15
Die Fiirderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. Von Dr. H. Taterka. (Aus der ~Tervenabteilung des Friedrich-Wilhelms-Hospitals der Stadt Berlin. - - Dirig. Arzt: Prof. Dr. Schuster.) Mit 5 Textabbildungen. (Eingegangen am 22. April 1924.) Die kfinstliche Luftffillung der Hohlr~ume des Zentralnervensystems ist seit ihrer Einfiihrung durch Bingel 3) bereits in zahlreichen Fi~llen zur Anwendung gekommen. W~hrend man aber anfangs dem neuen Verfahren gegenfiber eine gewisse Zurfickhaltung beobachten konnte, gewinnt man jetzt aus den vorliegenden Beriehten den Eindruck, dab naeh einigea teehnischen Verbesserungen und mit gr61~erer Erfahrung allgemein die Anwendung der Encephalographie weir unbedenklicher erscheint als zuvor. Dennoch sind die erzielten Ergebnisse, wenn aueh fiberwiegend gfinstig, nicht einheitlich, wie fiberhaupt die Ansichten fiber das Indikationsgebiet der Encephalographie und die Gefahren der Methode auch jetzt noch nicht unerheblieh auseinandergehen. Das ist erkl~rlieh, wenn man bedenkt, wie lang der Weg yon der Punktion bis zur Beendigung der Luftffillung mit allen seinen Einzelheiten und Zu- fi~lligkeiten ist. Auch spielt die Auswahl der Fi~lle, die Technik und vor allem die haufig nicht leichte Deutung der RSntgenogramme naturgem~l~ eine grol~e Rolle. Paul Schuster 21) ist der Ansicht, dab die Eneephalographie nur dann in Frage kommt, wenn eine bedeutungsvolle und erhebliche F6rderung der Diagnose resp. der Indikation ffir die Therapie yon ihr zu erwarten ist. Dieser Forderung in jedem einzelnen Falle folgend, haben wir weder Todesf~lle noch Dauersch~digungen zu verzeiehnen, die irgendwie dem Eingriff selbst zur Last gelegt werden kSnnen. Etwa die gleiche Auffassung vertritt Julius Schuster 22) mit dem besonderen Hinweis, dab nur bei Kranken in gutem Kr~ftezustande, denen man eine gewisse Belastungsfi~higkeit zutrauen kann, die Encephalographie vorgenommen werden darf. J. Schuster verlangt diese weitere Einschr~nkung, weil ein Patient mit allgemeiner Carcinose dem Eingriff erlag. Selbst- verst~ndlich sind derartige Kranke yon vornherein ffir die Vornahme

Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Die Fiirderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. Von

Dr. H. Taterka.

(Aus der ~Tervenabteilung des Friedrich-Wilhelms-Hospitals der Stadt Berlin. - - Dirig. Arzt: Prof. Dr. Schuster.)

Mit 5 Textabbildungen.

(Eingegangen am 22. April 1924.)

Die kfinstliche Luftffillung der Hohlr~ume des Zentralnervensystems ist seit ihrer Einfiihrung durch Bingel 3) bereits in zahlreichen Fi~llen zur Anwendung gekommen. W~hrend man aber anfangs dem neuen Verfahren gegenfiber eine gewisse Zurfickhaltung beobachten konnte, gewinnt man jetzt aus den vorliegenden Beriehten den Eindruck, dab naeh einigea teehnischen Verbesserungen und mit gr61~erer Erfahrung allgemein die Anwendung der Encephalographie weir unbedenklicher erscheint als zuvor. Dennoch sind die erzielten Ergebnisse, wenn aueh fiberwiegend gfinstig, nicht einheitlich, wie fiberhaupt die Ansichten fiber das Indikationsgebiet der Encephalographie und die Gefahren der Methode auch jetzt noch nicht unerheblieh auseinandergehen. Das ist erkl~rlieh, wenn man bedenkt, wie lang der Weg yon der Punktion bis zur Beendigung der Luftffillung mit allen seinen Einzelheiten und Zu- fi~lligkeiten ist. Auch spielt die Auswahl der Fi~lle, die Technik und vor allem die haufig nicht leichte Deutung der RSntgenogramme naturgem~l~ eine grol~e Rolle.

Paul Schuster 21) ist der Ansicht, dab die Eneephalographie nur dann in Frage kommt, wenn eine bedeutungsvolle und erhebliche F6rderung der Diagnose resp. der Indikation ffir die Therapie yon ihr zu erwarten ist. Dieser Forderung in jedem einzelnen Falle folgend, haben wir weder Todesf~lle noch Dauersch~digungen zu verzeiehnen, die irgendwie dem Eingriff selbst zur Last gelegt werden kSnnen. Etwa die gleiche Auffassung vertr i t t Julius Schuster 22) mit dem besonderen Hinweis, dab nur bei Kranken in gutem Kr~ftezustande, denen man eine gewisse Belastungsfi~higkeit zutrauen kann, die Encephalographie vorgenommen werden darf. J. Schuster verlangt diese weitere Einschr~nkung, weil ein Patient mit allgemeiner Carcinose dem Eingriff erlag. Selbst- verst~ndlich sind derartige Kranke yon vornherein ffir die Vornahme

Page 2: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

It. Taterka: Die F(irdemng der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. 419

