ein „Zeit für sich selbst nehmen“ urgieren. So auch der Psychoanalytiker Masud R. Khan. Im Hinblick auf die Entfaltung einer psychisch gesunden Persönlichkeit spricht er von der Notwen-digkeit der „Beschäftigung mit der Beziehung, die eine Person zu sich selbst hat“. In Anlehnung an die „Brache“, das zwar gründlich ge-pflügte und geeggte, jedoch eine Zeitlang mit dem Ziel des Neuauf-baus der Bodenfruchbarkeit nicht bestellte Ackerland, verwendet er dafür den Begriff „Brachliegen“37 In der Fähigkeit zum Brachliegen sieht Khan die unumgängliche Grundlage für den „Personalisie-rungsprozeß des Individuums“ dafür, daß – wie er es ausdrückt – sich ein „personalisiertes Individuum mit eigener Privatheit, innerer Reali-tät und einem Gefühl dafür [entwickeln kann], daß es in seine soziale Umwelt eingebunden ist“38. Brachliegen ist – wie er in weiterer Folge ausführt – somit etwas ganz anderes als Freizeit, die er im heutigen Verständnis bloß durch ein permanentes Suchen nach Ablenkung charakterisiert sieht. Dieses Freizeitverständnis spiegelt seiner Mei-nung nach aber eine grundsätzlich irrige Erwartung an die menschli-che Existenz wider, daß nämlich „das ganze Leben ein Vergnügen sei und die gesamte Zeit eigentlich zur Verfügung stehen sollte, damit man dieses Vergnügen genießen kann“. Als Ergebnis dieser irrigen

37 Khan, Masud R.: Erfahrungen im Möglichkeitsraum. Psychoanalytische Wege

zum verborgenen Selbst. Frankfurt a.M. 1990, S. 295 ff. 38 Ebda, S. 297.

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Einstellung stellen sich dann die bekannten Symptome der Langewei-le ein: „Apathie, Unzufriedenheit und Pseudo-Neurosen“. Diese „Krankheits-Zustände und Trübsinnigkeiten“ sind für ihn die direkten Folgen der systematischen Verweigerung des Brachliegens. Auch für den Psychoanalytiker Khan ist somit nicht die Langeweile das Prob-lem, das es zu bekämpfen gilt, sondern die Unfähigkeit der Individu-en, „ohne ein bestimmtes Vorhaben zu verfolgen, mit sich selbst al-lein sein zu können“39.

So gesehen ist das Gefühl der Langeweile nichts anderes als die individuelle Form des Wahrnehmens einer kulturellen Seuche. Der psychische Schmerz der Langeweile entpuppt sich als ein Alarmsignal für die Unmenschlichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung, die nur noch die ökonomische Rationalität als Bewertungsmaßstab allen Ge-schehens kennt. Wenn einzig (profit-)ökonomisch bestimmter Nutzen und nicht ein an menschlichem Wachstum orientierter Sinn das Ziel gesellschaftlichen Handelns postuliert, ist auch die Lebenszeit der Individuen ökonomischen Rentabilitätskriterien unterworfen. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche läßt den Wert von Leistungen, die nicht durch die Dimension Tauschwert erfaßbar sind, immer stär-ker in den Hintergrund treten. So erscheint schließlich auch die Le-benszeit der Individuen nur mehr als Ware im allumfassenden Kampf um einen möglichst großen Anteil am gesellschaftlich produzierten Mehrwert. Lebenszeit dient nicht der Erfüllung eines transzendental vermittelten Sinns, sie steht unter der Prämisse des Nutzens. „Was dabei jedoch unentdeckt und unbemerkt bleibt, ist der Sachverhalt, daß man sich dabei nur selbst zur Ware macht. Nicht die Zeit wird genutzt, sondern das Individuum nützt sich in der Zeit. So ist schließ-lich die rigide Selbst-Beherrschung (Herrschaft über das Selbst) das notwendige Ergebnis der verbreiteten und geförderten Illusion, die Zeit beherrschen zu können.“40

