Upload
kerem-karasu
View
215
Download
2
Embed Size (px)
DESCRIPTION
Shortstory
Citation preview
Erinnerungen 2009:
Die Frau mit dem roten Koffer
„Liebe ist die einzige Sklaverei, die als Vergnügen empfunden wird.“
George Bernard Shaw
An einem kühlen Märznachmittag des Jahres 2009 • In der einen Hand die Müller-
Tüte, gefüllt mit diverser Literatur, auf der Schulter die Laptoptasche, beides für
die Prüfung, die mir kurz bevor stand, gedrückt und eingeknickt auf Grund der
jüngsten Ereignisse und der wieder hochkommenden Erinnerungen, stand ich am
oberen Ende der Rolltreppe und setzte meinen rechten Fuß auf einer der unter mir
hervorkommenden Stufen, den linken gleich hinterher, nur um in einem Bruchteil
einer Sekunde aufgeweckt zu werden von dem roten Koffer, der unten, nur zwei
bis drei Meter entfernt vom unteren Ende der Rolltreppe stand, an dem schönsten
Platz der Erde, für mich in diesem Moment, neben ihr.
Nun stand ich auf dieser rollenden Treppe, die mich wider meines Willens gerade-
wegs auf diesen Koffer und sie hinzu beförderte, an einen Ort - an die Haltestelle
der Linie 4 - an dem ich sie am wenigsten erwartete. In vielleicht zehn Sekunden
würde ich dort sein, ihr Auge in Auge begegnen und das erleben, was mir, Gott sei
Dank, zwei Monate lang erspart gewesen war. Ich würde das erleben, wovor ich
mir zunehmenst fürchtete. Fünf Sekunden: Mittlerweile war ich ungefär auf Hälfte
der Treppe angelangt und es gab wahrlich kein Zurück mehr. Sie, in einer Hand
ihr Telefon - das Lächeln in ihrem Gesicht, dass mich zuvor so fertig machte galt
nicht mir, diesmal nicht – strahlend, mit jemandem sprechend, im Beisein ihres
roten Koffers, erblickte mich, als ich die Rolltreppenfahrt hinter mir hatte und
endlich wieder meinen eigenen Weg wählen konnte. Ich ging nicht auf sie zu, ich
wählte einen Bogen, wollte nicht vorhandene Stärke simulieren, schaute sie trotz-
dem an, ich sah keinen Grund weg zu gucken.
0 Millisekunden:
Ihre dunklen, strahlenden Augen durchbohrten mein Herz, obwohl sie mir doch ei-
gentlich in die meinen sah.
500 Millisekunden:
Nachdem unsere Blicke sich seit zwei Monaten erstmals wieder begegneten, ent-
schied ich mich, wenigstens meine Mundwinkel etwas auseinander zu ziehen, als
Gruß. Nur die Mundwinkel auseinander ziehen, nicht mehr, um nicht den Ein-
druck zu vermitteln, ich wäre wieder schwach geworden.
750 Millisekunden:
während meine Mundwinkel sich langsam in die Breite zogen, gerade als ich ein
ähnliches Zeichen erwartete, einfach nur ein Zeichen der Inkenntnisnahme, lenkte
sie ihren Blick fort und hinterließ einen tiefen Stich in meinem Herz, obwohl sie
mir doch in die Augen schaute, nur drei Viertel einer Sekunde, aus reinem Zufall
höchstwahrscheinlich. Wie ein Säbel, der tief in das empfindlichste Fleisch seines
Gegners stach und sich schnell wieder herauszog und mit sich eine purpurrote
Spur durch die Luft zog, die sich dem Schwung ihres Führers, des Säbels langsam
entzog, nachdem dieser längst wieder in der Scheide steckte, und für einen kurzen
Moment in der Luft verwiel, um anschließend in einem Umkreis weniger Meter in
Form vieler kleinerer und größerer Tropfen nieder zu plätschern. Dafür, dass ich
meine Mundwinkel auseinander zog...
1 Sekunde:
Ich setzte meinen zuvor eingeschrittenen Weg fort, hinter ihr und ihrem roten Kof-
fer, der just in diesem Moment am vielleicht paradoxesten Ort der Erde stand, her-
um, ganz nach hinten ans andere Ende des Bahnsteigs, vielleicht um Stärke zu si-
mulieren. Blutend...