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1 Die Körperkultur der Lebensreformbewegung Vortrag anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Kontaktstudiums für ältere Erwachsene an der Universität Hamburg von Ingrid-H. Verch „Die Körperkultur der Lebensreformbewegung“ – was hat das mit dem Fach Ge- schichte zu tun? Geschichte, das hieß zu meiner Schulzeit in der Regel: Namen und Schlachten auswendig lernen, große Männer und ihre Kriege. Geschichte, das waren der erste, zweite, dritte Peloponnesische, Persische, Punische, Polni- sche, der hundertjährige, dreißigjährige, siebenjährige Erbfolge-, Befreiungs-, Religions- oder Bürgerkrieg. Strukturen und geistige Strömungen waren da eher Nebensache, Hauptsache, die Zahlen stimmten. Aber Körperkultur? Und Lebens- reformbewegung? Das macht das Kontaktstudium so faszinierend: Man lernt neue Sichtweisen kennen, einmal gelernte und etablierte Denkstrukturen werden hinterfragt und müssen neu geordnet werden. Und dabei erfährt man von den neuesten Entwick- lungen und Erkenntnissen der jeweiligen Wissenschaft. Dringt man dann tiefer in ein Thema ein, so wird es richtig spannend. So ging es mir mit der Lebensreform. Ich wusste nicht einmal worum es sich dabei handelt. (Folie 2) Die Lebensreformbewegung wendete sich gegen die negativen Folgen der In- dustrialisierung und Urbanisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Viele Menschen zogen vom Land in die Stadt, weil sie durch Arbeit in der Industrie auf eine Verbesserung ihrer sozialen Lage erhofften. Die Folge waren Wohnungsnot und Enge in den Städten. Gesundheitliche Schäden wurden ebenso beklagt wie die zunehmende Umweltzerstörung, die unkontrollierte Umweltverschmutzung und der in den Städten immer stärker werdende Lärm. Diesen ungesunden Zustand wollten die Lebensreformer ändern, die natürliche Lebensformdes Menschen sollte wiedergeherstellt werden. Dabei gab es unter- schiedliche Ansatzpunkte, alle unter dem Motto „Zurück zur Natur“. Die herr- schende Idee war, dass das „Individuum aufgrund einer naturgemäßen Lebens- weise in seiner physischen und psychischen Disposition eine harmonische Über- einstimmung mit der Natur erreicht habe.“ (Folie 3) Hier eine vereinfachte Dar- stellung: Der rechte Weg, der kapitalistische stürzt nach wenigen Schritten in den Abgrund, der linke kommunistische verliert sich im unwirtlichen, wolkenumlager- ten Gebirge. Der mittlere Weg der Bodenreform führt in ein weites, fruchtbares friedliches und sonniges Land, Palmen deuten eine Oase an.

Die Körperkultur der Lebensreformbewegung€¦ · Mensch ist der nackte Mensch.“ wurden propagiert. 3 Die Vertreter der Nacktkultur glaubten mit ihrem ganzheitlichen Ansatz Doppel-moral

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Die Körperkultur der Lebensreformbewegung Vortrag anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Kontaktstudiums für ältere Erwachsene an der Universität Hamburg von Ingrid-H. Verch

„Die Körperkultur der Lebensreformbewegung“ – was hat das mit dem Fach Ge-

schichte zu tun? Geschichte, das hieß zu meiner Schulzeit in der Regel: Namen

und Schlachten auswendig lernen, große Männer und ihre Kriege. Geschichte,

das waren der erste, zweite, dritte Peloponnesische, Persische, Punische, Polni-

sche, der hundertjährige, dreißigjährige, siebenjährige Erbfolge-, Befreiungs-,

Religions- oder Bürgerkrieg. Strukturen und geistige Strömungen waren da eher

Nebensache, Hauptsache, die Zahlen stimmten. Aber Körperkultur? Und Lebens-

reformbewegung?

