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EINGEHENDE ANALYSE EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments Autor: Marie Lecerf Wissenschaftlicher Dienst für die Mitglieder Juli 2016 — PE 586.601 DE (or. FR) Die Auswirkungen der Globalisierung Gewinner und Verlierer in Europa und den USA

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EINGEHENDE ANALYSEEPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

Autor: Marie LecerfWissenschaftlicher Dienst für die Mitglieder

Juli 2016 — PE 586.601

DE(or. FR)

DieAuswirkungenderGlobalisierungGewinner und Verlierer in Europa

und den USA

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Wer zu den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung zählt, ist nicht nur eine volkswirtschaftlicheFrage, sondern längst auch politisches Wahlkampfthema.Die folgende Bestandsaufnahme zu bestimmten Auswirkungen der Globalisierung auf die US-amerikanische und die europäische Wirtschaft und Gesellschaft soll bei der Beurteilung derwirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen im Zusammenhang mit derGlobalisierung helfen.Angesichts der vielzähligen unterschiedlichen und oft nur schwer vergleichbaren Quellen wurde eineAuswahl aus den vorliegenden Daten und Berichten getroffen, um die Debatte beiderseits desAtlantiks zwar nicht erschöpfend, aber doch repräsentativ darzustellen.

PE 586.601ISBN 978-92-823-9484-7doi:10.2861/063047QA-04-16-522-DE-N

Redaktionsschluss des französischen Originalmanuskripts: Juni 2016.Übersetzung abgeschlossen: August 2016.

HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHTDie Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments;eventuelle Meinungsäußerungen entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt desEuropäischen Parlaments. Das Dokument richtet sich an die Mitglieder und Mitarbeiter desEuropäischen Parlaments und ist für deren parlamentarische Arbeit bestimmt. Nachdruck undÜbersetzung zu nicht-kommerziellen Zwecken mit Quellenangabe gestattet, sofern derHerausgeber vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.

© Europäische Union, 2016.

Fotonachweise: © M. Schuppich / Fotolia.

[email protected]://www.eprs.ep.parl.union.eu (Intranet)http://www.europarl.europa.eu/thinktank (Internet)http://epthinktank.eu (Blog)

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ZUSAMMENFASSUNG

Die Globalisierung ist ein Prozess der schrittweisen Ausweitung der Wirtschaft auf dieganze Welt. Es handelt sich um ein altes Phänomen, das sich mit der Zunahme desWaren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs seit Beginn der 1980er Jahre beschleunigthat.

Seit dem 18. Jahrhundert diskutieren Befürworter und Gegner der Globalisierung überihre Vor-und Nachteile. In letzter Zeit hat sich der Ton jedoch verschärft – angesichtsder Beschleunigung der Globalisierung einerseits und ihrer ständigen Präsenz in derpolitischen Diskussion in Amerika und Europa andererseits. Die klassischewirtschaftliche Analyse auf der einen Seite hebt die Vorteile des Außenhandels hervorund stützt die Ansicht der Befürworter, dass die Märkte immer stärker liberalisiertwerden sollten. Globalisierung wäre demnach ein Prozess, der technischen,wirtschaftlichen und letztendlich gesellschaftlichen Fortschritt schafft. Auf der anderenSeite bemängeln zahlreiche Kritiker die hohen Anpassungskosten und die finanzielleInstabilität, die sie erzeugt.

Die Globalisierungsdebatte konzentriert sich nunmehr auf eine große wirtschaftlicheund soziale Herausforderung: die Ungleichheit und die Herausbildung einer Zweiteilungin Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Mit der Öffnung der Märkte ging eineÄnderung der Produktionsstrukturen in den Industrieländern und eine Neuverteilungder damit verbundenen Positionen und Einkommen einher. In den Ländern desWestens findet eine tief greifende Umverteilung der Einkünfte statt, die über dasPhänomen der Anpassungskosten hinausgeht. Das Einkommen der reichsten 10 % derHaushalte ist viel stärker angestiegen als das Einkommen der ärmsten 10 % derHaushalte. Besonders verstärkt haben sich die Ungleichheiten übrigens in den USA. DieReichsten werden immer reicher, die Mittelschicht verzeichnet sowohl in den USA alsauch in Europa einen relativen Einkommensrückgang, während die am geringstenqualifizierten Arbeiter von Armut in einer neuen Form betroffen sind.

Liegt die Ursache für die Verschärfung der Ungleichheit in der Globalisierung? Zwar istin der Tat seit Beginn der 1980er Jahre eine erhebliche Veränderung der Verteilung desWohlstands in der Welt zu beobachten, allerdings ist Korrelation nicht zwangsläufiggleichbedeutend mit Kausalität. Die politische Klasse in den USA und in Europa dagegenhat in der Globalisierung ein neues Kampfthema erkannt.

Die unbestreitbaren Folgen der Globalisierung stellen die Politik daher vor einewesentliche Herausforderung: ihre möglichen Vorteile in echten Nutzen zu verwandelnund gleichzeitig die gesellschaftlichen Kosten zu begrenzen. Hierzu könnte eine aktiveBeschäftigungs- und Bildungspolitik, eine Ad-hoc-Verwaltung neuer Migrationsströme,eine koordinierte Verwaltung der finanziellen Risiken und eine verstärkte globale oderregionale Steuerung einen Beitrag leisten.

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INHALT

1. Einleitung ....................................................................................................................... 4

2. Globalisierung heute ..................................................................................................... 4

2.1. Globalisierung als fortlaufender Prozess................................................................ 5

2.2. Vorherrschaft der Marktwirtschaft ........................................................................ 6

3. Positive und negative Auswirkungen der Globalisierung.............................................. 8

3.1. Positive Auswirkungen der Globalisierung............................................................. 83.1.1. Wirtschaftstheorie ....................................................................................................... 9

3.1.2. Empirische Analysen .................................................................................................. 10

3.2. Negative Auswirkungen der Globalisierung ......................................................... 103.2.1. Hohe Anpassungskosten ............................................................................................ 11

3.2.2. Starke finanzielle Instabilität...................................................................................... 12

4. Globalisierung als Ursache für Ungleichheiten? ......................................................... 13

4.1. Gewinner und Verlierer der Globalisierung ......................................................... 134.1.1. Umverteilung von Positionen und Einkommen ......................................................... 13

4.1.2. Begünstigung der höchsten Gehälter......................................................................... 14

4.1.3. Verarmt die Mittelschicht? ........................................................................................ 16

4.1.4. Gering qualifizierte Arbeitnehmer in Schwierigkeiten............................................... 18

4.1.5. Ungleichheiten zwischen Ländern ............................................................................. 18

4.2. Ist die Globalisierung ursächlich für die Zunahme der Ungleichheit? ................. 194.2.1. Globalisierung und Ungleichheiten: Korrelation ohne Kausalität?............................ 19

4.2.2. Die Globalisierung als neuer Sündenbock für alle Probleme? ................................... 20

5. Ausblick........................................................................................................................ 22

6. Wichtigste bibliografische Angaben ............................................................................ 24

7. Anhang – Messung von Ungleichheiten ...................................................................... 26

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1. EinleitungDie Globalisierung befeuert leidenschaftliche Debatten. Manche stellen sie alsWundermittel zur Ankurbelung des weltweiten Wachstums dar, andere sehen in ihreine Bedrohung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der einzelnen Länder. Fürdie einen trägt die Globalisierung zum „Wohlstand der Nationen“ bei. DankWettbewerb und Arbeitsteilung fördert sie die Effizienz. Außerdem erleichtert sie denZugang zu Kapital und technologischen Ressourcen, reduziert die Einfuhrkosten undschafft neue Absatzmöglichkeiten für Exportgüter. Für die anderen führt dieGlobalisierung zur Verarmung der Massen zugunsten einer privilegierten Elite. Sie wirdpauschal für die Deregulierung der Finanzmärkte, grenzenlos wachsendeUngleichheiten, Standortverlagerungen, den Wegfall von Grenzkontrollen, eineVerflachung der Kultur sowie das Ende der demokratischen Staaten verantwortlichgemacht. Dem Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz1 zufolge steht dieGlobalisierung, die Anfang der 1980er Jahre noch nach allgemeiner Auffassung zuWohlstand für alle führen würde, heute in den fortschrittlichsten Industrieländern wiein Entwicklungsländern im Brennpunkt der Kritik.

Einiges steht im Zusammenhang mit der Globalisierung auf dem Spiel: die Gleichheitzwischen Ländern, die Bewahrung ihrer staatlichen Souveränität, die Verteilung desWohlstands zwischen verschiedenen Ländern und innerhalb dieser Länder usw. Woetwas „auf dem Spiel steht“, kann man gewinnen oder verlieren. Die Zusammenhängezwischen der Globalisierung und den Gewinnen oder Verlusten, zu denen sie führenkann, sind nichts Neues. Aber die Frage, wer als „Gewinner“ oder „Verlierer“ ausdiesem Wettstreit hervorgehen wird, wird heute in Europa und den USA mit neuerSchärfe diskutiert. Der US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 hat die Debatte darüber,ob das auf starkem, potenziell zu Ungleichheiten führendem Wachstum basierendeamerikanische Gesellschaftsmodell noch tragfähig ist, neu entfacht. Parallel dazu habenrechte Parteien die wachsende Armut in Europa, von der insbesondere Kinder, Arbeiterund Familien betroffen sind, als Wahlkampfthema für sich entdeckt – zu einemZeitpunkt, wo die Fähigkeit Europas, Gewinne für jedes seiner Länder und seine Bürgerzu erzeugen, infrage gestellt wird.

Die vorliegende Analyse soll zur Klärung dieser Debatte beitragen. Sie liefert zunächsteine Definition der Globalisierung sowie ihrer gegenwärtigen Eigenschaften. Daraufaufbauend werden die Vorteile und negativen Auswirkungen dieser neuenGlobalisierung dargestellt. Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob dieGlobalisierung als Ursache für Ungleichheiten herhalten kann, um herauszuarbeiten,wer die heutigen Globalisierungsgewinner und -verlierer in der Europäischen Unionund in den USA sind. Schließlich werden die wirtschafts- und sozialpolitischenStrategien identifiziert, die am besten geeignet sind, eine Art Konvergenz oderGleichgewicht zur Eindämmung der teilweise massiven Verzerrungseffekte derGlobalisierung zu schaffen.

