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DIE BEDEUTUNG DER ENTDECKUNG DER ALEMANNISCHEN SCHULE FÜR DIE PRAXIS ANNETTE OTTERSTEDT I. Zur Baugeschichte Alfred Berner schrieb in seinem Vorwort zur ersten Auflage der „Alemanni- schen Schule“: „Die Alemannische Geigenbauschule überliefert uns keine In- strumente, die für das konzertante Musizieren der Gegenwart eine Bereiche- rung brächten und deshalb einen besonderen Platz im Geigenhandel beanspru- chen könnten. Die Überlegenheit des klassischen Geigenbaus, auf dem das Spiel der Streichinstrumente seit Jahrhunderten beruht, wird durch sie nicht erschüttert. Ein solcher Anspruch wird aber auch nirgends in dieser Arbeit er- hoben.“ 1 Heute fragt man sich etwas verwundert, ob es zu der Zeit, als Berner diese Sätze schrieb, nicht möglich war, das Potential dieser Entdeckung zu ah- nen. Gehört es nicht zu den Aufgaben eines unabhängigen Historikers – auch eines Instrumentenhistorikers – eine ‚Nase‘ zu entwickeln für wichtige Ele- mente außerhalb des ‚Mainstreams‘? Auch ohne das erweiterte Wissen der Gegenwart ist es erstaunlich, daß Berner entgangen ist, wie diese Instrumente bereits eingeschätzt worden sind, bevor Olga Adelmann auf ihre Herkunft stieß. Waren sie nicht handwerklich exquisit? Besaßen nicht viele von ihnen – wenn auch gefälschte – Zettel prominentester Geigenbauer aus der italieni- schen Frühzeit? Wurden nicht viele von ihnen immer noch gespielt und waren daher sehr leistungsfähig? Seit dem Erscheinen des Buches gingen die Preise für Instrumente der Alemannischen Schule rapide in die Höhe. Kürzlich wur- de für ein Instrument eine Viertelmillion US-Dollar bezahlt, obwohl man wußte, daß der italienische Zettel falsch war. 1 O. Adelmann, Die Alemannische Schule, Berlin 1990, S. 10, Vorwort von Alfred Ber- ner.

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Die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule für die Praxis

DIE BEDEUTUNG DER ENTDECKUNG DERALEMANNISCHEN SCHULE FÜR DIE PRAXIS

ANNETTE OTTERSTEDT

I. Zur Baugeschichte

Alfred Berner schrieb in seinem Vorwort zur ersten Auflage der „Alemanni-schen Schule“: „Die Alemannische Geigenbauschule überliefert uns keine In-strumente, die für das konzertante Musizieren der Gegenwart eine Bereiche-rung brächten und deshalb einen besonderen Platz im Geigenhandel beanspru-chen könnten. Die Überlegenheit des klassischen Geigenbaus, auf dem dasSpiel der Streichinstrumente seit Jahrhunderten beruht, wird durch sie nichterschüttert. Ein solcher Anspruch wird aber auch nirgends in dieser Arbeit er-hoben.“1 Heute fragt man sich etwas verwundert, ob es zu der Zeit, als Bernerdiese Sätze schrieb, nicht möglich war, das Potential dieser Entdeckung zu ah-nen. Gehört es nicht zu den Aufgaben eines unabhängigen Historikers – aucheines Instrumentenhistorikers – eine ‚Nase‘ zu entwickeln für wichtige Ele-mente außerhalb des ‚Mainstreams‘? Auch ohne das erweiterte Wissen derGegenwart ist es erstaunlich, daß Berner entgangen ist, wie diese Instrumentebereits eingeschätzt worden sind, bevor Olga Adelmann auf ihre Herkunftstieß. Waren sie nicht handwerklich exquisit? Besaßen nicht viele von ihnen –wenn auch gefälschte – Zettel prominentester Geigenbauer aus der italieni-schen Frühzeit? Wurden nicht viele von ihnen immer noch gespielt und warendaher sehr leistungsfähig? Seit dem Erscheinen des Buches gingen die Preisefür Instrumente der Alemannischen Schule rapide in die Höhe. Kürzlich wur-de für ein Instrument eine Viertelmillion US-Dollar bezahlt, obwohl manwußte, daß der italienische Zettel falsch war.

1 O. Adelmann, Die Alemannische Schule, Berlin 1990, S. 10, Vorwort von Alfred Ber-ner.

Annette Otterstedt

Es trifft auch nicht zu, daß das Streichinstrumentenspiel „seit Jahrhunder-ten“ auf dem italienischen Geigenbau beruht, sondern genaugenommen istdies der Fall erst seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts. Viele alte Inventareweisen Geigen unterschiedlichster Herkunft auf, und italienische Instrumente– wenn auch oft hochgeschätzt – nehmen keineswegs immer den ersten Platzein. Das einzige, was Alfred Berner nicht wissen konnte, ist, daß sich die In-strumente nördlich und südlich der Alpen in ihren Bauweisen unterscheiden.Da sie aber alle gleichermaßen stabil sind und mühelos Jahrhunderte überdau-ern, hat das Buch über die Alemannische Schule eine Erkenntnis in eine ganzandere Richtung erbracht, die weder Olga Adelmann noch Alfred Bernerseinerzeit vermutet haben, als sie die Arbeit an diesem Thema aufnahmen.Die Alemannische Schule ist die Vorhut zu einer Entwicklung, die gerade das-jenige einmal umstürzen wird, was Alfred Berner so beschwörend erhaltenwissen wollte. Seit dem ersten Erscheinen von Olga Adelmanns Buch im Jahr1990 sind in Europa und in den USA zahlreiche Aktivitäten in Gang gekom-men, die kräftig an alten Traditionen rütteln. Was noch vor zehn Jahren als einliebenswerter Sonderweg einer unbedeutenden Region belächelt wurde,scheint nunmehr eine Lawine loszutreten, die alle etablierte Wissenschaft überdie Geige in Frage stellt und vielleicht dermaleinst das gesamte Geigenspeku-lationsgeschäft mit seinen unerfreulichen Auswüchsen begraben wird.