der Lufteinblasung ungeeignet. Man wiirde ja wahrscheinlich bei kachektisehen Patienten u. U. schon yon einer gewShnlichen Lumbal- punktion absehen. Es kommt hinzu, dag in dem erwihnten Falle vor dem Eingriff 1,0 Veronal, 0,02 Morphium und 0,001 Atropin gegeben wurde. J. Schuster selbst zieht schon in Erwigung, ob nicht allein diese reichliehe Dosis narkotiseher Mittel einen ungiinstigen Einflul~ ausgeiibt hat. Auch nach unseren Erfahrungen empfiehlt es sieh nieht, Narcotica in grSBerer Dosis zu geben. Die Lufteinblasung ist weder so schmerz- haft noch infolge der Nebenwirkungen so listig, dag man unbedingt in jedem 1%11e zu solchen Mitteln greifen mu$. Wit sind fast immer ohne Narcotiea oder mit ganz geringen Dosen ausgekommen; bei indi- vidualisierendem Vorgehen wird man yon dieser Seite her Zwischenfille sicher vermeiden kSnnen. Denk 9) hi l t die Eneephalographie nieht ftir ungefihrlieh und warnt auf Grund seiner Erfahrungen bei Hirntumoren davor, sie wahllos und ohne strikte Indikationsstellung anzuwenden. Erst wenn die tibliehen klinisehen Methoden zu keiner exakten Diagnose geftihrt hi t ten, solle man die Lufteinblasung vornehmen, well dann die relativ geringe Gefihrliehkeit des Eingriffs gegeniiber der absolut schleehten Prognose nicht lokalisierter Hirntumoren keine Rolle spine. Auf die Gefahren der Eneephalographie -- besonders bei Tumoren der hinteren Schidelgrube -- maehen weiterhin Marburg i6) sowie Martin und Uhler is) aufmerksam. Ein Todesfall, den Bingel 4) selbst nach 300 Eneephalographien ohne wesentliehe Zwischenfille zu verzeichnen hatte, betraf einen Patienten mit einem Tumor im Hinterhauptslappen, der an einer Blutung in den Tumor zugrunde ging. Nach der Ansicht von Bingel ist in diesem Falle die Teehnik fehlerhaft gewesen, da tier Druck herabgesetzt und C02 verwendet wurde, die zu schnell resorbiert wurde. Die yon Bingels) angegebenen technischen Verbesserungen, welehe Drueksehwankungen fast unmSglich machen, diirften die Ge- fahren bei Tumoren der hinteren Sehidelgrube wesentlieh herabsetzen. Bei solehen Fil len ist aber sieherlich die Ventrikulographie naeh Dandy s) gefahrloser und daher dem Bingelschen Verfahren vorzuziehen. Das Indikationsgebiet der Dandyschen Ventrikulographie ist sicher noch enger zu begrenzen als das der Encephalographie. Aueh far diese Methode gelten selbstverstindlich die oben erwihnten Einschrinkungen. Dariiber hinaus ist zu bedenken, dag das Verfahren nach Dandy ent schieden eingreifender und sehwieriger ist. Weigeldt 2s) nennt als Nach- teile der Dandyschen Methode: Blutung, Verletzung wichtiger ttirn- teile, ersehwerte Ventrikelfiillung bei engen oder verlagerten Seiten- ventrikeln, Aufwand eines grSSeren Instrumentariums und Lokal- anisthesie. Den gleiehen Standpunkt vertr i t t Gabriel'1). Das Bingelsche Verfahren hat augerdem den in diagnostischer Beziehung iiberaus wieh- tigen Vorteil, erheblieh mehr zur Darstellung zu bringen, n imheh auger

Page 3: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

420 H. Taterka:

den Ventrikeln die extracerebralen Liquorraume, d. h. also die Sub- arachnoidalspalten der Konvexitat beider Grofthirnhemisph~ren und die Zisternen der Araehnoidea an der Hirnbasis. Man wird also aus den genannten Grfinden im allgemeinen die Bingelsche Methode vorziehen miissen und die direkte Ventrikelffillung naeh Dandy nur darm vorneh- men, wenn es sich um Tumoren der hinteren Sch~delgrube handelt oder wenn die Verbindungen zwisehen Ventrikeln und Subaraehnoidalraumen verlegt sind. Als Pr~dilektionsstellen solcher Verschlieftung bezeichnet Schi~ller ~~ den Aquaeductus Sylvii und die Foramina Magendii und Luschkae. In diesen Fallen, wo eine Verlegung den Lufteintri t t in die Ventrikel verhindert, ist es zweckm~ftig, der Eneephalographie die Ventrikulographie folgen zu lassen, wenn nicht allein der Umstand. daft keine Luft in die Ventrikel gelangen konnte, schon ein genfigender diagnostischer Hinweis ist. Ein solcher Fall wird weiter unten Erwah- nung finden.

Aus allen bisher zitierten Arbeiten geht hervor, daft der Encephalo- graphie in zahlreichen Fallen eine wesentliehe FSrderung der Diagnostik zu verdanken ist. l~ber gfinstige Erfahrungen beriehtet weiterhin 2Vonne19), der die Lufteinblasung fiir v611ig gefahrlos halt und sogar in Erwagung zieht, zur Vermeidung der Punktionsbeschwerden nach ge- wShnlicher Lumbalpunktion Luft zum Ersatz des entnommenen Liquors einzubringen. Marcus 17) konnte in einem Falle einen Hirntumor diagnostizieren, der vor der Encephalographie nicht festgestellt werden konnte. Tr6mner 25) halt das Verfahren bei grofter Vorsieht ffir unge- f~hrlich und verspricht sich yon ihm nach weiterem Ausbau wesentlieh mehr diagnostische Aufkl~rung als yon der einfachen RSntgenaufnahme des Seh~dels. Denk 10) erzielte bei vielen F~llen yon Hirntumor sichere und eindeutige Resultate und konnte durch die Unterseheidung von kommunizierendem und obstruktivem Hydrocephalus wiederholt gegen oder ffir einen Tumor entscheiden. Diagnostische Fortschritte erzielten ferner Weigeldt*) sowie Dahlstr6m und WideroeT); fiber encephalo- graphische Erfahrungen bei Sauglingen beriehtet Mader15). Schiller**) empfiehlt vor jeder Hirnoperation die weir ungefahrlichere Encephalo- graphie.

l~ber unerwiinsehte Nebenwirkungen berichten fast alle Autoren. Es handelt sieh vorwiegend um Kopfschmerzen, Schwindel, ~belkeit und Erbreehen, h~ufig um Schweiftausbrueh, ganz selten um Kollaps. Daft die genannten Beschwerden in der Mehrzahl der F~lle nicht fiber die naeh Lumbalpunktion und Lumbalan~tsthesie beobachteten hinaus- gehen, wird mehrfach erw~hnt. Unangenehmere Nebenerscheinungen geh6ren zu den Seltenheiten. So erw~hnt Wrede 29) viele Tage lang

*) 1. c. **) I.c.

Page 4: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Die F(irderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. 421

anhaltende Kopfschmerzen, meningitische Reizerscheinungen, Puls- beschleunigung und -verlangsamung. Die Angabe Wredes, dab nach Einbringung von 30--50 ecm Luft fast alle Patienten schwitzen, k5nnen wir eben~alls best~tigen; es handelt sich hierbei m5glicherweise um eine direkte Reizung der Schweii~zentren. Auch subfebrile Temperaturen, naeh Bingel cerebral bedingt, werden in der Mehrzahl der F~lle beob- achtet. Mader*) erw~hnt als Folge starker Luftffillung bei Si~uglingen vorfibergehend gesteigerte Reflexe, Spasmen und leichte Protrusio bulborum. Sehr h~ufig finden sieh nach der Lufteinblasung Liquor- verhnderungen. Herrmann 12) besehreibt enorme Zellvermehrung, die sich gewShnlieh im Laufe yon 14 Tagen wieder zuriiekbildet, Thurz6 und Nagy 26) geben neben den gleichen Beobachtungen an, dal~ die Kolloidreaktionen naeh der Einblasung mehr oder weniger ausgesprochene Meningitiskurven zeigen.