2. Globalisierung heuteDer Begriff Globalisierung bezeichnet den Prozess der Verflechtung und gegenseitigenAbhängigkeit nahezu aller Länder der Welt in einem gemeinsamen Markt über die

1 Stiglitz on globalization, why globalization fails?, J. Stiglitz, Video, Picovax, Januar 2013.

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Ausweitung und Vertiefung des weltweiten wirtschaftlichen, finanziellen undkulturellen Austauschs.

2.1. Globalisierung als fortlaufender ProzessDie Globalisierung ist ein Prozess der schrittweisen Ausweitung der Wirtschaft auf dieganze Welt. Dieser Prozess begann mit den Eroberungen im 16. Jahrhundert und dendaraus resultierenden Beziehungen zwischen der Alten und der Neuen Welt.2 Spanienund Portugal errichteten große Imperien, und anstelle des Mittelmeers wurde derAtlantik zum wichtigsten Handelsraum.3 Diese erste Globalisierung war dieGlobalisierung des Warenkapitalismus: Wirtschaftlicher Austausch fand nun nicht mehrregional, sondern in weltweitem Maßstab statt.

Anschließend begann im 19. Jahrhundert mit dem industriellen Kapitalismus die zweitePhase der Globalisierung. London und Großbritannien wurden zum Zentrum einerneuen Weltwirtschaft4. Das Handelsvolumen stieg. Es kam zu einer ersteninternationalen Arbeitsteilung zwischen den Kolonien als Rohstofflieferanten und denIndustrieländern, die diese Rohstoffe in Fertigerzeugnisse umwandelten undanschließend weltweit vertrieben.

Nach 1945 begann eine dritte Phase: die Globalisierung des Finanzwesens. DasZentrum der Welt verlagerte sich in die USA5, die zur neuen Weltwirtschaftsmachtwurden. In den 1980er Jahren nahm das Tempo der Finanz-Globalisierung in einermittlerweile digitalen Weltwirtschaft zu.6

Die Grundlage dieser drei Globalisierungsphasen war jeweils eine Revolution derVerkehrs- und Kommunikationsmittel: die Einführung der Karavelle im 15. Jahrhundert,der Dampfschifffahrt im 19. Jahrhundert sowie der Containerschiffe und desLuftverkehrs im 20. Jahrhundert. Die Welt wuchs sozusagen zu einem großen Ganzenzusammen, oder, wie es der französische Geografieprofessor Jacques Levy ausdrückte:die ganze Erde wird zu einem Raum, einer Weltgesellschaft („l’étendue planétairedevient un espace, une société-Monde“)7. Mit der Verbreitung des Telegrafen im19. Jahrhundert, des Festnetztelefons im 20. Jahrhundert sowie von Internet undMobiltelefonie im 21. Jahrhundert demokratisiert sich der Zugang zuTelekommunikation und die Welt wird in einer nahezu dauerhaften Gleichzeitigkeitmiteinander verbunden. Laut dem Pariser Politologen Bertrand Badie ist dieGlobalisierung nunmehr mit einer starken technologischen Innovation verbunden, diesich in der Revolution der Kommunikation kristallisiert8.

2 Die Wurzeln der Globalisierung reichen weit zurück. In seinem Buch La dynamique du capitalisme(deutscher Titel: „Die Dynamik des Kapitalismus“) entwickelte der französische Historiker FernandBraudel das Konzept der Weltwirtschaft („économie-monde“), um das internationaleWirtschaftssystem des spanischen und britischen Weltreichs und die Entwicklung des weltweitenHandels zu definieren.

3 La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II (deutscher Titel: DasMittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.), F. Braudel, 1949.

4 „D’une mondialisation à l’autre“, J. Fayolle, Revue de l’OFCE, Nr. 69, April 1999, S. 164-177.5 „D’une mondialisation à l’autre“, J. Fayolle, Revue de l’OFCE, Nr. 69, April 184, S. 184 ff.6 Digital globalization: The new era of global flows, J. Manyika, S. Lund, J. Bughin, J. Woetzel,

K. Stamenov und D. Dhingra, Bericht – McKinsey Global Institute, Februar 2016.7 „Quels espaces pour une société-monde“, J. Levy, Konferenz der l'Université de tous les savoirs, 2003.8 Un monde de souffrances: Ambivalence de la mondialisation, B. Badie, 2015, S. 55.

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Gefördert wurde die Globalisierung auch durch die Verbreitung einerwirtschaftsliberalen Politik, die den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsowie die Mobilität der Menschen begünstigte. Ende der 1970er Jahre und währendder beiden darauffolgenden Jahrzehnte weiteten sich die Liberalisierung derBinnenmärkte, die Öffnung für den internationalen Handel und der Abbau vonDevisenverkehrsbeschränkungen weltweit aus. Auch das von Deng Xiaopingeingeführte Reformprogramm der „Vier Modernisierungen“9 hing mit dieser Dynamikzusammen10, wie auch Margaret Thatchers Amtsantritt als britische Premierministerinim Jahr 1979, die Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten im Jahr 1980, dieEinführung des „Binnenmarkts“ durch Jacques Delors im Jahr 198511, die multilateralenHandelsverhandlungen in Uruguay12, das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruchder Sowjetunion in den Jahren 1989 bis 1991, der Beschluss über die Einführung derEuropäischen Währungsunion im Jahr 1992 und die Gründung derWelthandelsorganisation13 (WTO) 1995. Starken Auftrieb erhielt die Globalisierungdurch internationale Verträge wie das GATT-Abkommen (General Agreement on Tariffsand Trade14) und multilaterale Organisationen wie den InternationalenWährungsfonds15 oder die Welthandelsorganisation (WTO) und die Finanzmärkte, diesich nach bescheidenen Anfängen zu durchgängigen weltweiten Netzwerken entwickelthaben.16

2.2. Vorherrschaft der MarktwirtschaftIm Zuge der Globalisierung im 20. Jahrhundert vertieften sich die Beziehungenzwischen dem Warenhandel und dem grenzüberschreitendem Finanzwesen undwurden zunehmend komplexer. Wie das McKinsey Global Institute im Jahr 2016ermittelte17, nahm der Warenverkehr seit Mitte der 1980er Jahre stark zu.

Zwischen 1985 und 2007 ist der weltweite Warenhandel rund zweimal so schnellgewachsen wie das Welt-BIP, was der Expansion multinationaler Großkonzerne undihrer Errichtung von Standorten in Ländern mit deutlich geringeren Lohnkosten zuverdanken ist. So stieg der weltweite Warenhandel von 13,8 % des Welt-BIP im Jahr1985 auf 26,6 % des BIP kurz vor der Wirtschafts- und Finanzkrise an. Seither hat sichdas Wachstum des Warenhandels auf 24,6 % des Welt-BIP verlangsamt, hat also imVergleich zu 2007 um 2 Prozentpunkte abgenommen.

In den 25 Jahren vor der Finanzkrise 2007-2008 sind die Finanzströme schnellerangestiegen als das Welt-BIP: von 0,5 Billionen USD im Jahr 1980 auf 11,9 Billionen USDim Jahr 2007. Seit der Krise hat sich die Dynamik der Finanzflüsse jedoch deutlichabgeschwächt, von 21 % des Welt-BIP im Jahr 2007 auf nur 7 % im Jahr 2014.

9 „La construction de l'économie socialiste de marché“, S. Kuno, Le Monde, 21. Januar 2004.10 Politics and trade: lessons from past globalisations, K. O'Rourke, 2009, S. 22.11 „La mise en place progressive du marché intérieur“, Toutel'Europe.eu.12 „The Uruguay Round“, Welthandelsorganisation.13 „Who we are“, Welthandelsorganisation.14 „GATT and the Goods Council“, Welthandelsorganisation.15 „The IMF at a Glance“, Internationaler Währungsfonds, 23. März 2016.16 La régulation financière et monétaire internationale, P. Marini, Informationsbericht des Senats

Nr. 284, 2000.17 Digital globalization: The new era of global flows, McKinsey Global Institute 2016, S. 24 ff.

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Finanz- und Warenströme waren von der Finanz- und Wirtschaftskrise also besondersbetroffen, machen aber weiterhin einen bedeutenden Anteil der Weltwirtschaft aus.

Der weltweite Handel mit Dienstleistungen hingegen hat zwar eine deutlich geringereBedeutung als der Warenhandel, ist jedoch weiterhin langsam, aber stetig von 3,4 %auf 6,3 % des Welt-BIP gestiegen.

In den kommenden Jahren könnte die Ausweitung der digitalen Technologien (Internetund weltweite Online-Märkte für selbständige und freiberufliche Dienstleistungen) zueinem starken Anstieg der ausgetauschten Dienstleistungen führen.

Messung der Globalisierung: ein schwieriges Unterfangen

Dass es die Globalisierung18 gibt, ist eine unbestreitbare Tatsache, aber sie lässt sich nurschwierig fassen: Eine eindeutige Maßeinheit der Globalisierung gibt es nicht19.

Häufig wird der KOF-Globalisierungsindex herangezogen, der seit 2002 von der ETH Zürichveröffentlicht wird. Er misst die wirtschaftliche, soziale und politische Dimension derGlobalisierung und ermöglicht es, die Entwicklung des Globalisierungsgrades ausgewählterLänder über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Der KOF-Index berücksichtigt 207 Länderim Zeitraum 1970-2013 und setzt sich aus 23 Variablen zusammen20.

Darüber hinaus hat die OECD, infolge einer stetig steigenden Nachfrage nach besserenMessinstrumenten für die Analyse der Globalisierungstendenzen, einen konzeptuellen undmethodischen Rahmen für die Erhebung quantitativer Daten und die Erstellung von Indikatorenausgearbeitet. Die Ergebnisse dieser Arbeiten fließen in ein Handbuch21 über wirtschaftlicheGlobalisierungsindikatoren ein (letzte Veröffentlichung: 2010).

Auch die Europäische Union hat Indikatoren definiert, die einen Überblick über dieGlobalisierungstendenzen für die EU geben sollen22.

Der KOF-Index misst auf einer Skala von 1 bis 100 die wirtschaftliche, soziale undpolitische Globalisierung (s. Kasten). Die wirtschaftliche Komponente des KOF-Indexmisst tatsächliche Handels und Investitionsströme sowie Handelsschranken. Die sozialeDimension der Globalisierung spiegelt den Grad der Verbreitung von Informationenund Ideen wider (Messung anhand von Variablen wie dem Anteil der ausländischenBevölkerung an der Gesamtbevölkerung oder der Zahl der Internetnutzer). Diepolitische Dimension zielt darauf ab, wie intensiv die politische Zusammenarbeitzwischen den Ländern ist (Anzahl der Botschaften in einem Land, Mitgliedschaft ininternationalen Organisationen). Diese drei Dimensionen haben seit den 1980er Jahreneinen raschen Anstieg verzeichnet.

