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Archiv Ohr- usw- Heilk. u. Z. HMs- usw. tteill~., Bd. 161, S. 206--236 (1952). Die rechtlichen Grundlagen der ~irztlichen Begutachtung yon Erwerbsminderungen unter besonderer Beriicksichtigung der Erkrankung des 0hres. Von W. BOGS. I. Der Arzt als fiutachter. Unser gesamtcs Sozialversicherungsrecht beruht ebenso wie das Ver- sorgungsrecht auf dem Gedanken, dab dem einzelnen Versicherten oder Versorgten ein Rechtsanspruch auf die Leistungen der Versicherung oder Versouffunff zusteht. Zwar wird nach neuerer Auffassung vielfach an- genommen~ daft aueh Fi~rsorgeempf~nger einen Anspruch auf Gew~hrung yon Ffirsorgeleistungen -- also Woh]fahrtsunterstiitzung -- haben; aber auch wenn man sich dieser mit dev bisher herrschenden Auffassung in Widerspruch stehenden neueren ~einung anschlieBt, so wiirde sich doch der Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung und der Ver- sorgung wesentlich yon dem Fiirsorgeanspruch dadurch unterscheiden, dab nur fiir die Gew~hrung yon Ftirsorgeleistungen die Bediirftigkeit des Ffirs0rgeempf~ngers vorausgesetzt wird. Die Gew~hrung der Ffirsorge- leistung ist also notwendig yon einer Bedfirftigkeitspriifung abh~ngig. Der Wohlfahrtsemf~nger muB sich gewissermaBen -2' wie der Patient vor dem Arzt -- ausziehen, er muB seine gesamten wirtschaftlichen Verh~lt- nisse darlegen, und nur, wenn von keiner anderen Seite ttilfe zu erwarten ist, setzt die l~firsorgeleistung ein. -- Ganz anders bei Versicherung und Versorgung! tiler ist die Gew~hrung der Leistungen an ganz bestimmte klare Tatbest~nde gebunden; der Versicherte, der in der ]~egel dutch seine Beitr~ge mitgeholfen hat, die Mittel ffir die ihm zu gew~hrenden Leistungen aufzubringen, hat einen grunds~tzlich nicht -con seiner Be- dfirftigkeit abh~ngigen t~echtsanspruch auf die Gew~hrung der Ver- sicherungs- oder Versorgungsleistungen, sofern nur ein bestimmter Sach- verhMt, z. B. InvMidit~t odev Ewerbsmindevung infolge eines Arbeits- unfMles, gegeben ist. Zwar sehen auch unsere Versicherungs- und besonders die Yersorgungsgesetze zum Teil eine Anrechnung yon Einkommen vor, aber es handelt sich dabei immer um klar begrenzte Anrechnungsvor- schriften, die ein Ermessen der bewilligenden Stelle grunds~tzlich aus- schliel~en. Gerade dieses Unabh~ngigsein vonWohlwollen und gelegentlich wohl auch yon Willkiir, wie es nur zu leicht nicht bestimmt abgegrenzte gesetzliche Tatbesti~nde mit sich bringen, ist der such soziMpolitisch

Die rechtlichen Grundlagen der ärztlichen Begutachtung von Erwerbsminderungen unter besonderer Berücksichtigung der Erkrankung des Ohres

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Page 1: Die rechtlichen Grundlagen der ärztlichen Begutachtung von Erwerbsminderungen unter besonderer Berücksichtigung der Erkrankung des Ohres

Archiv Ohr- usw- Heilk. u. Z. HMs- usw. tteill~., Bd. 161, S. 206--236 (1952).

Die rechtlichen Grundlagen der ~irztlichen Begutachtung yon Erwerbsminderungen unter besonderer

Beriicksichtigung der Erkrankung des 0hres.

Von W. BOGS.

I. Der Arzt als fiutachter.

Unser gesamtcs Sozialversicherungsrecht beruht ebenso wie das Ver- sorgungsrecht auf dem Gedanken, dab dem einzelnen Versicherten oder Versorgten ein Rechtsanspruch auf die Leistungen der Versicherung oder Versouffunff zusteht. Zwar wird nach neuerer Auffassung vielfach an- genommen~ daft aueh Fi~rsorgeempf~nger einen Anspruch auf Gew~hrung yon Ffirsorgeleistungen - - also Woh]fahrtsunterstii tzung - - haben; aber auch wenn man sich dieser mit dev bisher herrschenden Auffassung in Widerspruch stehenden neueren ~einung anschlieBt, so wiirde sich doch der Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung und der Ver- sorgung wesentlich yon dem Fiirsorgeanspruch dadurch unterscheiden, dab nur fiir die Gew~hrung yon Ftirsorgeleistungen die Bediirftigkeit des Ffirs0rgeempf~ngers vorausgesetzt wird. Die Gew~hrung der Ffirsorge- leistung ist also notwendig yon einer Bedfirftigkeitspriifung abh~ngig. Der Wohlfahrtsemf~nger muB sich gewissermaBen -2' wie der Pat ient vor dem Arzt - - ausziehen, er muB seine gesamten wirtschaftlichen Verh~lt- nisse darlegen, und nur, wenn von keiner anderen Seite ttilfe zu erwarten ist, setzt die l~firsorgeleistung ein. - - Ganz anders bei Versicherung und Versorgung! t i ler ist die Gew~hrung der Leistungen an ganz best immte klare Tatbest~nde gebunden; der Versicherte, der in der ]~egel dutch seine Beitr~ge mitgeholfen hat, die Mittel ffir die ihm zu gew~hrenden Leistungen aufzubringen, hat einen grunds~tzlich nicht -con seiner Be- dfirftigkeit abh~ngigen t~echtsanspruch auf die Gew~hrung der Ver- sicherungs- oder Versorgungsleistungen, sofern nur ein best immter Sach- verhMt, z. B. InvMidit~t odev Ewerbsmindevung infolge eines Arbeits- unfMles, gegeben ist. Zwar sehen auch unsere Versicherungs- und besonders die Yersorgungsgesetze zum Teil eine Anrechnung yon Einkommen vor, aber es handelt sich dabei immer um klar begrenzte Anrechnungsvor- schriften, die ein Ermessen der bewilligenden Stelle grunds~tzlich aus- schliel~en. Gerade dieses Unabh~ngigsein vonWohlwollen und gelegentlich wohl auch yon Willkiir, wie es nur zu leicht nicht best immt abgegrenzte gesetzliche Tatbesti~nde mit sich bringen, ist der such soziMpolitisch

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bedeutsame Gehalt der Leistungen unserer Sozialversicherung und auch der Versorgung; ihre Empfgnger erhalten keine yon Ermessensent- seheidungen abhgngige Almosen, sondern sie erhalten das, worauf sie einen klar erfal~baren Rechtsanspruch haben. Weigert sich der Ver- sicherungstrgger, die Leistungen zu gewghren, so kann sie der Berechtigte vor einem Yersicherungs- oder Versorgungsgericht einklagen.

Die dargelegte Rechtsform der Versicherungs- und Versorgungs- leistungen ist nun mit einem bestimmten Verfahren bei ihrer Gewghrung notwendig verbunden. Sowohl die Feststellung der Leistungen durch den Versicherungstr~tger oder die Versicherungsbeh6rde als auch die Ent- scheidung, die im Streitfall durch das Versicherungs- oder Versorgungs- gericht ergeht, setzt voraus, dab zungchst ein im Gesetz ngher bestimm- ter Sachverhalt ermittelt wird, etwa das Vorliegen eines Arbeitsunfalles oder der Eintr i t t yon Invalidit~t und die Zurfieklegung einer Wartezeit. Diese Feststellung des Saehverhalts ist der gleiche Vorgang, der uns aus jedem beliebigen Zivil- oder Strafproze6 gelgufig ist. Es muB erst er- wiesen werden, ob der Beklagte oder Angeklagte eine fremde Saehe weg- genommen hat, bevor er deshalb zur Rfickgabe, zum Schadensersatz oder vielleicht auch zu einer Gefgngnisstrafe verurteilt wird, die das Gesetz ffir einen solchen Fall vorgesehen hat. Die Entscheidung fiber den jeweils geltend gemachten Anspruch - - z. B. einen Rentenanspruch ~ erfolgt also in der Weise, da6 zungchst der Sachverhalt oder der T~tbestand, d. h. ein bestimmtes historisohes Gesehehen oder ein Zustand, ermittelt und sodann gepriift wird, ob dieser Saehverhalt nach den Vorschriften des Gesetzes den Anspruch reehtfertigt. Dieser zweite Akt des Verfahrens, die Subsumtion des Tatbestandes unter die gesetzliohe Norm, ist die eigentliche Aufgabe des Juristen: Er mu6 das Gesetz kennen, um be- urteilen zu kSnnen, ob ein bestimmtes Gesehehen - - eben der Tatbestand

davon erfaBt wird. Die Feststellung des Saehverhaltes dagegen - - also der zeitlioh erste Akt des Verfahrens - - setzt (abgesehen yon der Ein- haltung bestimmter Verfahrensregeln) keine rechtlichen Kenntnisse vet- aus, der Richter mul~ mit seinem gesunden Mensehenverstand zu er- forschen suchen, ,,wie es wirklich ist oder gewesen ist". t~ei dieser Auf- kl~rung des Sachverh~ltes bedient sich der Richter verschiedener Be- weismittel. Er h6rt und vereidig~ Zeugen, er lgl3t sich Urkunden vor- legen, nimmt den Augenschein ein und wenn seine Lebenserfahrung und eigene wissenschaftliche Au~bildung nicht ausreichen, die oft komplizier- ten tatsgchlichen Vorggnge des Lebens zu erkennen, so zieht er Sach- verstgndige hinzu, die ibm auf Grund ihrer besonderen Sachkunde bei Erforschung des entscheidenden Sachverhaltes behilflich sind.

Der Saehverstgndige liefert dabei dem Gericht die diesem nicht be. kannten allgemeinen Erfahrungssgtze, die zur Beurteilung des ken- kreten Sachverhaltes notwendig sind, und zwar entweder in abstrakter

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208 W. BoGs :

Form, damit das Gericht von ihnen Gebrauch mache, oder er wendet sie gleich selbst auf den Sachverhalt an, den das Gericht ihm nnterbreitet oder den er neben dem Richter oder in dessen Auftrag ermittel t (vgl. NICKISCH: Zivilprozel~recht 1950, S. 353). Der Sachverst/~ndige ist also, wie L ~ T sagt (Zivilprozel~recht w 51 I), ,e ine Person, die auf Grund yon Sachkunde fiber Erfahrungssgtze besonder8 auch einer Wissenscha]t aus- sagt und in der Regel bUS ihnen SchluBfolgerungen auf konkrete Tat- sachen zieht". Diese Aussage des Sachverst~ndigen, die schriftlich oder auch mfindlich erfolgen kann, nennen wir Gutachte~.

Es ist ffir die Gutachtert/i t igkeit wichtig, sieh somit darfiber klar zu sein, dal~ jedes Gutachten - - sei es des Arztes oder etwa des Ingenieurs - - lediglich der richtigen Tatbestands]eststellung dient und sich darauf zu beschr/~nken hat ; das Gutachten hat dagegen nicht zu der allein yon dem Gericht oder im Bewilligungsverfahren yon dem Versicherungstr~ger zu entscheidenden Frage Stellung zu nehmen, welche Rechtsfolgen sich aus dem/estgestellte~ Sachverhalt ergeben. Der Arzt hat also als Gutachter nie- mals darfiber zu befinden, ob dem Versicherten eine Rente oder eine sonstige Leistung zusteht; er mul~ sich bewuBt sein~ dal~ er - - als Gehilfe des ~iehters oder Versieherungstr~gers bei der Tatbestands]eststellung - - lediglich bei der Beantwortung einer For]rage ffir diese rechtliche Ent- scheidung mitzuwirken hat.

In dieser Beschr~nkung ~hnelt die Aufgabe des Sachverst~tndigen derjenigen des Zeugen, der zur Aufkl~rung des strittigen Sachverhaltes durch Belcundung yon Wahrnehmungen beitr~gt, die er fiber Tatsachen oder Zust~nde gemacht hat. Nun ist ein Zeuge oft nur deshalb in der Lage, fiber solche Wahrnehmungen auszusagen, weil er - - z. B. als Arzt - - fiber eine best immte Sachkunde verffigt; dann ist er ein sachversti~n- diger Zeuge. Erst wenn ein Saehkundiger nicht nur fiber die wahrgenom- menen Tatsachen Bekundungen macht, sondern fiber Erfahrungss~tze aussagt, gibt er als Sachverst/~ndiger ein Gutachten ab. Der Arzt, der Zeuge eines Unfalls war und die erste tIilfe geleistet hat, ist lediglich Zeuge, wenn er fiber den Hergang des Unfalls und aueh fiber die yon ihm bei dem Verletzten beobachteten Verletzungen Auskunft gibt. Nimmt er darfiber hinaus auf Grund seiner ~rztliehen Kenntnisse auch zu der Frage Stellung, welcher Art die Verletzungen sind (d. h. wie sie medizinisch zu beurteilen sind), nnd ob etwa infolge der Verletzungen Arbeitsunf~thig- keit vorliegt, dann fibernimmt er die l~olle eines Saehverst~ndigen. Es er- hellt ohne weiteres, dal~ die Stellung des sachverst~ndigen Zeugen gerade im Verfahren der Sozialversieherung h~ufig mit der des Sachverst~ndigen verbunden ist, und dal~ ihre Aussagen nicht immer leicht getrennt werden kSnnen - - , so wichtig auch die Unterscheidung zwischen Zeugenaussage und Sachverst~ndigengutachten etwa wegen der Vereidigung oder wegen des Rechts zur Verweigerung der Aussage sein kann.