Bei unseren eigenen Fi~llen hielten sich die Nebenwirkungen durchaus in ertr~glichen Grenzen, bei mehreren Patienten waren sie im Vergleich zu den Beriehten aus der Literatur sogar auffallend gering. Als be- merkenswert verzeichne ieh einen Fall, wo bei einer Kranken, die an rindenepfleptisehen Anfi~llen ]itt, ein solcher Anfall bei der Lufteinblasung auftrat und sich kurz danach wiederholte. In diesem Zusammenhange ist eine Beobaehtung Kleins 14) zu erw~hnen, der bei Epilepsie naeh der Insuflation eine H~ufung der Anffi.lle sah. Die auffi~llige Mitteilung Bingels~), dal~ die Lufteinblasung yon Leuten mit gesehi~digten und anseheinend unempfindlich gewordenen Gehirnen besonders gut ver- tragen werde, fanden wir in mehreren Fi~llen best~tigt; 2 Kranke mit Hirntumoren -- in dem einen Falle aueh autoptisch nachgewiesen fiberstanden den Eingriff ohne Beschwerden oder St5rungen und nahmen kurze Zeit darauf ihre Mahlzeit ein, als ob niehts geschehen wi~re.

Gelegentlich wurden nach der Lufteinbringung giinstige Nachwir- kungen beobaehtet (Bingel, Nonne, Klein). Es handelte sieh um mehrere F~lle yon Meningitis, um migr~neartige Zust~nde und um einige unklare Krankheitsbilder (Encephalitis ?). Mangels geeigneten Materials fehlen uns hierfiber eigene Erfahrungen. Die Beseitigung der permanenten Muskelspannung durch intralumbale Lufteinblasung bei Parkinsonseher Krankheit [Benedek und ThurzS~)] gelang uns bei zweimaliger Naeh- prfifung entsprechender Fi~lle nicht.

Intelligente Kranke geben das Emporsteigen der Luftblasen ganz genau an; sic beschreiben es als ein eigentfimliches Brausen. Ein Patient, bei dem wir einen r~umbeengenden Prozel~ in der linken Hemisphere vermuteten, ffihlte die Luft nur in die reehte Schi~delhi~lfte eindringen. Die im RSntgenogramm erkennbaren Veri~nderungen zeigten dann auch eine Ubereinstimmung mit den Angaben des Kranken. - - * ) 1. c.

Page 5: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

4 2 2 H. Taterka :

Die vorstehenden allgemeinen Ausfiihrungen geben unter mSglichst weitgehender Berficksichtigung bisheriger Ergebnisse und Erfahrungen einen kurzen Oberblick fiber die Encephalogr~phie, soweit es sich um Indi- kationsstellung, Gefahren, unerwfinschte Nebenwirkungen und gfinstige Begleiterscheinungen der Methode handelt. Des weiteren soll an einigen besonders pragnanten Fallen gezeigt werden, welche Dienste uns die Luft- einblasung bei der Diagnostilc cerebraler Erkrankungen zu leisten vermag.

Abb. 1. Fronto-occipitale Aufnahme: Ventrikel nur leicht erweitert, symmetrisch, normal konfiguriert*).

Fall 1. Luise Sch. Die 60j~thrige Pat. klagt, dab sie in den letzten 3 Jahren h~ufig an Schwindel gehtten habe, mehrfach hingefallen sei und dal3 sich ihr Seh- verm6gen, besonders in der letzten Zeit, sehr verschlechtert habe. Die Kranke weifl nichts von einem Schlaganfall, ist hie bewuBtlos gewesen.

Be/und: Tr~ge Lich~reaktion der runden und gleichweiten Pupillen; Augen- bewegungen frei, kein Nystagmus.

Homonyme linksseitige Hemianopsie. Rechter Opticus in toto etwas blasser als der linke. Cornealreflexe vorhanden.

*) Die R0ntgenaufnahmen wurden im Krankenhaus am •riedrichshain (Dr. Cohn) angefertigt, woftir ich auch an dleser Stelle meinen besten Dank ausspreche.

Page 6: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Die F(irderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. 423

(%rige Hirnnerven intakt. Leiehte Spasmen in allen Extremit~ten, links mehr als rechts, keine grobe Parese. Beiderseits spastische Reflexe. Keine Ataxie. Links leiehte StSrung des Lagegefiihls und der Stereognosis. Gang sehr unsicher, beiderseits spastisch-paretisch, besonders links. Keine Klopfempfindlichkeit des Kopfes. Herz naeh links, leicht auch naeh rechts verbreitert; systolisehes Ger~useh

fiber der Spitze. Rigide Arterienrohre. Blutdruck 190/145 nach Riva-Rocci. Unterer Leberrand eben palpabel. Der Urin enth~lt EiweiB, hyaline, granulierte und Wachszylinder. Konzentrationsf~higkeit vermindert. WaR. in Blur und Liquor negativ; Liquor klar, steht unter sehr erhShtem

Druck, geringe Eiweil~-, keine Zellvermehrung. Die Pat. ist nicht v611ig orientiert, kann sich im Raume schleeht zurecht-

linden, ihr Affektleben ist schwer gest6rt. R6ntgenaufnahme des Sch~dels (seitlich und fronto-oecipital) ohne Befund.

Im weiteren Verlauf hi~ufig Kopfschmerzen, Erbrechen und Schwindel. Pat. ist stumpf, vSllig desorientiert.

Di//erentialdiagnose: Tumor im rechten Parieto-Occipitalgeblet oder lo]calisierter pseudourdmischer Prozefi.

Encephalographie: 120ecm Luft intralumbal bei entspreehender Liquor- ablassung.

Fronto-oceipitale Aufnahme (Abb. 1): Seitenventrikel nur leicht erweitert, normal konfiguriert, yon normaler Lage gegeneinander.

Seitenaufnahme*): Ventrikel nur leicht erweitert, Hinterhorn ganz wenig mit LuSt gefiillt. Kein Anhaltspunkt fiir Tumor.