Die wirtschaftliche Dimension bleibt überraschenderweise hinter den anderenDimensionen der Globalisierung zurück, wobei Handelsbeschränkungen eine wichtigeRolle spielen. Bemerkenswert ist außerdem, dass die USA bei diesem Indikator weltweitnicht an erster Stelle stehen.

18 „Mondialisation économique et financière : de quelques poncifs, idées fausses et vérités",J. Le Cacheux, Revue de l'OFCE, Sonderausgabe, März 2002, S. 24.

19 „Ist Globalisierung messbar?“, A. Dreher und A. Fuchs, Die Volkswirtschaft, 2010.20 KOF-Globalisierungsindex.21 Measuring Globalisation: OECD Economic Globalisation Indicators 2010, OECD, September 2010.22 Global Value Chains and Economic Globalization: Towards a new measurement framework,

T. J. Sturgeon, Report to Eurostat, Mai 2013.

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Tabelle 1 – Wirtschaftliche Dimension der GlobalisierungDeutschland Vereinigtes

KönigreichFrankreich Italien Schweden USA

1980 47,10 63,28 47,93 42,85 51,40 52,30

1990 57,63 67,21 59,13 54,04 76,70 57,55

2000 70,80 76,12 70,70 75,85 88,65 64,59

2010 65,40 72,79 69,10 70,50 87,12 59,32

2013 61,08 67,62 66,53 67,02 80,56 59,40

Datenquelle:http://globalization.kof.ethz.ch/ KOF Index of Globalization.

Auf einer Skala von 1 bis 100 erreicht die soziale Dimension der Globalisierung sehrhohe Werte. Auch hier stehen die USA hinter den Ländern der Europäischen Unioneher zurück.

Tabelle 2 – Soziale Dimension der GlobalisierungDeutschland Vereinigtes

KönigreichFrankreich Italien Schweden USA

1980 68,90 60,19 55,55 35,14 75,43 56,65

1990 69,38 74,42 72,18 77,72 77,04 72,91

2000 83,94 86,74 83,57 78,04 85,21 78,56

2010 84,88 86,63 87,46 78,63 85,33 79,48

2013 84,53 86,03 87,14 78,40 84,63 79,15

Datenquelle: KOF Index of Globalization.http://globalization.kof.ethz.ch/

Die politische Dimension der Globalisierung schließlich ist besonders bemerkenswert.Hier erreichen die USA ein ähnlich hohes Niveau wie die europäischen Länder.

Tabelle 3 – Politische Dimension der GlobalisierungDeutschlan

dVereinigte

sKönigreich

Frankreich

Italien Schweden USA

1980 51,80 95,50 65,56 90,84 95,30 87,06

1990 47,11 88,18 96,20 84,63 85,94 83,14

2000 87,93 95,82 96,37 94,47 94,74 92,42

2010 91,90 94,68 97,74 97,92 94,63 91,70

2013 91,94 94,95 97,29 97,53 94,65 92,19

Datenquelle: KOF Index of Globalization.

3. Positive und negative Auswirkungen der Globalisierung3.1. Positive Auswirkungen der GlobalisierungDie klassische wirtschaftliche Analyse unterstreicht die Vorteile des Handels und stütztdie Vorstellung der Befürworter, dass die Märkte immer stärker liberalisiert werdensollten: Demnach wäre die Globalisierung ein Prozess, der a priori für alle Menschenvorteilhafte technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte schafft. In der

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„perfekten, reinen Lehre“ entwickelt sich die Weltwirtschaft aus sich selbst heraus so,dass sie Wohlstand für alle schafft.

3.1.1. WirtschaftstheorieDer grundlegende Gedanke, dass Globalisierung Vorteile bringt, beruht auf derklassischen Außenhandelstheorie von David Ricardo, die der britischeWirtschaftswissenschaftler in seinem Werk „Über die Grundsätze der politischenÖkonomie und der Besteuerung“ (1817) beschrieben hat. Ricardo nahm an, dass einLand in einem Freihandelssystem seinen nationalen Wohlstand steigert, indem es sichauf die Produktion der Güter spezialisiert, bei der seine Produktivität am höchsten(bzw. am wenigsten schwach) ist. Bei der Herstellung dieser Güter hat das Land einensogenannten „komparativen Kostenvorteil“23. Als Konsequenz muss es anschließenddie Güter kaufen, die es selbst nicht mehr produziert. Jedes Land hat folglich einInteresse daran, sich auf die Sektoren zu spezialisieren, in denen es den höchstenrelativen Produktivitätsvorteil hat bzw. in denen sein Nachteil am geringstenausgeprägt ist.24

Auch die Verbraucher würden von den niedrigeren Preisen profitieren, die sich ausverringerten Produktionskosten sowohl bei heimischen Industrieerzeugnissen als auchbei importierten Produkten ergeben. Außerdem stünde ihnen eine größere Auswahlvon Waren und Dienstleistungen zur Verfügung.

In den theoretischen Arbeiten zur Außenwirtschaft werden deutlich ihre insgesamtpositiven Auswirkungen herausgestellt. Da die Liberalisierung des Handels dieinternationale Spezialisierung in der Produktion begünstigt, führt sie normalerweiseweltweit zu einem Anstieg der Realeinkommen und einer verbesserten Lebensqualität.Der Austausch führt außerdem über verschiedene Wege zu weiterenEffizienzgewinnen, etwa durch die allgemein stärkere Konkurrenz auf den

23 Qu'est-ce qu'un avantage comparatif ?, Dessine-moi l'éco, 2014.24 Ricardo erklärte seine Theorie anhand des berühmt gewordenen Beispiels vom Austausch britischen

Baumwolltuchs gegen portugiesischen Wein: „England kann in einer solchen Lage sein, dass dieErzeugung des Tuches die Arbeit eines Jahres von 100 Leuten erfordert, und wenn es versucht, denWein herzustellen, so wird vielleicht die Arbeit gleicher Zeitdauer von 120 Leuten benötigt werden.England wird daher finden, dass es seinen Interessen entspricht, Wein zu importieren, und ihn mitHilfe der Ausfuhr von Tuch zu kaufen. Um den Wein in Portugal herzustellen, ist vielleicht nur dieArbeit von 80 Leuten während eines Jahres erforderlich, und um das Tuch in diesem Lande zuproduzieren, braucht es vielleicht die Arbeit von 90 Leuten während der gleichen Zeit. Es ist daher fürPortugal von Vorteil, Wein im Austausch für Tuch zu exportieren. Dieser Austausch kann sogarstattfinden, obwohl die von Portugal importierte Ware dort selbst mit weniger Arbeit als in Englandproduziert werden kann. Wenngleich es das Tuch vermittels der Arbeit von 90 Leuten erzeugen kann,wird Portugal dieses doch aus einem Lande einführen, wo man zu seiner Herstellung die Arbeit von100 Leuten benötigt, da es für Portugal von größerem Vorteil ist, sein Kapital in der Produktion vonWein anzulegen, wofür es von England mehr Tuch bekommt, als es durch Übertragung eines Teilesseines Kapitals vom Weinbau zur Tuchfabrikation produzieren würde. England gibt damit dasArbeitsprodukt von 100 Leuten für das von 80 hin. Ein solcher Austausch kann zwischen Personen desgleichen Landes nicht stattfinden. Die Arbeit von 100 Engländern kann nicht für die von 80hingegeben werden, aber das Produkt der Arbeit von 100 Engländern kann gegen das Arbeitsproduktvon 80 Portugiesen, 60 Russen oder 120 Indern gegeben werden. Der diesbezügliche Unterschiedzwischen einem einzelnen und mehreren Ländern ist leicht zu begreifen, wenn man die Schwierigkeitin Rechnung stellt, mit der Kapital von einem Lande in das andere wandert, um eine profitablereAnlage zu suchen, und die Beweglichkeit berücksichtigt, mit der es sich fortwährend innerhalb einesLandes von einer Provinz zur anderen bewegt.” Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie undder Besteuerung, 1817, von Otmar Kotheimer überarbeitete Übersetzung Gerhard Bondis, Kap. VII„Über den auswärtigen Handel“, Marburg: Metropolis-Verlag, 2006, S. 115-116.

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Warenmärkten25, die Nutzung von Skaleneffekten und die größere Vielfalt desAngebots26 sowie durch technologische Spillover-Effekte oder eine Intensivierung vonForschung und Entwicklung27.

3.1.2. Empirische AnalysenAuch wenn es schwierig ist, die Vorteile aus dem internationalen Handel genau zumessen28, deuten empirische Untersuchungen darauf hin, dass der Warenaustauschtatsächlich tendenziell zu einem Anstieg von Produktivität und Lebensqualität führt.Eine Korrelation zwischen wirtschaftlicher und finanzieller Öffnung einerseits undWachstum andererseits wird von zahlreichen Autoren bei langfristiger Betrachtungnachgewiesen, wobei keine sicheren Aussagen über die Kausalitätsrichtung getroffenwerden können.29 Nach einer amerikanischen Studie zum Handel zwischen 63 Ländernschlägt sich eine Erhöhung des Außenhandels um 1 % des BIP inEinkommenssteigerungen zwischen 0,5 und 2 % pro Einwohner nieder30. In einerweiteren Untersuchung auf Basis von Daten zu 21 Ländern stellte die OECD fest, dasseine Öffnung des Außenhandels um 10 % (das entsprach etwa der Steigerung, die inden untersuchten Ländern zwischen 1988 und 1998 zu beobachten war) zu einemProduktivitätsanstieg pro erwerbstätiger Person von 4 % geführt hat31.

Es gibt jedoch auch Ausnahmen zu den Ergebnissen dieser Studien. Die Zeit desWirtschaftswunders, die sowohl in den USA als auch in Europa zu den Phasen mit dembedeutendsten Wachstum gehörte, fällt mit einer geringen Handelsöffnung zusammen.Eine Korrelation zwischen wirtschaftlicher und finanzieller Öffnung einerseits undWachstum andererseits wird von zahlreichen Autoren bei langfristiger Betrachtungnachgewiesen, wobei keine sicheren Aussagen über die Kausalitätsrichtung getroffenwerden können.32

3.2. Negative Auswirkungen der GlobalisierungNicht alle teilen diese positive Sicht auf die weltweite wirtschaftliche Öffnung.Globalisierungsgegner kritisieren zahlreiche negative Auswirkungen der Globalisierung,wie etwa hohe Anpassungskosten oder stärkere finanzielle Instabilität.

