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Die diagnostische Verwertung des Blutbildes in der Grofitierpraxis 1 Gesund 7 8 - - 16 79 U5’ 7 Mastitis - - 38 25 2 7 25 9 Distornatose - 27 - - PO 27 32 6 H. NIEPAGE KVI 7:7,2 65:7 7: 7 Vergleicht man die Bedeutung, die heutzutage dem Blutbild fur die arzt- liche Untersuchung des Menschen zukommt, mit der, die das Blutbild der Haustiere bisher fur die tierarztliche Praxis hat, so mufl man sich wundern: Obwohl doch von vornherein anzuiiehmen ist, dai3 ahnlich wie beim Menschen auch beim Tier das Blutbild wichtige Auskiinfte iiber das Geschehen im Orga- nismus zu geben vermag, wird es in der Grofltierpraxis kaum angewendet. Kann man es sich leisten, auf ein Untersuchungsverfahren, das sich technisch ohne weiteres bewaltigen lai3t, zu verzichten, wo doch die Veterinarmedizin - verglichen mit der Humanmedizin - in ihren diagnostischen Moglichkeiten ohnehin beengter ist? Ein Blick auf die Literatur zeigt, dai3 die Veterinarmedizin keineswegs das Blutbild der Haustiere vernachlbsigt hat. Im Gegenteil, man hatte sogar sehr groi3e Hoffnungen darauf gesetzt. Alle miiglichen Krankheiten wurden auf ihr Blutbild hin untersucht, man w o 11 t e durch das Blutbild zu genauen, spezifischen Diagnosen kommen. Aber es zeigte sich, dafl die aufgewandte Miihe doch nicht recht im Verhaltnis stand zu dem Ergebnis, das man schliefl- lich in Handen hielt. Von Versagern steht in der Literatur zwar wenig, aber das Fehlen des Blutbildes in der tierarztlichen Praxis ist ein Zeugnis dafur. Zunahrne: - (MytJtSt):Sg=KVI Eosinophilie

Die diagnostische Verwertung des Blutbildes in der Großtierpraxis

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Die diagnostische Verwertung des Blutbildes in der Grofitierpraxis

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Gesund 7 8 - - 16 79 U5’ 7 Mastitis - - 38 25 2 7 25 9 Distornatose - 27 - - PO 27 32 6

H. NIEPAGE

K V I 7:7,2 65:7

7: 7

Vergleicht man die Bedeutung, die heutzutage dem Blutbild fur die arzt- liche Untersuchung des Menschen zukommt, mit der, die das Blutbild der Haustiere bisher fur die tierarztliche Praxis hat, so mufl man sich wundern: Obwohl doch von vornherein anzuiiehmen ist, dai3 ahnlich wie beim Menschen auch beim Tier das Blutbild wichtige Auskiinfte iiber das Geschehen im Orga- nismus zu geben vermag, wird es in der Grofltierpraxis kaum angewendet. Kann man es sich leisten, auf ein Untersuchungsverfahren, das sich technisch ohne weiteres bewaltigen lai3t, zu verzichten, wo doch die Veterinarmedizin - verglichen mit der Humanmedizin - in ihren diagnostischen Moglichkeiten ohnehin beengter ist?

Ein Blick auf die Literatur zeigt, dai3 die Veterinarmedizin keineswegs das Blutbild der Haustiere vernachlbsigt hat. Im Gegenteil, man hatte sogar sehr groi3e Hoffnungen darauf gesetzt. Alle miiglichen Krankheiten wurden auf ihr Blutbild hin untersucht, man w o 11 t e durch das Blutbild zu genauen, spezifischen Diagnosen kommen. Aber es zeigte sich, dafl die aufgewandte Miihe doch nicht recht im Verhaltnis stand zu dem Ergebnis, das man schliefl- lich in Handen hielt. Von Versagern steht in der Literatur zwar wenig, aber das Fehlen des Blutbildes in der tierarztlichen Praxis ist ein Zeugnis dafur.

Zunahrne: - (MytJ tSt ) :Sg=KVI Eosinophilie

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bungsindex, indem man das Verhaltnis der Nicht-Segmentierten zu den Segmentkernigen zahlenmaflig fixiert. Abnorme Vermehrung einer Zellklasse wird bezeichnet als Eosinophilie oder Neutrophilie oder Lymphocytose oder Monocytose. Bei Verminderung spricht man von Eosinopenie, Neutro- penie usw.

Durch Musterung von 100 d e r mehr Leukocyten wird nun festgestellt, wieviel Prozent von jeder Zellart vorhanden sind. Das ergibt das eigentliche Differentialblutbild. Es wird erganzt durch Notizen iiber etwaige morpho- logische Besonderheiten an den Zellen. Aus ihnen kann man u. U. auf Unreife, Reifungsstorungen u. a. schlieflen. Soviel zur Bearbeitung.

Liegt das Differentialblutbild in Zahlen vor, so kommt die heikle Frage: Was bedeuten die= Ergebnisse, was kann ich daraus schlieflen? Und damit geraten wir mitten in die Problematik der ganzen Unternehmung!