Das macht das Kontaktstudium so faszinierend: Man lernt neue Sichtweisen

kennen, einmal gelernte und etablierte Denkstrukturen werden hinterfragt und

müssen neu geordnet werden. Und dabei erfährt man von den neuesten Entwick-

lungen und Erkenntnissen der jeweiligen Wissenschaft. Dringt man dann tiefer in

ein Thema ein, so wird es richtig spannend. So ging es mir mit der Lebensreform.

Ich wusste nicht einmal worum es sich dabei handelt. (Folie 2)

Die Lebensreformbewegung wendete sich gegen die negativen Folgen der In-

dustrialisierung und Urbanisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Viele

Menschen zogen vom Land in die Stadt, weil sie durch Arbeit in der Industrie auf

eine Verbesserung ihrer sozialen Lage erhofften. Die Folge waren Wohnungsnot

und Enge in den Städten. Gesundheitliche Schäden wurden ebenso beklagt wie

die zunehmende Umweltzerstörung, die unkontrollierte Umweltverschmutzung

und der in den Städten immer stärker werdende Lärm.

Diesen ungesunden Zustand wollten die Lebensreformer ändern, die „natürliche

Lebensform“ des Menschen sollte wiedergeherstellt werden. Dabei gab es unter-

schiedliche Ansatzpunkte, alle unter dem Motto „Zurück zur Natur“. Die herr-

schende Idee war, dass das „Individuum aufgrund einer naturgemäßen Lebens-

weise in seiner physischen und psychischen Disposition eine harmonische Über-

einstimmung mit der Natur erreicht habe.“ (Folie 3) Hier eine vereinfachte Dar-

stellung: Der rechte Weg, der kapitalistische stürzt nach wenigen Schritten in den

Abgrund, der linke kommunistische verliert sich im unwirtlichen, wolkenumlager-

ten Gebirge. Der mittlere Weg der Bodenreform führt in ein weites, fruchtbares

friedliches und sonniges Land, Palmen deuten eine Oase an.

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Viele Bewegungen wurden zu dieser Zeit entwickelt. (Folie 5) Angeregt von der

Naturheilkunde entstanden die Ernährungsreform, die den Vegetarismus

propagierte, sowie die Antialkoholbewegung und – wieder sehr aktuell – die

Antinikotinbewegung, die Reformpädagogik, die Jugendbewegung mit dem

Wandervogel. Die Sportbewegung setzte sich in weiten Kreisen durch. Eine

Kleidungsreform wurde besonders von der immer stärker werdenden Frauen-

bewegung unterstützt. Landschafts-, Heimat- und Naturschutz, Bodenreform

und Gartenstadtbewegung; insgesamt finden wir hier die Vorläufer der heutigen

ökologischen Bewegung. Außereuropäische und altnordische Religionen wurden

als neue Lebensleitfäden entdeckt. Es wurde aber im Zeichen der Gesundheit

des „neuen Menschen“ auch über Sozial- und Rassehygiene nachgedacht

Dem Körper wurde eine neue Bedeutung zugemessen, er sollte sich frei entfal-

ten. Man muss sich die herrschende Mode jener Zeit vergegenwärtigen, (Folie 5)

um zu verstehen welche Bedeutung zum Beispiel die Verbannung des Korsetts

hatte, das von Frauen und teilweise auch von Männern getragen wurde. Die De-

formierung des Körpers wurde von vielen Ärzten angeprangert. (Folie 6) Dage-

gen wurde das sogenannte Reformkleid entwickelt. (Folie 7) was heftige Kontro-

versen hervorrufen konnte. (Folie 8)

Aber die Protagonisten gingen weiter: die Naturheiler wollten durch Licht und Luft

den Leib wieder in seinem ursprünglichen gesunden Naturzustand bringen. Die

berühmteste Heilstätte war auf dem Monte Verità bei Ascona angesiedelt, (Folie

9) in der viele Künstler und Intellektuelle Heilung suchten: Hermann Hesse, links

oben (Folie 10) Erich Mühsam, Rudolf Steiner, Franziska zu Reventlow, Lenin,

Mary Wigman, Rudolf Laban hier mit einigen seiner Tänzer. (Folie 11)