Vor ziemlich genau hundert Jahren schrieb Alexander Hajdecki in typischidealistischer Genieverehrung des 19. Jahrhunderts folgende Sätze über dieEntstehung der Violine: „Das grosse Genie kennt keine Fesseln des Herge-brachten – mit einem Feder- oder Pinselstrich schafft es neue Welten, unbe-kannte Formen, neue Gedanken, lenkt die Welt in neue Bahnen! Denkwürdigbleibt die Abfertigung Beethovens an einen Violinisten, als dieser ihm nahele-gen wollte, dass eine Figur in seinem Quartett nicht recht praktikabel für dieVioline sei: ‚Glaubt er, dass ich mich um seine elende Geige kümmere, wennGott zu mir gesprochen?‘ So hat sich auch Raffael wahrlich um die vorhande-nen eckigen, langgestreckten, dicken und breiten Instrumentmodelle seinerZeit nicht gekümmert; – er konnte seinen Göttergestalten nicht ein solches un-proportionirtes … Instrument in die Hand drücken. Er schuf seine Instrumentenach seiner eigenen Eingebung … – denn er d u r f t e sich an die vor-handenen Modelle nicht halten.“2

Und Hajdecki fährt fort: „Die äussere Form der Violine muss von ihrer in-neren Einrichtung streng auseinander gehalten werden. Diese Formgebungwar kein Ausfluss der technischen Entwickelung, und keine zwingende ge-

2 A. Hajdecki, Die italienische Lira da braccio, Mostar 1892, S. 38 f.

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schichtliche Nothwendigkeit, und muss daher auf das rein künstlerischeSchönheitsgefühl, auf die Aesthetik der Linienführung des bildenden Künst-lers zurückgeführt werden.“3

Der Gedanke, der dahintersteht, ist eindeutig: Ästhetik als Selbstzweck,ohne Einschränkung durch handwerkliche Bedingungen, und die Gottähnlich-keit des schaffenden Künstlers, in dieser Form ein Produkt des 19. Jahrhun-derts, wird ohne Umschweife auf das frühe 16. Jahrhundert übertragen. Solcheine noble Abstammung konnte wohl den Geigenbauern und vor allem denGeigenhändlern gefallen. Wenngleich wir heute nicht mehr ausdrücklich sodenken, so ist doch die Aura, in der man alte Meistergeigen heute immer nocherstrahlen läßt, in der Sache nicht allzuweit entfernt von Hajdeckis Schwär-merei. Die Einsicht, daß die Wirklichkeit viel nüchterner aussehen könnte, be-ginnt sich erst jetzt – hundert Jahre später – durchzusetzen. Vor allem die Her-kunft der ‚göttergleichen‘ Geige aus dem Sehnsuchtsziel Italien ist einfach zupassend, als daß man sie anzweifeln dürfte. Die Entdeckung der Alemanni-schen Schule gleicht damit einem kleinen Pulverfaß, denn seit wir von ihrwissen, steht die scheinbar so wohlgeordnete Welt plötzlich Kopf und sehendie Fragen, die wir klären müssen, ganz anders aus. Früher standen alle For-schungen unter der unausgesprochenen Frage: „Wie kommt die Geige in diefinsteren und zurückgebliebenen Regionen nördlich der Alpen?“ Daß sie ausItalien kam, war selbstverständlich. Heute muß man die Frage umformulieren:„Wie kommt die i t a l i e n i s c h e Geige in die nördlichen Regio-nen?“ – denn da gab es schon andere Geigen.

Seit der Begründung der modernen Instrumentenkunde durch Erich vonHornbostel und Curt Sachs sind wir es gewöhnt, Instrumente nach morpholo-gischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Sachs als hochgebildetem Universal-gelehrten war jedoch klar, was heute vielfach übersehen wird, nämlich daßmorphologische Merkmale bei Musikinstrumenten nicht zu verstehen sind alsstilkritische Betrachtungen im Sinne der Kunstwissenschaften. Curt Sachsverwendete die Morphologie zuweilen, um die Abstammung eines bestimmtenInstrumentes von einem anderen zu begründen, indem er aufgrund von Wir-belkastenformen, Deckenrosetten usw. auf Verwandtschaften schloß. DieseMerkmale können jedoch rein äußerlicher Natur sein. Wichtig wird ihre Ein-beziehung erst, wenn sie auf Handwerkstraditionen zurückzuführen sind.Ähnliches ist aus der Architektur bekannt (Abbildung 1):

3 Ebenda, S. 50 f.

Annette Otterstedt

Abb. 1: Konstruktion des dorischen TempelsAus: C. Uhde, Der Holzbau, Berlin 1903, Reprint Leipzig o. J., S. 52 f. und S. 46