39 Ebda. S. 300. 40 Geißler, K.A.: Bess’re Zeiten. In: Zoll, a.a.O., S. 673.

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Der heute allgemein verbreitete Horror vor der – dem „Diktat des Nutzens“ entsprechend, nur als langweilig erlebbaren – ungenutzten Zeit, vor einer Zeit also, die nicht fremdbestimmt ist, ist die Folge dieser Einstellung. Diese Angst vor der nicht genutzten Zeit – quasi die individuelle Auswirkung einer gesellschaftlichen Ordnung, die als einziges Regulierungsprinzip die Prämissen der Konkurrenzökonomie akzeptiert – läßt sich damit als jene Größe identifizieren, die verhin-dert, daß Menschen eine liebevolle Beziehung zu sich selbst aufbauen und sie in immer tiefere Entfremdung treibt. Zwischen der heute weitverbreiteten Unfähigkeit zur Muße, jener Rastlosigkeit des Arbei-tens um der Arbeit willen, und der Angst des heutigen Menschen, das Tor der Langeweile zu durchschreiten und sich selbst zu begegnen, steht als Vermittlungsinstanz die bürgerlich-kapitalistische Gesell-schaft, die die ökonomisch verwertbare Leistung zum Fetisch erhoben hat. Einem Bildungsideal, das an der Vorstellung von der Entfaltung der Ganzheit des menschlichen Wesens festhält und sich am Ziel der Befähigung zur reflektierten Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt orientiert, ist dementsprechend der Widerspruch gegen die „Leistungsgesellschaft“ immanent. Mußefähigkeit ist Bedingung der Möglichkeit von Bildung, ihre Herausbildung ist logisches Ziel eines an Bildung orientierten Lehrens. Wird organisiertes Lernen dagegen an dem durch Gesellschaft vermittelten, einseitig ökonomischen Leis-tungsbegriff ausgerichtet, bleibt das Bildungsziel des mündigen Indi-viduums auf der Strecke. Nur einem zur Muße fähigen Menschen erwächst jener kritische Aspekt, der ihm erlaubt, über ideologische und geschichtliche Selbstbeschränkungen hinauszuwachsen – ohne Muße keine Reflexion und ohne Reflexion keine Mündigkeit im Sin-ne der freien Urteilsfähigkeit!

Um Mußefähigkeit zu erwerben, braucht es mehr als Frei-Zeit, es braucht dazu eine entsprechende Mußebiographie. Es bedarf einer Erziehung, in der die reflektierende Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt eingeübt wird. Eine Erziehung, bei der es nicht primär

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um das Antrainieren eines gesellschaftlich erwünschten Leistungsver-haltens geht, nicht darum, Heranwachsende „der Freiheit und Persön-lichkeit zu berauben und [ihnen] atemloses Angestrengtsein als Ideal einzutrichtern“41, sondern eine solche, die zum „hörenden Schwei-gen“ (J. Pieper) und zur „kreativen Konzentration“ (W. Nahrstedt) befähigt sowie dazu, die Welt in ihrem Gesamtzusammenhang in den Blick zu bekommen. Wenn Erziehung und Schule Schutz bieten sol-len vor einer Totalidentifikation mit dem gesellschaftlichen Status quo, vor der Vernichtung der subjektiven Bewußtheit und vor kollek-tivierenden Konventionen, dann muß der pädagogische Stellenwert von Muße neu entdeckt werden. Das impliziert auch ein Relativieren des pädagogischen „Langeweile-Tabus“, die Kehrseite jenes auf Co-menius rekurrierenden Postulats, daß es in der Pädagogik darum gin-ge, allen Menschen alles [rasch] zu lehren. Peter Bichsel identifiziert in diesem Sinn im Begriff der Muße auch bloß den wertfreien Aus-druck für die „Lange-Weile“ – wird doch selbstbestimmtes Tun gerne auf eine „Lange-Weile“ ausgedehnt und dennoch nicht als „langwei-lig“ erlebt. Nicht zufällig meint er, ist der schweizerdeutsche Begriff für Lange-Weile – „Längyzit“ – zugleich auch der Ausdruck für „Sehnsucht“.42 Und in der Sehnsucht steckt ja bekanntlich die „Seins-Sucht“, der Wunsch nach dem selbstbestimmten Leben – durchaus nichts Unpolitisches in einer gesellschaftlichen Situation, in der sich der Mensch als weitestgehend reduziert darstellt, auf bloßes mehr-wertproduktionsadäquates Funktionieren.