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Die Rechtsgrundlagen der/~rztlichen Begutachtung von Erwerbsminderungen. 209

Gerade bei/s Sachverstandigen sind Beobachtungen - - etwa fiber den aul~eren Befund - - und arztliche Beurteilung meist eng mit- einander verwoben, und der Arzt verliert nicht dadurch im Verfahren die Stellung des ,,Sachverst/indigen", dal~ er seinem Gutachten als not- wendige Voraussetzung seiner ~rztlichen Beurteilung zunachst einen oft erst yon ihm ermittelten Sachverhalt - - etwa die Krankengeschichte oder den Hergang eines Unfalls - - voranstellt. Haufig wird schon die Feststellung einer Krankengeschichte oder eines bestimmten Befundes eine /~rztliche Beurteilung einschlieI~en und so bereits die Anwendung eines dem Arzt durch die medizinische Wissenschaft vermittelten Er- fahrungssatzes auf einen konkreten Sachverhalt, mithin ein,, Gutachten" darstellen.

Ffir die arztliche Gutachtertatigkeit ist welter charakteristisch, dab d'as Gutaehten des Arztes besonders in der Sozialversicherung oft fiber die Beurteilung rein medizinischer Fragen welt hinausgeht. Bei der Fest- stellung des Grades einer Erwerbsminderung e twa mflB der Arzt dazu Stellung nehmen, welche Arbeiten der Versicherte noch verrichten kann. Es handelt sich hierbei in Wahrheit um 2 Fragen, yon denen nut die eine eine besondere medizinische Saehkunde voraussetzt: Einmal bedarf es der Feststellung, zu welcher Art yon T/itigkeit, welcher Kraftanstrengung und inneren Umstellung der Versicherte noch in der Lage ist (arztliche Frage), sodann ist die Beantwortung der Frage notwendig, ob diese auf Grund/irztlicher Sachkunde festgestellten Krafte und Fghigkeiten ausrei~ chen, um einen bestimmten Beruf ausffillen zu kSnnen, und ob die Auf- nahme einer solchen Tatigkeit dem Versicherten naeh seiner Ausbildung und seinem bisherigen Beruf zugemutet werden kann. Indem der Arzt etwa die Berufsunfahigkeit eines Angestellten bejaht, nimmt er not- wendig auch zu der zweiten, nieht eigentlich medizinischen Frage Stel- lung. Er darfsich einer solehen Stellungnahme auch zu nicht rein/irztlichen Fragen nicht entziehen, sofern arztliche und nicht/~rztliche Fragestellung-- wie in dem angeffihrten Beispiel - - eng miteinander in Zusammenhang stehen, indem eben der arztliche Erfahrungssatz (z. B. fiber die Leistungs- f~higkeit des Verletzten) auf einen nicht medizinisch zu beurteilenden Saehverhalt (etwa die Anforderungen eines bestimmten Berufes) an- zuwenden ist. Indem der Arzt in solchen Fallen notgedrungen auch zu der zweiten Frage Stellung nimmt, setzt er sich der Kritik seines Gut- achtens dutch den I~ichtmediziner aus, und der Arzt wird g u t tun, jedenfalls in Zweifelsfallen darauf hinzuweisen, dab die Beantwortung dieser Frage aul~erhalb seiner arztlichen Kompetenz liegt. Soweit eine gesonderte Beantwortung der allein medizinischen Frage mSglieh ist, sollte sich der Arzt hfiten, als Saehversts seinen Zustandigkeits- bereich zu fiberschreiten, es vielmehr dem Versicherungstrager oder dem Gericht fiberlassen, die sich aus dem gutachtlichen Feststellungen des

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210 W. Boas :

Arztes fiir die Entscheidung des Falles oder auch ffir die Ermit t lung des Sachverhaltes ergebenden Folgerungen zu ziehen.

Dieser Uberblick fiber die dem ~rztlichen Sachvers~ndigen allgemein obliegenden Aufgaben im Verfahren zur Feststellung yon Ansprfichen aus der Sozialversicherung und Versorgung 1/~Bt deutlich erkennen, dab er Gehil/e des Richters ist. Der medizinische Sachverst/~ndige ist in Wahr- heir nicht , ,Arzt" im ursprfingliehen Sinne des Wortes, sondern er ist Mit-l~ichtel ~, der auf Grund seiner Sachkunde mithilf~, die Wahrheit zu erkennen. Diese riehterliche Aufgabe wird ihn oft in Konflikt mit seiner helfenden Einstellung als Arzt fiihren, und es ist ein ernstes Problem, ob nicht der tiefere Grund ftir die oft beklagte Vertrauenskrise zwischen Versichertem and Arzt in einem inneren Konflikt des behandelnden und des begutaehtenden Arztes zu suchen ist. Die Aufgaben des Arztes und des Richters sind gegens/~tzlicher Art, und es gehSren starke Per- sSnliehkeiten dazu, dieser inneren Spannung nicht durch unzul~ngliche Erfiillung der einen oder der anderen Aufgabe auszuweiehen. - - Die theoretisch denkbare LSsung, dab der behandelnde Arzt insbesondere in dem yon ihm behandelten Falle niemals zu gleicher Zeit Gutachter sein darf, mfiBte im Interesse der Wahrheitsermitt lung abgelehnt werden, weft gerade der behande]nde Arzt auf Grund seiner genauen Kenntnis des Pat ienten oft am besten in der Lage ist, aueh ein Saehverst/~ndigenurteil fiber die Krankhei t und ihre Folgen abzngeben; zudem wfirde eine solehe Trennung unverh/~ltnism~l]ig hohe Kosten durch Bestellung besonderer Xrzte, die nur als Gutachter tgtig w~ren, verursachen und den Ver- sieherten auBerdem dadurch besehweren, dab er sieh mehr a!s bisher mehr- fachen Untersuchungen durch versehiedene Xrzte aussetzen mfiBte. So kann eine L6sung des inneren Konfliktes zwischen dem Mediziner als Arzt und dem Mediziner als Gutachter nur dureh den Mediziner selbst erfolgen, indem er sich seiner doppelten Verpflichtung gegenfiber dem einzelnen Pat ienten und auch gegenfiber der Allgemeinheit bei der Wahrheitsermitt lung bewuBt ist und eine klare Grenze zwischen beiden Aufgaben zu ziehen weiB.

II. Die ~irzfliche Fragestellung.

Die Ers ta t tung eines Gutachtens als Beweismittel in einem Verfahren zur Entscheidung fiber best immte Ansprfiche - - sei es im ZivilprozeB, im StrafprozeB oder im Versicherungsverfahren - - setzt voraus, dab die zur Entscheidung berufene Stelle - - also der Versicherungstr/iger oder das Gericht - - dem Sachverstgndigen eine best immte Frage vorlegt, die er auf Grund seiner Saehkunde zu beantworten hat. Die Idealform einer solchen Begutachtung w/~re erreicht, wenn dem Saehverst~ndigen zu- sammeh mit dieser Frage auch ein best immter Sachverhalt (Tatbestand) mitgeteilt wfirde, der bereits yon dem Versicherungstr/~ger oder dem

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Gericht festgestell~ ist, und yon dem der Saehverst/~ndige bei seinem Gutaehten ohne Naehpriifung auszugehen h/~tte. In dieser Weise werden h~ufig im Zivilprozelt yon Saehverstandigen Gutachten in Form eines besonderen Beweisbeschlusses erfordert. Im Verfahren vor den Ver- sieherungs- und VersorgungsbehSrden sind solche ausfiihrlieheren Be- weisbeschliisse selten, ja es wird oft dem Arzt iiberlassen, selbst aus dem Akteninhalt zu entnehmen, zu welcher Frage er sich gutaehtlich ~uBern soll. Damit tibernimmt der Arzt eine Aufgabe, die ohne Kenntnis der Grundbegriffe unseres Sozialversicherungsrechts unm6glich gelSst wer- den kann; denn die Frage, worfiber Beweis erhoben werden soll, setz~ bereits eine rechtliche Beurteilung voraus, indem eben aus dem Gesetz abzulesen ist, welche Voraussetzungen zu erfiillen und daher gegebenen- falls mit Hilfe der arztlichen Saehkunde festzustellen sind, wenn der An- spruch begriindet sein soll. Die Frage, woriiber ein Gutaehten zu erstatten ist, h/~ngt also in erster Linie davon ab, welcher Anspruch geltend gemacht wird. Wenn es sich etwa um eine Invalidenrente handelt, ist nieht dazu Stellung zu nehmen, worauf die Erwerbsminderung zuriickzufiihren ist, dagegen ist gerade diese Frage des urs~ichlichen Zusammenhanges von entscheidender Bedeutung, wenn z .B. Anspriiche gegen die Unfall- versicherung wegen eines Betriebsunfalles oder eine Berufskrankheit verfolgt werden.

Die /;rztliche Fragestellung ist nun in der Sozialversicherung yon vornherein dadurch bestimmt und begrenz~, dab die Sozialversicherung Risiken ausgleicht, die die Erwerbsf/~higkeit des einzelnen Versicherten bedrohen, und zwar durch ein Versagen des Versicherten selbst, sei es seiner kSrperlichen oder geistigen Kr~fte. Die Sozialversieherung im engeren Sinne, d .h . die Sozialversieherung ohne die Arbeitslosenver- sieherung, hat es also ebenso wie die Versorgung mit den Sch~den zu tun, die dutch M~ingel des Menschen selbst bedingt sind und seine Erwerbs- f~higkeit im allgemeinen beeintrachtigen, - - wahrend umgekehrt die Ar- beitslosenversieherung gerade dagegen Sehutz zu gewahren sucht, dab eine vorhandene Erwerbsfahigkeit infolge tier Lage des Arbeitsmarktes nicht zum Erwerb des Lebensunterhaltes verwertet werden kann. Dem- gem~B ist also in der Arbeitslosenversicherung - - wit werden darauf welter unten zuriickkommen - - als Voraussetzung des Anspruches nicht eine Minderung tier Erwerbsfahigkeit, sondern gerade das Vorhandensein yon Arbeitsfahigkeit (w 88 AVAVG) festzustellen, w/ihrend in den an- deren Versicherungszweigen und im Versorgungsrecht die ~trztliche Fragestellung auf das Fehlen 6der die Minderung der Arbeits- oder Erwerbsf~higkeit geriehtet ist. Hieraus folgt, dab sieh alas /~rztliche Gutachten in tier Sozialversicherung und in der Versorgung grunds~tz- lich nicht mit Fragen des Arbeitsmarktes, d. h. also der MSgliehkeit der Erlangung von Arbeitsstellen oder etwa gar mit Fragen tier Bediirftigkeit

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212 W. Boos:

und der Ffirsorge ffir den einzelnen Versieherten oder Versorgten zu be'- fassen hat, - - der Mensch in seiner physisehen und psychischen Realit~t ist das Objekt seiner Benrteilung.

J e d e s ~rztliche Gutachten wird daher zun~tchst eine ~rztliehe Be- s tandsaufnahme des Mensehen enthalten mfissen, d. h. einen Befund und die Diagnose. Dabei wird im allgemeinen der ganze Mensch zu betrachten sein, auch wenn in dem einzelnen Verfahren etwa nur best immte Beein- tr~chtigungen seiner Gesundheit im Vordergrund stehen; denn die ent- scheidende Frage nach den dem Versicherten oder Versorgten verbliebe- hen F~higkeiten kann nur unter Berfieksichtigung seines gesamten k5rperlichen und geistigen Zustandes zutreffend beurteilt werden. Auch soweit daher etwa Erkrankungen des Ohres infolge eines Unfalles zur ErSrterung stehen, wird doch notwendigerweise das ~rztliche Gutaehten einen, wenn auch nur kurz gefal3ten Uberblick fiber den gesamten Ge- sundheitszustand des Unfallverletzten zu enthalten haben. Denn erst das besondere Leiden - - z .B. Taubheit - - und der gesamte Kr~ftezustand lassen einen Schlul3 auf die dem Versieherten oder Versorgten noeh verbliebene Erwerbsf~higkeit zu.

Diese Erw~gungen sind besonders wiehtig, wenn ein sehon ver- mindert E r w e r b s b e s e h r ~ n k t e r - z. B. ein Beinamputier ter - - eine wei- tere Gesundheitsseh~digung etwa dutch einen Unfali erleidet. In einem solehen Falle bedarf es der Feststellung, inwieweit die vor seinem Unfall bestehende und hier also mit 100~ einzusetzende ,,Erwerbsf~higkeit" dutch den Unfall gemindert worden ist. Indessen wird dabei notwendiger- weise auszugehen sein v0n der gesamten dem Verletzten nach dem Unfall noch verbliebenen Erwerbsf~higkeit und diese wird in Vergleich zu setzen sein mit den F~thigkeiten, fiber die er vor dem Unfall verfiigte; dabei kann sich ergeben, dab ein sehon vor dem Unfall Beseh~tdigter durch den zweiten Unfall in seiner Erwerbsf~higkeit in hSherem Ma[te beeintr~ch- t igt wird als ein vorher Gesunder: so, wenn etwa ein auf einem Ohr Tauber durch den Unfall das GehSr auch auf dem anderen Ohr verliert. Demgem~13 ist jetzt auch in den Verwaltungsvorsehriften zur Dureh- fiihrung des Bundesversorgungsgesetzes (zu w167 29, 30 Nr. 2) ausdriicklieh gesagt, da{~ b e i schon bestehendem ,,Vorschaden" die Minderung der Erwerbsf~higkeit unter Berficksiehtigung der dureh die frfihere Gesund- heitsst6rung bedingten besonderen Beeintr~chtigungen nnter Umst~nden gfinstiger zu beurteilen ist, als es bei einem bisher roll Erwerbsf~higen im gleichen Schadensfalle zu geschehen h~tte.

Neben der Feststellung des kSrperlichen und geistigen ,,Bestandes" und der danaeh etwa bestehenden Erwerbsminderung ist es nun in man- chen Versicherungszweigen und aueh in der Versorgung yon Bedeutung, die Ursache der k5rperlichen oder seelisehen Beeintr~chtigung fest- zustellen.