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So sind die „guttae“ am dorischen Tempel, die uns an den Triglyphen wegenihrer ästhetischen Ausgewogenheit bezaubern, nichts anderes als Abbilder derin den Steinbau hinübergeretteten Holznägel, die das Gesims des ehemals höl-zernen Megarons zusammenhielten. In dieser Weise gehandhabt vermag dieMorphologie durchaus etwas über die Entstehungsgeschichte eines Instrumen-tes auszusagen. Aber dieser Weg muß mit Bedacht gegangen werden. Unter-schiedliche Erscheinungsbilder lassen ihre Herkunft aus unterschiedlichenBauweisen erkennen, beim griechischen Tempel ebensogut wie bei der Geige.Die Erbauer sitzen nicht mit künstlerisch verklärter Stirne an ihrer Werkbank– es gibt ein Phantasiegemälde von Stradivari4 –, sondern ihre Ausgangspunk-te sind überlieferte Methoden der Holzverbindung, die sich zum Teil einfachaus unterschiedlichen Größen von Instrumenten ergeben. Handwerker sindmethodisch konservativ, und ein Strukturmerkmal, das zu Beginn der Ent-wicklung aufgrund der verwendeten Techniken entstand, kann sich nach eini-ger Zeit, wenn eine bestimmte Form eingeführt ist, verselbständigen, so daßeigentlich niemand mehr zu sagen weiß, warum es so und nicht anders ist.Das ist dann das Stadium, wo Handwerker große Mühen auf sich nehmen, umihre Methoden der Form anzupassen – zum Beispiel metzt man nun die „gut-tae“ in Marmor. Prozesse der Abwandlung einer Tradition sind langfristig undgeschehen schrittweise, so daß man sie von einer Generation zur nächsten oftüberhaupt nicht wahrnimmt. Erst ganz am Ende stehen die Gelehrten, die überdas Ergebnis nur reden und die Ästhetik für das Entscheidende halten (Abbil-dung 2).

Die älteste oder ‚archaische‘ Methode, ein Saiteninstrument herzustellen,besteht weltweit darin, ein Stück Holz auszuhöhlen (wenn man nicht einebereits naturhohle Kalebasse oder ähnliches zur Verfügung hat), wobei Corpusund Hals eine Einheit bilden. Die Decke wird separat aufgesetzt. Das kanngeschehen durch Schnüre, Leimverbindung, Verdübelung usw. Diese alteTechnik ist in Relikten sogar heute noch an der modernen Geige erkennbar;denn Boden, Zargen und Hals sind immer noch aus demselben Holz, die Dek-ke dagegen aus einem anderen. Es bedeutete einen Riesenschritt, als man vomArbeiten aus dem massiven Stück zur Kastenbauweise überging, und es wirdlange genug gedauert haben, bis sie sich allgemein durchsetzte. Selbst heuteist sie noch nicht überall präsent. Ihr Vorteil liegt darin, daß sie weniger Mate-rial benötigt – es sind nur einige Bretter, die miteinander verbunden werdenmüssen. Aber sie stellt höhere Ansprüche an die Kunstfertigkeit des Erbauers,das heißt, hier liegt irgendwo der Übergang vom nicht-professionellen zumspezialisierten und professionellen Erbauer von Musikinstrumenten.

4 Abbildung in: W. Henley, Antonio Stradivari. His Life and Instruments, Brighton1961, Frontispiz.

Annette Otterstedt

a) Saiteninstrument mit Hals-Corpus-Einheit und separater Decke

c) Variante mitflachem Boden

d) Frontansicht

b) Trennung von Hals und Corpus.Separater Hals mit Nägeln am Oberklotz fixiert

e) Aussparungen der Mittel-bügel: Gambenform

f) spitz zulaufende Oberbügel derGambenform infolge vonseparatem Hals und Oberklotz

g) rechtwinklig angesetzteOberbügel der Geigen-form infolge vonHals-Oberklotz-Einheit

Abb. 2: Entwicklung der Konstruktion von Saiteninstrumenten.Zeichnung: Annette Otterstedt

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Der statisch problematischste Punkt in der Kastenbauweise ist die Verbindungvon Hals und Corpus, die bei dem archaischen Typus dadurch stabil ist, daßsie eine Einheit bildet. Eine Trennung von Hals und Corpus bedeutet zunächstein Risiko, denn gerade an diesem Punkt wirkt die Saitenspannung fatal,wenn sie den Hals nach vorne zieht. Er kann nämlich abbrechen. So muß einVorteil – die Materialersparnis – aufgewogen werden durch einen Nachteil –die instabile Verbindung zwischen Hals und Corpus. Bei der Laute wurde eineTrennung von alleine notwendig, seit man das Corpus aus Spänen über einerInnenform zusammensetzte. Ein kräftiger Oberklotz ist hier aus Gründen derStabilität absolut notwendig. Eine Einheit des Halses mit einem Oberklotzbreiter als der Hals, der aufgrund der gebauchten Form der Laute zwingendist, ist jedoch handwerklich wenig sinnvoll, da dies Material verschwendet.Daher trennte man Hals und Oberklotz und bearbeitete beide in verschiedenenArbeitsgängen. Bevor man die Decke aufleimte, wurde der Hals an den Ober-klotz geleimt und mit durch diesen getriebenen Nägeln gesichert. Die Weiter-entwicklung dieses Bauprinzips führt zur Gambenform. Während nun bei derLaute dank ihrer gewölbten Form der riesige Oberklotz im Innern verborgenbleibt, sehen wir auf Gambenabbildungen des 16. Jahrhunderts oft ein starkhochgezogenes Bodenblatt mit einem dicken Halsfuß, was auf einen sehr gro-ßen und schweren Oberklotz schließen läßt.5 Die Größe des Oberklotzes wirdeinigen Experimenten unterworfen gewesen sein, und wahrscheinlich bliebman in dieser prekären Zone lieber bei dem Motto: Viel hilft viel. Diese Tech-nik ist besonders bei großen Instrumenten sinnvoll, bei denen größerer Mate-rialbedarf besteht, und die man in Etappen bauen muß, da sie in der Werkstattviel Platz beanspruchen.