Einer der bekanntesten Künstler war der Maler Hugo Höppener, er lebte von

1868 – 1948. Er wurde „Fidus“, der Getreue genannt. Hier der ca. 22jährige mit

seinem Lehrer Karl Wilhelm Diefenbach. (Folie 12) Sein wohl meistverbreitetes

Bild ist „Das Lichtgebet“. (Folie 13) Dieser androgyne Körper, nur in Licht geklei-

det, wurde eine Ikone der Jugendbewegung. Fidus war überzeugter Anhänger

des Vegetarismus. (Folie 14) 1932 trat er in die NSDAP ein, (Folie 15), doch die

Nazis lehnten eine Zusammenarbeit mit ihm ab.

Die sogenannte Nacktkultur war eine Weiterentwicklung der körperbefreienden

Tendenzen. (Folie 16) Sätze wie „Die Natur kennt keine Kleider“ und „Der wahre

Mensch ist der nackte Mensch.“ wurden propagiert.

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Die Vertreter der Nacktkultur glaubten mit ihrem ganzheitlichen Ansatz Doppel-

moral und Prüderie zu überwinden, und dadurch Pornographie und Prostitution

zum Verschwinden bringen zu können. Argumente für die Nacktkultur waren also

Moral und Gesundheit, dazu kam die Ästhetisierung zur Kunst.

Anstelle der „schwülstigen, anstößigen“ Bilder sollten nun Bilder von nackten

Körpern gezeigt werden, die weitgehend entsexualisiert sein sollten. Hier zwei

Beispiele. (Folien17 &18) Solche Bilder fanden Verbreitung in Zeitschriften mit

Titeln wie „Die Schönheit“ (Folie19) „Kraft und Schönheit“, (Folie 20) „Thalysia –

Illustrierte Monatsschrift für Reformmoden und Frauenkultur“ (Folie 21)

Gehört so ein Thema in die Geschichtswissenschaft? Heute wissen wir: Ja. Es ist

nicht an konkreten Zahlen festzumachen, die Periode zog sich grob geschätzt

von 1880 bis 1920 hin. Und kein „großer Mann“ hat sie initiiert. Aber es war eine

Epoche, deren geistige Strömungen erhebliche Folgen hatten und die entschei-

dende Veränderungen in der Gesellschaft bewirkten. Und das macht Geschichte

und das Studium der Geschichte und das Kontaktstudium so spannend. (Folie

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Die Körperkultur der  Lebensreformbewegung

Ingrid-H. Verch

Kontaktstudentin seit Sommersemester 2003

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Was versteht man unter 

„Lebensreformbewegung“?

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Naturheilkunde Ernährungsreform Vegetarismus Antialkohol- und Antinikotinbewegung ReformpädagogikJugendbewegung mit dem Wandervogel Sportbewegung KleidungsreformLandschafts-, Heimat- und Naturschutz Bodenreform und Gartenstadtbewegung

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Die Idealsilhouette um 1900

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Eugen Spiro: „Das Reformkleid“ aus Jugend v. 1902

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„Das Reformkleid ist vor allem hygienisch und erhält den Körper tüchtig für die Mutterpflichten.“ – „Solange Sie den Fetzen anhaben, werden Sie gar nicht in die Verlegenheit kommen.“

Karikatur von Bruno Paul aus dem Simplizissimus

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Diefenbach und Fidus

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Fidus: „Lichtgebet“ zwischen 1905 und 1913

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Fidus „Du sollst nicht töten“

v. 1892                

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“Du erkanntest die  Selbstbeherrschung, die 

dieser universale Held sich  anerlegt! Wie auch wir 

opfern müssen!“

Brief an Gertrud Prellwitz

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„Die Natur kennt keine Kleider“

„Der wahre Mensch ist der  nackte Mensch“

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Sommerlust

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Aura Herweg „Reue“, 1912

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Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Selma Gente:  Dreiklang,  1924