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Die Notwendigkeit, auf die Ursache der festgestellten Leiden zurfick- zugehen, ist durch die rechtliche Gestaltung unserer Sozialversicherung und Versorgung bedingt, die Schutz gegen bestimmte Risiken zu ge- wiihren sucht, also Schutz gegen Krankheit, Unfall, Invalidit~t usw. nicht aber allgemein Leistungen immer schon dann zu erbringen hat, wenn ein Bediirfnis dazu wegen mangelnder Erwerbsf~higkeit besteht. Die Benachteiligung dessert, der z. B. einen Arm verloren hat oder taub geworden ist, wird in aller Regel nicht davon abh/~ngig sein, worauf dieser Verlnst zuriickzuftihren ist; ftir den Beruf des Amputierten oder Tauben ist es gleichgfiltig, ob er seinen Arm oder sein GehSr durch eine Kriegseinwirkung, durch einen Unfall oder durch eine sich lange hin- ziehende Kralxkheit eingebiiBt hat, ja, die gleiche Benaehteiligung wiirde aueh vorliegen , wenn es sich um ein angeborenes Leiden - - also ein Ge- breehen in unserem Spraehgebraueh - - handelte. Vom Standpunkt einer allgemeinen Staatsbtirgerversorgung, die dureh 5ffentliehe Lei. stungen den vorhandenen Bedarf an 5ffentlieher tIilfe zu deeken sueht, wiirde es daher auf die Feststellung der Ursache der Erwerbsminderung nieht ankommen. Anders jedoeh, wenn unsere Reehtsordnung Sehutz gegen bestimmte Gefahren des Lebens geben will nnd die Gesehiitzten naeh dem Versieherungsprinzip zur Mithilfe bei der Anfbringung der Mittel aufruft. Bei einem solehen System der Sozialversieherung kommt es darauf an festzustellen, ob der in seiner Erwerbsfghigkeit Be- eintrgehtigte einer Gefahr erlegen ist, vor der zu sehiitzen, gerade die Aufgabe der betreffenden Versieherung oder Versorgung ist. So hat sieh also naeh unserer Sozialordnung die grtzliehe Begutaehtung hKufig mit der Frage zu besch/~ftigen, welches die Ursaehen des regelwidrigen KSr- per- oder Geisteszustandes sind, und ob demnaeh die gesetzliehen Vor- aussetzungen ftir die Gew~hrung yon Leistungen des betreffenden Ver- sieherungszweiges, dem diese Schutzaufgabe zuf~llt, erfiillt sind.

Es liegt Mar zu Tage, dag ein solcher ursiichlicher Zusammenhang besonders dann festgestellt werden muB, wenn Leistungen der Un]all- versicherung in Anspruch genommen werden, denn deren Leistungen sind besehr/inkt auf Seh~den, die dureh Unf~Ile eintreten oder - - bei Berufskrankheiten - - dnrch bestimmte gefahrenbringende berufliche Tgtigkeiten hervorgerufen sind. Hier haben also die Nrzte zu lortifen, ob der von ihnen festgestellte regelwidrige K6rper- oder Geisteszustand dureh den Vorgang, den wir Unfall nennen, verursaeht worden ist. Als Ursaehe in rein logischem Sinne wi~re jeder Vorgang anzusehen, ohne den die betreffende Sehi~digung oder T6tung nicht eingetreten wi~re (eonditio sine qua non). Dieser weitgehende Ursachenbegriff ist indes in der Unfall- versieherung nieht brauehbar. Nnr solehe Vorfiille und Zust~nde sind naeh der Reehtsspreehung des Reiehsversieherungsamtes als Ursache fiir den eingetretenen KSrper- oder Geistessehaden anzusehen, die wesentlich

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zu dem Er/olgen beigetragen haben (vgl. dazu im einzelnen: K~]~IL, Die Arbeits- und Erwerbsunf/ihigkeit in der Deutschen Sozialversicherung, 1935, S. 1 0 8 i f ) . - Von dieser entscheidend4rzt~icher Beurteilung unter- liegenden Feststellung des Kausalzusammenhanges zwischen der Ge- sundheitssch~digung und dem Unfall ist die Frage zu unterseheiden, ob der betreffende Vorgang, den wir Unfal] nennen, ein,,versicherter Unfall" war, d .b . insbesondere, ob er mit der Arbeit des Verletzten oder Ge- tSteten im Zusammenhang stand. Die Prfifung dieses Kausalzusammen- hanges zwisehen Arbeit (nach altem l%eeht: versiehertem Betrieb) und Unfall ist nieht Sache des Arztes. Er hat lediglich dazu Stellung zu neh- men, ob ein urs/s Zusammenhang zwischen dem als Unfall bezeiehneten Vorgang und der festgestellten Erwerbsminderung besteht.

D i e Frage der Ursache eines KSrper- oder Geistesschadens spielt ferner eine bedeutsame Rolle im Versorgungsrecht. Hier kommt es darauf an, den l~aehweis zu ffihren, daft ein bestimmter regelwidr~ger KSrper- oder Geisteszustand dutch einen als ,,Seh~digung" bezeichneten Vor- gang, insbesondere also dureh eine milit/~risehe oder milit~r~hnliche Dienstverrichtung oder durch einen w~Lhrend der Dienstverrichtung erlittenen UnfaI1 verursacht worden ist. Dabei ist zu bemerken, daft - - wie die Verwaltungsvorsehriften zum Bundesversorgungsgesetz (vom 1.3.51) zutreffend angeben - - unter ,,Sehgdigung" (spraehlieh wenig iiberzeugend) der schgdigende Vorgang, nieht aber die Folge dieses Vor- ganges zu verstehen ist (vgl. zu w 1 Nr. 4 der Verwaltungsvorschrif~en). Entschgdigt werden nach dem BVG die Folgen der Schgdigung (vgl. w 1 Abs. 1 BVG), so daft es des Nachweises eines Zusammenhanges zwi- sehen dem sehgdigenden Vorgang und den festgestellten K6rper- oder Geis~essehgden bedarf. Diesen Zusammenhang zu klgren, ist vornehmlieh Saehe /s Beurteilung, wobei dem Arzt als Grundlage seiner medizinischen Beurteilung der seh~digende Vorgang yon der Versor- gungsbehSrde oder dem Versorgungsgericht mSgliehst eindeutig mit- geteilt werden sollte. E s sollte yon dem Arzt nicht verlangt werden, zu der Frage des Zusammenhanges zwischen schs Vorgang und Gesundheitsschaden Stellung zu nehmen, solange nieht in dem Ver- fahren dutch sonstige Beweisaufnahme, etwa Zeugenvernehmung, der schgdigende Vorgang in allen Einzelheiten festgestellt worden ist. Fehlt es an einer solehen Klarste]lung fiber den seh/~digenden Vorgang, so sollte der Arzt, bevor er sein Gutachten fiber den Zusammenhang erstattet , sich dureh Rfickfrage bei der VersorgungsbehSrde oder dem Gericht Klarheit fiber den Saehverhalt zu verschaffen suchen, yon de:a sein Gut- aehten auszugehen hat.

Eine Besonderheit des Versorgungsrechts besteht darin, daI~ nach w 1 Abs. 3 des BVG zur Anerkennung einer GesundheitsstSrung als Folge einer Sch/idigung die Wahrscheinlichkeit des urs/ichlichen ZusammenhangeS

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geniigt. Diese gesetzliehe Beweisregelung stellt eine Ausnahme yon dem allgemein im Verfahrensreeht geltenden Grunds~tzen dar, wonaeh der fiir d i e Zuerkennung eines Anspruehs gesetzlieh maggebende Saehverhalt nieht nut wahrseheinlieh, sondern erwiesen sein mug; es daft also - - was uns etwa im Strafverfahren ganz selbstverst~ndlich er- scheint - - der l~iehter nieht nur der Meinung sein, der Angeklagte wird wohl gestohlen haben, er muB vielmehr auf Grund der freien Wfirdigung des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme und Verhandlung die ~berzeugung erlangt haben, dag der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat. Auf das Verfahrensreeht der Sozialversieherung und Versorgung angewandt, bedeutet dieser Grundsatz, dag eine Leistung nut zuerkannt werden kann, wenn auf Grund der Beweisaufnahme und Verhandlung feststeht, dab die gesetzliehen Voraussetzungen ffir die Gewi~hrung der Leistung erfiillt sind. Die konsequente Anwendung dieses Grundsatzes auf die vom Gesetz geforderte l~eststellung des Zusammen- hanges zwisehen seh~digendem Vorgang (bzw. in der Unfallversieherung : Unfall) und dem Gesundheitssehaden wfirde nun in der Praxis dahin ffihren, dal~ in einer fibergroBen Zahl yon t~tllen ein Rentenansprueh nur deshalb abgelehnt werden miiBte, weil es mangels geeigneter Beweis- mittel nieht mSglieh ist, den tats~ehlieh vorhandenen Zusammen- hang aueh naehzuweisen. Dieser Sachlage hat die Rechtspreehung der Versicherungsgeriehte sehon bisher dadureh Reehnung getragen, dag sie es im 1Rahmen der Grunds~tze fiber die freie Beweiswiirdigung zugelassell hat, den Beweis ftir das Vorliegen des fragliehen Zusammenhanges nach der Erfahrung des Lebens sehon dann als gegeben anzusehen, wenn eine hohe Wahrseheinliehkeit fiir das Bestehen eines solehen Zusammenhanges naehgewiesen ist. Da sieh eine vollstiindige I~ekonstruierung des histo- risehen Gesehehens (des Unfalls oder der Sehi~digung) aueh bei m6gliehst eingehender Saehaufkl~rung oft nieht erbringen l~Bt, ist die entsehei- dende Stelle darauf angewiesen, ihre Uberzeugung und Entseheidung auf Wahrseheinliehkeitsumstgnde zu grfinden. Gelangt sie so aus der Gesamtheit der in Betraeht kommenden Umst~tnde in Verbindung mit der allgemeinen Lebenserfahrung zu der l~berzeugung, dag die Erwerbs- minderung mit ganz fiberwiegender Wahrseheinliehkeit eine l~olge des Unfalls oder der ,,Seh/~digung" ist, so ist sie bereehtigt, den Beweis eines solehen Zusammenhanges als erbraeht anzusehen (vgl. Entseheidungen des Reiehsversieherungsamts in den ,,Entseheidungen und Mitteilun- gen", Band 14, S. 378, Bd. 16, S. 296, Bd. 18 S. 185). Es ist jedoeh zu betonen, dag keinesfalls allein die Mdglichlceit eines urs~tehliehen Zu- sammenhanges geniigt, es muB vielmehr Wahrseheinliehkeit in so hohem Mage vorhanden sein, dab sie verniinftigerweise unter den gegebenen Umst/~nden die I)berzeugung zu reehtfertigen vermag, dab tats~ehlieh ein Zusammenhang bestanden hat; in diesem Sinne pflegt die l~eeht-

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216 W. Boas:

sprechung auch yon dem Erfordernis ,,der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" zu sprechen (vgl. EUM Bd. 18 S. 185). - - Fiir das Versorgungsrecht geniigt iedoch nach der ausdriicl~lichen Vorschrift in w 1 des BVG der Nachweis einer ,,Wahrscheinlichkeit" des Zusammen- hanges zwischen ,,Schgdigung" und Gesundheitsst5rung. Es mu6 also objektiv iiberwiegend die Annahme des Vorliegens eines Zusammen- hanges gerechtfertigt sein, die blol~e MSglichkeit geniigt auch bier nicht.

Die Frage der Ursache eines regelwidrigen K5rper- oder Geistes- zustandes ist, was selten beachtet wird, auch in der Krankenversicherung nicht ohne Bedeutung. Werden doch Leistungen der Krankenversiche- rung nur gewghrt, wenn eine Krankheit im l~echtSsinne vorliegt, nicht dagegen, wenn es sich um ein sogenanntes ,,Gebrechen" handelt. H~ufig wird zwar in unseren Gesetzen Krankheit und Gebrechen gleich be- handelt, gelegentlich wird die Krankheit sogar als eine besondere Art yon Gebrechen angesprochen, - - so wenn es bei der Begriffsbestimmung der Invalidit/~t in w 1254 RVO heil3t, dab die Erwerbsminderung ,,infolge yon Krankheit oder anderer Gebrechen" eingetreten sein mu6. In der Krankenversicherung ist dagegen das Gebrechen yon der Krankheit zu unterscheiden; man versteht darunter einen dauernden, abgeschlossenen, im allgemeinen auch nicht mehr behandlungsf~higen Zustand, wi~hrend unter Krankheit eine der Entwicklung unterworfene, einem zeitlichen Ablauf unterliegende Abweichung yore normalen KSrper- oder Geistes- zustand begriffen wird (vgl. KR~IL, a. a. O. S. 99). In diesem Sinne ist hi~ufig eine unver~nderliche SchwerhSrigkeit oder Taubheit als Gebrechen anzusehen, so daI~ in solchen FKllen trotz bestehender Erwerbsminde- rung Leistungen der Krankenversicherung nicht zu gew/~hren sind; die Ursache der Erwerbsminderung und der etwa bestehenden Arbeits- unF~higkeit ist hier nicht eine Krankheit im Rechtssinne, sondern ein Gebrechen. - - Sehr h~ufig werden Gebrechen angeboren sein, z .B. Geisteskrankheit, Fehlen eines Gliedes und auch Taubheit; in diesen Fi~llen wird das Gebrechen nicht selten zur Folge haben, dab von An- beginn keine zur Aufnahme einer Besch~ftigung ausreichende Arbeits- f~higkeit bestand, so dab auch ein versicherungspflichtiges Besch~f~i- gungsverh/~ltnis nicht zur Entstehung gelangen konnte.