Bei kleineren Instrumenten ist sie natürlich möglich, aber zunächst einmalnicht ökonomisch, da sie die Arbeit vervielfacht. Die Vorgehensweise nachVerlassen der ‚archaischen‘ Form aus einem massiven Block wird natürlichauch hier davon bestimmt, die statische Problemstelle zwischen Hals und Cor-pus stabil zu gestalten. Das kann geschehen, indem man den Hals bis weit insCorpus hineinführt und die Zargen in den Seiten des Halses verankert. DiesesBauprinzip führt grundsätzlich zu einer anderen Gestalt als der aus der Lauteentwickelten Gambenform. Während die Zargen in der Gambenform im

5 Einige Abbildungen sind zu sehen in: I. Woodfield, The Early History of the Viol,Cambridge 1984, Abb. 49 (S. 84): Intarsie einer Gambe in den Stanze della Segnatura imVatikan (um 1510–1515). Diesem Bild ist eine Abbildung des berühmten Gemäldes vonRaffael Die Heilige Caecilie gegenübergestellt, dessen Gambe überhaupt kein Blatt, dafürrechtwinklig angesetzte Zargen enthält und damit auf einen durchgesetzten Hals schließenläßt. Abb. 64 (S. 122): Pordenone (um 1535), Madonna di Campagna (Piacenza), Abb. 80(S. 131): Tizian, Venus und Cupido mit Lautenspieler (Cambridge, Fitzwilliam Museum).

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stumpfen Winkel auf die Halslinie treffen – wobei es lediglich eine Sache gra-dueller Unterschiede ist, ob dieser stumpfe Winkel eingehalten, oder ob dieZarge als gleitender Übergang zum Hals geführt wird wie bei der ‚klassi-schen‘ Gambenform –, müssen sie bei der Hals-Oberklotz-Einheit mindestensim rechten, wenn nicht spitzen Winkel auf die Halslinie geführt werden, umdie optimale Stabilität zu gewährleisten. So ist es vor allem dieser Winkel, deruns in einer halbwegs korrekten ikonographischen Darstellung vermuten las-sen könnte, daß hier eine Hals-Oberklotz-Einheit vorliegt.

Man begegnet immer wieder den Überlegungen in der Fachwelt, was esdenn für Instrumente waren, die in alten Quellen unterschiedslos als „Gey-gen“ bezeichnet werden: Waren es Gamben, oder schon Violinen? Stammensie voneinander ab, und wenn ja, in welcher Weise? Mit viel Ideologie werdenhier Grabenkämpfe ausgefochten, und ich habe den Eindruck, daß die Modenebenso wechseln wie überall. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ent-deckte man den Klang der Gamben, und es wurde als selbstverständlich ange-sehen, daß hier der ‚authentische‘ Klang begraben liegt. Verächtliche Erwäh-nungen von kreischenden Violinen in Schriften des 17. und 18. Jahrhundertsfügten dieser Sichtweise eine historische Dimension hinzu. Seit einiger Zeitist es wieder umgekehrt. Auf einmal sollen es alles Violinen gewesen sein.Vielleicht liegt es heute an dem inflationsartigen Auftauchen von Barock-orchestern. Die Spieler müssen ja alle leben, und wenn man schon die feind-liche Gegenwart nicht ändern kann, dann ändert man eben die Vergangenheit.Ich wundere mich über diese Diskussionen. Warum nehmen wir die Quellennicht wörtlich?

Vielleicht wurden in der Frühzeit Gamben und Geigen nicht unterschieden,weil kein Grund vorhanden war, sie zu unterscheiden. Die Nomenklatur rich-tete sich nach großen und kleinen Instrumenten, „violini“ und „violoni“, die,wenn es ihnen paßte, vergnüglich zusammenspielten. In deutschen Quellensind es alles „geygen“, und sogar die Register der Münchener Hofkapelle un-ter Orlando di Lasso, der generell als der Urheber deutscher Streicherpraxisangesehen wird, verzeichnen alle Musiker, die ein Streichinstrument handha-ben, als „Geiger“. Lediglich ausländische Berichte deuten an, daß man esnicht überall so lax hielt. Aber der Amtsschimmel ist immer langsam und vorallem vollkommen verständnislos. Und in dessen Bewußtsein stand eben ge-schrieben, daß Geige gleich Geige ist.

Ein Rest dieser Eintracht findet sich noch im 17. Jahrhundert in deutschenQuellen, die Geigen in die oberen und Gamben in die unteren Register wiesen.Das gesamte 17. Jahrhundert hindurch scheinen Geigen und Gamben friedlichin dieser Weise zusammengespielt zu haben, und die erstaunliche Feststellungvon der „Violetta“ in Altgambenform finden wir noch so spät wie 1732 im Mu-sikalischen Lexikon von Johann Gottfried Walther, der sich auf eine alte Traditi-on stützt, die anscheinend zu seiner Zeit immer noch nicht obsolet war.