Naeh 4 monatiger Beobachtung, die keine wesentliche Anderung brachte, Exitus. Autopsie: Erweichungsherde am gul~eren PuC~menrande links und in der

rechten Ponsh~lfte, die Pyramidenbahn zerstSrend. Ein dritter groBer Herd in der recbten Fossa ealcarina. (Es war nur diese Teflsektion gestattet worden.)

Fall 2. K~te B., 46 Jahre alt. Vater der Pat. war nierenkrank, in der Familie zahlreiche Neurastheniker und Psychopathen. Die Pat. war bis vor 2 Jahren gesund und berufst~tig, kann sich selbst fiber Dauer und Art ihrer Krankheit nieht ~ul~ern, hat angeblieh keine Sehmerzen. Angeh6rige geben an, dab die Krank- heir seit etwa 2 Jahren bestehe. In dieser Zeit sei jedoch einmal eine derartige Besserung eingetreten, dab die Pat. vortibergehend wieder fiir kurze Zeit ihrem Berufe als Verk~uferin nachgehen konnte. Als Zeiehen der Krankheit habe man eine Verminderung der Urinmenge, Schlaflosigkeit, D6sigkeit und gemiitliche Stumpfheit beobachtet. Die Pat. sei sehon in vielen Krankenhi~usern behandelt worden, die ~rzte h~tten meist eine progressive Paralyse angenommen. Zuletzt dachte man an eine Dementia praecox, hielt jedoch auch eine uri~mische Erkran- kung nieht fiir ausgesehlossen, weil man Eiweil~ im Urin land.

Be/und (26. VIII. 1923): Rechte Pupille liehttr~ge. Alternierender Strabis- mus. Beiderseits Neuritis optica. Hornhautreflexe Iehlen.

Schw~ehe des rechten Mundfacialis; Zunge diinn, atrophisch, weicht etwas nach rechts ab.

Steifigkeitea in beiden Armen und Beinen, keine grobe Parese. Sehnenreflexe an Armen und Beinen sehr gesteigert. Rechts Hand- und FuBklonus. Keine patho- logisehen Reflexe. Bei grober Priifung keine Sensibfliti~tsstSrungen. Gang nicht

*) Es k6nnen leider nur die zum Verstandnis unbedingt erforderlichen Bilder reproduziert werden.

Page 7: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

424 H. Taterka :

paretisch, aber sehr unsicher und asynergisch; dabei Fallneigung nach rechts und hinten.

Blasen- und Mastdarminkontinenz. Innere Organe aul~er einer leichten Verbreiterung des tterzens ohne nachweis-

baren Befund. Der Urin enth~It EiweiB, granulierte, hyaline und Wachszylinder; Urinmenge

und Konzentrationsf~higkeit vermindert. Die Stimmung der Pat. ist leicht depressiv. Die Stirn ist st~ndig in Falten ge-

legt. Spontane KSrperbewegungen werden selten und langsam ausgeffihrt_ Es besteht eine auffallige EntschluBlosigkeit. Die Pat. ist 5rtlich und zei~lich nieht orientiert; auch fiber die eigene Person besteht nur ungenfigende Orientierung.

Abb. 2. Seitliche Aufnahme: Keine LuftfiiUung der Ventrikel, etwas Luft in der hinteren Sch~idelgrube, keine Luft zwischen den Hirnwindungen.

Der Gedankenablauf ist sichtlich verlangsamt. Ausgesprochene Zerfahrenheit bis zur Inkoh/~renz. Kein Silbenstolpern.

30. VIII. 1923. Heute Andeutung einer leichten rechtsseitigen Hemiparese. Pat. schl~ft sehr viel oder dSst vor sich hin. Fragt man irgend etwas, so ant- wortet sie zSgernd mit weinerlicher Stimme, meist gar nicht mit Bezug auf die Frage.

3. IX. Wiederholte Urinuntersuchungen ergeben stets reichlich Eiweil]. 15. IX. Eiweil~ nach Esbach 31/2~ Somatischer Befund unveri~ndert.

Psychisch: Leichte blSde Euphorie, auBerordentliehe Ged/~chtnisschw/iche. Pat. weiB am Ende eines Satzes nicht mehr, was sie zu Beginn gesagt hat. Sie mul3 sehr nach Worten suchen, kann sich kaum verstimdlich maehen.

17. IX. Der zugezogene Urologe (San.-l~at Lewin) bezweifelt die Abh~ngig- keit der cerebralen StSrung yon der Ur~mie und glaubt, dab beide Prozesse neben- einander hergehen.

3. X. lqeuritis optica ausgesprochener, reehts leichte Prominenz. 4. X. Die Lumbalpunktion ergibt aul~er erhShtem Druck normale Verh~lt-

nisse; WaR. negativ.

Page 8: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Die FSrderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. 425

18. X. Beiderseits Obergang der Neuritis optiea in Atrophie. Pat. kann ge- wfinschte Ausdrucks-und Zweckm/igigkeitsbewegungen nicht ausffihren, auch nicht nach Vormachen. Es l~gt sich nicht entscheiden, ob Apraxie vorliegt oder ob die Merkf~higkeitsstTrung an dem Versagen schuld ist. In gleicher Weise Ver- sagen bei der Stereognosisprtifung.

27. X. Im Urin EiweiB. 5~ nach Esbach. 6. XI. Pupillenreaktion rechts besser. Acusticus beiderseits ohne nachweis-

bare StSrungen. In beiden Hi~nden Andeutung yon Fixationscontractur. Heute ausgesprochener als sonst katatone Zfige.

DiJ]erentialdiagnose: Hirntumor (nicht geuau lokalisierbar) oder pseudouri~mische Hirnerkranl~ung.

Abb. 8. ~dberfaustgroger Tumor in der linken IIemisph~ire. Linker Seitenventrikel zusammengeprel~t am Boden des Tumors. Rechter Seitenventrikel erweitert.

16. XI. Encephalographie: Es kTnnen nur 60 ccm Luft eingebracht werden, dann strSmt die Luft wieder aus der Kanfile zurfick, mit einigen blutig gefitrbten Liquortropfen vermischt.

Seitliche Aufnahme (Abb. 2): Keine Luftffillung der Ventrikel, etwas Luft in der hinteren Sch/~delgrube. Keine Luft zwischen den Hirnwindungen.