25 „Expansion of trade at the extensive margin: A general gains-from-trade result and illustrativeexamples“, J. R. Markusen, Journal of International Economics, 2012.

26 „Increasing Returns, Monopolistic Competition, and International Trade“, P. Krugman, Journal ofInternational Economics, 1979, S. 469-479.

27 „Economic Integration and Endogenous Growth“, L. A. Rivera-Batiz und P. Romer, The QuarterlyJournal of Economics, 1991, S. 531-555.

28 „L'avantage comparatif notion fondamentale et controversée“, B. Lassudrie-Duchêne und D. Ünal-Kesenci, L'économie mondiale 2002, La découverte 2003, S. 90-104.

29 „Les échanges internationaux comme dynamisme de la croissance“, R. Barre, Revue économique,1965, S. 105-126; International Trade: Free, Fair and Open?, P. Love und R. Lattimore, OECD Insights,Juli 2009; The World Economy: A Millennial Perspective, A. Maddison, OECD Development CentreStudies, 2001; Globalisierung als Quelle des Wirtschaftswachstums, C. Sax und R. Weder, DieVolkswirtschaft, Das Magazin für Wirtschaftspolitik, 2012, S. 14-17.

30 „Does Trade Cause Growth?“, J. Frankel und D. Romer, American Economic Review, 1999, S. 379-399.31 „The Driving Forces of Economic Growth: Panel Data Evidence for the OECD Countries“, A. Bassanini

und S. Scarpetta, OECD Economic Studies Nr. 33, 2001/II, S. 9-56.32 „Les échanges internationaux comme dynamisme de la croissance“, Barre 1965; International Trade:

Free, Fair and Open?, Love et al 2009; The World Economy: A Millennial Perspective, Maddison 2001;Globalisierung als Quelle des Wirtschaftswachstums, Sax/Weder 2012.

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3.2.1. Hohe AnpassungskostenDe facto führt die Globalisierung zur Umstrukturierung von Unternehmen – entwederdirekt durch die Verlagerung der Fertigung in Länder mit niedrigerenProduktionskosten, oder indirekt aufgrund verstärkter Importe, durch die lokalproduzierte Produkte verdrängt werden. Die Unternehmensverlagerungen verursachen(zumindest vorübergehend) Kosten, da die Umschulung des Humankapitals und/oderdie Umstellung des Produktionsapparats eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.

Infolge der Beseitigung von Handelshemmnissen können die Reallöhne bestimmterGruppen von Arbeitnehmern sinken, insbesondere in wettbewerbsintensiven Branchensowie bei gering qualifizierten Arbeitnehmern. Natürlich müssten in einer „reinen undperfekten“ Wirtschaft die Arbeitnehmer, die von der Handelsliberalisierung profitieren,die benachteiligten Arbeitnehmer entschädigen, sodass sich ein Nettovorteil für diegesamte Volkswirtschaft ergibt. In der Praxis gibt es aber so gut wie nie ein allgemeinesEntschädigungsprogramm auf Grundlage von Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzipien,und die Arbeitsbedingungen haben sich eher verschlechtert (Entstehen atypischerBeschäftigungsverhältnisse usw.).

Die Anpassungskosten konzentrieren sich häufig auf bestimmte Tätigkeiten, Regionenund Kategorien von Arbeitnehmern. Sie sind deutlicher wahrnehmbar als die Vorteilefür die Verbraucher. Da es keine angemessene Entschädigung für die Verlierer gibt, dieaufgrund der ausländischen Konkurrenz zumindest kurzfristig ihre Arbeit oder ihreInvestitionen verlieren, sind diese Anpassungskosten gesellschaftlich nur schwerakzeptabel. Um die Auswirkungen dieses sogenannten „Sozialdumpings“ abzumildern,hat die Europäische Union den Europäischen Fonds für die Anpassung an dieGlobalisierung eingerichtet (siehe Kasten unten).

Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung

Der 2007 eingerichtete Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) hilftArbeitnehmern, wenn sie infolge großer struktureller, durch die Globalisierung hervorgerufenerÄnderungen im Außenhandel oder infolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ihrenArbeitsplatz verloren haben. Der EGF verfügt im Zeitraum 2014–2020 über ein maximalesJahresbudget von 150 Millionen Euro. Aus diesem Fonds können bis zu 60 % der Kosten vonProjekten bestritten werden, die entlassenen Arbeitnehmern helfen können, einen neuen Jobzu finden oder ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Allgemein gilt, dass der EGF nur dort zumEinsatz kommt, wo mehr als 500 Arbeitnehmer von einem einzigen Unternehmen(einschließlich Lieferanten und nachgelagerten Unternehmen) entlassen werden oder wenn ineiner oder mehreren benachbarten Regionen zahlreiche Arbeitnehmer einer bestimmtenBranche ihre Arbeit verlieren. Die konkreten Fälle werden von nationalen oder regionalenBehörden verwaltet. Jedes Projekt hat eine Laufzeit von zwei Jahren. Der EGF kannMaßnahmen finanzieren wie Unterstützung bei der Arbeitssuche, Berufsberatung,bedarfsgerechte Ausbildung und Umschulung, Betreuung und Coaching, Förderung vonUnternehmertum und Unternehmensgründungen. Überdies können einzelne Personenfinanziell unterstützt werden, wenn sie eine Ausbildung machen, umziehen oder anderweitigmobil werden müssen, oder wenn ihre Einkünfte nicht für den Lebensunterhalt reichen.Einzelne Arbeitnehmer, die ihre Arbeit verloren haben, können EGF-Unterstützung erhalten. ImZeitraum 2014–2020 kann es sich dabei um Selbständige, Zeitarbeiter oder unbefristetBeschäftigte handeln. Bis Ende 2017 können junge Menschen, die weder in Arbeit noch inAusbildung sind, in Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit EGF-Unterstützung in gleicherHöhe wie die Arbeitnehmer in diesen Regionen erhalten. Die EGF-Mittel dürfen jedoch nichtzur Deckung von Kosten für die Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit von Unternehmen,deren Modernisierung oder Umstrukturierung eingesetzt werden

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3.2.2. Starke finanzielle InstabilitätDie Instabilität des gegenwärtigen finanziellen Umfelds, für die Kritiker eine derschlimmsten negativen Konsequenzen der finanziellen Globalisierung, wird häufigeinem nachhaltigen Wirtschaftswachstum mit geringer Inflation und Vollbeschäftigunggegenübergestellt, wie sie die Volkswirtschaften der USA und vieler europäischerLänder in der Zeit des Wirtschaftswunders erlebt haben.33 Der Kontrast ist in der Tatfrappierend. Zwei Experten des Internationalen Währungsfonds34 ermittelten imZeitraum von 1970 bis 2011 insgesamt 147 Bankenkrisen, einige davon (insbesonderedie Asienkrise der Jahre 1997 und 1998 und die Weltwirtschaftskrise 2008 sowie dienachfolgende Eurokrise35) von weltweiter Tragweite. Dazu kommen218 Währungskrisen und 66 Staatsschuldenkrisen.

Durch die Integration der Finanzmärkte und die Globalisierung der Produktionentstehen enge Verknüpfungen zwischen den Entwicklungen in den verschiedenenLändern, und letztendlich gleichen sich die Schwankungen der Preise finanziellerVermögenswerte (Zinssätze und Börsenkurse) und die jeweilige Konjunktur einanderan, was wiederum die zyklischen Schwankungen der Weltwirtschaft verstärkt. Sowurden 2008 die europäischen Märkte vom Abwärtstrend an den US-Börsen erfasstund die amerikanische Rezession weitete sich auf die ganze Welt einschließlich derEuropäischen Union aus.36 Die Öffnung der Volkswirtschaften für den Güter-,Dienstleistungs- und Kapitalverkehr macht diese anfälliger gegenüber externenSchocks.

Neben Übertragungseffekten und dem Verlust der Unabhängigkeit der nationalenVolkswirtschaften haben diese Krisen auch sehr hohe wirtschaftliche undhaushaltsbezogene Kosten. So wurde in einer Studie des US-Rechnungshofs(Government Accountability Office) geschätzt, dass sich die Kosten der Wirtschafts- undFinanzkrise 2008 für die USA auf über 10 Billionen USD37 belaufen könnten, auch wenngenaue Zahlenangaben schwierig sind. In Europa pumpten die Länder der EuropäischenUnion – innerhalb wie außerhalb des Euro-Raums – zwischen 2008 und 2011 rund1,6 Billionen EUR (bzw. knapp 13 % des EU-BIP) in Form von Garantien und direktesKapital in ihre Banken, um den Zusammenbruch des gesamten Bankensystems zuverhindern. Als Folge daraus stiegen die bestehenden Schulden und Defizite an. Einigeder besonders geschwächten Volkswirtschaften des Euro-Währungsgebiets,insbesondere Griechenland, Irland und Portugal, waren nicht mehr in der Lage, ihrenSchuldenstand zu kontrollieren und die Finanzkrise zu bewältigen. Dies führte zu einerStaatsschuldenkrise.38

33 Die Gleichmäßigkeit und Dynamik des wirtschaftlichen Fortschritts in diesem Zeitraum lassen sichfreilich zum Teil durch die besonderen Eigenheiten des notwendigen Wiederaufbaus dereuropäischen Volkswirtschaften und der Einholung der amerikanischen Wirtschaft erklären.

34 Systemic Banking Crises Database: An Update, L. Laeven und F. Valencia, 2012, IMF WorkingPaper 12/163.

35 De la crise financière à la crise économique, Banque de France, Documents et Débats Nr. 3, 2010.36 „Contagion et crise de la dette européenne“, V. Constancio, Revue de la stabilité financière, 2012,

S. 121-134.37 Financial Crisis Losses and Potential Impacts of the Dodd-Frank Act, United States Government

Accountability Office, Januar 2013.38 Reaktion der EU auf die Schuldenkrise, Europäische Kommission, letzte Aktualisierung 9. April 2014.

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4. Globalisierung als Ursache für Ungleichheiten?Bietet die Globalisierung die Möglichkeit, die Lebensbedingungen weltweitanzugleichen, oder verschärft sie bestehende Ungleichheiten? Die Frage, wie sich derFreihandel auf die Herausbildung von Gewinnern und Verlierern auswirkt, beschäftigtdie Wirtschaftswissenschaft schon lange.