Die U~wache der bestehenden kSrperlichen oder geistigen M~ngel ist dagegen grundsi~tzlich unerheblich in der Rentenversicherung, d. h. in der Invalidenversicherung, der Angestelltenversicherung und auch in der knappschaftlichen Rentenversicherung. In diesen Versicherungszweigen ist es grunds/s ohne Bedeutung, worauf die Erwerbsminderung, welche die Invalidit/~t oder Berufsunfi~higkeit bedingt, zuriickzufiihren ist. Zwar hei6t es im w 1254 I~VO bei der Begriffsbestimmung der Invalidit~t, (und Entsprechendes gilt in der Angestelltenversicherung - - w 27 AVG - - und in der knappschaftlichen Rentenversicherung - - w167 35, 36 BVG -- )

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dab der Versicherte . . . . . infolge von Krankhe i t oder anderen Ge- brechen oder Schw/~che seiner k6rperlichen oder geistigen Kr/~fte" nicht imstande sein darf, einen best immten Verdienst zu erzielen. Indessen kommen andere als die in dieser Vorschrift angeffihrten Grfinde als Ur- sache einer Erwerbsminderung praktisch kaum vor, und soweit sie den- noch gelegentlich auftauchen - - etwa bei dem Bazillenausscheider, der an sich wohl arbeitsf~hig ist, aber wegen der Gef~hrdung seiner Mit- arbeiter nicht arbeiten kann - - , sind diese F~lle yon der Rechtsprechung der Krankhei t oder dem Gebrechen gleichgestellt. F fir die T~tigkeit des ~rztlichen Sachverst/~ndigen kann also davon ausgegangen werden, dab es in der l~entenversicherung zur Begrfindung eines Versieherungs- anspruehs nicht darauf ankommt, worauf die Erwerbsminderung beruht; entscheidend ist allein, dab der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, durch Arbeit in seinem Berufskreise oder - - in der Invalidenversiche- rung - - durch ihm zumutbare Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeits- mark t die sogenannte gesetzliche Lohnh~lfte zu verdienen (vgl. dazu unten). Es w~tre also durchaus fehl am Platze, wenn im Verfahren fiber die Gewghrung einer Rente aus der Invalidenversicherung, Angestellten- versicherung oder knappschaftlichen Rentenversicherung der Arzt dar- auf einginge, worauf die Erwerbsminderung des Versieherten zuriick- zuffihren ist. Eine solche /~rztliche Prfifung kann allenfalls dann an- gebracht sein, wenn aus der Verursachung der Krankhei t des Versicher- ten Sehliisse auf die Art der Erkrankung und den gegenw~rtigen Ge- sundheitszustand oder auch auf die voraussichtliche Dauer der Erwerbs- minderung gezogen werden kSnnen.

Die Voraussage der weiteren Entwicklung eines Krankheitszustandes kann Gegenstand einer dem Arzt zur Beantwortung vorgelegten Frage sein, wenn es sich datum handelt, ob das betreffende Leiden einen Dauer- zustand darstellt oder lediglich eine vori~bergehende Minderung der Er- werbsf/~higkeit be.dingt. Diese Frage ist yon Bedeutung sowohl in der l~entenversicherung als auch in der Unfallversicherung; sie kann auch in einigen F/~llen der Krankenversieherung, so bei Gew~hrung des Krankengeldes fiber 26 Woehen hinaus, eine Rolle spielen (vgl. Erl. des RAM v. 2.11. 1943 RAB1. I I S. 485 - - zu w 183 I~VO).

In der Invaliden-, Angestellten- und knappschaftlichen Renten- versicherung ist es ffir den Beginn der Leistungen wichtig, ob der Zustand der Minderung der Erwerbsf/~higkeit voraussichtlich dauernd oder nur vorfibergehend ist, denn ein Anspruch auf Rente kann in diesem Versicherungszweig nur dann unmit telbar mit dem Eintr i t t der Erwerbs- minderung begrfindet sein, wenn der Zustand tier Erwerbsminderung voraussiehtlieh yon Dauer ist. Wenn dagegen die Minderung der Er- werbsf/~higkeit voraussichtlich nur vorfibergehend ist, so t r i t t der Versicherungsfall erst ein, wenn der Zustand eine gewisse Mindestzeit

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fiberdauert hat : In der Invalidenversicherung werden bei voriibergehender Invaliditi~t Renten erst gew~hrt, wenn die Invalidit~t ununterbroehen 26 Wochen gedauert hat oder wenigstens naeh Wegfall des Kranken- geldes fortbesteht (w 1253 Abs. 1 RV0). Entspreehende Regelungen gelten in der Angestellten- und knappschaftl iehen Rentenversicherung. - - Der Arzt muB also bei Gutaehten fiber das Vorliegen yon Invalidit~t oder Berufsunf~higkeit auch zu der Frage der voraussichtlichen Dauer der Minderung der Erwerbsfs Stellung nehmen, sofern es sich um die Bewilligung einer noch nicht laufenden Rente handelt.

Als dauernd ist dabei ein Zustand anzusehen, mit dessen ~nderung in absehbarer Zeit nieht zu rechnen ist; die M6glichlceit einer Besserung, auch einer wesentliehen Besserung, schlieBt das Bestehen eines Dauer- zustandes nicht aus. Vori~bergehend ist die Minderung der Erwerbsf/~hig- keit, wenn sie nach menschlichem Ermessen in absehbarer Zeit beseitigt werden wird. Dabei ist zu beachten, dab die Besserung des Zustandes des Versieherten nicht nur durch Bessernng seines Leidens, sondern auch dureh Anwendung yon tteil- oder Hilfsmitteln herbeigeffihrt werden kann. Das grit insbesondere auch fiir die Besserung einer bestehenden SchwerhSriglceit durch Verwendung entsprechender Apparate. Allerdings wird dem Versicherten die Aus grSl~erer Mittel zur Beschaffung solcher t t i l fsmit teI nieht zugemutet werden kSnnen, vielmehr ist es Sache des Versieherungstri~gers oder der VersorgungsbehSrde, dem Gesehadig- ten die nStigen Heft- Und Hilfsmittel zur Verffigung zu stellen. Weigert sich die zustandige Stelle in einem solchen Falle, die zur Minderung der bestehenden Erwerbsunfghigkeit geeigneten Mittel zu beschaffen, so ist der Zust2nd des Versicherten oder Versorgten 21s Dauerzustand an- zuerkennen. - - [s t eine Besserung des Leidens dureh ein Heilver/ahren zu erwarten und ist der Versicherungstr~germoder die VersorgungsbehSrde bereit, ein solehes Heilverfahren einzuleiten, so ist der Zustand als vor- fibergehend anzusehen, und zw2r aueh dann, wenn. der Geschgdigte die Durchffihrung eines Heilverfahrens ohne triftige Grtinde ablehnen sollte. I s t dagegen seine Weigerung, sich einem Heilverfahren zu unter- ziehen, begrfindet, so ist der Zustand der Erwerbsbeschr~tnkung als dauernd 2nzusehen, auch wenn durch ein Heilverfahren eine Besserung erreicht werden k5nnte. - - Mal~gebend ffir die Beurteilung des voraus- sichtlichen Verlaufs eines Krankheitszustandes ist der Zei tpunkt der Be- willignng oder gerichtlichen Zuerkennung der betreffenden Leistung (vgl. zu dem gesamten Problem: KREIL~ 2. 2. O. S. 144f.).

DiG Dauer eines regelwidrigen KSrper- oder Geisteszustandes ist fer- net yon Bedeutung in der Un/allversicherung, die zwischen Dauerrente und vorldufiger Rente unterseheidet. Naeh dem Gesetz hat die Fest- setzung einer Dauerrente sp~testens innerhalb yon zwei Jahren nach dem Unf211 zu erfolgen ; eine_~nderung der Rente darf alsdann nur in Zeitr~tumen

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yon mindestens einem Jahr vorgenommen werden (w 609 RVO). Bis zum Ablauf der ersten zwei Jahre nach dem Unfall ist eine v0rl~tufige Rente zu gewiihren, die der jeweiligen Erwerbsminderung angepaBt wer- den kann (vgl. w 609, w 1585 RVO). Die Dauerrente ist jedoch schon vor Ablauf der zwei Jahre festzusetzen, wenn der Beharrungszustand schon vorher eingetreten ist. Der Arzt hat ~lso bei Begutachtung yon Unf~llen, die weniger als zwei Jahre zuriickliegen, grunds/itzlich auch zu der Frage Stellung zu nehmen, ob bereits Bin Dauerzustand eingetreten ist oder ob mit alsbaldiger Xnderung in den Unfallfolgen zu rechnen ist.

III. Die Beurteilung der Erwerbsminderung Die wohl hiiufigste dem iirztlichen SachverstS, ndigen vorgelegte Frage

betrifft den Grad, d. h. das AusmaB einer Erwerbsminderung. Sie wird daher hier in einem besonderen Abschnitt n/~her behandelt. Dabei sollen zuni~chst die allgemeinen, ffir alle Versicherungszweige und aueh ftir das Versorgungsrecht gleichermaften geltenden Probleme er6rtert (A) und so- dann auf die Besonderheiten der Feststellung des Grades der Erwerbs- minderung in den einzelnen Versicherungsz~veigen und im Versorgungs- recht eingegangen werden (B).

A. A llgemeine Grundsiitze.

Sowohl die Sozialversieherung als aueh die Versorgung erstreben einen Ausgleich des Naehteils, der dutch eine Erwerbsminderung eingetreten ist; es handelt sich also rechtlich gesehen um eine Form des Schadens- ersatzes. Die l%ststellung der H5he des ,Schadensersatzes" h/~ngt hier- naeh yon dem Umfang des Sehadens ab. Es ist nun zu beriicksiehtigen, da$ der Schaden, der etwa dutch einen Unfall oder durch eine Krankheit herbeigeftihrt wird, nieht nur VermSgenssehaden ist, sondern sieh aueh in mancherlei anderen Nachteilen, z. B. Schmerzen oder Verunstaltun- gen, iiuSern kann. l~ach unserem Zivilrecht wird bekannt l ich-- abgesehen yon dem Anspruch auf Schmerzensgeld bei einer unerlaubten Handlun K. vgl. w 847 BGB --grundsatzl ich nur der VermSgensschaden ersetzt, den der Verletzte dadurch erleidet, daft er infolge einer Verletzung zeitweise oder dauernd in seiner Erwerbsf~ihigkeit beschr~nkt ist. Im Zivilrecht wird also die Minderung der Erwerbsfahigkeit nut insoweit berficksichtigt, als dadurch ein Verm6gensschaden entstanden ist, und zwar ist maftgebend die konkrete Einbufte beim Erwerb. Es muft mithin bei der Gelgend- machung eines solchen zivilrechtlichen Schadensanspruchs nachgewiesen werden, welche Unkosten und welchen Einkommensausfall der Verletzte tats~ehlich erlitten hat.

Das Recht der Sozia]versicherung und Versorgung geht indessen bei der Bemessung des zu leistenden Schadensersatzes andere Wege. Es be- t rachtet den einzelnen Verletzten und Geschfidigten nicht individuell

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220 W. Boos:

hinsiehtlich der ihm erwaehsenden Nachteile, sondern es nimmt eine generelle l~egelung vor : Nicht der tats/~ehlich entstandene Sehaden wird ersetz~, vielmehr wird der Schaden unter Beriieksiehtigung der allgemei- nen Lebenserfahrung ,,abs~rakt" bereehne~, indem die ItShe der Rente (also des Sehadensersatzes) generell abh~ngig gemaeht wird yon dem Umfang der eingetretenen Erwerbsminderung. Ein Ansprueh auf einen solehen ,,generellen Sehadensersatz" wird daher grunds/i~zlich nieht da- dutch ausgesehlossen, dag e~wa ein einzelner Unfallverletzter oder Kriegs- beseh~digter trotz seiner Seh/~digung tats~chlieh keinenVerm6gensnaeh~eil erlitten hat, vielleieht sogar nach demUnfall oder der I)ienstbeseh~digung sich wirtsehaftlieh besser steht als vorher. Diese Zusammenh/inge miissen erkannt werden, wenn in der ()ffentliehkeit gelegentlich davon die Rede ist, dab der eine oder der andere Versieherte oder Versorgte, zumal wenn er Minister ist, eine Rente zu Unreeht beziehe, da er ja gar keinen Schaden gehabt babe. Es kommt hinzu, dab die Sozialversieherung und aueh die Versorgung, wenn sie yon einem solehen generell ermi~tel~en Grad der Erwerbsminderung ausgehen, aueh beriieksiehtigen, dab der die Erwerbs- minderung bedingende regelwidrige K6rper- und Geisteszustand meist aueh noeh andere, vielleieht sogar viel sehwerere naehteilige Folgen fiir den Betroffenen im Gefolge haben kann. Es isg also bei der Feststellung der I-IShe des Sehadensersatzes, d. h. insbesondere bei der Bemessung der I~ente sowohl im Sozialversieherungsreeht wie im Versorgungsreeht yon dem Grad der Erwerbsminderung in diesem weiten Sinne auszugehen, ohne dab es darauf ankommt, welehe wirtsehaftliehe EinbuBe der Verletzte oder Beseh~digte tats~ehlieh erlitten hat.

Theoretiseh gesehen gibt es d~ei versehiedene N6gliehkeiten, den hiernaeh maBgebenden Grad der Erwerbsminderung zu best immen. Auf Grund der Erfahrung, dag der Erwerb weitgehend bestimmt isg dutch den Grad an k6rperlieher und geistiger Leistungsfi~higkeit, k6nnte die Erwerbsminderung zun~ehst gemessen werden allein naeh dem Mal~ der k6rperliehen oder geistigen Beein~r~ehtigung, wobei jeder Betiitigung des K6rpers im I-Iinbliek auf die gesamte k5rperliehe Leistung eine Ver- hEltniszahl beigelegt werden mfigte. ])ann ist der Wert des einzelnen KSrperteils oder Organes unabh/ingig yon der Beseh~ftigung seines TrY- gets zu seh/~tzen; der Verlust des Geh6rs auf einem Ohr mtigte bei einer Stenotypistin oder bei einem Sehauspieler in der gleiehen Weise bewertet werden wie bei einem Landmann. Es erhellt, dab diese Absch/~tzung der ErwerbsfKhigkeit fiir Sozialversieherung und Versorgung nicht braueh- bar ist, weil sie dem Gedanken des Sehadensausgleiehs nur ganz un- zul~nglieh gereeht wiirde, - - ganz abgesehen yon dem Mangel, dab often- bar die Bewertung der einzelnen mensehliehen Glieder oder Organe ohne Anlehnung an einen anderen Wertmal3stab als den des unversehrten mensehliehen K6rpers willkiirlieh erscheinen muB. Es ist in keiner

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Weise einzusehen, warum etwa der Verlust eines Armes eine Invalidit~t yon etwa 60~ dagegen der Verlust eines Auges oder 'der Verlust des GehSrs auf einem Ohr eine Erwerbsminderung von vielleicht 30% zur Folge haben soll. Es wird eben nicht mSglich sein, fiir jede Funktion oder jedes Organ des menschlichen KSrpers einen seiner physischen Bedeutung entsprechenden Zahlenwert festzusetzen. Trotzdem haben einige ausl~ndische Versorgungsgesetze diesen Begriff der ,,physischen Invaliditiit" (vgl. dazu: Studien und Berichte des Internationalen Ar- beitsamtes, Reihe M, Nr. 10, Genf 1933, S. 161)verwandt, indem sie flit den Verlust eines bestimmten Gliedes oder Organs des KSrpers in einer Tabe~le einen bestimmten Grad der Erwerbsminderung festgesetzt haben. Gleiche Verletzungen bedingen danach also grunds~tzlich gleiche Erwerbsminderung, der Arzt hat bei dieser Methode lediglich das Vorhan- densein des KSrperschadens festzustellen und liest dann aus einer Tabelle den Grad der fiir die t~entenbemessung ma•gebenden ,,Erwerbsminde- rung" ab. Es l~tBt sich nicht verkennen, dab eine solche l~egelung den Forderungen der gleichm~i[3igen Behandlung aller Besch~idigten in hohem Malte entspricht und insoweit auch unserem Gerechtigkeitsgefiihl, das ja weitgehend yon dem Gedanken der Gleichheit beherrscht ist, entgegen- kommt. Trotzdem kann diese Art der rein physischen Bewertung des ein- zelnen Leidens den Anforderungen der Sozialversicherung und Versor- gung nieht genfigen, sofern diese - - wie es ihrem Wesen entspricht - - Wert darauf legen, den Nachteil, den eine bestimmte Sch~digung im Gefolge hat, auszugleichen. Vom Standpunkt einer sinnvollen SChadens- ersatzordnung der Sozialversicherung und Versorgung geht es nicht an, den Verlust des GehSrs etwa bei einer Stenotypistin und einem Land- mann gleich hoch zu werten, und es ist auch unertr~glich, nicht zu beriieksichtigen, dal~ der Verlust des linken Armes fiir einen Mon- teur yon weit grS~erer Bedeutung ist als fiir einen Gelehrten.