Fronto-occipitale Aufnahme: Keine Luftffillung der Ventrikel. 20. XI. Die Lufteinblasung ist yon der Pat. ohne Beschwerden gut vertragen

worden. 22. XI. Bronchopneumonie fiber dem linken Unterlappen. Beginnender De-

cubitus fiber dem Kreuzbein. 1. X l I . Heute gelingt, da das Sensorium freier ist, eine Priifung auf Apraxie;

es finder sieh beiderseits eine siehere Apraxie. Unter Berfieksiehtigung des eneephalographisehen Ergebnisses wird jetzt

ein Tumor in der linken Parietalregion angenommen. 7. XII . Deeubitus grTl~er, gangr/~n6s; septisehe Temperaturen. Befund im

wesentliehen unveri~ndert. Die reehtsseitige Parese ist sehr gering; Pat. kann mit

Page 9: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

426 H. Taterka :

Untersttitzung einige Schritte gehen, ohne das rechte Bein erheblich naehzuziehen oder zu sehonen.

14. XII. Exitus. Autopsie: Beiderseits Schrumpfniere, reehts mehr als links. Gehirn: Auf der H6he des linken Parietallappens ist die Dura mit Knochen

und Gehirn verwachsen; der Knoehen ist leicht arrodiert; man sieht an dieser Stelle des Parietallappens einen Tumor durchschimmern. Ein hier gelegter Frontal- schnitt zeigt, dal~ der Tumor den gr6Bten Tell der linken Hemisph/~re einnimmt (Abb. 3). Er hat die rechte Hemisphiire zusammengedriickt und nach rechts verdr/~ngt. Der rechte Ventrikel ist erweitert. Der Tumor ist iiberfaustgroB und expansiv gewachsen; er 1/~llt sich mit geringer Miihe heraussch/~len. Der linke Seitenventrikel ist zusammengeprel3t am Boden des Tumors sichtbar. Hirn- windungen enorm abgepl~ttet. Das Foramen Magendii ist v61lig zusammengeprei~t, nicht fiir die feinste Sonde durchgangig. Der Tumor - - ein Endotheliom - - reieht frontalw/~rts bis ins Stirnhirn, oecipitalw~rts bis zum ]3eginn des Hinterhaupt- lappens.

Epikrise. Beide FKlle zeigen eine gewisse ~(hnlichkeit des klinischen Bildes. Sie haben gemeLasam Zeichen einer Schrumpfniere neben Symptomen einer organischen Hirnli~sion und psychischen Anomalien, die den Verdacht eines Hirntumors rechtfertigten. Mit den iiblichen klinischen Methoden war eine siehere Entscheidung zwischen Hirntumor and lokalisiertem pseudour~mischem Prozef~ nicht zu treffen. Die gewShnlichen RSntgenaufnahmen braehten keinen verwertbaren Be- fund. Die Encephalographie war in Fall 1 sofort ausschlaggebend. Mit grol3er Wahrscheinlichkeit sprachen die normalkonfigurierten, sym- metrischen, nur ganz leicht erweiterten Ventrikel gegen einen Tumor. Lage uud Form der Ventrikel reagieren so aul~erordentlieh rein auf pathologische Prozesse, dab man selbst bei einem nieht sehr umfang- reichen Tumor weir sehwerere Ver~nderungen hi~tte finden miissen. Man konnte also nach dem eindeutigen Ausfall des RSntgenogramms der Kranken eine zwecklose Operation ersparen. Die Autopsie lieferte dann aueh eine entsprechende Best~tigung. DaB sieh 3 Herde fanden, ist noch insofern bemerkenswert, als es sich hier wieder um einen Fall hande]te, der unser Bestreben, die klinischen Symptome nach MSglich- keit auf eineu Herd zu beziehen, nieht rechtfertigte.

Bei dem zweiten Fall lagen ~hnliche VerhMtnisse vor, nur stand hier die Niereninsuffizienz noeh mehr im Vordergrunde. Sehon bei der Aus- ffihrung der Lufteinblasung erhielt man wiehtige Aufschliisse. W~hrend sich der Liquor zun~chst unter grol3em Druck entleerte, tropfte er nach kurzer Zeit immer sp~rlieher, um schlie$lich ganz zu versiegen. So ge- lung es nur, da man Druekschwankungen nach MSglichkeit vermeiden mu$te, etwa 60 ecm Luft einzubringen. Als dann die Luft mit Spuren rStlich gefSrbten Liquors aus der Kaniile zuriickstrSmte, war man ge- nStigt, den Eingriff zu beenden. Man hatte schon jetzt den Eindruck einer Wegverlegung. Wenn ich den Fassungsraum eines l~iickenmark- segmentes mit 2 ccm annehme, so miiBte die Stelle des Versehlusses

Page 10: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Die F(irderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. 427

unter Berficksichtigung der entwichenen Luftmenge in der hinteren Sch~delgrube gelegen haben. Encephalogramm und sparer die Autopsie lieferten die Best~tigurtg dieser Annahme. Die Ventrikel warert un- geffillt, eine geringe Luftmenge land sich in der hinteren Sch~delgrube. Man komlte aber weiter aus dem RSntgenbild auf einen ertormea Hirn- druck schlieBen, denn es war nicht die Spur von Hirnwindungenzeichnung zu erkermen. Dal3 gerade bei dem Nichteindringert der Luft in die Ven- trikel die Zeichnung der Hirnwirtdungert im RSntgenogramm besonders deutlich wird, soll im folgenden noch gezeigt werden. Grundbedingung ist natfirlich, dal~ die Luft die MSglichkeit hat, zwischen die Windungen zu gelangen, uad das geschieht eben nur bei weniger s tarkem Hirndruck. Derart hochgradige Hirndrucksteigerungen bei ur~mischen Prozessen gehSrea zu den Seltenheiten. Mart konnte daher unter Beriicksichtigung des encephalographischert Gesamtergebnisses im Verein mit den kli- nischen Symptomen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einert Tumor annehmem Der schlechte Allgemeinzustand der Patientin lieB uns, wie es nunmehr zweckm~l~ig gewesen w~re, davon Abstand nehmen, uns durch die direkte Ventrikelfiillung nach Dandy weitere Aufschlfisse zu verschaffem Wie aus der beigefiigten Abb. 3 des Gehirnschnittes hervorgeht, h~tte man sicherlich die Tumordiagnose dadurch erh~rten kSnnen uad auch Anhaltspunkte ffir die Lokalisation gewonnen, die uns allerdings der weitere Verlauf des Krankheitsbildes auch ohnedies mSglich machte. Die Autopsie brachte, wie erw~hat, vSllig mit dem Encephalogramm fibereinstimmende Verh~tltnisse, ein starkes Hirn0dem, total abgeplattete Windungerl und eine Verlegung der Foramina Magen- dii und Luschlcae. Wir k6nner~ durch diesert und auch den n~chsten Fall die Bingelschen Angaben best~tigen, dal~ der Lufteintr i t t ia die Ven- trikel so regelm~{~ig erfolgt, dal~ das Nichteindringen stets auf patho- logische Prozesse hinweist. Erw~hnenswert sind noch die geringen motorischen Ausf~lle - - die Patientin konnte noch wenige Tage vor dem Tode leidlich gehen - - t rotz schwerer Sch~digung der Zerttralregion. Irt dieser Hinsicht bildet der Fall ehm Erg~nzung entsprechender Krank- heitsbilder yon rein expansiv gewachsenert Tumoren, fiber die ich a. O. ~a) berichtet habe.