Die mit der Globalisierung einhergehende Öffnung der Märkte verschärft denWettbewerb und führt tendenziell zu einem Rückgang von Monopolsituationen und vorWettbewerbsdruck geschützten Marktstellungen. Für die Verbraucher wirken sich dieÖffnung der Märkte und der zunehmende Wettbewerb umgekehrt günstig aus (sieheoben).

Bei diesem Prozess erleiden einige Menschen Verluste oder erzielen zumindestniedrigere Nettogewinne als andere. Die wirtschaftlichen Ungleichheiten können sichalso verschärfen.

4.1. Gewinner und Verlierer der Globalisierung4.1.1. Umverteilung von Positionen und EinkommenIn den am weitesten entwickelten Länder profitierten qualifizierte Arbeitnehmer undKapitaleigner am stärksten von den großen Gewinnen, die durch die Öffnung ihrerWirtschaft für den Handel mit Ländern mit geringerer Kapitalausstattung und wenigerqualifizierten Arbeitnehmern erzielt werden.

In den Ländern des Westens findet eine nachhaltige Umverteilung der Einkünfte statt,die über das Phänomen der Anpassungskosten hinausgeht. Im Hinblick auf die jüngerenEntwicklungen, die vermutlich mit der aktuellen Globalisierungswellezusammenhängen, zeigen die wichtigsten Studien und Forschungsarbeiten die gleichenHauptergebnisse:

In den letzten beiden Jahrzehnten vor der Wirtschafts- und Finanzkrise stieg dasRealeinkommen der Haushalte in den OECD-Ländern um durchschnittlich 1,7 %pro Jahr. Allerdings stieg in den allermeisten dieser Länder das Einkommen derreichsten 10 % der Haushalte schneller als das Einkommen der ärmsten 10 %,sodass sich die Einkommensunterschiede verschärft haben.39 Die Einschätzung,dass die Vorteile des wirtschaftlichen Wachstums nicht gleichmäßig verteiltwaren und die Wirtschaftskrise die Kluft zwischen Reichen und Armenvergrößert hat, gilt allgemein als Tatsache.40 Heute haben die reichsten 10 % inden OECD-Ländern ein 9,6-mal höheres Einkommen als die ärmsten 10 %. Inden 1980er Jahren lag das Verhältnis bei 7 zu 1, in den 1990er Jahren dann bei 8zu 1 und in den 00er Jahren bei 9 zu 141 (auch wenn Transfers nach wie vor einesignifikante Korrektivfunktion für die Marktentwicklungen darstellen42). In derEuropäischen Union stiegen die Einkommensunterschiede seit 2006 in zweiDritteln der Mitgliedstaaten an. Im Euro-Raum nahm in folgenden

39 „An Overview of Growing Income Inequalities in OECD Countries: Main Findings“, OECD, 2011.40 „Record inequality between rich and poor, OECD, youtube, online gestellt am 5. Dezember 2011;

Global Inequality: A New Approach for the Age of Globalization, B. Milanovic, 2016; Europe’s SocietalChallenges: An analysis of global societal trends to 2030 and their impact on the EU, Rand Europe,2013.

41 In It Together: Why Less Inequality Benefits All, OECD 2015.42 Income inequality and growth: The role of taxes and transfers, OECD Economics Department Policy

Notes Nr. 9, Januar 2012.

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10 Mitgliedstaaten die Ungleichheit zu: Luxemburg, Slowenien, Griechenland,Frankreich, Italien, Estland, Österreich, Slowakei, Zypern und Spanien (inaufsteigender Reihenfolge). Nach einer Reduzierung der Ungleichheiten fiel dieUngleichheit im Euro-Raum wieder auf den Stand des Jahres 2004 zurück.43

Einkommensungleichheiten allein sind ein unzureichender Indikator. WeitereFaktoren müssen berücksichtigt werden (beispielsweise ungleicher Zugang zumArbeitsmarkt, Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, Rückgang dersozialen Mobilität), um dem zunehmenden Gefühl eines grundlegendungerechten Anstiegs der Ungleichheiten, das sich in neueren Untersuchungenund Debatten zeigt (siehe weiter unten), Rechnung zu tragen.

4.1.2. Begünstigung der höchsten GehälterIn allen reichen Ländern resultiert der Anstieg der Ungleichheiten zum Großteil ausdem schnellen Einkommenswachstum einer Minderheit der reichsten Einwohner.Besonders eklatant sind die Unterschiede in den USA, wo die Einkommen der reichsten10 % stark gestiegen sind, während die Einkommen der unteren 50 % stagnierten odersogar zurückgingen. Genauer gesagt konzentriert sich die neuere Ungleichheitsdebatteauf die reichsten 1 % oder sogar 0,1 %, also auf die Bevölkerungsgruppen, dieübermäßig vom Einkommensanstieg der letzten Jahrzehnte profitiert haben (sieheweiter unten) und deren extravaganter Lebensstil Aufsehen erregt.

Abbildung 1 – Einkommensungleichheiten in den OECD-Ländern – Gini-Koeffizienten (sieheKasten) der Einkommensungleichheiten (1985 und 2013)

Datenquelle: OECD. Eine „geringe Schwankung“ der Ungleichheiten bezeichnet eine Schwankung unterhalb 1,5 %.Daten für das Jahr 2013 (oder das am kürzesten zurückliegende Jahr).

Einer Analyse der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty und Emmanuel Saez44

zufolge blieb der Einkommensanteil des reichsten Prozents der US-Bürger – nachstarken Schwankungen und einem deutlichen Abfall in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts – fast drei Jahrzehnte lang erstaunlich stabil und stieg dann um dasJahr 1980 erneut an. Laut der Studie Survey of Consumer Finances45 der US-Notenbank

43 Wage developments in the euro area: Increasingly unequal?, A. Stuchlik, EPRS, EuropäischesParlament, Juli 2015.

44 „Income inequality in the United-States 1913-1998“, T. Piketty und E. Saez, The Quarterly Journal ofEconomics, 2003.

45 2013 Survey of Consumer Finances, FED, Federal Reserve Bulletin, 2013.

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(FED) nehmen die Ungleichheiten weiter zu. Die Einkommen der reichsten 10 % stiegenzwischen 2010 und 2013 um 10 % auf 397 500 USD pro Jahr. Besitzer vonAktienportfolios oder Immobilien profitierten in den letzten Jahren von einemerheblichen Vermögenseffekt. Der „Standard & Poor 500“-Index (basierend auf den500 größten in den USA börsennotierten Unternehmen) stieg in diesem Zeitraum um62,8 %46, der „Standard & Poor Case Shiller“-Index zur Bewertung derImmobilienentwicklung um 9,9 %.47

Umgekehrt verzeichneten die unteren 20 % auf der Einkommensskala einen Rückgangvon 8 % auf 15 200 USD monatlich. Zwar ist das durchschnittliche Einkommen in denvergangenen drei Jahren um 4 % gestiegen, das Medianeinkommen ist im gleichenZeitraum jedoch um 5 % gefallen. Diese Tendenz fällt laut der US-Notenbank „miteinem Anstieg der Einkommenskonzentrationen in diesem Zeitraum zusammen“.

Thomas Piketty: „De l'inégalité en Amérique“Das Thema Ungleichheit steht in Europa und den USA erneut im Zentrum der politischen undwirtschaftlichen Debatten. Dies zeigt sich beispielsweise in der Begeisterung, mit der 48Capitalin the 21st century, die englische Übersetzung eines knapp 1 000 Seiten umfassenden Werksdes französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty, in den USA aufgenommenwurde. Ende April 2016, also einen Monat nach seinem Erscheinen in den Vereinigten Staaten,führte das Buch über den weltweiten Anstieg der Ungleichheiten die US-amerikanischenBestseller-Listen an.Piketty entwickelt seine These auf Grundlage einer historischen Statistik derEinkommensentwicklung in den wichtigsten kapitalistischen Ländern seit mehr als 100 Jahren(Frankreich und Vereinigtes Königreich: ab dem 18. Jahrhundert). Piketty zufolge war dieAkkumulation der Kapitalzinsen (r) (Einkünfte aus Investitionen und Eigentum) in den meistenLändern höher als das Wirtschaftswachstum insgesamt (g), mit Ausnahme einer langenZwischenphase von 1914 bis Mitte der 1970er Jahre. Seit 40 Jahren findet erneut eineAkkumulation des Kapitals statt, und die Kapitalkonzentration erfolgt deutlich schneller als dasWirtschaftswachstum (r>g). Diese Rückkehr zum totalen Kapitalismus beruht Piketty zufolge aufdem Verschwinden der Inflation.Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in den USA eine stärkere Ungleichheit bei derEinkommensverteilung als in Europa. Während die einen betonen, dass es dank des rasantenAnstiegs der Gehälter von Spitzenkräften möglich ist, reich zu werden ohne zu erben, kann sichdiese vermeintliche Hyper-Meritokratie für diejenigen, die weder zu den Spitzenkräften noch zuden „Spitzen-Erben“ gehören, als besonders ungünstiges Modell herausstellen. Dies betrifftarme Menschen, die oft als wenig verdienstvoll und unproduktiv beschrieben werden. Pikettyzufolge waren aber weder eigene Verdienste noch die Produktivität entscheidende Faktoren.Eine wesentlich wichtigere Rolle spielten die stärkere Verhandlungsposition vonFührungskräften und die Reduzierung der oberen Steuersätze.Pikettys Ausführungen wurden in allen Medien wiedergegeben, aber auch von vielen Seitenkritisiert.49

Auch in Europa findet die Polemik um das reichste 1 % starke Verbreitung. DieProblematik der hohen Einkommen ist in den angelsächsischen Ländern besondersausgeprägt, in denen der Einkommensanteil der Spitzengruppe am stärksten

46 Standard & Poor 500.47 Standard & Poor Case Shiller.48 „De l'inégalité en Amérique“, Blog von Thomas Piketty, 18. Februar 2016.49 „Quand un étudiant de 26 ans ébranle Thomas Piketty“, M. Vignaud, Le Point, 26. März 2014 ;

„Summary of Piketty: Criticisms“, R. Kirkby, 2015.

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angestiegen ist.50 Die Zunahme der Ungleichheiten im Vereinigten Königreich, dieetwas anders verlief als in den USA, ist seit den 1970er Jahren sehr hoch (Gini-Koeffizient + 10 Prozentpunkte ), wie Anthony Atkinson in seinem neuesten Buch51

demonstriert.