Muße ist jenes wesentliche Element, das die Distanz von pädago-gischen Prozessen zur ökonomischen Rationalität und zum wachs-tumsorientierten Leistungsdenken indiziert. Was eine Bildungsarbeit braucht, die sich an den pädagogischen Leitvorstellungen vom eman-zipierten, autonom denkenden, mündigen Menschen legitimiert und

41 Hesse, H.: Die Kunst des Müßiggangs. Frankfurt a.M. 1973, S. 7. 42 Bichsel, P.: Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darm-

stadt/Neuwiedl 1983, S. 38.

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die ihr aufgeherrschten Ziele nichtpädagogischen Ursprungs, wie „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „technischer Fortschritt“, in die zweite Reihe verweist, ist das Fehlen von Zeitdruck. Bildung braucht Zeit, Zeit um nachzudenken und auszuprobieren, Zeit zum Entdecken von Fragen und für Gespräche, die nicht gleich am kürzesten Weg zu ir-gendwelchen verwertbaren Lösungen führen müssen, Zeit für jene Größe, die die indienstgenommene Pädagogik völlig verdrängt hat: Zeit für Muße. Im Sinne der Aussage des römischen Philosophen Seneca, der schon vor zweitausend Jahren darauf hingewiesen hat, daß der Mensch nur in Muße zum Bewußtsein seiner Freiheit finden kann, besteht zwischen Bildung und Muße ein heute zwar weitgehend in Vergessenheit geratener, nichtsdestotrotz aber untrennbarer Zu-sammenhang: Bildung braucht zu ihrer Entfaltung unverzweckte Frei-räume – sie duldet keinen Zweck außer sich, denn ihren Sinn schöpft sie aus sich selbst; dementsprechend findet sie ihre „methodische Entsprechung“ in der Muße, jener zweckfreien, aber im höchsten Ma-ße sinnvollen Tätigkeit.

Bildung steht nicht in Korrelation zu bestimmten, definierbaren Wissensinhalten, sondern bestimmt sich über die Form der Auseinan-dersetzung mit Wissen. Sie mißt sich am befreiten Individuum, steht und fällt somit mit der Anbindung an äußere Zwecke. Bildung, die als „wesensgerechte Selbstverwirklichung“ umschrieben wird, ist dieser Definition entsprechend weder mit konkreten, aus einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation erwachsenden Inhalten ver-knüpft noch über ein bestimmtes Wissensquantum identifizierbar. Nicht der Erwerb eines bestimmten Kanons an Wissensinhalten, we-der solcher, die sich auf berufliche Tätigkeiten beziehen, noch sol-cher, die sich nicht (unmittelbar) über berufliche Verwertbarkeit defi-nieren lassen – eine Vorstellung, die sich hartnäckig in Form der „Allgemeinbildungsideologie“ hält –, ist es, was einen „Gebildeten“ auszeichnet, sondern die reflexive Qualität des Umgehens mit seinem erworbenen Wissen. Durchaus können dementsprechend auch solche

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Inhalte, die für den Einsatz in der Berufs- und Arbeitswelt relevant sind, die also gemeinhin zur Ausbildung gerechnet werden, zum An-

laß für Bildung werden. In jedem Fall sind die Wissensinhalte jedoch nur das Material, an dem sich Bildung abarbeitet; nur über das „Prin-zip Bildung“ bekommt die Beschäftigung mit Wissensinhalten einen Sinn, der über die gesellschaftliche Funktionalisierung des Menschen hinausweist. Erst eine Orientierung am Ideal der Entfaltung des genu-in Menschlichen, der Reflexionsfähigkeit, unterstellt den Erwerb von Wissen – gleichgültig, ob dieses nun unmittelbar oder bloß mittelbar gesellschaftlich verwertbar ist – der Verantwortung gegenüber einer außergesellschaftlichen Instanz.

