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Die Revision aus der Sicht der Wissenschaft Vortrag auf dem Symposium „Strafverteidigung 2020“ am 7. Juni 2019 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld Prof. Dr. Michael Lindemann Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie

Die Revision aus der Sicht der Wissenschaft · aus der Sicht der Wissenschaft Vortrag auf dem Symposium „Strafverteidigung 2020“ am 7. Juni 2019 im Zentrum für interdisziplinäre

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Page 1: Die Revision aus der Sicht der Wissenschaft · aus der Sicht der Wissenschaft Vortrag auf dem Symposium „Strafverteidigung 2020“ am 7. Juni 2019 im Zentrum für interdisziplinäre

Die Revisionaus der Sichtder WissenschaftVortrag auf dem Symposium „Strafverteidigung 2020“am 7. Juni 2019 im Zentrum für interdisziplinäre Forschungder Universität Bielefeld

Prof. Dr. Michael LindemannLehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie

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VorbemerkungStephan Barton als Chef, Mentor und Kollege

Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie – Prof. Dr. Michael Lindemann 2

Bildquelle:https://www.naupar.de

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GliederungI. Einführung: Die „Entgrenzung der Revisionsrecht-

sprechung“ (Barton)II. Vergewisserung: Wesen und Zweck der Revision

1. Das Wesen der Revisiona) Tradiertes Verständnisb) Mögliche Konsequenzen einer verbesser-

ten Dokumentation der HV2. Die Revisionszwecke

a) Etablierter Meinungsstandb) Qualitätssicherung durch Disziplinierung

der Instanzgerichte als (weiterer) Zweck?III. Fazit

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I. EinführungBarton Entgrenzte Revisionsrechtsprechung, in: GS für Edda Weßlau, 2016, S. 33 ff.

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These: „Es gibt eine allgemeine Tendenz in der Revisionsrechtsprechung zur Entgrenzung, d.h. zur Auflösung der Grenzen zwischen Rechtsanwendung einerseits, bei der nur die gesetzmäßi-ge Behandlung des Einzelfalls zählt, zur Rechtspolitik, Administration und Rechtsgestaltung andererseits. Bedingt ist diese Entwicklung durch einen fortdauernden Prozess, durch den die Strafsenate die ursprüngliche Konzeption der Revision richterrechtlich verändert haben.“

MikroebeneHerstellung von

EinzelfallgerechtigkeitRechtsanwendung

Retrospektiv

MakroebeneBerücksichtigung der Auswirkungen auf

die Zukunft des StrafrechtssystemsRechtsgestaltung

Prospektiv

Perspektiv-wechsel

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I. Einführung

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Befunde:Ø Verfahrensrecht: Richterrechtliche Modifizierung der Betriebsregeln

- Extensive Auslegung des § 349 II StPO (u.a. flexibler Umgang mit Offensichtlichkeits- und Einstimmigkeitserfordernis)

- Ausweitung der Kompetenzen zur eigenen Sachentscheidung (praeter/contra legem)- Verschärfung der Darlegungsanforderungen gem. § 344 II StPO

• Annahme offensichtlicher Unbegründetheit nicht erst dann, wenn die Revision ohne längere Nachprüfung und in völlig zweifelsfreier Weise als unbegründet anzusehen ist (sondern auch schon dann, wenn die Unbegründetheit erst das Ergebnis umfangreicher Beratungen ist)

• Senatsinterne Praxis nach Bericht Fischer/Krehl: „Vier zu eins ist einstimmig“ (mit gelegentlicher Tendenz zum „Drei zu Zwei“)

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I. Einführung

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Befunde:Ø Materielles Recht: Richterrechtliche Modifizierung der Revisibilität

- Veränderung nicht nur der Betriebsregeln, sondern auch des Verständnisses des Gesetzes-begriffes i.S.d. § 337 StPO: Lösung vom klassischen Konzept der reinen Rechtsbeschwerde und Ausdehnung der Revisionskontrolle auf die tatrichterliche Beweiswürdigung

- Koexistenz zweier, je nach Bedarf einsetzbarer Entscheidungsprogramme:

Erweiterte Revision: Ausdehnung der Kontrolle

auf die tatrichterliche Beweiswürdigung

Klassische Revision: Betonung der

tatrichterlichen Hoheit über die Beweiswürdigung

Zugriff auf tatrichterliche Beweiswür-digung, wenn diese in sich wider-sprüchlich, lückenhaft oder unklar ist oder gegen Denkgesetze oder aner-kannte Erfahrungssätze verstößt

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I. Einführung

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Empirisch abgesicherte Folgenbetrachtung:- HVen vor dem BGH seien immer seltener geworden- Grds. keine Verwerfungsanträge des GBA bei StA-Revisionen, hingegen bei mehr als 98% der

Angeklagtenrevisionen; entsprechend unterschiedlich seien die Erfolgsquoten (55% vs. 7% bzw. –bezogen auf volle Erfolge – 41,5% vs. 3%)

- Marginalisierung der Verfahrensrüge (auch im Verhältnis zur erweiterten Revision)- Unterschiedliche Aufhebungsquoten der einzelnen Strafsenate und einzelner Berichterstatter

Treffsichere Prognose des Ausgangs eines Revisionsverfahrens sei

praktisch unmöglich geworden

Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) sei nicht mehr

gewährleistet+

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Wesen der Revision

Zweck derRevision

Forderungen nach einerverbesserten Dokumentationder HVBartel StV 2018, 678 ff.Mosbacher StV 2018, 182 ff.Schmitt NStZ 2019, 1 ff.Wehowsky NStZ 2018, 177 ff.

Qualitätssicherung durch Disziplinierung der Instanz-

gerichte als (weiterer) Zweck?Knauer NStZ 2016, 1 ff.

Rosenau FS Widmaier, S. 521 ff.Rosenau FS Fischer, S. 791 ff.

Versöhnung mit dem Anforderungen aus Art. 19 IV GG?

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II. 1. Wesen der Revision

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Zum Wesen der Revision vgl. Hahn Materialien Bd. 3, 1885, S. 250:„... Die rein thatsächliche Würdigung des Straffalls, also namentlich die Würdi-gung der erbrachten Beweise, (muss) von der Thätigkeit des höheren Richters ausgeschlossen bleiben (...). Diese Würdigung ist dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem festgestellte thatsächliche Er-gebnis ist für die höhere Instanz maßgebend, insoweit dasselbe nicht etwa im Wege eines rechtswidrigen Verfahrens gewonnen worden ist. Die Aufgabe des höheren Richters besteht nur in der rechtlichen Beurtheilung der Sache; für die Lösung dieser Aufgabe aber ist ihm freie Bewegung gewährt, und es sind sei-ner Thätigkeit möglichst wenig formale Grenzen gezogen.“

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II. 1. Wesen der Revision

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§ 337 StPO als „Schlüssel zum Verständnis des Revisionsrechts“ (Eb. Schmidt):(1) Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes

beruhe.(2) Das Gesetz ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.

Tradiertes Verständnis:Ø Revision als Rechtsmittel mit begrenzten Prüfungsmöglichkeiten: Beschränkung auf die rechtliche

NachprüfungØ Prozessuale Arbeits- und Verantwortungsteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht bei der Be-

handlung von Tat- und RechtsfragenØ Grundsätzlicher Ausschluss der Tatsachenfeststellungen von der Überprüfung durch das Rechts-

mittelgericht; keine Wiederholung der tatrichterlichen Beweisaufnahme (Rekonstruktionsverbot)

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II. 1. Wesen der Revision

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Rüge der Verletzung von § 261 StPO verspricht Erfolg, wenn ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme allein aufgrund der Aktenlage der Nachweis ge-führt werden kann, dass die im Urteil getroffenen Feststellungen nicht durch die in der HV benutz-ten Beweismittel gewonnen werden konnten

(z.B. unrichtige Wiedergabe des Wortlauts einer in der HV verlesenen Urkunde)

Unbehelflichkeit von Versuchen der Verteidigung, Aussageinhalte festzuschreiben:• Antrag auf wörtliche Protokollierung gem. § 273 III StPO (–), da Rspr. Protokollierungsbedürfigkeit

nur anerkennt, wenn es nicht lediglich auf den Inhalt, sondern auf den genauen Wortlaut der Aus-sage ankommt (bloße Entscheidungserheblichkeit reicht nicht)