Eine die besonderen Zwecke der Sozialversicherung und Versorgung berficksichtigendeBewertung der Erwerbsminderung setzt vielmehr vor- aus, dal~ die dem Verletzten oder Gesch~digten verbliebenen KSrper- und Geisteskr~fte in Beziehung gesetzt werden zu 8einem Erwerb und dab daher festgestellt wird, inwieweit er durch diese Sch~digungen in seinem Erwerb beeintr~chtigt wird. Eine solche Absch~tzung des Grades der Erwerbsf~higkeit nach den Folgeu, die sie fiir den Erwerb des Gesch~dig- ten haben, kann in zweierlei Weise vorgenommen werden. Zun~chst kann die tats~chliche F~higkeit des Gesch~digten zur Austibung seines bisherigen Berufes in Betracht gezogen und der Unterschied des vor und nach der Seh~digung erzielbaren Verdienstes zum Ma6stab genommen werden. Es wfirde dann die Erwerbsf~thigkeit gemessen we.rden nach dem Nachteil, den sie ffir die Ausfibung des Bernfes des Gesch~digten hat, Wir sprechen dann yon einer ,,Beru/sun/(~higlceit", ein Begriff, der uns

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aus unserer Angestelltenversicherung und aueh aus der knappsehaftliehen Rentenversicherung durchaus gel~ufig ist. Allerdings wird aueh hier --- wiederum entspreehend der oben behandelten generalisierenden Tendenz unseres Vers~eherungs- und Versorgungsreehts - - nieht der bei der ein- zelnen beruflichen T~tigkeit tatsaehlieh konkret erwaehsende Naehteil gemessen, sondern es wird vergliehen der Verdienst, den der Gesch/~digte vor dem Unfall oder der Besch~digung in seinem Beruf erzielen konnte, mit dem Verdienst, den er naeh der Schadigung innerhalb seines Berufs- kreises, also etwa aueh bei anderer Beseh~Lftigung innerhalb des Berufs- kreises, regelm~f~ig zu erreiehen vermag. Es wird somit dem Geseh~digten nieht zugemutet, einen Berufswechsel derart vorzunehmen, da$ er eine T~tigkeit auI~erhalb seines Berufskreises, also bei dem Bergmann etwa aufterhalb des Bergbaus, fibernimmt.

Von dieser beruflichen Erwerbsminderung ist zu unterscheiden die Erwerbsminderung auf dem sogenannten allgemeinen Arbeitsmarkt. Bei dieser Art der Bemessung der Erwerbsf~higkeit wird dem Geseh/~digten zugemutet, den ibm verbleibenden Rest seiner Erwerbsf~Lhigkeit, wenn nStig dureh r zn einer anderen Beseh/~ftigung, nutzbar zu maehen, und zwar aueh auGerhalb seines bisherigen Berufskreises. Diese Art der Priifung des Grades der Erwerbsf~higkeit gilt bekanntlich in der deutsehen Invalidenversieherung. Der Versicherte ist nut dann Invalide, wenn er nieht mehr f/~hig ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen bestimmten Verdienst zu erwerben, wobei allerdings die Verweisung auf solehe T~tigkeiten und Berufe nieht zul~ssig ist, die dem Versieherten ,un te r billiger BerOeksiehtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes" (vgl. S. 1254, R 310) nicht zugemutet werden kSnnen. Diese Be- riieksiehtigung der Ausbildung und des bisherigen Berufes des Erwerbs- geminderten aueh in der Invalidenversieherung gleieht in Wahrheit in ho- hem Mage der oben erSrterten Regelung in der Berufsversicherung der Angestellten. Der allgemeine Arbeitsmarkt wird unbegrenzt nur for den ungelernten Arbeiter in Betraeht kommen, der gelernte; qualifizierte t~aeh- arbeiter wird dagegen--/~hnlich dem Angestellten - - doeh nur auf Arbeit irgendwie gehobener Art verwiesen werden kSnnen (vgl. dazu: BoGs, ,,Die Wandlung der Begriffe Invalidit/~t und Berufsunf/~higkeit" in, ,Recht der Arbeit", 1950, S. 290).

Die Verweisnng auf znmutbare Arbeiten, sei es innerhalb des betref- fenden Berufskreises (so in der Angestellten- und knappsehaftliehen Rentenversieherung), sei es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (in der Invalidenversieherung) wirft die l~rage auf, inwieweit die jeweilige Lage des Arbeitsmarktes bei solchen Verweisungen zu berOcksichtigen ist. Es entsprieht herrschender Auffassung, dab der Grad einer Erwerbsminde- rung bei unver/indertem kSrperliehem Zustand nieht dadureh steigen oder fallen kann, dal] sieh der Arbeitsmarkt for Berufe der betreffenden

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Art veri~ndert; es wfirden dann in Zeiten groBer Arbeitslosigkeit mehr Invalidenrenten und mehr Angestelltenruhegelder zu bewilligen sein als in Zeiten einer guten Arbeitsmarktlage. Die Wirklichkeit unseres Rechts- lebens zeigt aber in der Tat, dab bei grol3er Arbeitslosigkeit die Anforde- rungen an das Vorliegen yon Invalidit~t oder Berufsunfi~higkeit leicht etwas herabgesetzt werden. Oas scheint mir insofern nicht ganz ohne Begrtindung zu sein, als die Verweisung auf andere Ts als sie der Verletzte oder Gesch~digte vor der Sch~digung ausgeiibt hat, doch immer nur zul~ssig ist, wenn solehe M5glichkeiten einer beruflichen T/~- tigkeit auch tats~chlich vorhanden sind. Andererseits darf diese mittel- bare Berficksichtigung der Arbeitsmarktlage nicht dahin fiihren, dab der Risikobegriff der Sozialversicherung und der Versorgung verkannt wird; diese sollen nicht Schutz gegen die Schwankungen des Arbeitsmarktes, sondern Schutz gegen Beeintr~tchtigung der kSrperlichen und geistigen F/~higkeiten geben. Indem sie aber diese Beeintr~chtigung an der F/~hig- keit zum Erwerb messen, stellen sie doch auch begrifflich eine gewisse Verbindung zum Arbeitsmarkt dar, die sich auch in der praktischen Rechtsanwendung auswirkt: der Arzt darf Invalidit/~t oder Berufs- unf/~higkeit nicht mit der Begriindung ablehnen, dab der Versicherte noch einen praktisch nicht erlangbaren, ganz ausgefallenen Beruf aus- iiben k5nne. Der generalisierende Charakter unseres Sozialversicherungs- und Versorgungsrechts erfordert, dab bei der Verweisung auf andere Berufe nicht eine einzelne bestimmte Arbeitsste]le, ffir die der Gesch/i- digte etwa noch geeignet w~re, genannt wird, sondern dab im Sinne einer den Einzelfall fibersehreitenden Betrachtung gefragt wird, ftir welchen tats~chlich vorhandenen Kreis yon ArbeitsmSglichkeiten noch eine Ver- wendung besteht. Es wiirde zu weit fiihren, hier aufdiese Probleme des Zu- sammenhanges zwischen Grad der Erwerbsminderung und Arbeitsmarkt noch weiter einzugehen, es darf vielmehr bei dieser kurzen Andeutung de r bestehenden Schwierigkeiten, eine rechtlich zutreffenden L6sung zu finden, verbleiben.

B. Die Minderung der Erwerbs]ighigkeit in den einzelnen Versicherungs- zweigen und im Versorgungsrecht.

1. Kranke~versicherung.

Der Begriff der Kranlcheit im Sinne des Sozialversicherungsrechts weicht grundlegend yon dem medizinischen Krankheitsbegriff ab. Ffir das Vorliegen einer K~ankheit im Sinne der Sozialversicherung ist ihre medizinische Charakterisierung im allgemeinen unerheblich. Krankheit ist hier ein regelwidriger kSrperlicher oder geistiger Zustand, der behand- lungsbedfirftig ist und zudem unter Umst~nden zur Arbeitsunf~higkeit~ fiihren kann. Unerheblich ist also die medizinische Krankheitsursache

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und auch die medizinische Einheit des Krankheitsbildes. Wird im medizi- nischen Sinne eine Krankheit , z .B . Grippe, yon einer anderen, etwa einem Armbruch, unmittelb~r abgelSst, so handelt es sieh ira Sinne der Kr~nkenversicherung um denselben Versicherungsfall, eine einheitliche Krankheit , fiir die also grunds~tzlich insgesamt bis zu 26 Wochen Kran- kengeld gew~hrt wird.

Indessen wird es gerade nach der neueren Reehtsentwicklung auch in der Krankenversicherung nicht selten notwendig sein, die Ursache der Behandlungsbediirftigkeit und gegebenenfalls der Arbeitsunf~thigkeit, d. h. also die Krankheit im medizinischen Sinne, festzuste]len. Schon nach ~lterem, aueh jetzt noch geltendem Recht kann die Krankheitsursache Bedeutung haben bei Rfickfallerkrankungen, da in diesen F~llen durch die Satzung eine Leistungsbeschr~nkung herbeigeffihrt werden darf; Voraussetzung hierffir ist, da~ der Versicherte innerhalb yon 12 Monaten bereits ffir 26 Wochen Krankengeld oder Ersatzleistungen bezogen hat und nun in den niichsten 12 Monaten erneut Arbeits- nnf~higkeit durch dieselbe, noch nicht behobene Krankheitsursache ein- tritt . In diesen F~llen ist es also ffir den versicherungsm~l~igen Anspruch auf Krankengeld (oder die Gew~hrung einer Ersatzleistung durch Krankenhauspflege) yon Bedeutung, die Ursache der Arbeitsunf~higkeit dutch ~rztliehes Gutachten genau festzustellen. - - Die Art de r medizi- nischen Beurteilung der Krankheit (ira Rechtssinne ) spielt ferner eine Rolle bei der Befreiung yon der Arzneikostengebiihr und dem Arznei- kostenanteil (vgl. w 182a, b RVO), da diese Gebfihren bei bestimmten Krankheiten entfallen (vgl. uuch Erl. d. Reichsarbeitsministers v. 2.11. 1943, RAB1. I I S. 485).

Von besonders groBer Bedeutung kann die Feststellung der Art der Krankheit und ihrer Identiti~t mit einer sp~teren Krankheit nach neue- rem l~echt (Erl. des RAM v. 2.11. 1943 a. a. O.) bei einer Unterbrechung der Arbeitsunt~higkeit des Versicherten bei Fortbestehen der Behand- lungsbedfirftigkeit sein. Grunds~tzlieh wird das Krankengeld auf Grund desselben VersicherungsfaUes, dem - - wie gesagt - - mehrere Krankheits- ursachen im medizinischen Sinne zugrundeliegen kSnnen, bis zu 26 Wo- chen gewiihrt. Wird der Versicherte vor Ablauf dieser 26 Wochen wieder arbeitsf~hig, bleibt aber die Behandlungsbedfirftigkeit bestehen und tr i t t nunmehr wiederum Arbeitsunf~higkeit wegen einer anderen Krankheit ein, so gilt diese zweite Krankheit (ira medizinisehen Sinne) - - trotz des Fortbestehens der Behandlungsbedfiri~tigkeit! - - ]edoch als neuer Ver- sicherungsfall, so dal~ dem Versicherten also wi@der his zu 26 Wochen Krankengeld Zusteht. Ein Beispiel m~g diese durch den Erl~l~ des frfihe- ten Reichsarbeitsministers yore 2.11. 1943 fiber Verbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung (zu w 183 RVO) getroffene Neurege- lung erl~utern: Wenn ein wegen Tuberkulose arbeitsunf~higer Versicherter,

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Die Rech~sgrundlagen der/~rztlichen Begutachtung yon Erwerbsminderungen. 225

nachdem er ffir 20 Wochen Krankengeld bezogen hat, die Arbeit wieder aufnimmt, aber noch weiter in/irztlicher Behandlung bleibt und nunmehr in der 25. Woche etwa eine niehttuberkulSse Mittelohrerkran- kung eintritt, so erh~tlt er wegen der dureh diese Mittelohrerkrankung verursachte Arbeitsunf/ihigkeit erneut Krankengeld bis zur Dauer yon 26 Woehen; vorausgesetzt ist dabei jedoeh, dab die betreffende Ohren- erkrankung eine ,neue Krankheit", also nicht etwa eine Fortentwieklung der schon bestehenden Lungentuberkulose darstellt. Dutch diese neue Vorschrift ist also der ursl)rfingliche Krankheitsbegriff im Sinne des Sozialversieherungsrechts, bei dem es auf die medizinische Ursaehe und Einheitlichkeit der Krankhei t grunds/itzlich nicht ankam, in s tarkem MaBe modifiziert worden. Die ~rztliehe Diagnose - - nieht die bloBe Fest- stellung der Arbeitsunf/s - - ist nunmehr also aueh in der Kranken- versicherung oft ffir die Gews der Versicherungsleistungen yon entseheidender Bedeutung. Die neue l~echtslage wird nieht selten dazu ffihren, daB - - abgesehen yon dem kurzen Vermerk auf der Arbeits- unf/s - - n/~here/~rztliehe Gutachten dariiber erfor- deft werden, worauf eine bestehende Arbeitsunf~higkeit zurfickzuffihren ist, ob sie insbesondere aufeiner Krankheit beruht, dJeinnerhalb der gleichen Versieherungsperiode yon 26 Woehen sehon einmal Arbeitsunf'~higkeit zur Folge gehabt hat. - - Es wiirde den Rahmen meines Korreferats fiber- schreiten, auf die medizinischen Prob]eme einzugehen, die sich aus der Beantwortung der Frage ergeben, ob eine neue Arbeitsunf/s noch dutch die alte Erkrankung verursaeht worden ist, oder ob es sich u m eine einheitliche K~'ankheit im Sinne des angeffihrten Erlasses des l~eichs- arbei~sministers ,~om 2.11. 1943 handelt.