Auch auf dem Kontinent wird sie lebhaft diskutiert, wie der Slogan „Wir sind die 99 %“(die Gier und Korruption des obersten Prozents nicht mehr tolerieren) zeigt, den dieBewegung Occupy Wall Street 2011 einführte. Von New York aus weitete sich derProtest auf Europa aus und fand insbesondere in Deutschland, Spanien und FrankreichAnklang. Dank sozialer Transferleistungen zur Abmilderung der primärenEinkommensunterschiede war die Zunahme der Ungleichheit in den sozialdemokratischgeprägten Ländern jedoch gemäßigter.

Wer sind die „1 %“ in Europa?Anhand einer Analyse des Profils des am besten bezahlten 1 % der Arbeitnehmer in 18 Ländernzeichnet die OECD ein Bild der Gruppe mit dem höchsten Einkommen im heutigen Europa. Diedabei herausgestellten Eigenschaften ähneln sich in allen Ländern. Dem einkommensstärksteneinen Prozent gehören hauptsächlich Männer zwischen 40 und 60 Jahren mit abgeschlossenemHochschulstudium an, die eine hohe Führungsposition in der Finanzbranche oder in der Industrieinnehaben.52

4.1.3. Verarmt die Mittelschicht?Im Zusammenhang mit den komplexen Änderungen der Einkommensverteilunginnerhalb der einzelnen Länder im Zuge der Globalisierung untersuchte derWirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic, wer seit dem Fall der Berliner Mauer1989 weltweit zu den Globalisierungsgewinnern und -verlierern gehörte. Wie derehemalige Chefökonom der Weltbank aufzeigt, handelt es sich bei den Hauptverlierernder Globalisierung um die ärmsten 5 % der Bevölkerung (deren Einkommen stagnieren)und besonders um die Mittelschicht in den Industrieländern (deren Einkommen leichtgesunken ist). Umgekehrt profitierten die Reichsten und die Mittelschicht deraufstrebenden Volkswirtschaften (vor allem in Asien und Indien) am stärksten von derweltweiten Zunahme des Wohlstands in diesem Zeitraum.

In der Abbildung unten wird dieses Phänomen veranschaulicht. Durch eineUnterteilung des gesamten weltweiten Einkommens in Perzentile wird die Entwicklungdes Realeinkommens (y-Achse) für jede „Bevölkerungsgruppe“ (x-Achse) von derGruppe mit dem geringsten Einkommen (die ärmsten 5 %) bis zu der mit dem höchstenEinkommen (die reichsten 5 %) dargestellt. Die ärmsten 5 % sind in der Abbildung ganzlinks dargestellt, und die Hauptverlierer der Globalisierung sind die Personen, derenEinkommen zwischen dem 75. und dem 90. Perzentil der globalenEinkommensverteilung rangiert. Wie das Diagramm zeigt, waren die realenEinkommensgewinne im Wesentlichen gleich null53. Zu diesen Hauptverlierern gehörtvor allem die Mittelschicht in den USA und Europa.

50 Siehe beispielsweise „Economic inequality in the United Kingdom“.51 Inequality: What Can Be Done?, A. Atkinson, Harvard University Press 2015, S. 19.52 Who are the top 1% earners in Europe?, O. Denk, OECD Economics Department Working Papers

Nr. 1274, 2015.53 Global Income Distribution: From the Fall of the Berlin Wall to the Great Recession, C. Lakner und

B. Milanovic, The World Bank, Policy Research Working Paper, Dezember 2013.

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Dagegen findet sich die höchste Einkommenszunahme pro Einwohner unterdenjenigen, die bei der weltweiten Einkommensverteilung ganz oben stehen (imDiagramm ganz rechts), und den Angehörigen einer aufstrebenden neuen globalenMittelschicht (im Diagramm in der Mitte).

Abbildung 2 – Schwankung des Realeinkommens zwischen 1988 und 2008 für verschiedenePerzentile der weltweiten Einkommensverteilung (Berechnungsgrundlage: InternationalerDollar 2005)

Datenquelle: Weltbank.

Eine neue vergleichende Studie zwischen Frankreich und den USA zeigt denausgeprägten Niedergang der Mittelschicht in den USA sowie ihre Erosion in Frankreich(die allerdings erst später einsetzte)54. Heute gehören 67,4 % der französischen und50,6 % der US-Haushalte der Mittelschicht an, wobei ihr Anteil an derGesamtgesellschaft tendenziell in stetigem Rückgang begriffen ist. In den USAverzeichnete die Mittelschicht im Zeitraum 1996-2012 einen Rückgang von 3,6 %, dervor allem den hohen Einkommen zugutekam (+ 2,2 Prozent). In Frankreich dagegenverlief der Rückgang der Mittelschicht (-1,5 % im selben Zeitraum) eher durch eineZunahme der niedrigen Einkommen (+0,9 Prozent) – dies könnte im Übrigen das Gefühlder „Deklassierung“ bei einigen Angehörigen der Mittelschicht erklären. In den USAentspricht diese Situation der Studie zufolge einer raschen und seit langembestehenden Zunahme der monetären Ungleichheiten, während es sich in Europa umeine neuere, gemäßigtere Entwicklung handelt.

Nach einer Studie des Economic Policy Institute55 belief sich dasDurchschnittseinkommen der US-Mittelschicht 2007 vor der Finanzkrise auf76 443 USD. Wären die Ungleichheiten nicht seit 1979 so stark gestiegen, hätte es bei94 310 USD gelegen (das sind etwa 20 % bzw. 18 000 USD mehr). Der relative Rückgangder höchsten Einkommen infolge der Krise 2008 hat diese Ungleichheiten nur sehrschwach abgemildert.

54 Classe moyenne : un Américain sur deux, deux Français sur trois, D. Marguerit, La Note d'Analyse,Februar 2016, Nr. 41.

55 „Wage stagnation in nine charts“, L. Mishel, E. Gould und J. Bivens, Economic Policy Institute,Januar 2016.

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4.1.4. Gering qualifizierte Arbeitnehmer in SchwierigkeitenIn zahlreichen Studien wird untersucht, wie sich die Entwicklung des Außenhandels(insbesondere was den Handel mit Schwellenländern mit niedrigem Lohnniveaubetrifft) auf die Zunahme der Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt der meisten OECD-Länder auswirkt.56 Eine der wichtigsten Ursachen dieser Zunahme war offenbar dieVerschlechterung der Lage gering qualifizierter Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt. Soführte die Ausweitung des Handels zwischen den OECD-Ländern und denSchwellenländern in den Fällen, in denen letztere einen komparativen Kostenvorteil beider Herstellung von Gütern durch gering qualifizierte Arbeitskräfte hatten, zu einemRückgang der Gehälter und/oder des Beschäftigungsgrads von Arbeitnehmern miteinem niedrigen Ausbildungsniveau in der OECD-Zone. Dabei erlitten die am geringstenqualifizierten Arbeitnehmer in den Industrieländern Verluste oder erzielten zumindestniedrigere Nettogewinne. Durch den Rückgang der Nachfrage nach unqualifiziertenArbeitskräften in den am weitesten entwickelten Ländern sinkt auch deren relativeVergütung. Infolgedessen kommt es, in unterschiedlicher Ausprägung je nachSozialsystem und dem Grad der Herausbildung prekärer Beschäftigungsverhältnisse57,zu Erwerbsarmut (die Betroffenen nennt man im Englischen working poor58). Ebensowie in den USA im Zeitraum von 1973 bis 2013 lag außerdem der Anstieg der Vergütungder Arbeitnehmer (+9 %) unter dem Anstieg ihrer Produktivität (74 %), was zumAbsinken des relativen Lebensstandards beigetragen hat.59

4.1.5. Ungleichheiten zwischen LändernWenn es innerhalb der verschiedenen Volkswirtschaften Gewinner und Verlierer gibt,so liegt die Vermutung nahe, dass auf der Ebene der Weltwirtschaft ähnlicheSpaltungen vorhanden sind zwischen Ländern, die von der Globalisierung profitieren,und Ländern, die Verluste erleiden.

Wie Angus Maddison60 in seinem Überblick über Wachstum und Weltbevölkerung seitdem Jahr 1000 zeigt, lassen sich Ungleichheiten sehr langfristig nachweisen. Imuntersuchten Zeitraum ist die Weltbevölkerung um das 22-Fache gewachsen, das Pro-Kopf-BIP um das 13-Fache und das Welt-BIP nahezu um das 300-Fache. Der stärksteAnstieg ist in den Ländern zu verzeichnen, die heute zu den reichsten zählen(Westeuropa, Nordamerika, Australasien und Japan). Der Lebensstandard ist in denreichsten Ländern (Spitzenreiter: USA) heute 60-mal höher als in den am wenigstenentwickelten Ländern, während dieser Abstand drei Jahrhunderte zuvor nur bei 1 zu 5lag und vor 1 000 Jahren nahezu nicht vorhanden war.

Mit der fortlaufenden Zunahme der nicht gewichteten internationalen Ungleichheit(s. Anhang) setzt sich eine Tendenz fort, die im frühen 19. Jahrhundert ihren Anfangnahm61. Die Kluft zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern wird also weiterhin

56 OECD Employment Outlook, OECD 2007.57 Im Bericht der OECD (2015) In It Together: Why Less Inequality Benefits All ist die Zunahme des

Anteils der Menschen, die in Teilzeit, in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis oder selbständigarbeiten, ein wichtiger Faktor für die Verschärfung der Ungleichheiten. Insbesondere bei geringqualifizierten Arbeitskräften mit befristetem Arbeitsvertrag ist das Erwerbseinkommen deutlichniedriger und instabiler als bei fest angestellten Arbeitnehmern.

58 In-work poverty in the EU, V. Kern, EPRS, Europäisches Parlament, 2014.59 „Wage stagnation in nine charts“, Mishel et al 201660 The World Economy: A Millennial Perspective, Maddison 2001;61 „Inequality among world citizen: 1820-1992“, F. Bourguignon und C. Morisson, American Economic

Review, 2002, S. 727-244.