Zunachst ist festzustellen: Das Blutbild ist eine unspezifische Antwort auf bestimmte Vorgange im Organismus. Eine Mastitis, ein steckender Fremd- korper, ein 'Knochenbruch fuhren also qualitativ zu gleichen Reaktionen im Blut. Quantitativ konnen sie sich unterscheiden. Abgesehen von Krankheiten, die blutfremde Zellen ins Blut schwemmen, wird man also spezifische Dia- gnosen durch das Blutbild nicht erwarten durfen. Ein klinisches Aquivalent zur Reaktion der Blutzellen kann man etwa sehen in den ebenfalls unspezifi- schen Begriffen akut und chronisch. Wir kennen einen Blutbildtyp der akuten Reizung: Neutrophilie mit erhohtem KVI bei gleichzeitiger Eosinopenie. Wir kennen chronische Blutbilder, z. B. chronische Eosinophilien und Lympho- cytosen. Dazwischen steht die Monocytose, die nach SCHILLING der Krisis zugeordnet wird.

Das alles findet man im Blutbild der Tiere prinzipiell genauso, wie es vom Menschen her bekannt ist. Und damit liefle sich schon einiges machen. Aber man findet noch mehr, namlich eine geradezu unheimlich breite Streuung bei den Gesunden. Eine Normbreite, die kaum noch Raum fur die Abgrenzung des Pathologischen laflt. Warum ist die Norm so breit? 1st die Methode zu grob, zu fehlerhaft? Oder sind die ,,Gesunden' in Wirklichkeit gar nicht ge- sund? Oder ist sie real, diese enorme Norm?

Blicken wir zunachst auf die Methode. Sie enthalt zwei grundsatzlich verschiedene Fehlermoglichkeiten. Man kann sich irren bei der Einordnung der Zellen, dann kommt man zu falschen Verhaltniszahlen. Dieser Fehler Iaflt sich durch Obung weitgehend einschranken. Schwerwiegender ist der andere: Es ist do& ein Wagnis, aus der Differenzierung von nur 100 Leukocyten auf die wahren Zahlenverhaltnisse im Gesamtblut schliefien zu wollen! Eine 100 %ig sichere Aussage liege sich nur machen nach Untersuchung des Gesamt- blutes. Wenn ich mich nur an einer Blutprobe orientiere, hat meine Aussage eine geringere Sicherheit als 100 "/.. Aus praktischen Griinden ist es ratsam, sich fur unsere Zwecke im allgemeinen mit einer Sicherheit von nur 95 "/o zu be- gnugen, d. h.: Ich bekenne, daf3 mein Ergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 % falsch ist; ich kalkuliere ein, dai3 es in durchschnittlich jedem 20. Fall nicht stimmt. Legt man sich hierauf fest und benutzt auflerdem stets gleim grofle Stichproben, differenziert also z. B. immer 200 Leukocyten, so hilft einem die Statistik weiter.

Es laflt sich mit Formeln, die zwar kompliziert aussehen, aber einfach zu handhaben sind, berechnen, um wieviel g r o h r oder kleiner eine gefundene Prozentzahl in Wahrheit hochstens sein kann (Abb. 2). Fand ich z. B. - bei Differenzierung von 200 Leukocyten - 35 % Neutrophile, SO konnen im Ge- samtblut in Wirklichkeit hochstens 42 % vorhanden sein, es sind aber wenig-

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stens 28,5 ‘/. vorhanden. Allerdings wird diese Behauptung mit einer Wahr- scheinlichkeit von 5 % falsch sein.

Der Schreck, den man bekommt angesichts eines so grogen Mutungs- bereiches, wie diese Spanne genannt wird, ist heilsam: Es wird deutlich, wie

n=ZOO;p=L?05 n=700;p=405 n=700;p=0,07 --------

vorsichtig man bei der Bewekung seiner Zahlenwerte sein mufl. Man braucht aber deshalb die Flinte nicht ins Korn zu werfen. Der Mutungsbereich lafit sich willkur- lich einengen durch eine groflere Stichprobe. Will ich also genauer wissen, wieviel Prozent denn nun in Wirklichkeit vorliegen, so mu8 ich m c h r Leukocyten differen- zieren. Soviel zum methodischen Fehler und der Moglichkeit, ihn zu begrenzen.

Weiter hatten wir gefragt, ob die Breite der sog. Norm viel- leicht auch daher ruhrt, daQ die angeblich gesunden Tiere, die die Werte dazu lieferten. gar nicht ganz gesund waren? ’ Zweifellos waren sie es nidit! Wer die

Schwierigkeit kennt, Gesundheit klinisch einwandfrei festzustellen, wer als gesund geschlachtete Kuhe auf dem Schlachthof gesehen hat, wei8 davon. Unterstellt man, da8 das Blutbild auch auf Reize reagiert, die klinisch unter- schwellig ablaufen, so kann man erwarten, dafl ein Teil der sog. Normbreite den Blutreaktionen solcher Reize zuzuschreiben ist.