Die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule für die Praxis

Zu dieser Hypothese passen Fakten, die ansonsten schlecht erklärbar wä-ren: nämlich das relativ späte Auftauchen von Diskantgambe und Baßviolinein den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Aber gegen Ende des 16.Jahrhunderts fingen Gamben und Geigen an, sich auseinander zu entwickeln.Mangels Quellen kann diese Trennung in unterschiedliche Familien, die sichnicht mehr in der Bauweise, sondern in der Form und schließlich in Stim-mung, Spieltechnik und Repertoire unterscheiden, nur sehr zögernd festgelegtwerden. Sie ist jedenfalls etabliert um 1600, und es sind zunächst italienischeQuellen, die sie beschreiben.6 Bald nehmen andere die Nomenklatur auf,sogar der Amtsschimmel, dem wahrscheinlich die Musiker kräftig nachgehol-fen haben. Wir finden nämlich in manchen Instrumenten-Inventaren Hinweiseauf „alte“ und „neue“ Geigen, oder sogar die direkte Trennung in „viole“ und„violini“, zuweilen mit der Herkunftsangabe der Instrumente. Überall, wo wirdiese Trennung finden, können wir auch italienischen Einfluß feststellen. Dasaber hinderte nicht daran, daß man in kleinen Städten und Gemeinden unbeirrtan der alten Auffassung festhielt.

Michael Praetorius ist das prominente Beispiel für die Musikpraxis inDeutschland in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seine Rolle wird je-doch immer unerklärlicher, je näher man sich mit ihr befaßt. Er selbst machtaus seiner Vorliebe für italienisches Instrumentarium kein Hehl und beruftsich auf Ludovico Zacconi.7 Die Instrumente sind nunmehr in Familien von jedrei Größen zusammengefaßt, und aus Zacconis Darstellung geht hervor, daßdie Geigen ein Acht-Fuß- und die Gamben ein Zwölf-Fuß-Ensemble darstel-len.8 Nun ist es eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet der glänzendeGewährsmann Praetorius anscheinend nicht die Praxis darstellt, wie sie inDeutschland – und vielleicht auch noch in Italien – gang und gäbe war, son-dern eine Idealform, von der er in seinem regnerischen Wolfenbüttel träumte.In Italien selber war er nie, und es ist vielleicht auch ein psychologischer Ef-fekt, daß ein so profunder Musiker wie er das Sehnsuchtsziel noch rigoroserbeschreibt, als es die Italiener möglicherweise selber gesehen haben. Seingroßartiges Syntagma musicum von 1619 ist ja auch nicht zu lesen als eineBestandsaufnahme der allgemeinen Musikpraxis, sondern als ein pädagogi-

6 M. Troiano, Dialoghi, Venetia 1569; L. Zacconi, Prattica di musica, Venetia 1598,S. 218 f.; A. Banchieri, Conclvsioni nel svono dell’ organo, Bologna 1609, S. 53 ff.; P. Ce-rone, El Melopeo, Napoli 1613, Buch 21, S. 1057 ff.

7 M. Praetorius, Syntagma musicum Bd. II, Wolfenbüttel 1619, S. 204.8 Diese Ausdrucksweise ist nicht ganz präzise, da die Gamben im Verhältnis zur Orgel

auf G statt auf F basiert sind. Korrekt müßte es als 10,67-Fuß-Ensemble bezeichnet wer-den. Der Einfachheit halber jedoch wird die 12-Fuß-Bezeichnung beibehalten.

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sches Werk, das er in seinen umfangreichen Kompositionsveröffentlichungenfortsetzt.9 Jedenfalls steht er mit seiner Trennung von Gamben und Geigen inder deutschen Landschaft allein – bis auf die Alemannische Schule (Abbil-dung 3).

Abb. 3: Instrumentenzusammenstellung der Alemannischen Schule mit Instrumenten vonHans Krouchdaler (v.l.n.r.): Baßgeige 1696 (Kr 5, Historisches Museum Bern),Tenorgeige 1699 (Kr 6, Historisches Museum Bern), Diskantgeige 1685 (?) (Kr 1,Historisches Museum Basel) und als abweichende Größe das „Violoncello“ um1685 (Kr 7, Musikinstrumenten-Museum Berlin)

Zusammengestellt aus: O. Adelmann und A. Otterstedt, Die Alemannische Schule,Berlin 1997

9 Es existiert meines Wissens keine Arbeit, die sich mit den Quellen und Informantenfür das Syntagma musicum auseinandersetzt. Das Werk wird heute wie ein organologischesAxiom gehandhabt.

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Von den „Alemannen“ sind bisher keine Gamben bekannt. Ihre Instrumenten-familie besteht aus reinen Geigeninstrumenten: Diskant-, Tenor- und Baßgei-ge, und der experimentierfreudige Hans Krouchdaler hat sich anscheinend aneiner Art des Violoncellos versucht, von der niemand weiß, was er damit an-stellen wollte. Gemäß den gefälschten italienischen Zetteln, die viele dieserInstrumente heute besitzen, könnte man sofort in den Ruf ausbrechen: „Natür-lich italienisch!“. Gerade das aber ist einfach nicht nachzuweisen. Von allenGegenden Europas wandte man in der Nordschweiz wahrscheinlich am mei-sten Italien den Rücken zu. Während man in England und Holland vor italie-nischen Musikern seit dem 16. Jahrhundert auf den Knien lag, schimpfte derSchweizer Humanismus mit Ulrich von Hutten oder Melanchthon auf die ita-lienischen „Dunkelmänner“, und die Reformation machte allen Annäherungs-versuchen ein Ende. Man richtete sich nach Norden aus und kaufte lieber No-ten in Hamburg als in Mailand, und es dauerte bis weit ins 18. Jahrhundert,bis man sich für italienische Musik aufgeschlossen zeigte. Die Geigentraditi-on, die man pflegte, deutet auf ein sehr hohes Alter und kann dem heutigenStand der Kenntnis nach nicht auf italienische Vorbilder zurückgeführt wer-den.