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immer größer. Nach den Angaben der Weltbank62 war im Jahr 1990 das Land mit demhöchsten BIP pro Kopf (basierend auf der Kaufkraftparität in Dollar 2011) 210-malreicher als das ärmste Land (Vereinigte Arabische Emirate versus Malawi). 2014 lagdieser Multiplikationskoeffizient bei 235 (Luxemburg versus ZentralafrikanischeRepublik). Unter den Ländern, die 1990 bereits zu den reichsten Ländern gehörten,stieg das BIP pro Kopf in 24 Jahren um jeweils 40,6 % an. Damit bleiben diese beidenRegionen die reichsten Regionen der Welt. In Europa ist der größte BIP-Anstieg in denärmsten Ländern zu verzeichnen. So konnte das BIP pro Kopf beispielsweise von Polenund Bulgarien zwischen 1990 und 2014 einen spektakulären Anstieg um 136 % bzw.76 % verzeichnen.

Die nach Bevölkerungszahlen gewichtete internationale Ungleichheit (s. Anhang)nimmt dagegen ab. Dies ist in erster Linie dem raschen Aufstieg der VolkswirtschaftenChinas (1,33 Mrd. Einwohner) und Indiens (1,17 Mrd. Einwohner) zu verdanken.

Zu beachten ist, dass sich in Bezug auf internationale Ungleichheit nur schwer eineallgemeine Zahl verwenden lässt, da diese sehr stark von den Berechnungsmethoden(Wahl des Wechselkurses und der Gewichtung) abhängt. Je nach Fall ergeben sichsignifikant unterschiedliche Ergebnisse, auch wenn die Tendenzen weniger starkabweichen. Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass bestimmte Formen derinternationalen Ungleichheit zunehmen, während andere abnehmen.

4.2. Ist die Globalisierung ursächlich für die Zunahme der Ungleichheit?Die Ungleichheit hat in vielen Ländern zugenommen, oft nach mehreren Jahrzehntender Stabilität, welche mit der Globalisierung zusammenzufallen scheinen. Zwar ist inder Tat seit Beginn der 1980er Jahre eine erhebliche Veränderung der Verteilung vonEinkommen oder Wohlstand in der Welt zu beobachten, allerdings ist Korrelation nichtzwangsläufig gleichbedeutend mit Kausalität. Die Politik in den USA und in Europa hatdennoch in der Globalisierung ein neues Wahlkampfthema erkannt.

4.2.1. Globalisierung und Ungleichheiten: Korrelation ohne Kausalität?1995 fragte sich der Ökonom Richard Freeman: „Werden unsere Gehälter in Pekingfestgelegt?“63 Seine Antwort – „Nein“ – entsprach der Ende der 1980er Jahrevorherrschenden Meinung. Ähnlich argumentierte der Nobelpreisträger Paul Krugmanin seinem 1999 in Deutschland erschienenen polemischen Werk über den „Mythos vomglobalen Wirtschaftskrieg“64. Die unbestreitbare Verschärfung der Ungleichheit in denIndustrieländern und insbesondere in den USA in den letzten Jahrzehnten sei eher aufeinen einseitigen technischen Fortschritt zugunsten der am besten qualifiziertenArbeitnehmer zurückzuführen als auf die Globalisierung. Die Lösung für dieses Problemliege auf der Hand: neue Qualifizierungen für Arbeitnehmer in den reichen Ländern.

Dennoch ist die Annahme, dass die Globalisierung einen großen Anteil an der Zunahmeder Ungleichheiten hat, in der Wissenschaft weit verbreitet. So beharren dieWirtschaftswissenschaftler François Bourguignon und Joseph Stiglitz darauf, dass dieGlobalisierung eine Schlüsselrolle für zunehmende Ungleichheit innerhalb dereinzelnen Länder spielt. Der Ökonom Pierre-Noël Giraud zeigt in seinem Werk

62 Weltbank, Data, GDP per capita, PPP (constant 2011 international $).63 „Are Your Wages Set in Beijing?“, R.B. Freeman, Journal of Economic Perspectives, 1995.64 Der Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg. Eine Abrechnung mit den Pop-Ökonomen., P. Krugman,

2000.

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„L'inégalité du monde“65, wie die Globalisierung im Bereich des Handels, der Finanzenund der Informationstechnik – ein Phänomen, dass über den bloßen Wettbewerb mitNiedriglohnländern weit hinausgeht – einerseits die Aufholjagd von Schwellenländernund damit die Reduzierung weltweiter Ungleichheit ermöglicht hat und andererseits zueiner Zunahme der internen Ungleichheiten innerhalb der Industrie- undSchwellenländer geführt hat.

Eine einfache Antwort gibt es jedoch nicht, und der Standpunkt zahlreicherWirtschaftswissenschaftler – darunter auch Nobelpreisträger Paul Krugman66 – hat sichweiterentwickelt. Angesichts der Machtzunahme von China und Indien erkenntKrugman mittlerweile an, dass die Globalisierung eine Rolle bei der Verschärfung derUngleichheiten und der Arbeitsplatzverluste, vor allem in der Industrie, in den USA undEuropa spielt.67 Gleichzeitig kommen die meisten Forscher zu dem Schluss, dass derAußenhandel einen eher überschaubaren Anteil an der Verschlechterung der Situationgering qualifizierter Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt hatte. Eine größere Rollespielte ihrer Ansicht der technische Wandel, der bestimmte Qualifikationenbegünstigt.68

4.2.2. Die Globalisierung als neuer Sündenbock für alle Probleme?Wenngleich sich die Rolle der Globalisierung für die Herausbildung von Gewinnern undVerlieren nicht eindeutig bestimmen lässt, werden ihr in der öffentlichen Meinung vielenegative Seiten zugeschrieben und nur wenige positive Effekte. Die breiteÖffentlichkeit denkt bei Globalisierung an Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen und eineVerschlechterung der Arbeitsbedingungen. Diese Wahrnehmung beruht auf der Furcht,dass die Konkurrenz aus Niedriglohnländern den Druck auf heimische Arbeitnehmerund Produzenten verstärkt und zur Schließung nationaler Fabriken mit anschließenderVerlagerung ins Ausland führt. Diese Befürchtungen sind nicht neu, scheinen sich abermit dem raschen Aufschwung Chinas und Indiens im internationalen Handel verstärktzu haben.

Der Aufstieg des Populismus auf beiden Seiten des Atlantiks in letzter Zeit kann imZusammenhang mit einer Rebellion der „Globalisierungsverlierer“ gesehen werden.69

Angesichts weiterer Zyklen der Handelsliberalisierung, des Rückgangs vonArbeitsplätzen für gering Qualifizierte und der relativen Verarmung der Mittelschichtwürden sich demnach die Arbeitnehmer von den Parteien des „Establishments“abwenden, da sie dieses „Projekt zugunsten der Elite“ befehligt hätten. Die Klagengegen die vermeintlichen wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung habennicht nur eine wirtschaftliche Dimension. Die Globalisierung ist zu einem politischenArgument geworden. So vertreten rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ inÖsterreich, die Wahren Finnen (Perussuomalaiset, PS), die AfD in Deutschland oder derFront National in Frankreich70 eine Identitätspolitik, die mit Ängsten und Frustrationen

65 L'inégalité du monde, P.-N. Giraud, 1996.66 „Trade and inequality revisited“, P. Krugman, 2007.67 „It’s no longer safe to assert that trade’s impact on the income distribution in wealthy countries is

fairly minor. There’s a good case that it is big, and getting bigger. I’m not endorsing protectionism,but free-traders need better answers to the anxieties of globalisation’s losers“, Trade and inequalityrevisited“, P. Krugman, 2007.

68 OECD Employment Outlook, OECD 2005, S. 23-72.69 Is globalisation really fuelling populism?, D. Gros, CEPS Commentary, CEPS, Mai 2016.70 „La mondialisation, nouveau bouc émissaire de l’extrême droite française“, S. Madaule, Le Monde,

14. Januar 2011.

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spielt. Die Debatte wird mit Behauptungen geführt, wie etwa dass die GlobalisierungArbeitsplatz- und Identitätsverluste erzeuge und zur Öffnung der Grenzen für einegefährliche Masseneinwanderung sowie zu einem Souveränitätsverlust der Staatenbzw. der Europäischen Union führe.

Die populistischen Parteien in Europa stützen sich auf eine Identitätsstrategie, zu derautoritäre Werte und die Notwendigkeit der Bewahrung einer kulturell homogenenGemeinschaft gehören. Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Zuwanderungtreffen hier auf eine Form der politischen Identität, die auf dem Ausschluss des„Fremden“ beruht (vergleiche politische Strategien gegen Zuwanderung und gegen den„kulturellen Liberalismus“). Auf der politischen Agenda dieser Parteien stehenaußerdem die Umkehrung der Zunahme bei den Einkommensungleichheiten und derErwerbsarmut (siehe oben), um die Geringqualifizierten zu mobilisieren, die sich durchden Globalisierungsprozess bedroht fühlen.71

Der Brexit und die Frage der Globalisierung

Das Kofferwort „Brexit“ steht für „British Exit“, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus derEuropäischen Union. Nach monatelangen Verhandlungen fand der Europäische Rat schließlicham 18./19. Februar 2016 einen Kompromiss zum „Sonderstatus“ des Vereinigten Königreichs.Am darauffolgenden Tag kündigte Premierminister David Cameron an, dass die Frage desVerbleibs des Vereinigten Königreichs in der EU am 23. Juni 2016 durch ein Referendum geklärtwerden solle und dass er sich dafür einsetzen werde, dass das Land zu den ausgehandeltenBedingungen in der Union verbleibt. Nach dieser Ankündigung begann im VereinigtenKönigreich ein erbitterter Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Verbleibs in derEuropäischen Union. Die dabei ins Feld geführten Argumente gingen über die europäischeFrage deutlich hinaus: Zwar ging es natürlich um die Frage der Souveränität der britischenRegierung gegenüber der Europäischen Union, aber ebenso wurden die Globalisierung, diekulturelle Integration, ausländische Arbeitnehmer, Zuwanderungsbewegungen,Grenzkontrollen, die britische Autonomie bei der Aushandlung von Handelsverträgen, dieUnabhängigkeit der Außenpolitik, die Verarmung der unteren Gesellschaftsschichten usw.infrage gestellt. Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 % der britischen Wähler für den Austritt desVereinigten Königreichs aus der Europäischen Union.

Währenddessen schlug Donald Trump im US-Präsidentschaftswahlkampf72 in eine ganzähnliche argumentative Kerbe: so polemisierte er über den Bau einer Mauer gegenEinwanderung, die Verteidigung der von der Globalisierung „überrollten“ Mittelschicht,den Anstieg der Ungleichheiten und den Bau eines Schutzwalls gegen eine „globale“Gefahr. Laut dem Wirtschaftswissenschaftler Dani Rodrik hat sich das nationaleNarrativ der USA durch die Globalisierung tief greifend verändert.73 Die Globalisierunghabe den Mythos einer geeinten Nation, einer Gesellschaft für alle und einergemeinsamen Politik zerstört.74

71 Unis contre la mondialisation ? Une analyse de la convergence programmatique des partis populistesde droite européens, S. Bornschier, Revue internationale de politique comparée, 2005, S. 415-432.