Abb. 2

Dafur ein Beispiel: In fruheren Untersuchungen an Praxismaterial hatten wir gefunden, dafl

Kuhe mit klinisch feststellbaren Entzundungen in der Regel mehr als 50 % Neutrophile hatten, gesunde Kuhe dagegen oft bis 50 F , selten dariiber. Wir setzten daher empirisch die obere Normgrenze bei 50 % fest. Spatere Ver- gleiche mit der Literatur zeigten jedoh, dai3 die obere Normgrenze etwa bei 40 ”/. angegeben war. Wie erklart sich diese Diskrepanz? Fast alle erwachsenen Rinder in unserem Bezirk hatten Leberegel. Leberegel machen in der Regel Eosinophilie. Der Vergleich von Eosinophilen und Neutrophilen, durchgefiihrt an den absoluten Werten pro cmm Blut ergab eine gleichsinnige Korrelation zwischen beiden. Mit anderen Worten: Es gibt eine mittelgradige Neutrophilie bei Distomatose. Khnliche Korrelationen ergaben sich auch fur Lymphocytose und Neutrophilie und zwischen Lymphocytose und Kernverschiebungsindex. Man sieht, es gibt eine Reihe chronischer, z. T. nur mittelgradiger Verande- rungen im Blutbild, deren Ursache wir klinisch oft schwer aufdecken konnen.

Aber auch dafiir, dai3 w i r k 1 i c h die Variationsbreite der Norm so be- sonders grofi ist, gibt es ein Beispiel. Das sind die iungen Tiere. Die Ent- wicklung des hamatopoetischen Systems ist mit der Geburt nicht albge- schlossen. Sie wird, wie das Wachstum iiberhaupt, schubweise fortgefuhrt, h i m Rinde etwa bis zum 3. Lebensjahr. Dadurch entstehen bei Jungtieren unregelmaflige Verhaltnisse, die eine Beurteilung des Blutbildes sehr er- schweren. Beim erwachsenen Tier aber ist die Normbreite sidier geringer als bisher angenommen.

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Beriicksichtigt man alle im Laufe der Zeit gewonnenen Kenntnisse uber das Blutbild - auf Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen -, niitzt man die Moglichkeit aus, durch Vergroi3erung der Stichprobe den Mutungsbereich einzuengen und so auch weniger auffallige Veranderungen zu erfassen, so Iaf3t sich rnit dem Blutbild mehr anfangen, als mancher glaubt. Es leistet Dienste bei der Feststellung der Gesundheit, hilft verborgene Krankheitsherde auf- decken, erleichtert prognostische Aussagen. Dabei ist noch eins zu bedenken. 4kute Krankheitszustande bedingen deutliche Veranderungen auch im Blut- bild. Sie sind seit langem bekannt, dem Praktiker aber nicht allzu wertvoll, weil er akute Krankheiten gewohnlich auch ohne Blutbild feststellen kann. Demgegeniiber sind die oft weniger auffalligen Veranderungen, die bei chroni- schen Krankheiten im Blute wahrnehmbar werden, diagnostisch u. U. von groi3em Wert. Jeder Praktiker kennt Fille, in denen klinisch wenig zu erheben ist: Langsame Abmagerung, Inappetenz vielleicht. Bei diesen lohnt es sich, ein Blutbild zu machen. Hier lohnt sich vor allem weitere Forshung.

Aber die Forschung stoi3t auf Schwierigkeiten. Tiere mit unbestimmten, gewohnlich zunachst nicht lebensbedrohlich wirkenden Erscheinungen kommen nicht so oft in die Kliniken. Der Praktiker aber sitzt am Material. E r kann solche, zu Unrecht ,,undankbar" genannten Falle langere Zeit beobachten und untersuchen, kann sie schliefllich auf dem Schlachthof sehen. Fiir den Tierarzt mit Lust an der Wissenschaft sehe ich hier ein Feld interessanter und wertvoller Betatigung. Natiirlich ist die Hamatologie in der Praxis zunfchst eine brotlose Kunst. Aber eine schone; denn ganz abgesehen von den Entdedrungen, die da noch zu machen sind, bringt schon das Bemiihen, mit neuem Blickwinkel an die tierarztlichen Tagesfragen heranzugehen, eine Fiille von Anregungen, zwingt zu immer genauerer klinischer Untersuchung, verfeinerter Anamnese, ausgedehnterer Beobachtung. Das bringt neue Freude in den Beruf und fiihrt schliei3lich zu dem Erfolg, daf3 sich die Praxis rnit Hamatologie der Praxis ohne Hamatologie als uberlegen erweist.

Anschrift des Vortragenden: Dr. H. Niepage, Berlin-Dahlem, Bitterstr. 8-12

Diskussionsbemerkungen

GRATZL, Wien: Als Gegenbeispiel zur Behauptung des Vortragenden, dafl das Blutbild f i r die Diagnostik akuter Krankheiten niht interessant sei, rnochte ich nur die Panleukopenie der Katzen nennen, die man am lebenden Tier mit einiger Sicherheit nur durch die morpho- logishe Blutuntersumung f eststellen kann.