• Schriftliche Einlassungen des Angeklagten zur Sache unterliegen nicht den Regeln des Urkunds-beweises

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II. 1. Wesen der Revision

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Vorschläge zu einer verbesserten Dokumentation der HV

könnten dem Rechtsmittelführer wirksames Mittel zum Angriff gegen Tatsachenfeststellungen in die Hand geben

Erweiterte Revision bricht tradierte Arbeits- und Verantwortungsteilung auf,

ermöglicht jedoch bloße Plausibilitätskontrolle; Anwendung liegt in der Hand des Revisionsgerichts(Ü Koexistenz zweier Entscheidungsprogramme)

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II. 1. Wesen der Revision

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Vorschlag des Strafrechtsausschusses (2010): • Aufzeichnung der tatrichterlichen HV vor dem LG und OLG im ersten Rechtszug mithilfe (stationä-

rer) Videokamera (Videoprotokoll)• Beibehaltung des schriftlichen HV-Protokolls i.S.d. §§ 271 ff. StPOKonsequenzen für die Revision:• Fehlerhaftes oder unvollständiges schriftliches HV-Protokoll kann durch Rückgriff auf das Video-

protokoll berichtigt werden• Revisionsgericht kann den Tatsachenvortrag zu Verfahrensrügen anhand des Videoprotokolls

überprüfen• Rechtsprechung werde Gelegenheit haben, über „behutsame Erweiterungen“ der Rekonstruktion

der HV (in evidenten Fällen) nachzudenken

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II. 1. Wesen der Revision

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Wehowsky NStZ 2018, 177 ff.• Einführung einer technischen Dokumentation erstinstanzlicher HVen vor LG und OLG werde keine

wesentlichen Auswirkungen auf die Revision haben, da Aufzeichnungen in der Regel nicht zur Überprüfung von Aussageinhalten verwendbar wären

• Restriktive Rechtsprechung: Erfolg auf „parate Beweismittel“ gestützter Verfahrensrügen setze voraus, dass- der behauptete Verfahrensfehler bei Betrachten des Beweismittels „ohne Weiteres“ punktge-

nau erkennbar sei und- offensichtlich ausgeschlossen sei, dass der Beweisgehalt des benannten Beweismittels durch

andere Beweiserhebungen und deren Gesamtwürdigung im Laufe der HV bedeutungslos ge-worden sei

Voraussetzungen seien bei auf Ton- und Videoaufnahmen gestützten Verfahrensrügen regelmäßig nicht erfüllt

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II. 1. Wesen der Revision

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Mosbacher StV 2018, 182 ff.• „Experimentierklausel“ zur Ermöglichung von Tonaufzeichnungen erstinstanzlicher HVen insbes.

in Schwurgerichtssachen m. anschl. Evaluation• Behandlung als gerichtsinterne Aufzeichnung bis zum Abschluss der jeweiligen HV, um Streit über

den Inhalt der bisherigen Beweisaufnahme zu vermeiden (?)• Kodifikation „notwendiger Beschränkungen“ mit Blick auf Rügen gem. § 261 StPO:

- Erfolg der (neu ermöglichten) „Feststellungsrüge“ nur bei offensichtlichen und gravierenden Abweichungen zwischen Beweisaufnahme und Urteilsinhalt in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt

- Einholung dienstlicher Erklärungen der Tatrichter durch das Revisionsgericht• Keine Ermöglichung auf die Tonaufzeichnung gestützter Aufklärungsrügen (§ 244 II StPO), da die

Entscheidung gegen eine Beweiserhebung regelmäßig vor dem Hintergrund der gesamten bishe-rigen Beweisaufnahme getroffen werde (zulässige Beweisantizipation)

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II. 1. Wesen der Revision

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Schmitt NStZ 2019, 1 ff.• Präferenz für ein schriftliches Wortprotokoll in erstinstanzlichen Verfahren vor dem OLG und in

Schwurgerichtsverfahren (Vermeidung sinnlicher Wahrnehmungen der Revisionsrichter von Abläufen der HV; leichtere Handhabung als Audiodatei)

• Ermöglichung einer Inbegriffsrüge (§ 261 StPO) bei Abweichungen des schriftlichen Urteils von der dokumentierten Beweisaufnahme