72 „Trump & Anti-Globalization“, I. Bagchi, The Statesman, Mai 2016.73 The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy, D. Rodrik, 2011.74 „The economic losers are in revolt against the elites“, M. Wolf, Financial Times, Januar 2016; „Why

Trump and Sanders Were Inevitable“, M. Hirsh, Politico Magazine, Februar 2016.

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5. AusblickDie Suche nach einer adäquaten Reaktion auf die Auswirkungen der Globalisierung istTeil einer größeren Herausforderung für die Volkswirtschaften, nämlich derBewältigung der wirtschaftlichen Veränderungen.

Politisch muss es darum gehen, die möglichen Vorteile der Globalisierung in echtenNutzen umzuwandeln und dabei die sozialen Kosten zu begrenzen und denpopulistischen Debatten zum Thema Globalisierung etwas entgegenzusetzen. DieStaaten müssen ausreichende, geeignete soziale Sicherheitsnetze einrichten, umsoziale Erschütterungen, hervorgerufen durch eine Globalisierung, die bisherigeGewissheiten in Frage stellt, angemessen auffangen zu können. Parallel dazu solltenArbeitnehmer, die in Schwierigkeiten geraten sind, durch gezielte Initiativen wie denEuropäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung unterstützt werden.75

Die Länder müssen wirksame Beschäftigungs- und Bildungsstrategien zur Förderung derBeschäftigung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einrichten, wenn sie vollen Nutzenaus der Globalisierung ziehen und eine Abwehrhaltung gegenüber derHandelsliberalisierung verhindern wollen. Die OECD gab den Regierungen der OECD-Länder schon 2005 die folgenden Empfehlungen: Bereitstellung einer angemessenenBeschäftigungsgarantie bei Arbeitsplatzverlust, echte Unterstützung bei derWiedereingliederung, Angebot von Fortbildungs- undWiedereingliederungsmaßnahmen.

Der Anstieg der Zuwanderung in jüngerer Zeit macht außerdem eine Ad-hoc-Integration erforderlich, damit die Neuankömmlinge in den USA und in Europa76 nichtals mögliche Bedrohung, sondern als Arbeitskräftepool, als Beitrag zur Bewältigung desdemografischen Wandels und als Vorteil für die wirtschaftliche Entwicklungwahrgenommen werden können.77 Die Frage ist von großer Bedeutung.78 Zu dengrößten Herausforderungen, mit denen die Europäische Union in der Zukunftkonfrontiert ist, gehört für die EU-Bürger gleich nach dem Thema Beschäftigung (49 %)die Frage der Zuwanderung (47%)79.

Außerdem ist eine verstärkte weltweite Regulierung erforderlich, um die mit derGlobalisierung verbundenen hohen finanziellen Risiken zu bewältigen. Die G20-Erklärung nach der weltweiten Finanzkrise 2008 spiegelt das diesbezüglicheEngagement der Industrieländer wider: „We are determined to enhance ourcooperation and work together to restore global growth and achieve needed reforms inthe world’s financial systems.“80 (Wir sind entschlossen, unsere Zusammenarbeit zuverbessern und gemeinsam auf die Wiederherstellung des weltweiten Wachstums unddie Durchführung der erforderlichen Reformen in den weltweiten Finanzsystemenhinzuwirken.)

75 Siehe Kasten (Abschnitt 3.2: Negative Auswirkungen der Globalisierung).76 Economic challenges and prospects of the refugee influx, C. Karakas, EPRS, Europäisches Parlament,

Dezember 2015.77 Europe’s Societal Challenges: An analysis of global societal trends to 2030 and their impact on the EU,

Rand Europe, 2013.78 EU demographic indicators. Situation, trends and potential challenges, A. Delivorias and G. Sabbati,

EPRS, Europäisches Parlament, März 2015.79 Parlemeter 2015: Migrationsbewegungen, Europäisches Parlament, März 2016.80 Erklärung der G20 zu den Finanzmärkten und der Weltwirtschaft (deutsche Übersetzung der

Übersetzerin), G20-Gipfel, Washington, 15. November 2008.

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Befürworter wie Gegner der Globalisierung sehen in der Stärkung einer bestimmtenForm der weltweiten oder regionalen Regierungsführung oft ein Mittel, um den Nutzender Globalisierung zu maximieren und ihre Nachteile zu minimieren. Die ErfahrungEuropas leistet einen wichtigen Beitrag zu den neuen Modalitäten der wirtschaftlichenRegulierung.81

Abschließend lässt sich feststellen, dass die Globalisierung sicherlich für einige derMissstände verantwortlich ist, die ihre Gegner ins Feld führen, insbesondere dieVerstärkung der Ungleichheiten. Im Hinblick auf Wachstum und technischen Fortschrittbietet sie aber auch eine ganze Reihe von Vorteilen. Mit Institutionen undMechanismen für eine wirksame Regulierung der Weltwirtschaft und des weltweitenFinanzwesens in Verbindung mit nationalen Eingriffs- und Korrekturmaßnahmen solltegewährleistet werden, dass die Frage nach den Gewinnern oder Verlieren derGlobalisierung künftig weniger Gewicht hat.

81 Wirtschaftspolitische Steuerung, Europäische Kommission.

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7. Anhang – Messung von UngleichheitenBei der Messung der wirtschaftlichen Ungleichheiten wird die von Max O. Lorenz (1876-1959) entwickelte Lorenz-Kurve verwendet, um die Einkommensungleichheitengrafisch darzustellen. Dabei handelt es sich um die grafische Darstellung der Funktion,die dem Anteil x der Inhaber eines Anteils einer Größe den Anteil y der von ihnenjeweils gehaltenen Größe zuordnet. Aus dieser Kurve lassen sich drei Arten vonIndikatoren ableiten: Anteil der Gesamteinkommen der reichsten 10 %, Verhältnis zwischen den reichsten 10 % und den ärmsten 10 % der Bevölkerung, Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung, der die Verteilungsungleichheit

misst. In der Regel werden Gini-Koeffizienten berechnet, um die „internenUngleichheiten“ innerhalb der einzelnen Länder zu messen, aber auch, um dieUngleichheit innerhalb der gesamten Weltbevölkerung zu bestimmen.

Lorenz-Kurve

Die gestrichelte Linie entspricht einer idealen Gleichverteilung. Der Gini-Koeffizient ist: A / (A+B).

Nach den Berechnungen der Weltbank82 reicht der Gini-Koeffizient derEinkommensungleichheiten innerhalb der einzelnen Länder von 25 in den egalitärstenLändern (Ukraine, Slowenien, Norwegen) auf 50 - 60 oder sogar 65 in den am stärkstenungleichen Ländern (Lateinamerika und Südafrika). Ein weiteres Maß ist das der„internationalen Ungleichheit“ (zwischen Ländern). Dabei wird das Pro-Kopf-BIP desLandes in Dollar basierend auf der Kaufkraftparität (KKP) berechnet. Anschließendwerden die Länder nach aufsteigendem BIP pro Kopf klassifiziert und der Gini-Koeffizient dieser Verteilung wird berechnet. Dadurch lässt sich beispielsweise messen,ob der Unterschied zwischen dem Pro-Kopf-BIP der 20 ärmsten Länder und dem Pro-Kopf-BIP der 20 reichsten Länder der Erde zunimmt oder abnimmt – dieBevölkerungszahl dieser Länder wird dabei nicht berücksichtigt.

Eine weitere Möglichkeit zur Messung der internationalen Ungleichheit besteht in derGewichtung der Länder nach Bevölkerungsgröße: Dadurch erhält man die „gewichteteinternationale Ungleichheit“. Diese ähnelt der „internationalen Ungleichheit“, einem Indikator,bei dem die Weltbevölkerung insgesamt betrachtet wird. Sie wird mithilfe eines globalen Gini-Koeffizienten gemessen, der schwierig zu berechnen ist, da die Einkommen von Einzelpersonenund Haushalten verglichen werden, die in ganz unterschiedlichen Ländern leben. Die„internationale Ungleichheit“ ist die Kombination aus der „gewichteten internationalenUngleichheit“ und den „internen Ungleichheiten“ innerhalb der einzelnen Länder.

82 Gini-Index, Weltbank, Data, Auszug vom 31. Mai 2016.

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In einem Bericht aus dem Jahr 2015 beschrieb die Europäische Kommission die verschiedenenbestehenden Methoden zur Messung der Ungleichheit.83

83 Towards a better measurement of welfare and inequalities, Europäische Kommission, Quarterlyreview, September 2015.

Page 29: Die Auswirkungen der Globalisierung...Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 4 von 29 1. Einleitung Die Globalisierung befeuert leidenschaftliche Debatten. Manche stellen sie als

Bietet die Globalisierung die Möglichkeit, die

Lebensbedingungen weltweit anzugleichen, oder

verschärft sie bestehende Ungleichheiten? Die Frage, wie

sich Freihandel auf die Herausbildung von Gewinnern und

Verlierern auswirkt, beschäftigt die Wirtschaftswissenschaft

schon lange.

Die mit der Globalisierung einhergehende Öffnung der

Märkte führt tendenziell zu einem Rückgang von

Monopolsituationen, während die Verbraucher von der

Öffnung der Märkte und dem zunehmenden Wettbewerb

profitieren. Im Rahmen des Globalisierungsprozesses

erleiden einige Menschen Verluste oder erzielen

zumindest niedrigere Nettogewinne als andere. Die

wirtschaftlichen Ungleichheiten können sich also

verschärfen.

Die in wirtschaftlicher wie sozialer Hinsicht relevante Frage

der Globalisierungsgewinner und -verlierer ist heute zu

einer wesentlichen politischen Herausforderung in den

USA und Europa geworden.

Veröffentlichung desWissenschaftlichen Dienstes für die Mitglieder

Generaldirektion Wissenschaftlicher Dienst, Europäisches Parlament

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PE 586.601ISBN 978-92-823-9484-7doi:10.2861/063047

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Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments; eventuelle Meinungsäußerungenentsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments. Das Dokument richtet sich an die Mitgliederund Mitarbeiter des Europäischen Parlaments und ist für deren parlamentarische Arbeit bestimmt.

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