Abgesehen yon den erw~hnten F/illen kommt es also bei der Fest- stellung yon Arbeitsun/dihigkeit auf die medizinisehe Ursache dieser Un- f/thigkeit nieht an. Der Arzt muB vielmehr bei der Feststellung yon Arbeitsunf/s im Silme der Krankenversieherung sein Augenmerk entscheidend darauf richten, ob der Erkrankte noeh in der Lage ist, seine Berufsarbeit zu verriehten. Arbeitsunf~higkeit ist also eine besondere Form der Unf/ihigkei~, seinem Beru/ nachzugehen. Dabei wird unter Beruf nicht - - wie in der Angestelltenversieherung - - die Berufsgruppe verstanden, sondern grunds~tzlich der konkrete Beruf , den der Ver- sicherte vor der Erkrankung ausgefibt hat. In der Krankenversiche- rung ist also in aller Regel die Verweisung a u f eine andere berufliche T~tigkeit ausgeschlossen. Es sollen gerade dureh das Krankengeld die Nachteile ausgeglichen werden, die der Versicherte dadurch erleidet, dab er seine bisherige Berufsarbeit infolge der Krankheit nicht fortsetzen kaim. - - Auch der Versicherte, der keinen best immten Berufausfibt, kann sich doch durch Verrichtung der gleichen T~tigkeit w~hrend l~ngerer Zeit besondere Fertigkeiten und Erfahrungen erwerben, so daB ihm nieht

Arch. Ohr- usw. ]~eiik. u. Z. ttals- usw. tteilk. Bd. 161 (Kongrel3bcricht 1952). 1 5

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226 W. Boas:

zugemu~et werden kann, seinen Erwerb im Rahmen einer anderen Tgtig- keit, die ihm sein Gesnndheitszustand etwa noch erlaubt, zu suehen; dagegen kann bei Versieherten, die mit der zuletzt yon ihnen verrich- teten Arbeit nicht enger verwachsen sind, bei denen es sich vielmehr um eine mehr zufgllige, ganz voriibergehende Tgtigkeit gehandelt hat, die sic nunmehr inf01ge der Erkrankung nicht mehr ausiiben k6nnen, erwar- tet werden, dab sie eine andere, ihnen noch m6gliche Arbeit verrichten. Doch handelt es sieh bei solchen Verweisungen auf andere Arbeiten in der Krankenversieherung um seitene Ausnahmen. In der l~egel gen~igt zur Bescheinigung der Arbeitsunfghigkeit die Feststellung, dab die zuletzt vor der Erkrankung ausgeiibte konkrete Berufsarbeit infolge der Er- krankung nicht wahrgenommen werden kann.

Schwierigkeiten ergeben sich bei der Beurteilung der Arbeitsunfghig- keit, werm es sieh um 8elbstversicherte oder Weiterversicherte handelt, die also nicht in einem versieherungspfliehtigen Besch/~ftigungsverh~ltnis stehen. Bei einem selbst~ndig t~tigen Versieherten, z. 1~. einem selbst- versicherten Unternehmer, ist grunds~tzlich die T~ttigkeit im eigenen Betrieb entscheidend, eine Verweisung auf Arbeiten auBerhalb des eigenen Betriebes ist dem selbstgndig Versieherten meist nieht zuzu- tauten. - - Bei Weiterversieherten kommt es naeh der herrsehenden A~/f- fassung grundsgtzlich auf die bei Beginn der Erkrankung ausgeiibte Be- schgftigung an; hat also der Weiterversicherte nach seinem Ansscheiden aus der Versicherungspflicht sich einer anderen berufhchen Tgtigkeit zu- gewandt, so ist nieht die znletzt yon ihm ausgefiihrte versieherungs- pfliehtige Beschgftigung maggebend, sondern sein neu gewghlter Beruf. Nur wenn der Weiterversicherte in einer Zeit erkrankt, w~Lhrend weleher er keinen Beruf ausiibt, wird auf seine zuletzt ausgeiibte berufliche Tgtig- keit zuriickzugreifen s e i n . - Bei erkrankten Arbeitslosen, die Arbeits- loselmnterstiitzung oder -fiirsorge beziehen und die daher naeh w 117 AVAYG gegen Krankheit versiehert sind, wird far die Beurteilnng der Arbeitsunfghigkeit die zuletzt ausgeiibte Tcitigkeit maBgebend sein. Sic sind also grunds~tzlich den Weiterversicherten gleiehzustellen. Lediglich in den F~llen, in denen sich der Versicherte naeh Eintri t t der Arbeits- losigkeit yon seinem Beruf abgewandt hat, also sieh z. B. auf einen neuen Beruf umschult und nunmehr Arbeit in diesem neuen Beruf sucht, diirfte Arbeitsunfghigkeit dann gegeben sein, wenn er infolge Erkr~nkung nieht in der Lage ist, die nunmehr fiir ihn in Betraeht kommende neue beruf- liehe Tgtigkeit auszuiiben.

Bei Beurteilm~g der Frage, ob der Erkrankte noch in der Lage ist, seine bisherige Berufsarbeit zu verriehten, ist davon auszugehen, dab er sieh dureh l%rtsetzung seiner Arbeit nieht der Gefahr einer wesent- lichen Versehleehterung seines Gesundheitszustandes auszusetzen braueht. - - Verriehtet ein Erkr~nkter Arbeiten, die ibm wegen der

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Die gechtsgrundlagen der ~rztlichen :Begutachtung yon Erwerbsminderungen. 227

Gefahr einer Versehlimmerung seines Leidens nach ~rztlichem Urteil nicht zuzumuten waren, so kunn ihm im Falle der Einstellung dieser Arbeiten der Schutz der Krankenversieherung nicht versagt werden, da objektiv schon immer Arbeitsunf~higkeit vorgelegen hat und auch nuch Einstellung der Arbeit noch gegeben ist, selbst wenn der Erkrankte sieh w~hrend der Ausfibung der Arbeit nicht ffir arbeitsunf~hig gehalten hat.

Anders w~re die Rechfsluge nur zu beurteilen, wenn es sich um einen sogenunnten ,,mi[3gl.i~clcten Arbeitsversuch" eines Erkrankten handelt, wenn also der Erkrunkte es zwur unternommen hat beruflich t~tig zu sein, aber infolge seiner Erkrunkung tats~chlieh keine Arbeit yon wir~- schuftlichem Wert hat ]eisten kSnnen. In diesen F~llen ist ein versiche- rungspfliehtiges Beseh~ftigungsverhaltnis nuch der st~ndigen Recht- sprechung des Reichsversicherungsamts nicht zustande gekommen. Es mul~ abet davor gewurnt werden, den Begrii~ des ,,mil~gliickten Arbeits- versuches" zu welt uuszudehnen, wie w i r e s gelegentlich w~hrend der Kriegszeit erlebt huben. Wer eine nicht ganz unerhebliche Zeit hindurch in einem Betrieb geurbeitet hut, ist gegen Krankheit versichert, auch wenn er im Hinblick uuf seinen Gesundheitszustand die Arbeit besser nicht uuf- genommen h~tte und sie nunmehr infolge seiner Erkrunkung niederlegen mull. Es wfirde gerude das gesunde Sfreben uuch kSrperlich Minder- leistungsf~higer, doeh noch nntzbringende Arbeit zu verrichten, unge- rechtfertigt beeintr~cht~gt werden, wenn ihnen bei der Aufnuhme solcher Arbeit der Schutz der Krankenversicherung versagt wfirde. Indessen handelt es sich hier meist um Entscheidungen, die weitgehend nicht yon medizinischen Beurteilungen abh~ngen. Der Arzt wird in solchen F~llen eines miBgliickten Arbeitsversuches lediglich zu der Frage Stellung zu nehmen huben, ob bei dean betreffenden Kranken yon Anbeginn an, d. h. also schon bei Aufnuhme der Arbeit, Arbeitsunf~higkeit bestand und nueh der Art der Erkrunkung damit zu rechnen war, dab er der Arbeit nicht gewachsen sein wfirde.

2. Rentenversicherung.

Invalidit~t und Berufsunf'~higkeit uls Voraussetzung ffir die Gew~h- rung yon Leistungen der Invalklenversicherung, Angestelltenversiche- rung und knappschuftlichen Rentenversicherung stimmen insofern mit dem erSrterten Begriff der Arbeitsunf~higkeit (i. S. der Krankenver- sicherung) fiberein, als Arbeitsunf~higkeit, Invalidit~t und Berufsun- f~higkeit keine Abstut:ungen hinsichtlich des Grades der Erwerbsminde- rung zulassen. - - W~hrend uber die Arbeitsunfahigkeit im Sinne der Krankenversicherung die F~higkeit zur Ausfibung der zuletzt verrichte- ten Berufsarbeit betrifft, handelt die Beru[sun]~ihiglceit sowohl im Sinne der Angestelltenversicherung als uuch im Sinne der knappsch~ftlichen Rentenversicherung yon der F~higkeit zur Ausfibung yon Arbeiten

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228 W. Boos:

innerhalb eines bestimmten Berufslcreiaes. Am engsten umgrenzt hin- siehtlieh der in Betraeht l~ommenden Arbeiten, auf die der Versieherte verwiesen werden kann, ist also die Arbeitsunfiihigkeit im Sinne der Krankenversieherung, es folgen die Berufsunf/~higkeit und sehlieBlieh die Invalidit~tt, bei der es grundsgotzlieh darauf ankommt, ob der Ver- sieherte den fiir ihn in Betraeht kommenden Verdienst noeh auf dem sogenannten ;,allgemeinen Arbeitsmarkt" finden kann. Die :Feststellung allein, daft der Versieherte nieht mehr in der Lage ist, seine bisherige Berufsarbeit fortzufiihren, ist also yon Bedeutung nur ftir den Begriff der Arbeitsunf~higkeit im Sinne der Krankenversieherung. Sowohl bei Beurteilung der Berufsunf~higkeit als aueh der Invalidit~t ist zu priifen, welehe anderen Arbeiten yon dem Versieherten noeh ausgetibt werden kSnnen; dabei unterseheiden sieh Berufsunfiihigkeit und Invalidit~it dem Grundsagz naeh dadureh, dag der Kreis der Arbeiten, auf die der Ver- sieherte verwiesen werden kann, entweder nur den Berufskreis des Ver- sieherten (Angestelltenversieherung) oder den allgemeinen Arbeitsmarkt (Invalidenversieherung) betrifft. Indessen daft nieht iibersehen werden, dal3 diese Unterseheidung hinsiehtlieh des Kreises der ArbeiLen, auf die der Versieherte u werden kann, mit fortsehreitender Differen- zJerung aueh der T~tigkeit der der Invalidenversieherung unterliegenden Arbeiter an Bedeutung verloren hat. Denn aueh in der Invalidenver- sieherung daft der u nur auf solehe Arbeigen verwiesen werden, die ihm ,,unter billiger Beriieksiehtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes" (w 1254 RVO) zugemutet werden kSnnen. Es ist also aueh in der Invalidenversieherung der Kreis der Arbeiten, auf die etwa ein gelernter Arbeiter verwiesen werden kann, enger, als der Kreis der Arbeiten, die einem ungelernten Arbeiter zuzumuten sind. Bei der Be- grenzung der zumutbaren Arbeigen fiir den gelernten Faeharbeiter han- delt es sieh in Wahrheit aueh um'einen allerdings weiter reiehenden Be- rufskreis, wie ihn die Angestelltenversieherung und in einem noeh engeren Sinne die Bergmannsversieherung vorsieht.