Weder stellt sich Bildung automatisch ein, indem spezifisches Wissen erworben wird oder ein bestimmter, quantitativ definierter Grenzwert von Wissen überschritten wird, noch kann sie „nebenbei“, im Sinne einer additiv erworbenen Befähigung, erreicht werden. Die Vorstellung, Ausbildung und Bildung könnten zeitlich-örtlich ausei-nandergerissen werden – wie zum Beispiel durch verschieden ausge-richtete Lernorte, unterschiedlich gewichtete Lerngegenstände oder eine zeitliche Abfolge von (Allgemein-)Bildung und (Berufs-)Ausbil-dung –, geht von einem schizophrenen Menschenbild aus, davon, daß sich der funktionelle und der humane Aspekt des Menschen real auf-spalten ließe und quasi eine Trennung in „Mensch“ und „Funktionär“ vorgenommen werden könne. Bildung wird auf diese Art zur gesell-schaftlich irrelevanten, unpolitischen Privatsache erklärt – der optima-le Weg, um die Überwindung der Entfremdung als Postulat für päda-gogische Festtagsreden aufrechtzuerhalten, dabei jedoch die realen Entfremdungsbedingungen, die sowohl Grundlage als auch Auswir-kung des gesellschaftlichen Status quo sind, nicht in Frage zu stellen. In diesem Sinn greift es ja auch viel zu kurz, (Berufs-)Pädagogen, die sich auf das Propagieren zukunftsträchtiger Wissensinhalte und das Entwickeln von Strategien für deren optimierten Erwerb zurückzie-hen, des Verrats am pädagogischen Ideal der entwickelten Persön-

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292 Die Arbeit hoch?

lichkeit zu bezichtigen. Eine solche Haltung signalisiert wesentlich mehr als pädagogischen Visionsverlust, sie bedeutet die Bereitschaft, dem Fortschreiten der Entfremdungsbedingungen aktiv in die Hände zu arbeiten.

Wird Pädagogik nicht darin gesehen, die Bedingungen der Mög-lichkeit für die Befreiung des Menschen von gesellschaftlicher

Verzweckung einzufordern, so liefert sie sich selbst der Funktionali-sierung aus. Als Maß der pädagogischen Aufgabenerfüllung das Ziel der Aufrechterhaltung des Status quo der profitgepeitschten Immer-Mehr-Gesellschaft zu akzeptieren, beinhaltet das Aufgeben des Bil-dungsgedankens; die Folge ist ein Absolutsetzen der ökonomischen Verwertbarkeitsrelevanz oder, einfacher ausgedrückt, eine „Verbe-ruflichung“ allen Bildungsgeschehens. Das Grundaxiom der mit der Profitökonomie untrennbar verknüpften bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist das von der Sinnfrage ab- gekoppelte Arbeits- und Leistungsethos. Je deutlicher gegenwärtig die gesellschaftliche For-mation Kapitalismus in die Krise gerät, desto heftiger wird Unterord-nung aller Lebenszeit unter dieses Axiom eingefordert. Eine Pädago-gik, die ihr Selbstverständnis nicht aus ihrer gesellschaftlich definier-ten Funktionalität schöpft, sondern sich als „Anwalt des Menschli-chen“ versteht, kann nur in aller Deutlichkeit die Inhumanität dieser Entwicklung aufzeigen und dagegen das Postulat der Muße setzen.