Ohne Spekulation kommen wir vorerst nicht weiter. Die ältesten nordalpi-nen Darstellungen, das heißt aus deutschen Gebieten und Frankreich, zeigenals Gamben und Geigen unterschiedslos Instrumente mit dem rechten Winkelam Halsansatz (Abbildung 4). Die Unterschiede im Bau können daher bei denbeiden Familien – anders als in Italien, wo Lautenformen beteiligt waren –nur minimal gewesen sein. In französischen Gamben findet man bis ins18. Jahrhundert hinein die Einheit von Hals und Oberklotz, sogar bei denGambenformen. Sie belegen, daß selbst die französische Hohe Schule derGeigenbaukunst ihre Eigenständigkeit gegenüber italienischen Techniken be-wahrt hatte. Sebastian Virdung10 und Marin Mersenne11 bezeichnen zwei End-punkte, in deren Mitte der Flame Samuel Mareschall12 steht, der noch um1600 in Basel mit den alten fünfsaitigen französischen Gamben hantierte, ob-wohl der Rest Europas längst zum sechssaitigen Typus übergegangen war.Was uns hier in der Alemannischen Schule gegenüberzutreten scheint, ist einsehr altes Relikt von Geigenbaukünsten, das mit seiner großen handwerk-lichen Qualität ein faszinierendes Beispiel lebendiger Geschichte ist, das sichgegen die mittlerweile bestimmende Übermacht italienischen Geigenbaueseben aufgrund dieser Qualität hat halten können.

10 S. Virdung, Musica getutscht, Straßburg 1511, Faks. Nachdruck hrsg. von K. W. Nie-möller, Kassel 1970.

11 M. Mersenne, Harmonie Universelle, Paris 1636, Faks. Nachdruck Paris 1965.12 S. Mareschall, Porta musices, Basel 1589.

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Abb. 4: Geigen-/ Gambenformen bei Sebastian Virdung und Marin Mersenne. Oben: Se-bastian Virdung, „Groß Geigen“ – nicht unterschieden nach Gamben oder Geigen;Unten: Marin Mersenne, Geige mit 4 Saiten (links), Gambe mit 5 Saiten (rechts)

Aus: S. Virdung, Musica getutscht, Basel Straßburg 1511, Faks. Kassel 1970; M.Mersenne, Harmonie Universelle, Paris 1636, Faks. Paris 1965, Livre Quatrièmedes Instrumens des Chordes, S. 78 und S. 191

Die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule für die Praxis

II. Zur musikalischen Praxis

Der historische Wert der Entdeckung der Alemannischen Schule ist unbestreit-bar. Die Tatsache, daß die Instrumente immer noch so stabil sind, daß sie heu-te noch gespielt werden können, wertet nicht die italienischen ab, aber dienordalpinen auf. Es steht also nicht zur Debatte, ob die Instrumente es nochwert sind, gespielt zu werden. Zur Debatte steht vielmehr, welche Botschaftsie uns heute vermitteln, die wir seit gut hundert Jahren gewöhnt sind, alteMusik auf ‚Originalinstrumenten‘ zu spielen. Die Praxis alter Musik ist in un-serem Jahrhundert nicht statisch verlaufen, sondern folgt Moden, die sichkeineswegs immer nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand richten. Sie folgtvielmehr mittlerweile weitaus mehr einer konsum- und verkaufsorientiertenMedienpolitik, die gerade im Lauf der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zu ei-ner Verwässerung dessen geführt hat, was zum Beispiel vor zwanzig JahrenNikolaus Harnoncourt mit viel Charisma lehrte. Vor einigen Jahren interview-ten Hans Reiners und ich den jüngst verstorbenen Professor Josef Mertin inWien13, Lehrer von Nikolaus Harnoncourt, Gustav Leonhardt und anderen, ei-nen leidenschaftlichen Herrn, dessen Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrigließ: „… ich war 78, wie ich gehen mußte. Ich bin vor neun Jahren gefeuertworden.14 Neun Jahre sind eine lange Zeit. Ich wüßte nicht, wie ich jetzt ver-fahren soll in meinem alten Stall.“ Wir: „Es hat sich sehr vieles geändert.“Mertin: „Es ist sehr schlimm“ (schweigt eine Weile).

Bei derartigen Äußerungen von Personen, die uns heute aufgrund ihres Al-ters und ihrer großen Erfahrung als ein Prüfstein vorkommen müßten, regtsich natürlich ein leiser Argwohn, was uns wohl die Geigen der Alemanni-schen Schule als noch viel ältere Denkmale mitzuteilen haben. Wie sind wirauf dem Weg weitergewandelt, den uns vor Generationen Leute gewiesen ha-ben, die die alten Instrumente noch „in natura“ kannten? Wie viel haben wirbegriffen, bzw. wie weit haben wir uns von den historischen Vorgaben ent-fernt?

Es erschien mir nötig, das erste Klangbeispiel eines wohlbekannten En-sembles auf Herz und Nieren zu überprüfen, weil in seinen Begleittexten ga-rantiert wird, daß originalgetreue „Renaissancegeigen“ verwendet werden.15

Nun habe ich selber noch nie eine Renaissancegeige gesehen und gehört, undich kenne auch sonst niemanden, der über entsprechende Kenntnisse verfügt.

13 Josef Mertin 1904–1998.14 Das heißt, als Professor an der Musikakademie Wien.15 The Parley of instruments, Thomas Lupo, Fantasia No. 12 à 4, aus: „Fairest Isle“.

British Music and Culture. A Feast of music from Medieval to Modern Times. BBC music/Hyperion.

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Der Klang der Instrumente ist zunächst einmal verstellt – oder sollte ich sagen„entstellt“? – durch den hohen Pegel künstlichen Halls. Das ist heute nahezuüberall zu hören und hat den Effekt eines volltönenden Ensembles, aus demjede Geräuschhaftigkeit herausgefiltert ist. Besonders der Baß wird in diesemVerfahren zu einem hohl dröhnenden Getön, das den Klang der Mitspielereher aufzusaugen als zu stützen scheint.