Invalide ist nach w 1254 RVO der Versicherte, der nieht mehr im- stande ist, (lurch eine seinen Kr~ften und F~higkeiten entspreehende und ihm zuzumutende T~tigkeit die H~lfte dessen zu erwerben, was kSrperlieh und geistig gesunde Personen derselben Art mit ~hnlicher Aus- bildung in derselben Gegend dureh Arbeit zu verdienen pfiegen. Um fest- zustellen, ob eine solche Minderung der Erwerbsfs vorliegt, be- darf es also in jedem Falle der Prfifung, wieviel der Versieherte dureh Verwendnng der ihm noeh verbliebenen Arbeitskraft noch erwerben kann. Dabei sind maBgebend die konkreten Umsti~nde des Einzelfalles; der tats~ehliehe Verdienst des Rentenbewerbers wird in aller Regel eine gute Grundlage znr Beurteilung dessen, was er noeh verdienen kann, dar- stellen, sofern der Verdienst nieht etwa dutch Wohlwollen oder andere

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Die Reohtsgrundl~gen der/~rztlichen Begu~chbung yon Erwerbsminderungen. 229

auBerordentliehe Umst/~nde bedingt ist. Der hiernaeh yon dem l~enten- bewerber unter normalen Umstgnden noeh erreiehbare Verdienst ist so- dann zu vergleichen mit dem Verdienst, den ein gesunder Versicherter etwa der gleiehen Art in der betreffenden Gegend durch Arbeit zu ver- dienen pflegt. Ist der Versicherte nieht mehr in der Lage die H~il/te dieses normalen Verdienstes seiner Gruppe zu erreichen, so ist er naeh den jetzt maBgebenden Vorsehriften des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes aus dem Jahre 1949 invalide. Es bedarf also bei der Feststellung, ob Invalidit/it vorliegt, regelm/igig einer doppelten Prfifung: wieviel der Ver- sieherte noeh verdienen kann, und wie hoeh die fiir ihn mal]gebende ,,LohnhElfte" (frfiher das ,,Lohndrittel") ist. Es erhellt ohne weiteres, dab a]lein die Feststellung des Betrages, den der Versicherte trotz seiner Erwerbsminderung noch verdienen kann, v)esentlieh yon/~rzt]icher Be- urteilung abh/h~gig ist; denn hierbei bedarf es der im allgemeinen nur auf Grund/~rztlicher Sachkunde m6glichen Beurteilung, welche Arbeiten der Versicherte noeh leisten kann. Es ist dagegen Saehe wesentlieh recht]ieher Nachprtifung, ob der Versicherte auf diese fiir ihn noch in Betraeht kommenden Arbeiten verwiesen werden darf. Auch die Ermitt- lung des Vergleichslohnes einer gesunden Person ist yon/irzt l ieher Be- urteilung nieht abhs und wird grunds/~tz]ieh dem Versicherungs- tr/~ger oder im Streitverfahren dem u zu iiberlassen sein. Wenn es trotzdem h/~ufig iib!ieh ist, dab der Arzt in seinem Invalidit/~tsgutaehten auch den Vergleichslohn einsetzt, so muB der Arzt sieh dabei im klaren sein, dab er damit seine ~rztliche Kompetenz iiber- sehreitet und zu einem Gehilfen des Versieherungstrggers oder l~ichters in einem nichtmedizinisehen Bereich wird.

Naeh w 27 AVG gilt als beru/sun/~ihig der Versicherte, dessen Arbeits- f/ihigkeit infolge yon Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schw/~ehe seiner kSrperliehen oder geistigen Kr~i'te auf weniger als die H~il/te der- jenigen eines kSrperlich und geistig gesunden Versieherten yon ghnlieher Ausbildung und gleiehwertigen Kenntnissen und F/ihigkeiten herab- gesunken ist. Naehdem dureh das Sozialversieherungsanpassungsgesetz yon 1949 auch in der Invalidenversicherung der Versieherungsfall schon als eingetreten gilt, wenn der Versieherte nieht mehr in der Lage ist, die H~il/te des ftir ihn in Betracht kommenden ,,gesetzlichen Lohnes" zu verdienen, unterseheiden sich Invalidit/it und Berufsunf/~higkeit nut noch sehr wenig. Wie schon gesagt, betonen zwar Sehrifttum und Recht- spreehung iibermgBig stark, dab trotz dieser Angleiehung hinsichtlich des Umfanges der Erwerbsminderung der Unterschied zwisehen Inva- lidit/~t und Berufsunf/~higkeit eben in der Verschiedenheit der Kreise yon Arbeiten zu suchen ist, auf die Angestellte bzw. Arbeiter verwiesen wer- den k6nnen. Die klar.e Umgrenzung des Berufskreises ist indessen nieht Saehe ~rzt]icher Begutaehtung, wenn auch seine Kenntnis fiir den

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230 W. Boss:

begutachtenden Arzt sicherlich yon Weft ist; denn er Wird seine ~rztliche Begutuchtung v0n vornherein auf die Frage einzustellen haben, ob der Versicherte noeh in den ffir ihn in Betracht kommenden Berufen die er- w~hnte Lohnhglfte eines gesunden Beschgftigten verdienen kann. Bei Zweifeln fiber die Abgrenzung des in Betracht kommenden Berufskreises wird daher der Arzt zweckmg$ig vor Erstat tung seines Gutachtens bei dem Versicherungstrgger oder dent Gericht Nachfrage halten.

Besonders schwierig ist die Festste]lung der Beru/sun/ghigkeit in der knappscha/tlichen Rentenversieherung. Dabei ist zu unterscheiden zwi- schen der Berufsunfghigkeit der Bergarbeiter und der Bergbauangestell- ten. Der versieherte Arbeiter gilt nach w 35 des ReiehsknappsehaiSs-, gesetzes a]s berufsunf~hig, wenn er infolge yon Krankheit oder anderen Gebrechen oder Sehwgche seiner kSrperlichen oder geistigen Kr~fte weder imstande ist die yon ihm bisher verrichtete kn~ppschaftliche Tgtigkeit noch andere im wesentlichen gleichartige und =wirtscha/tlich gleichwertige Tgtigkeiten yon Personen mit ~hnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnisen und F~higkeiten in knappschaftlich ver- sicherten Betrieben auszuiiben. Es bedarf hier also keiner Feststellung eines bestimmten Grades der Erwerbsminderung. Der Bergmann ist viel- mehr dann berufsunfahig, wenn er nicht mehr fghig ist, die eigentlichen bergm~nnischen Arbeiten zu verrichten. Der Gedanke einer engen Berufsversicherung der Bergleute ist hier am deutlichsten durch- geffihrt: Der Bergarbeiter kann grundsgtzlich nicht auf Arbeiten aul]er- halb knappschaftlich ~ersieherter Betriebe verwiesen werden. Es ist nur zu priifen, ob er noch in der Lage ist, eine seiner bisherigen knappschaft- lichen T~tigkeit im wesentliehen gIeiehartige nnd gleichwertige Arbeit im Bergbau zu verrichten. Eine im wesentlichen wirtsehaftl ieh gleich- wertige T~tigkeit ist dann anzunehmen, wenn der Lohnuntersehied ffir den Versicherten nicht wesentlich ins Gewicht fgllt.

3. Un/allversicherung.

Anders als in den Rentenversicherungen bedarf es in der Unf~ll- versicherung der Festellung der verschiedenen Grade der Erwerbs- beschr~nkung. Der in der Unfallversieherung besonders deutlich aus- gepr~gte Gedallke der Gew~hrung eines Schadeners~tzes ffir die durch den Unroll bedingte Erwerbsminderung erfordert es, den Grad dieser Erwerbsminderung genau festzustellen. Wir haben also in der Unfall- versicherung zwisehen vSlliger und teilweiser Erwerbsunf~higkeit zu unter- scheiden. Da durch die Unf~llrente nnr der durch den Arbeitsunfall oder durch bestimmte Berufskrankheiten herbeigeffihrte Schaden ausge- glichen werden soll, haben bei der Bemessung der Erwerbsminderung Beeintr~chtigungen der k6rperlichen oder geistigell Leistungsf~higkeit, die nicht auf den Unfall oder die Betriebskr~nkheit zuriickzuffihren sind,

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Die Rechtsgrundlagen der/~rztlichen Begut~chtung von Erwerbsminderungen. 231

auger Betraeht zu bleiben: Fiir die Bemessung des Grades der dureh den Unfall bedingten Erwerbsminderung sind die individuellen Verhgltnisse des einzelnen Verletzten oder Erkrankten maBgebend. Es ist mithin v0n der tatsS~ehliehen Erwerbsfahigkeit des einzelnen Verletzten vor dem Unfall auszugehen und diese Erwerbsf/~higkeit - - die aus anderen Griinden sehon gemindert sein kann - - ist mit 100% in Ansatz zu bringen. Bei der Bemessung des Grades der Minderung der ErwerbsfS~higkeit dureh Unfall- folgen hat also - - anders als in den Rentenversicherungen - - nieht ein Vergleieh der naeh dem Unfall verbliebenen Erwerbsf/~higkeit des Ver- letzten mit derjenigen eines gesunden Arbeiters oder Angestellten der gleichen Art stattzufinden, es ist vielmer zu fragen, um wieviel die bei dem Yerletzten selbst vor dem Unfall vorhanden gewesene Erwerbs- f/~higkeit nunmehr gemindert ist. Diese Seh~tznng kann in aller Regel von dem Verdienst ausgehen, den der Unfallverletzte vor dem Unfall gehabt hat, und dem Verdienst, den er nach dem Unfall noeh zu erzielen vermag. Um diesen letztgenanntenVerdienst ermitteln zu kSnnen, bedarf es wiederum der Festste]lung des f/it den Verletztenin Betracht kommenden Arbeitsbereichs. Es entsprieht nun st/~ndiger Reehtspreehung, dab in der Unfallversieherung --- ebenso wie in der Invalidenversieherung--derVer- letzte grnnds/itzlieh auf alle ftir ihn noeh au/dem gesamten Arbeitsmarlct in Betraeht kommenden unselbst/tndigen T/~tigkeiten verwiesen werden darf. Der Verletzte kann also nieht beanspruehen, innerhalb seiner bisherigen Bernfsgruppe beseh/iftigt zu bleiben. Be i dieser Verweisnng auf berufs- fremde Arbeiten sind aber nnbillige H~rten zu vermeiden; es ist daher auch-in der Unfallversicherung auf die bisherige Ausbildung und den Beruf des Unfallverletzten in billiger Weise P~iicksieht zu nehmen.

Wie schon dargelegt, wird die Minderung der Erwerbsfghigkeit in der Unfallversieherung in der l~egel dureh einen Vergleich des Verdienstes, festzustellen sein, den der Verletzte vor dem Unfall erzielt hat und des Verdienstes, den er noch nach dem Unfall erreiehen kann. Wenn dieser Vergleieh zu dem Ergebnis fiihrt, dab etwa der Unfallverletzte trotz des Unfalles keine Verdienstminderung zu erwarten hat, weft er z. B. in einem anderen Beruf eine gute Stellung erlangen kann, so mug d0eh weiter geprtift werden, ob sich nieht doch Unfallfolgen in der Weise bemerkbar maehen, dab der Verletzte yon gewissen Arbeitsgelegenheiten, die ibm friiher unbesehr/~nkt offenstanden, tiberhaupt ausgeschlossen ist, oder ob er jedenfalls info]ge seiner Verletzung schwerer Arbeit finder. Auch solehe, durch den Unfall bedingten mittelbaren Beeintr~chtigungen der Erwerbsf/~higkeit sind bei der Bemessung des Grades der Erwerbsminde- rung in angemessener Weise mit zu beriieksiehtigen (vgl. u. a, Entsehei- dungen und lV[itteilungen des Reiehsversieherungsamtes, Bd. 21, S. 97). Auch die pers6nliehen Verh~ltnisse des Verletzten, sein Alter und sein gesamter kSrperlicher und geistiger Zustand, verdienen bei der

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232 W. Boas :

Feststellung des Grades der Erwerbsminderung Beachtung. Ein ~tlterer Arbeiter wird in der Rege] dureh einen Unfall starker in seiner Erwerbs- f~higkeit eingesehr~nkt werden ale ein jiingerer, anch wenn die Folgen des Unfalls, mediziniseh betrachtet, bei beiden die gleiehen sein mSgen. Dies h~ngt vor allem damit zusammen, da~ dem verletzten glteren Ar- beiter die Ums~ellung auf einen neuen Beruf in aller Regel nur schwerer mSglich sein wird ale seinem jiingeren Arbeitskollegen. - - Auch bereits vorhandene Leiden k6nnen den Grad der hinzutretenden Erwerbsminde- rung in starkem Mal]e beeinflussen, Wet schon auf einem Ohr taub i s t , wird dureh den Verlust des GehSrs auf dem zweiten Ohr in seiner Er- werbsf~higkeit in einem ungleich grSl~eren Umfange beeintrgchtigt, als derienige , der zur Zeit des Unfalls noch anf beiden Ohren gut hSren konnte. Die bei Eintr i t t des Unfalls bereits vorhandene Minderung der Erwerbsfghigkeit wirkt sich im iibrigen bei der Bemessung der Unfallrente dadurch aus, dal~ der Jahresarbeitsverdienst eines schon vor dem Unfall geminder t Erwerbsfghigen entsprechend niedriger sein wird. - - Soll die Berticksichtigung der individuellen Verh~ltnisse des Unfallverletzten nicht zu einer ~bersteigerung fiihren und dana dem Gedanken des generalisierenden Schadensausgleichs - - wie er unsere Sozia]versieherung a]]gemein beherrscht - - zuwiderlaufen, so wird auch in der Unfallversicherung fiir den Verlust bestimmter Glieder oder Organe eine gewisse Mindesterwerbsminderung anzunehmen sein. Eine solehe ~bung beherrscht aueh durchaus die Praxis (vgl. etwa die ,,wiehtigsten gentensgtze" bei ROSTOCK, Unfallbegutaehtung, 1951, S. 52ff). Die Benutzung irgendwelcher nicht im Gesetz vorgesehener ,,Gliedtaxen" d~rf aber den begutachtenden Arzt nicht dazu verleiten, nunmehr nicht die Besonderheiten des Falles in angemessener Weise zu beriicksiehtigen.