Falt 3. Agnes T., 31 Jahre alt. Die bis dahin gesunde Pat. erkrankte 27j~hrig 1920 mit Kopfschmerzen und SprachstOrungen, insbesondere einer Erschwerung der Wortfindung; ferner bestand Doppeltsehen. Man fand damals beiderseits Stauungspapille, links in Atrophie fibergehend, eine Einengung des Gesichtsfeldes yon links unten her und eine Parese des reehten M. rectus superior mit Doppel- bildern. Eine L~hmung hat damals angeblich noch nicht bestandem Da man einen Tumor vermutete, wurde im Juli 1920 fiber dem linken Parietal- und Occipital- lappen eine Entlastungstrepanation vorgenommen, der Defekt osteoplastisch ge- deckt (Prof. Brentano). Im AnschluB an die Operation stellte sieh eine L~hmung des rechten Armes und Beines, eine reehtsseitige Facialisparese und eine rechts- seitige ttemianopsie ein. Etwas sparer traten rindenepileptische Anf/~lle mit klo-

Page 11: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

428 H. Taterka :

nischen Zuckungen im rechten Arm, Kopf- und Augendrehung nach rechts ein. Die L/~hmung besserte sieh dann so weit, da~ die Pat. mit Unterbrechungen als Aufwartefrau arbeiten konnte. Unver/mdert blieb die Erschwerung der Wort- findung sowie die Herabsetzung des Visus. Seit der Operation an der Trepanations- stelle ein Prolaps wechselnder GrSl3e. Im Herbst 1923 erfolgte wegen H/~ufung der epileptischen Anf/~lle erneute Krankenhausaufnahme:

Be/und vora 5. X I . 1923: Prolaps kleiner als friiher. Der Defekt im knOchernen Sch/idel betrifft die hintere Partie des linken Scheitelbeins, das rechte Hinter- hauptsbein sowie kleine Teile des reehten Scheitel- und Hinterhauptsbeins. Rechter Faeialis nut spurweise paretisch. Cornealreflex rechts schwScher. Beiderseits Opticusatrophie mit sehr engen Gefi~Ben. Keine Doppelbilder mehr, keine Augen- muskell~hmung. Die reehtsseitige Hemianopsie besteht noch. Im reehten Arm leiehte Spasmen. Weder in Arm noch Bein Paresen oder Ataxie, jedoch Hypalgesie

Abb. 4. Seitenaufnahme: Ventrikel ungefiillt. Etwas Luft in der hinteren Schadel. grube. Deutlichc lCfirnwindungenzeichnung.

im rechten Vorderarm, besonders in der rechten Vola. Reflexe an Armen und Beinen normal. In beiden Armen geringe Andeutung einer Apraxie (?). Deutliche Dys- lexie, jedoch werden kurze Worte gut gelesen. Die Pat. hat ein Gefiihl der Hem- mung beim Spreehen; eine auffi~llige SpraehstSrung findet sich aber nicht mehr.

Im Liquor negative WAR., starke EiweiSvermehrung, keine Lymphoeytose. Nachuntersuchungen ergaben auBer einer inkonstanten Lagegeftihlsst6rung

leichten Grades in Fingern und Zehen reehts keine Xnderung. Di//erentialdiagnose: Meningitis serosa oder Tumor der hinteren Schddelgrube. Encephalographie (16. XI. 1923): Naeh Ablassung von 30 ccm unter ma2ig

hohem Druck stehenden Liquors und Einbringung der gleichen Luftmenge bekommt die Pat. einen rindenepileptischen Anfall, der im rechten Arm beginnt und mit Kopf- und Augendrehung nach rechts einhergeht. Der Eingriff wird abgebrochen. Nach einer Stunde ein zweiter gleicher Anfall.

Fronto-occipitale Aufnahme: Keine Ventrikelfiillung; man sieht lediglich den kreisrunden Operationsdefekt und etwas Luft in der hinteren Sch~delgrube.

Page 12: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Die FSrderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. 429

Seitenaufnahme (Abb. 4): Ventrikel ungefiillt. Man erkennt den Prolaps, den Knochendefekt nnd etwas Luft in der hinteren Sch~delgrube. Sehr viel Luft findet sich zwischen den Hirnwindungen, auch in den frontalen Hirnpartien, so dal3 eine grol~e Anzahl der Hirnfurchen deutlich zu sehen ist.

17. XI. W~hrend und nach der Lufteinblasung bestanden heftige Kopf- schmerzen, tteute keine Beschwerden mehr.

Die weitere Beobachtung der Pat. brachte keine wesentliche Ver~nderung des neurologischen Befundes, das Allgemeinbefinden hat sich sehr gehoben, Anf~lle treten durchschnittlich einmal im Monat auf. Die Pat. ist zur Zeit - - ca. 5 Monate nach der Encephalographie - - beschwerdeffei und verrichtet leichte Hausarbeit.