Ich rede hier nicht über ‚schön‘ und ‚häßlich‘, denn Geschmäcker sindbekanntlich verschieden, sondern davon, daß hier ein Klang vorgeführt wird,der mit dem Klang echter alter Instrumente nicht das Mindeste zu tun hat,sondern der durch elektronische Mittel gleichsam aufgeblasen wird. Leiderhat eine solche Vorgehensweise in unserem Zeitalter, das in seiner Klangvor-stellung weitgehend von elektronischen Medien bestimmt wird, Rückwirkun-gen auf das musikalische Ideal und auf die Spielweise von Musikern. So ver-suchen moderne Spieler, ihren eigenen Klang dieser künstlichen Substanz an-zugleichen und möglichst volltönend und geräuscharm zu spielen.

Das Musikinstrumenten-Museum produzierte unter meiner Anleitung eineAufnahme der alemannischen Instrumente ohne elektronische Beigabe, unddiese zeigen einen vollkommen anderen Klang.16 Vor allem der starke, etwasrauhe, völlig ungehinderte Baß zeigt einen bedeutenden Unterschied zu mo-dernen Aufnahmeidealen. Die Instrumente der Alemannischen Schule klangenfür alle Beteiligten überraschend und keineswegs willkommen in ihrer schnar-renden Geräuschhaftigkeit. Für die Aufnahme im Handel wurde – nicht ganzin meinem Sinne, aber für mich gerade noch akzeptabel – ein leichter Hall un-terlegt, da man sich vor dem direkten und zupackenden Klang geradezu zufürchten schien.17 Mich erinnerte die Diskussion an die Kritik amerikanischerKinder, die nur Tomatenketchup kannten und auf echte Tomaten mit Ableh-nung reagierten.

Die Zeit von ca. 1580–1700 war eine Epoche der Saiteninstrumente, dieauf ein Zeitalter folgte, in dem die Blasinstrumente in höherem Ansehen ge-standen hatten. Es ist bestimmt kein Zufall, daß sich Geigen und Gamben erst

16 Klingendes Museum I, Die Alemannische Schule, Kompositionen von Georg Muffatund John Jenkins, Berlin 1997.

17 In einem Brief vom 14. September 1999 erhielt ich einen höchst interessanten Kom-mentar zum Klang der Instrumente von Rainer Weber: „Es ist ein neuer Klang, und wirsind sehr angetan, besonders von den langsameren Sätzen gegen Ende. Fasziniert habenmich aber auch die Intonationsschwierigkeiten am Anfang. Soweit ich das beurteilen kann,ist der Klang sehr, sehr reich an ungradzahligen Obertönen, Formanten. Das macht ganzeinfach das Hören schwierig. Genau das haben wir damals mit den Augsburger Dulcianenbei möglichst ‚echten‘ Rohren erfahren ... Auch in meinen Augen sind die Augsburger Auf-nahmen Kostbarkeiten, aber auch sie entsprechen eben nicht unserem heutigen Idealbildvon alter Musik.“

Die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule für die Praxis

zu dieser Zeit endgültig getrennt haben und daß man ein Gespür entwickeltefür die unterschiedlichen Klangfarben der Instrumente. Gute Indikatoren fürdas Klangempfinden sind heute noch alte Orgelregister. Die Orgel entwickeltesich ebenfalls im 16. Jahrhundert zur Königin der Instrumente, und es warenzuerst die Blasinstrumente, die man mit ihr zu imitieren versuchte, wie es jabei einem windbetriebenen Instrument auch logisch erscheint. Nach 1600 abergab es einzelne Orgelmacher, die sich an Registern versuchten, die Streichin-strumente nachahmen sollten. Die mittlerweile leider verbrannte Orgel desEsaias Compenius in der Stadtkirche von Bückeburg von 1615 besaß einAcht-Fuß-Register „Viol de gamba“, das aus einem eng mensurierten Gems-horn bestand (Abbildung 5).18

18 T. Schneider, Die Orgelbauerfamilie Compenius, in: Archiv für Musikforschung 2,1937, S. 8–76, S. 27 f.

Abb. 5: Abbildung des Orgelregisters „Gemshorn“, mit eigener Beschreibung von MichaelPraetorius (Syntagma musicum, 2. Bd., Wolfenbüttel 1619, Tafel 37 und S. 134)

Annette Otterstedt

Auch Praetorius, der mit Compenius persönlich bekannt war, scheint dieGemshörner mit einem Streicherklang in Verbindung gebracht zu haben, wieseine eigene Schilderung erweist. Leider ist das wertvolle Register zerstört,aber Thekla Schneider, die bei ihren Forschungen über die Familie Compeni-us das Instrument wohl noch gehört hat, schildert es als noch enger mensu-riert als ein gewöhnliches Gemshorn und im Klang als „streichend“.19 EinVier-Fuß-Register in der berühmten Compenius-Orgel in Frederiksborg in Dä-nemark macht den Schaden nur in ungenügender Weise wett, denn die hohenTöne lassen viel weniger erkennen als ein Register in der Mittellage. Es be-findet sich im Oberwerk und nennt sich „Gemshorn oder Klein Violn“.Ebenfalls in Frederiksborg ist ein „Geigend Regal“ erhalten, das in einzelnenLagen eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit einem Geigenensemblenach Art der Alemannischen Schule aufweist.