4. Versorgungsrecht.

Die Bemessung der Erwerbsminderung im Versorgungsrecht ent- spricht grundsgtzlich derjenigen in der Unfallversicherung; soll doch auch die Versorgungsrente dem Gesch~tdigten einen angemessenen Aus- gleich fiir den Naehteil bringen, den er etwa durch eine Dienstbeschgdi- gung erlitten hat. Es ist also auch hier auszugehen yon dem Verdienst, den der Berechtigte ohne Beschadigung erwerben kSnnte, und dem Ver- dienst, welchen der Geschgdigte nunmehr noch unter Berticksichtigung ~ller ihm naeh seinen Kenntnissen und F~higkeiten ,,ira allgemeinen Erwerbsleben" (w 30 BVG) sich bietenden Arbeitsgelegenheiten zu erzielen vermag. - - Wenn der Gesch~digte nut mit Hilfe yon KSrperersatzstficken und Hilfsmitteln bestimmte Arbeiten verriehten kann, so sind auch diese bei der Bemessung des Grades seiner Erwerbsfs zu beriick- sichtigen. Es ist ~lso nicht entseheidend, was der Beseh~digte allein mit

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Die Rechtsgrundlagen der ~rztlichen Begutachtung yon Erwerbsminderungen. 233

seinem verletzten KSrper ohne Hilfsmitte] noch zu leisten vermag, son- dern es ist yon seiner Erwerbsfahigkeit bei angemessener Benutzung der ihm yon der Vers0rgungsdienststelle zur Verfiigung gestellten Ersatz- stiicke und Hilfsmitte] auszugehen (vgl. SC~IEKEL-AIcl~BE~Gv.~ BVG w 29 Anm. 2). - - Eine gewisse Einschrankung des Gedankens unseres alten Versorgungsrechts, wonach der Geschadigte auf den allgemeinen Ar- beitsmarkt verwiesen werden kann, enth~lt nunmehr w 30 Abs. 1 Satz 1 BVG, wonach bei der Bemessung der geminderten Erwerbsf~higkeit der vor der Schddigung ausgei~bte Beru] oder eine bereits begonnene oder nachweisbar angestrebte Beru/sausbildung zu beriicksichtigen ist. - - Eine auch yore Standpunkt unseres gesamten Versorgungssystems aus beacht- liche Neuregelung ist in w 30 Abs. 1 Satz 2 vorgesetien; danach kSnnen ffir erhebliche ~iuBere KSrl0ersch~iden Mindesth~nderts~itze festgesetzt werden. Solche ,,Gliedtaxen" bedeuten eine Durchbrechung des sonst ffir unsere Sozialversicherung und Versorgung ma~gebenden Prinzips, dal~ fiir die HShe der Leistungen die Beeintrachtigung beim Erwerb (Erwerbsf&higkeit) ma~gebend sein soll. Es l~iI~t sich aber nicht verken- hen, da6 die Anwendung solcher Taxen zu einer gleichm~il~igen Behand- lung der Gesch~digten wesentlich beitr~tgt nnd auch vom Standpunkt einer nicht zu komplizierten Verwaltung erstrebenswert ist. In den Ver- waltungsvorschriften zur Durchfiihrung des Bundesversorgungsgesetzes sind nunmehr (vg]. Zu w 29/30) fiir erhebliche ~ul~ere K5rpersch~den bestimmte Mindesthunderts~itze angefiihrt. Der begutachtende Arzt wird auch bei Anwendung dieser Tabe]le sich immer bewul]t sein miissen, dal~ es Sich hierbei lediglich um Mindestsatze handelt und der Geseh~idigte Anspruch darauf hat, dal~ besondere Umst~inde, die fiir ihn eine st~rkere Beeintr&chtigung seiner Erwerbsfahigkeit bedingen, Beachtung erfahren.

C. Erwerbsminderung dutch Schwerh6riglceit und Taubheit.

Fiir die Bemessung der durch Erkrankungen oder sonstige Eegel- widrigkeiten des Ohres entstandenen Erwerbsminderung hat das Gesetz keine besondere Regelung getroffen. Es sind also die allgemeinen ffir die Bemessung der Erwerbsminderung geltenden Grunds~tze anzuwenden. Ffir die einzelnen Versicherungszweige ist anf folgendes hinzuweisen:

1. Kranlcenversicherung.

Die SchwerhSrigkeit kann sowohl Krankheit als aueh Gebrechen sein. Ein Gebrechen ist insbesondere die angeborene SchwerhSrigkeit oder Taubheit. Sie kann daher in aller t~egel keine Leistungen der Kranken- versicherung begriinden. Eine Ausnahme wiirde nur gelten, wenn etwa der Zustand der SchwerhSrigkeit mit Schmerzen oder anderen Beschwer- den verbunden ist, die durch ~rzt]iche Behandlung gemildert werden kSnnen. - - Zweifelhaft ist die Beantwortung der Yrage, ob Leistungen

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234 W. Boos:

der Krankenversicherung zu erbringen sind, wenn die angeborene Sehwer- h5rigkeit etwa dureh einen operativen Eingriff beseitigt werden kSnnte. Bei strenger Anslegung der gesetzliehen Vorschriften fiber die Kranken- versicherung wfirde man eine solche Verpflichtung der Krankenkasse zur Beseitigung eines angeborenen Gebreehens nieht annehmen dfirfen, da es grunds~tzlieh nicht Aufgabe der Krankenversieherung ist, einen ab- geschlossenen Dauerzustand des mensehliehen KSrpers zu beeinflussen. Die Grenzen zwisehen Krankheit und Gebrechen sind indessen flSssig, und auch bei einem Gebreehen - - selbst, wenn es angeboren ist - - kann eine /~rztliche Behandlung geboten, also Behandlungsbedfirftigkeit ge- geben sein. Damit ist aber der Versieherungsfall der Krankenversiehe- rung eingetreten. (Vgl. Ki~H~E-P~T~RS, Handbueh der Krankenversiehe- rung, T e f l I I [1950], S. 182, Anm. la .) Nimmt doeh unser Kranken- versieherungsrecht - - abweiehend yon dem Vers ieherungspr inz ip- aueh ohne weiteres an, dab Leistungen der Krankenversieherung zu erbrin- gen sind, wenn bereits bei Beginn des versicherungspfliehtigen Beseh~f- tigungsverh~ltnisses eine behandlungsbedfirftige Erkrankung vorlag. Es ist eben der Versorgungsgedanke auch in unserem Krankenversicherungs- reeht stark vertreten und yon diesem Gesichtspunkt aus wird auch ein Ar/sprueh auf Minderung oder Beseitigung eines angeborenen Gebrechens - - so auch der Taubheit oder Schwerh6rigkeit ~ begrfindet sein.

2. Invalidenversicherung.

Die Beurteilung der Schwerh6rigkeit und Taubheit in der Invaliden- versicherung bereitet in der Praxis im allgemeinen wenig Schwierig- keiten. Es ist heute anerk~nnten Rechts, duf3 Taubheit keineswegs not- wendig Invalidit~t zur Folge hat; auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, ~uf den ja der versicherte Arbeiter im allgemeinen verwiesen werden kann, werden sieh in aller Regel auch fiir einen Tauben Besch~ftigungen finden, die es ihm ermSglichen, wenigstens die H/s des ffir einen Gesunden gleicher Art in Betracht kommenden Lohnes zu verdienen. Wie das l~eichsversicherungsamt sehon in der grunds/~tzliehen Entseheidung 1243 (Amtl. Nachr. des I~VA 1906, S. 277) ausgesprochen hat, ist es aueh nich~ ang/s die Lage des tauben, sonst vollkr/~ftigen Arbeiters unter den Begriff ,,ausgeschlossen vom Arbeitsmarkt" zu bringen, weil der Verkehr der Umwelt mit ihm erschwert ist. Die Erfahrung des Lebens zeigt, dal~ aueh mit Tauben bei vielen Arbeiten, etwa in der Landwirtsehaft oder G/~rtnerei, eine Verst/~ndigung mSglich ist, die jedenfalls ausreieht, um den Betreffenden in den Arbeitsprozel~ einzuordnen. - - Andererseits sind doeh F~lle denkbar, in denen der Taubheit eine grS~ere Bedeutung fiir die Erwerbsminderung beizumessen ist, wenn n/imlich im Hinbliek auf die Ausbildung und die bisherige Berufst~ttigkeit des Versieherten der Kreis der Arbeiten, auf die er verwiesen werden kann, besehr/~nkt ist. So

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Die Rechtsgrundlagen der ~rztlichen Begutaehtung yon Erwerbsminderungen. 235

hat das Bayerische Landesversicherungsam~, allerdings noch zu einer Zeit, in der auch Angestellte bis zu einem bestimmten Jahresarbeits. verdienst tier Invalidenversieherung unterlagen, angenommen, dal~ durch hoehgradige SehwerhSrigkeit Invalidit/~ einer Spraeh- und Musiklehrerin begriindet ~vird (vgl. EUM., Bd. 5, S. 258). Solche Entscheidungen be- st/~tigen nur die oben yon uns vertretene Auffassung, dab eine strenge Trennung der Begriffe Invalidi~tt und Berufsunf~thigkeit (ira Sinne der Angestelltenversieherung) nieht durchzuffihren ist. l~iehtig gesehen, han- delt es sich bei jener ,,Invalidit~t" der Musiklehrerin um eine Berufs- unf~thigkeit, und nach geltendem Reeht wfirde ja auch eine Musiklehrerin der A•gestelltenversicherung angehSren und mithin gegen Berufsunf~hig- keit und nicht gegen Invalidit/~t versiehert sein.

3. Angestelltenversicherung. Wird - - wie dargelegt - - Sehwerh5rigkeit und Taubheit nur ganz aus-

nahmsweise Invalidit/~t begrfinden k5nnen, so ist sie um so h/~ufiger die Ursaehe der ,,Beru]sun]ghigkeit" im Sinne der Angestelltenversicherung. Sehon SchwerhSrigkei~ verh/~ltnism/~Big geringen Grades kann in man- chen Berufen die weitere Arbeit aussehliel~en, wenn n/~mlieh der be- treffende Beruf gerade ein gutes GehSr voraussetzt, - - so etwa bei Steno- typistinnen, Souffleusen und Telefonistinnen. Es kommt hier immer ent- scheidend darauf an, auf welehen Kreis yon Arbeiten innerhalb der Berufsgruppe des Angestellten der Versicherte verwiesen werden kann, und ob diese Arbeiten aueh mit geminderter H5rf~higkeit ausgefibt wer- den kSnnen. Eine Telefonistin etwa, die nach dem Berufskatalog des Reichsarbeitsministers zur Angestelltenversicherung unter die ,,Bfiro- angeste]lten" zu rechnen ist, wird man - - wenn sie infolge SehwerhSrig- keit zum Telefondienst untauglieh geworden ist - - jedenfalls dann auf eine Bfirot/~tigkeit verweisen dfirfen, wenn sie auch sehon frfiher eine solche T/~tigkeit ausfibte. D ~ s c ~ fiihr~ in seinem Kommentar zum AVG (w 30, Anm. 4a) zu der Frage der SchwerhSrigkeit eines Telefonisten aus, dab es notwendig sei zu unterscheiden, ob der Telefonist yon vorn- herein diesen Beruf ergriffen habe und damit auch fiber gewisse Bfiro- kenntnisse verffigt, oder ob es sieh etwa um einen ehemaligen Hand- arbeiter handele, der vielleieht infolge einer Kriegsbesch~digung nun- mehr einfaehere Telefonistenarbeit fibernommen hat. In einem solchen l~alle w/s ihm die VerweJsung auf ihm ganz fremde Bfiroarbeiten nieht zuzumuten, also Berufsunfiihiglceit zu bejahen (vgl. aueh Amtl. Naehr. ffir Reichsversicherung 1925, S. 385).' Von solchen Ausnahmef/~llen ab- gesehen, wird jedoeh die Berufsgruppe einer Telefonis~in aueh Bfiro- t/~tigkeit umfassen. - - Ob ein Bfiroangestellter infolge SchwerhSrigkeit berufsunf~hig ist, h/s yon dem Grad seiner SehwerhSrigkeit ab. Berufs- unf/ihigkeit liegt nur dann vor, wenn die HSrf~higkeit so gering ist, dal~

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eine Verstandigung mit den Vorgesetzten und Mitarbeitern nicht mSg- ]ich ist, ohne dab diesen eine fiber dos fibliche MoB hinausgehende Rfick- sicht zugemutet wird (vgl. HAU~IS~N-ALL~NOORF, AVG, w 27, Anm. I f und die dort angefiihrten Entscheidungen).

4. Un/allwrsicherung. In der Unfallversicherung spie]t die Taubheit eine besondere Rolle als

Beru/skrankheit. Nach der Anlage zur drittenVerordnung fiber Ausdehnung derUnfallversicherung auf Berufskrankheitell v. 16.12. 1936 (mit spateren _~nderungen) sind ,,durch Larm verursachte Taubheit oder an Taubheit grenzende SchwerhSrigkeit" ~ls Berufskrunkheit anerkannt, sofern sie durch berufliche Arbeit in Betrieben der Metallverarbeitung oder -bearbeitung verursacht sind. Die hiernach erforderliche Feststelhmg des ursachlichen Zusammenhanges zwischen SchwerhSrigkeit bzw. Taub- heir und beruflicher Arbeit ist ohne arztliche Begutachtung nieht mSglich. Nach der Rechtsprechung des l%eichsversicherungsamtes ist sogar bei der Beurteilung der Folgen yon Schwerh6rigkeit und Taubheit grund- satzlich ein speziaIi~rztliches Gutachten einzuholen (vgl: Entscheidungen und Mitteilungen Bd. 7., S. 249/251). Dabei ist jedoch die Vorfrage, ob der Erkrankte in einem Betrieb der Metallbearbeitung und -verarbeitung beschaftigt war, der arztliehen Beurteilung nicht unterworfen, vielmehr ist es Sache des Versicherungstragers oder Versicherungsgerieh~s, bei Einholung des Gutachtens anzugeben, ob ein solcher Betrieb der Metall- industrie vorliegt.

5. Versorgungsrecht. Im Versorgungsrecht ist die Frage der Beeintraehtigung der Erwerbs-

fah~gkeit dureh SehwerhSrigkeit oder Taubheit insofern gesondert ge- regelt, als der ]%eiehsarbeitsminister hier yon der Erm~chtigung in w 30 Absatz 1 Satz 2 BVG Gebrauch gemacht und ffir vSllige Taubheit oder an .T~ubheit grenzende SchwerhSrigkeit eine Mindesterwerbsein- bu[te yon 50~o festgelegt hat (vgl. Verwaltungsvorsehriften zur Dutch- ffihrung des BVG - - vom 1 . 3 . 5 1 - w167 29/30 Nr. 7). D~ es sich hierbei um einen Mindestsatz handelt, mu2 in jedem Falle gepriift werden, ob die besonderen Verhaltnisse des Berufs des Geschadigten etwa eine hShere Erwerbsminderung gerechtfertigt erscheinen lassen.

Senatsprasident a. D. Prof. Dr. jur. W. Boos, Wi]helmshaven-Rustersiel, Hoehschuldorf.