• Beschränkung auf eindeutige Feststellungsmängel obliege den Revisionsgerichten (Wahrung tat-richterlichen Bewertungsvorrangs)

• Angreifbarkeit von Beweiswürdigungsfehlern (z.B. Nichtausschöpfung von Beweismitteln, Nicht-berücksichtigung erhobener Beweise) innerhalb der schon jetzt geltenden Grenzen, aber eben-falls im Wege der Rüge gem. § 261 StPO

Deutliche Erhöhung der Vortragspflichten (§ 344 II StPO)

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II. 1. Wesen der Revision

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Bartel StV 2018, 678

(Audio-)Visuelle Dokumentation

tatrichterlicher HVen könne zu einer

Arbeitserleichterung für die Tatgerichte führen

Aber: Kaum Änderungen im revisionsrechtlichen

Prüfprogramm de lege lata; Diskussionsbedarf

bei etwaigen Änderungen de lege ferenda (kein „Tatrichter hinter dem

Tatrichter“)

Ablehnung der Idee eines „Austausch-

richters“ (BMJV), der sich den bisherigen

»Inbegriff« der HV durch deren audio-visuelle

Dokumentation erschließt*)

*) Überholung durch Eckpunktepapier (Harmonisierung der Untrebrechungsfristen mit Mutterschutz und Elternzeit)?

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II. 1. Wesen der Revision

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1) Das sog. „Rekonstruktionsverbot“ entbehrt einer konsistenten Begründung, die über die Vermeidung von Beweisschwierigkeiten hi-nausgeht.

2) Ausnahmen werden schon heute zugelassen, wenn der Inhalt der HV zuverlässig dokumen-tiert wurde (Urkundenverlesung, Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen).

3) Die Zeit ist reif für eine Ausweitung der Mög-lichkeiten zur Rekonstruktion erstinstanzlicher HVen in der Revisionsinstanz.

Eher Ton- als Videoaufzeichnung

Rügemöglichkeiten im Rahmen der Revision:• Nichteinhaltung wesentlicher Förm-

lichkeiten• Offensichtlich fehlerhafte Wiederga-

be der Beweisaufnahme im Urteil• Offensichtliche Nichtberücksichti-

gung erhobener Beweise im Urteil

Experimentierklausel mit Evaluations-verpflichtung

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II. 2. Revisionszwecke

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Früher hM: Sicherung der Rechtseinheit und Fortbildung des Rechts

= Sicherstellung einer möglichst einheitlichen An-wendung des formellen und des materiellen Rechtsinsbes.: Divergenzvorlagen der

Oberlandesgerichte, § 121 II GVGDivergenzvorlage an den Großen Senat für Strafsachen, § 132 II GVG

= Reaktion auf neue Entwicklungen und geän-derte Anforderungen an die Strafrechtspflege durch entsprechende Auslegung der geltenden Gesetzeinsbes.: Vorlage wegen grundsätzlicher

Bedeutung, § 132 IV GVG

Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde in Vollzugssachen nur, „wenn es geboten ist, die Nachprü-fung (der Entscheidung der StVK) zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheit-lichen Rechtsprechung zu ermöglichen“ (§ 116 I StVollzG)

Abgrenzung:

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II. 2. Revisionszwecke

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Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit

= Überprüfung der angegriffenen Entscheidung daraufhin, ob der zugrunde liegende Fall richtig ent-schieden worden ist (Ü Rechtsmittelführer hat kein Interesse an Rechtseinheit und -fortbildung)

Problem:

Revisionsrecht ist nicht unbedingt optimal auf Findung gerechter Einzelfallentscheidung ausgerichtet – Fehlender Zugang zu den Tatsachen, ZulässigkeitshürdenAlsberg: „Am größten Unrecht kann sie versagen und beim größten Recht zur Aufhe-

bung des Urteils führen.“

Vereinigungstheorie als Ausweg aus dem Dilemma?