„Schnurrende Süße“ habe ich diesen geräuschhaften, etwas sandigen Klanggenannt, und schon ein simpler Vergleich mit beliebigen modernen Aufnah-men von sogenannten Barockinstrumenten beweist, wie weit wir uns von ihmentfernt haben, wie weit weg wir uns befinden von den Klängen, die die Mu-siker und Komponisten im Ohr hatten, die für sie komponierten. Die „schnur-rende Süße“ ist heute auch keineswegs willkommen, wie die Notwendigkeit,die Aufnahmen für Otto Normalverbraucher zu manipulieren, allzu deutlichzeigt. Daß sie nicht auf die frühen Instrumente des 17. Jahrhunderts be-schränkt bleibt, zeigt eine weitere Aufnahme des Museums mit einem entspre-chend jüngeren Instrument, einer Violine von Gennaro Gagliano, im Original-zustand und zu datieren um 1750.20 Das Instrument ist bereits eine frühklassi-sche Violine, und dementsprechend milder ist ihr „Geschnurr“. An dieser Auf-nahme kann man Verschiedenes erkennen. Der Spieler hält offensichtlich dieGeige mit dem Kinn fest und benutzt einen Bogen nach modernen Bauprinzi-pien. Das heftige Aufprallen auf die Saiten bei den Akkorden von Johann Se-bastian Bachs d-Moll-Chaconne ist anders gar nicht möglich und gibt derAufnahme etwas Grobschlächtiges, was nahezu verhindert, das Instrumentdahinter wahrzunehmen, dessen Liebreiz mit der modernen Spieltechnik fasterdrückt wird. Hier mildert der leicht unterlegte Hall die Gewaltsamkeit undlöst die dem Instrument immer noch innewohnende Geräuschhaftigkeit auf –also auch hier eine Verfälschung des Originalklanges.

Alte Instrumente, ihre Ausstattung und Spielweise sind über dem mächti-gen Bau der Alte Musik-Industrie fast verschüttet, vielleicht ein bißchen wie

19 Ebenda, S. 28.20 Klingendes Museum live I: Gagliano in Concert. Rainer Kussmaul, Violine; Christi-

ne Schornsheim, Cembalo, Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Berlin 1995.

Die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule für die Praxis

Abb. 6: Ausschnitt aus FrançoisBoucher: Diana im Bade,Louvre, Paris 1742. Hierzeigt ein Maler aus der ZeitLe Blancs, was er untereinem schönen Damenbeinversteht.

Abb. 7: Ein „wohlgeformtes Damenbein“ im Koordinatensystem betrachtet (Ausschnitt)

Annette Otterstedt

die Lehre Jesu unter dem Gebäude der alleinseligmachenden Kirche. Wer sichdagegen ausspricht, wird zwar nicht mehr verbrannt, aber hat keine Möglich-keit, daß seine Aufnahmen öffentlich akzeptiert werden. Dabei wäre es auchfür ungeübte Zuhörer einfach, Qualität zu erkennen, wenn sie ihre Aufmerk-samkeit auf ein paar Kleinigkeiten richten würden. Man sollte zum Beispieldarauf achten, wie die Töne geformt werden. Ein Ton ist keine starre Größe,und die alten Meister waren weit davon entfernt, auf ihren Instrumenten dengrößtmöglichen Lärm zu erzeugen. Besonders wichtig ist das Ende des Tones,worauf heute fast keiner mehr achtet, weder Musiker, noch Publikum. Dabeischrieb Abbé Hubert le Blanc im Jahr 1740: „… auf ein Anschwellen mußman zu gelegener Zeit ein Abschwellen folgen lassen, wie bei dem wohlgebil-deten Bein einer Dame …“21 Das bezieht sich nicht nur auf die musikalischeFigur, sondern auch auf den einzelnen Ton, der flexibel gestaltet werden muß(Abbildung 6).

Ein waagerecht gestellter Ausschnitt zeigt die akustische Kurve eines Lau-ten- oder Cembalotons (Abbildung 7). Man ist versucht zu spekulieren, obdiese Form eines Tones, den man heute mit optischen Meßmethoden sichtbarmachen kann, nicht ganz genau gehört worden ist. Heute dagegen hört manoft Töne, deren Struktur eher an die gerade Form eines Elefantenbeins erin-nert, einschließlich eines ruckartigen Absetzens am Ende. Ein Vergleich mitder Aufnahme der Matthäus-Passion unter Nikolaus Harnoncourt aus demJahr 197022 zeigt, daß die Kunst, Töne zu strukturieren, vor 25 Jahrendurchaus vorhanden war und im „Concentus musicus“ praktiziert wurde, abermittlerweile wieder verloren gegangen ist.

Die alemannischen Instrumente halten uns eine ganze Menge vor, was unswahrscheinlich unangenehm ist; denn es nötigt uns, Fragen, die wir längst be-antwortet glaubten, erneut zu stellen. Aber wenn wir uns die Mühe machen, inZukunft mehr auf sie zu hören, wird es uns vielleicht gelingen, den Schutt,der sich in Jahrzehnten angesammelt hat, wieder beiseite zu räumen undhandgreiflich jene Feststellung zu begreifen, mit der die Zigarettenindustrieausnahmsweise einmal recht hat: Für das Echte gibt es keinen Ersatz.

21 H. Le Blanc, Defense de la Base de Viole Contre les Entréprises du Violon Et lesPrétensions du Violoncel, Amsterdam 1740, S. 22: „… qu’on fait succéder à proposl’amaigrissement à un renforcement, ainsi que dans la jambe bien faite d’une Dame …“

22 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion, dirigiert von Nikolaus Harnoncourt,TELDEC 2292-42509-2 (LP 1970, CD 1994).