Die im Gefolge der Operation auftretenden Rindenanfalle und ihre t-Iaufung in der letzten Zelt lieften dem behandelnden Chirurgen eine erneute Trepanation zweckmal~ig erscheinen. Unsere Aufgabe bestand nun darin, festzustellen, ob nieht das Vorliegen einer serSsen Meningitis, wofiir der jahrelange, im ganzen recht gutartige Verlauf sprach, wahr- scheinlieher ware als die Annahme eines Hirntumors. Zu einer Operation konnten wir uns um so weniger entschlieften, als eine ganz genaue Lokali- sation bisher nieht mSglich war. Aufterdem war uns inzwischen mit- geteilt worden, daft es sich bei der damaligen Operation nicht nur um eine Entlastungstrepanation gehande]t habe, sondern dal~ aueh naeh einem Tumor -- ohne Erfolg -- gesucht worden sei. Die Encephalo- graphie gibt uns nun in diesem Falle keine vollkommene Aufklarung, sprieht aber entschieden mehr fiir eine Meningitis serosa als fiir einen Tumor. Die besonders deutliche Zeichnung der luftgeffillten Hirnfurchen trotz der geringen Menge eingebrachter Luft macht einen starkeren Hh'ndruck -- ich verweise auf den vorigen Fall - - recht unwahrsehein- lich. Dal~ nicht etwa die eingeblasene Luftmenge zu gering gewesen sei, geht daraus hervor, d ~ ja reichlich Luft zwisehen den Windungen und in der hfllteren Schadelgrube zu finden ist. Aul~erdem haben wir in einigen anderen Fallen schon mit 20 ccm Luft eine durchaus geniigende Ventrikelfiillung erzielt. Es mul~ also eine Verlegung da sein, vermutlich in der Gegend des Foramen Magendii. Gegen einen starkeren Hirndruek spricht iibrigens auch die normal geschlangelte Zeichnung der Stirn- windungen, die bei abnormen Druckverhaltnissen, wie J. Schuster*) hervorhebt, linienfSrmig wird.

Eine eindeutige Entscheidung kSnnen wir in diesem Falle nieht ver- zeiehnen; die evtl. noeh vorzunehmende Ventrikulographie diirfte sie wahrseheinlieh bringen. Aber wie das Encephalogramm weist auch der weitere klinisehe Verlauf der letzten Monate mehr auf eine Meningitis serosa hin.

Fall 4. Johann P. Der jetzt 44j/~hrige Pat. hat w/~hrend seiner aktiven Milit~r- zeit 1902 eine Nierenentziindung und eine eitrige Kniegelenksaffektion links durchgemacht. Kurz nach der Kniegelenkseiterung stellte sich eine doppelseitige passagere Erblindung ein (Neuritis retrobulbaris septico-toxica ?). Ein Jahr sp~tter

*) 1. c.

Page 13: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

430 H. Taterka :

Amputation des linken Beines im Oberschenkel. Am 10. II. 1922 Schlaganfall mit rechtsseitiger L~thmung, die sich fitr einige Stunden besserte und dann wieder kom- plett war. Gleichzeitig eine 6 Wochen wahrende Sprechst6rung.

Be]und: Facialisparese rechts, ziemlich schwere Armparese rechts, geringere Parese des rechten Beines. Hypalgesie der ganzen rechten SeRe. Keine ttemi- anopsie. WaR. in Blut und Liquor negativ; Liquor auch sonst o.B.

Im weiteren Verlauf Besserung der Parese an Arm und Bein, Pat. konnte trotz der Parese und des kiinstlichen linken Beines am Stock umhergehen.

Abb. 5. Occipito-frontale Aufnahme: Seitenventrikel stark erweitert. Rechter Ventrikel nach rechts und oben abgedr~ingt.

Am 30. XIL 1922 pl6tzliches Auftreten einer rechtsseitigen homonymen Hemianopsie. Pat. gab damals an, dab er auch frtiher schon wiederholt vortiber- gehend nach der rechten Seite zu nichts gesehen habe. Der friiher normale Augen- hintergrtmd zeigt jetzt rechts eine Opticusatrophie, links temporale Abblassung.

Ein R6ntgenbild des Sch~dels zeigt die Sella turcica erweitert mit diinnem Boden und nur angedeuteten Proc. clin. ant. et post.

Sonst keine hypophys~ren Symptome. Innere Organe und Urin o.B. Der Augenbefund spricht ftir intrakranielle Drucksteigerung (Prof. Abels-

dor]/). Keine hemianopische Pupfllenreaktion. Kein zentrales Skotom. Di/]erentialdiagnose: Erkrankung der Hypophysengegend (Tumor?) oder zwei

Herde (der eine subcortical im linken Parietallappen, der andere in der Gegend des Chiasma mit besonderer Beteiligung der linken Seite?).

Encephalographie: Einbtasung yon l l0ccm Luft.

Page 14: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

Die FSrderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie. 431

Occipito-frontale Aufnahme (Abb. 5): Seitenventrikel stark erweitert, be- sonders der linke; rechter Seitenventrikel nach rechts und oben abgedrgngt; beide nicht normal konfiguriert.

Seitenaufnahme (linke Kopfseite aufgelegt, t~bertischr6hre): Vorderhorn er- weitert, Unterhorn und besonders Hinterhorn ebenfalls stark lufthaltig; Luft in der hinteren Sch~delgrube.

Seitenaufnahme (rechte Kopfseite aufgelegt, t3bertischr6hre): Ventrikel gMch- m~fliger mit Luft gefiillt, in allen Teilen stark erweitert; erhebliche Luftansamm- lung in der hinteren Sch~delgrube. Andeutungsweise findet man such Luft in den basalen Zisternen. (Siehe auch Nachtrag auf S. 432.)

Es handelt sieh um ein im ganzen reeht unklares Krankheitsbild, das besonders bezfiglieh der )~tiologie und des sich fiber Jahre erstreeken- den Verlaufes schwer zu deuten ist. Auch das Eneephalogramm ist in diesem Falle nicht geeignet, unsere klinisehe Diagnose in der einen oder anderen Riehtung zu festigen; in jedem Falle gibt es aber einen sehr guten l~berbliek fiber die bestehenden Verh~ltnisse ur~d zeigt sehwere Ver~nderungen. Man kann wohl lediglieh naeh dem RSntgenbild einen raumbeengenden Prozeg vermuten, der sich yon der Basis her nach oben zu ausbreitet und den rechten Seitenventrikel in der geschilderten Weise verdr~ngt. Diese Annahme widersprieht aber nieht unwesentlich unserem klinisehen Befunde, da die Hauptseh~digung auf dem Bild die rechte Hemisphere betrifft, aber such die Hemiparese eine rechts- seitige ist. Man wird also bei diesem zweifelhaften Ergebnis nieht allein auf das R6atgenogramm hin das l~esultat einer langen und sorgf~ltigen klinischen Beobachtung umstogen dfirfen. Wir vertreten hierbei einen Standpunkt, den such Je/]erson la) einnimmt, der sich bei Differenzen zwisehen klinischem und rSntgenologischem Ergebnis eher auf den neurologischer~ Befund als auf die R6ntgenplatte verl~Bt.