Kritik: Bloße Kombination ist nicht geeignet, Defizite einzelner Ansätze zu kompensieren / keine Angaben zu Gewichtung und Vorrang einzelner (gegenläufiger) Zwecke

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II. 2. Revisionszwecke

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Gewährleistung realistischen Rechtsschutzes

Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 55 Rn. 10:„Der Zweck der Revision besteht ... nach dem Willen des Gesetzgebers in der Gewährung eines realistischen Rechtsschutzes, indem (nur) diejenigen Teile der tatrichterlichen Entscheidung, die vom Zeitablauf unabhängig und daher nicht die natürliche Domäne des tatnäheren Instanzrichters sind, zur Überprüfung des Revisionsge-richts gestellt werden können. Deswegen hat der Gesetzgeber die Tatfrage (d.h. die tatsächlichen Feststellungen, die mit zunehmendem Zeitablauf v.a. wegen des den Zeugenbeweis entwertenden Nachlassens des Gedächt-nisses immer schwieriger werden) der ausschließlichen Beurteilung durch den Instanzrichter als den ‚Tatrichter‘ überantwortet und das Revisionsgericht gem. § 337 auf die Feststellung von Gesetzesverletzungen und damit auf die Überprüfung der Rechtsfrage beschränkt.“

Kritik:Warum dann Möglichkeit der Aufhebung und Zurückverweisung mit anschl. erneuter Beweisauf-nahme? / Auch Gewährleistung „beschränkter“ bzw. „realistischer“ Einzelfallgerechtigkeit stößt auf vorerwähnte Probleme

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II. 2. Revisionszwecke

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Qualitätssicherung durch Disziplinierung der Instanzgerichte als (weiterer) Zweck?

Rosenau FS Widmaier, S. 521 ff.„Auch in der Revision liegt bei jedem effektiven Rechtsmittel eine der Hauptaufgaben darin, als Drohung über den Tatsacheninstanzen schwebend die Einhaltung des materiellen und prozessualen Rechts zu sichern. Dabei ist nicht entscheidend, dass es tatsächlich zu einem Verfahren vor dem BGH und einer Urteilsaufhebung kommt. Allein die Möglichkeit der Kontrolle führt zu größeren Bemühungen des zu Kontrollierenden.“

Revision als Sicherung gegen richterliche Unsorgfältigkeit und Amtsmissbrauch im materiellen wie im Verfahrensrecht

Justizspezifische Form der Qualitätskontrolle, da Außensteuerung mit dem Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit kollidieren würde

Verabschiedung des Rekonstruktionsverbotes (Rüge der Aktenwidrigkeit von Urteilsinhalten) / Wiederherstellung des Respekts für prozessuale Regeln

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II. 2. Revisionszwecke

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Qualitätssicherung durch Disziplinierung der Instanzgerichte als (weiterer) Zweck?

Knauer NStZ 2016, 1, 10:„Die Kontroll- und Disziplinierungsfunktion ist ... ein übergreifender multifaktorieller Zweck, in den sich die unter Einzelfallgerechtigkeit und Wahrung der Rechtseinheit teilweise geführten Überlegungen unproblematisch einfü-gen. Denn beides muss berücksichtigt werden, um sicher zu gehen, dass die Instanzgerichte bei der richtigen Rechtsanwendung einer Kontrolle unterliegen. Der einzelne Angeklagte wie auch die gesamte Rechtsgemein-schaft muss nämlich sicher gehen können, dass die strafrechtliche Rechtsprechung nicht unkontrolliert ist. Wenn die Kontrolle durch das Revisionsgericht nicht mehr aufrechterhalten wird oder das Kontrollniveau zu niedrig ist, dann besteht das Risiko, dass die strenge Form des Strafprozesses, die Basis der Ermittlung der materiellen Wahrheit und der Einhaltung des materiellen Rechtes ist, durch die Gerichte nicht mehr ernst genommen wird. Das Risiko von Fehlurteilen würde steigen.“

Aufrechterhaltung der erweiterten Revision / Video-Dokumentation der HV / Umkehr der Tendenz zur Marginalisierung der Verfahrensrüge

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III. FazitVersöhnung der Revision mit den Anforderungen aus Art. 19 IV GG erscheint möglich

Erforderlich: Beherzte Schritte des Gesetzgebers und der Revisionsgerichte

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Einführung einerverbesserten Dokumentation

der HV

Ausweitung der Möglichkeiten zur Rekonstruktion erstinstanzlicher

HVen in der Revisionsinstanz

Anerkennung der Qualitäts-sicherungs- und Disziplinierungs-

funktion der Revision

Revitalisierungder Verfahrensrüge

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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