Muße als Prinzip humaner Lebensgestaltung ist Voraussetzung für ein Heraustreten des Menschen aus der gesellschaftlichen Determi-niertheit und für ein Heranwachsen von Individuen, die in der Lage sind, die gesellschaftlichen Bedingungen in die Richtung humaner Entfaltungsmöglichkeiten zu verändern. Der Muße einen entspre-chenden pädagogischen Stellenwert einzuräumen bedeutet gegen die Desorientierung, Entfremdung und mangelnde Urteilsfähigkeit des heutigen Menschen anzuarbeiten. Muße ist die Voraussetzung des freien, unverzweckten Individuums. Sie stellt somit die Grundlage für eine qualitative Weiterentwicklung der Gesellschaft dar – einer Wei-

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Ohne Muße keine (berufliche) Bildung 293

terentwicklung in Richtung einer Überwindung der sich als fortschrei-tende ökonomische Verzweckung von Natur und Mensch artikulie-renden Arbeitsgesellschaft zu einer Gesellschaft, die – wie es Theodor W. Adorno in seiner „Minima moralia“ ausdrückt – „vielleicht der Entfaltung überdrüssig [sein wird] und aus Freiheit Möglichkeiten ungenutzt läßt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzu-stürmen“43.

43 Adorno, Th.W.: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.

Frankfurt a.M. 1969, S. 207.

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9. ANSTATT EINER ZUSAMMENFASSUNG:

Heinrich Böll:

Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral*

In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärm-

lich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick

angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Foto-

apparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grü-

ne See mit friedlichen, schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes

Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten

Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick. Das sprö-

de, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich

schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt;

aber noch bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist

schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht

gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes

Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab.

Durch jenes kaum meßbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höf-

lichkeit ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist – der

Landessprache mächtig – durch ein Gespräch zu überbrücken ver-

sucht.

„Sie werden heute einen guten Fang machen.“

Kopfschütteln des Fischers.

* Entnommen aus den „Deutschen Kurzgeschichten“, einem Lehrbehelf für den

Unterricht im 9.–10. Schuljahr, die am Titelblatt – nicht untypisch – als „Arbeits-

texte für den Unterricht“ bezeichnet werden. Stuttgart 1973, S. 16-18.

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Böll: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral 295

„Aber man hat mir gesagt, daß das Wetter günstig ist.“

Kopfnicken des Fischers.

„Sie werden also nicht ausfahren?“

Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen.

Gewiß liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am

Herzen, nagt in ihm die Trauer über die verpaßte Gelegenheit.

„Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“

Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft

gesprochenen Wort über. „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich

habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf, reckt sich, als wolle er

demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich phantas-

tisch.“

Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er

kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz

zu sprengen droht: „Aber warum fahren Sie dann nicht aus?“

Die Antwort kommt prompt und knapp. „Weil ich heute morgen

schon ausgefahren bin.“

„War der Fang gut?“

„Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich

habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Mak-

relen gefangen …“

Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touris-

ten beruhigend auf die Schultern. Dessen besorgter Gesichtsausdruck

erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender

Kümmernis.

„Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er, um

des Fremden Seele zu erleichtern. „Rauchen Sie eine von meinen?“

„Ja, danke.“

Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der

Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera

aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede

Nachdruck zu verleihen.

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296 Die Arbeit hoch?

„Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mi-

schen“, sagt er, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein

zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie wür-

den drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen …

stellen Sie sich das mal vor.“

Der Fischer nickt.

„Sie würden“, fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern

morgen, übermorgen, ja an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, viel-

leicht viermal ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde?“

Der Fischer schüttelt den Kopf.

„Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen

können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren

könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, Sie würden …“, die

Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme,

„Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei,

später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rund-

fliegen, die Fischschwärme ausmachen und ihren Kuttern per Funk

Anweisung geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fisch-

restaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach

Paris exportieren – und dann …“, wieder verschlägt die Begeisterung

dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen be-

trübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die fried-

lich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter sprin-

gen. „Und dann“, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die

Sprache.

Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich

verschluckt hat. „Was dann?“ fragt er leise.

„Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann können

Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das

herrliche Meer blicken.“

„Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beru-

higt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“

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Böll: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral 297

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von

dannen, denn früher hatte er einmal geglaubt, er arbeite, um eines

Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur

von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer zurück, nur ein we-

nig Neid.

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