Es erschien mir zweekm~Big, such diesen noch nieht ,,spruchreifen" Fall zu beschreiben, um zu zeigen, dag mitunter die Deutung des ence- phalographischen Befundes Sehwierigkeiten macht, dag die Luftein- blasung in diagnostischer Beziehung nieht immer entseheidend wirkt und sogar dem klinischen Befund weseatlich widerspreehen kann.

Zusammenfassend wird man sagen kSnnen, dag die Encephalo- graphie, unter den eingangs erw~hnten Kautelen und Einschr~nkungen vorgenommen, in vielen F/~llen geeignet ist, die Hirndiagnostik zu f6r- dern. Bringt sie mitunter keine siehere Entseheidung, so gew~hrt sie uns doeh einen wertvollen l~berbliek fiber krankhafte Vorg/s im Ge- him, von denen Mr uns lediglich auf Grur~d der bisherigen klinisehen Untersuchungstechnik meist kein so gutes Bild maehen konnten. Die EneephMographie ist nur im t~ahmen der gesamten klinischen Methodik zu verwerten. Deshalb soll der Neurologe imstande sein, die Lufteinbla- sung selbst vorzunehmen und die R6ntgenogramme selbst'~ndig zu deuten.

Da es noeh ein junges und ausbauf~higes Verfahren ist, dfirfen gelegentliche Migerfolge nieht Anlag sein, die Encephalographie sofort

Z. f. d. g. Neur, u. Psych. XCII. 28

Page 15: Die Förderung der Hirndiagnostik durch die Encephalographie

432 H. Taterka: Die FSrderung der ttirndiagnostik dutch die Encephalographie.

in A c h t u n d B a n n zu tun . A u c h die v e r e i n z e l t e n t h e r a p e u t i s c h e n Er -

folge f o r d e r n e ine F o r t s e t z u n g de r Versuche . Vie lse i t ige B e m f i h u n g e n ,

an der V o l l e n d u n g dieser u n d a h n l i c h e r M e t h o d e n zu a rbe i t en , g e b e n

g le ichze i t ig den Beweis i h r e r N o t w e n d i g k e i t . I c h e r inne re in d ie sem Zu-

s a m m e n h a n g e an die M i t t e i l u n g y o n Strecker 23) f iber die V e r e i n f a c h u n g

der E n c e p h a l o g r a p h i e d u r c h das L i q u o r p u m p e n , an die V e r s u c h e v o n

Volkmann 27) zur u n m i t t e l b a r e n B e s i c h t i g u n g der H i r n k a m m e r n d u r c h

die E n c e p h a l o s k o p i e u n d an die Benedeksche Schi~delperkussions-

m e t h o d e 1) n a c h s u b a r a c h n o i d a l e r L u f t e i n b l a s u n g . D a ~ uns be re i t s d ie

zu r , , G y r o g r a p h i e " e r w e i t e r t e E n c e p h a ] o g r a p h i e d i agnos t i s che V o r t e i l e

b r i n g e n k a n n , is t schon w e i t e r oben zu r S p r a c h e g e k o m m e n .

Literaturverzeiehnis. 1) Benedek, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 80. - - 2) Benedek und

ThurzS, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 8~, H. 3. 1923. - - 3) Bingel, Fortschr. a. d. Geb. d. RSntgenstr. 28, 205ff. 1921/22. - - 4) Bingel, Diskussion zu Weigeldt, Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 30, 371. - - 5) Bingcl, Dtsch. med. Wochenschr. 1921, Nr. 49, S. 1492. - - ~) Bingel, Dtsch. Zeitschr. f. Nerven- heilk. ~4. 1922. - - 7) Dahlstr6m und Wideroe, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 75. 1922. - - s) Dandy, Ann. of surg. 1918, S. 5. - - 9) Den]c, Arch. f. klin. Chirurg. 121, 168. 1922. - - 10) Den]c, Zeitschr. f. ~rztl. Fortbild. 20, Nr. 14. 1923. - - 11) Ga- briel, Diskussion zu Weigeldt, Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 30, 371. - - 12) Herrmann, Med. Klinik 1922, Mr. 36, S. 1146. - - 13) Je//erson, G., and Adams, A. McConnel, Brit. reed. journ. 1923, Nr. 3279. - - 14) Klein, Serbisches Arch. f. d. ges. Med. 25, H. 10. 1923. - - 1~) Mader, Med. Klinik 19, Mr. 43. 1923. - - ~6) Mar- burg, Diskussion zu Weigeldt, vgl. 4). __ 17) Marcus, Med. Klinik 1922, Mr. 10. - - is) Martin, Charles and Claude Uhler, Americ. med. journ, of roentgenol. 9. 1922. - - 19) Nonne, Ref. im Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 29. 1922. - - 20) Schi~ller, Wien. klin. Wochenschr. 1922, H. 34. - - 21) Schuster, Paul, Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 32, 58. - - 22) Schuster, Julius, Dtsch. Zeitschr. f. Nerven- heilk. 80, H. 3/4. 1923. - - 2a) Strec]cer, Miinch. med. Wochenschr. ~0, Mr. 46. 1923. __ ~4) Tater]ca, Zentralbl. f. d. ges. Meurol. u. Psychiatrie 31, H. 5/6, S. 304. - - 25) Tr6mner, Ref. Zentralbl. f. d. ges. Meurol. u. Psychiatrie 31, 423. - - 26) Thurz5 und Nagy, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. ~9, H. 6. 1923. - - ~7) Vol]cmann, Mtinch. reed. Wochenschr. 70, Mr. 46. 1923. - - 2s) Weigeldt, Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 30, 368. - - 29) Wrede, Diskussion zu Den]c, Arch. f. klin. Chirurg. I~1. 1922.

Nachtrag bei der Korrektur zu Fall 4: Der Pat. ist ]etzt amaurotisch, hat neuerdings auch eine Parese der ]inken Seite mit Hyp~sthesie und maximaler StSrung der Stereognosis. Auch psychisch jetzt schwere Ver~nderungen. - - Die Wiederholung der Encephalographie zeigte eine enorme Erweiterung des linken Ventrikels, besonders auch des Unterhornes, eine Dislokation und hochgradige Verengerung des rechten Ventrikels. - - Klinischer und encephalographischer Befund sprechen also iibereinstimmend fiir eine Progredienz des Prozesses, und zwar fiir einen Tumor an tier Hirnbasis (Hypophysengegend). Der anf~ngliche Widerspruch hat sich aufgekl~trt; es ist sehr interessant und bedeutungsvoll, dal3 bereits das erste Encephalogramm eine Sch~digung der rechten Hemisphere erkennen lieI3, die erst nach mehreren Monaten klinisch nachweisbar wurde.