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DIE STGRUNGEN IM BEREICH DER VERTIKALMOTOREN DER AUGEN.') Von Prof. Dr. med. A. Bielschowsky.**) Die im Wirkungsbereich der Vertikalmotoren der Augen vorkommenden Storungen bieten dem Augenarzt eine solche Fulle von Problemen und geben so haufig Anlass zu unenvar- teten und unerfreulichen therapeutischen Miserfolgen, dass viele Augenarzte, wie ich aus zahlreichen Erfahrungen weiss, sich mit derartigen Fallen nur ungern befassen oder sie von vornherein an andere Stellen verweisen. Das hat zweierlei Ur- sachen. Wahrend die Funktion der Seitenwender der Augen unter normalen und abnormen Bedingungen leicht verstand- lich ist, und die Regeln fur Diagnose und sachgemasse Behand- lung der in Betracht kommenden Storungen in wenigen Satzen auszudriicken sind, setzt das richtige Verstandnis schon der normalen Funktion der Vertikalmotoren eine genaue Kennt- nis ihrer anatomischen und namentlich der physiologischen Be- sonderheiten voraus, die nur von dem richtig gewurdigt werden konnen, dem die physiologischen Fundamentalgesetze der Au- genbewegungen in Fleisch und Blut iibergegangen sind. Dem- entsprechend ist die Pathologie der Vertikalmotoren, vergli- chen mit den bisher bekannten Anomalien der Seitenwender, wesentlich mannigfal tiger und komplizierter, insbesondere in den nicht seltenen Fallen, in denen Storungen ganz verschie- denartiger Herkunft neben einander bestehen. Daraus ergeben *) Vortrag, gehalten in der Danischen Ophthalmologischen Gesell- **) Aus dem Dartmouth Eye Institute, Dartmouth Medical School. schaft in Kopenhagen, 1. November 1937. Hanover, N. H., U. S. A. 16'

DIE STÖRUNGEN IM BEREICH DER VERTIKALMOTOREN DER AUGEN.)

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Page 1: DIE STÖRUNGEN IM BEREICH DER VERTIKALMOTOREN DER AUGEN.)

DIE STGRUNGEN IM BEREICH DER VERTIKALMOTOREN DER AUGEN.')

Von Prof. Dr. med. A. Bielschowsky.**)

Die im Wirkungsbereich der Vertikalmotoren der Augen vorkommenden Storungen bieten dem Augenarzt eine solche Fulle von Problemen und geben so haufig Anlass zu unenvar- teten und unerfreulichen therapeutischen Miserfolgen, dass viele Augenarzte, wie ich aus zahlreichen Erfahrungen weiss, sich mit derartigen Fallen nur ungern befassen oder sie von vornherein an andere Stellen verweisen. Das hat zweierlei Ur- sachen. Wahrend die Funktion der Seitenwender der Augen unter normalen und abnormen Bedingungen leicht verstand- lich ist, und die Regeln fur Diagnose und sachgemasse Behand- lung der in Betracht kommenden Storungen in wenigen Satzen auszudriicken sind, setzt das richtige Verstandnis schon der normalen Funktion der Vertikalmotoren eine genaue Kennt- nis ihrer anatomischen und namentlich der physiologischen Be- sonderheiten voraus, die nur von dem richtig gewurdigt werden konnen, dem die physiologischen Fundamentalgesetze der Au- genbewegungen in Fleisch und Blut iibergegangen sind. Dem- entsprechend ist die Pathologie der Vertikalmotoren, vergli- chen mit den bisher bekannten Anomalien der Seitenwender, wesentlich mannigfal tiger und komplizierter, insbesondere in den nicht seltenen Fallen, in denen Storungen ganz verschie- denartiger Herkunft neben einander bestehen. Daraus ergeben

*) Vortrag, gehalten in der Danischen Ophthalmologischen Gesell-

**) Aus dem Dartmouth Eye Institute, Dartmouth Medical School. schaft in Kopenhagen, 1. November 1937.

Hanover, N. H., U. S. A. 16'

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sich relativ oft Symptome, die dem Arzt ohne geniigende klini- sche Erfahrung widerspruchsvoll erscheinen und einer Analyse des Krankheitsbildes grosse Schwierigkeiten bereiten. Es ist klar, dass hieraus fehlerhafte Indikationsstellungen und thera- peutische Miserfolge resultieren konnen. Wir kennen z. Zt. vier Gruppen von Storungen im Bereiche der Vertikalmotoren, die ihrem Wesen und Ursprung nach ganz verschieden sind. Der Besprechung derselben sei eine Zusammenfassung der wich- tigsten anatomisch-physiologischen Verhaltnisse vorausge- schickt, von denen sich die normalen Funktionen der Vertikal- motoren und deren Storungen ableiten lassen.

Jedes Auge verfiigt iiber je einen graden und einen schra- gen Heber und Senker. Das Zusammenwirken eines jeden Paares ermoglicht einmal die einfache Hebung und Senkung der Augen aus der Primarstellung ohne gleichzeitige Rad- drehung oder Rollung, d. h. ohne Anderung der Lage der Netz- hautmeridiane. Eine solche )>Verrollung<< kommt normaler Weise nur bei extremen Diagonalstellungen der Augen vor, wie sie beim gewohnlichen Sehen nicht erfolgen, weil durch begleitende Kopfbewegungen alle extremen Augenbewegungen vermieden werden. Des weiteren verhilft das Zusammenwir- ken je eines graden und schragen Hebers bezw. Senkers dazu, dass die Augen ein gewisses gleichmassiges Maximum von Hebung und Senkung im ganzen Blickfeld beibehalten kon- nen. Der Rect sup. z. B., dessen Muskelebene einen Winkel von ca. 27O mit der gradeaus gestellten Gesichtslinie bildet, kann naturgemass das Maximum an Hebung nur dann bewir- ken, wenn die Gesichtslinie in seiner Muskelebene liegt, also um 27O abduciert ist. Konnte man die Gesichtslinie urn 63O adducieren, so wiirde selbst die maximale Kontraktion des Rect. sup. nicht die Spur einer Hebung bewirken. Der einzige Effekt seiner Kontraktion ware in diesem Falle eine Rad- drehung des Auges (Einwartsrollung ) um die Gesichtslinie als Axe. Analoges gilt fiir die Senkungsfunktion des Rect. inf., dessen Muskelebene mit der des oberen Rect. zusammenfallt. Die graden Vertikalmotoren sind also vorzugsweise Heber und Senker der abducierten Gesichtslinie, wahrend sie an deren Bewegung nach oben-innen um so weniger Anteil haben, je starker adduciert die Gesichtslinie ist. Fur die Funktion der

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schragen Vertikalmotoren gilt angenahert das Umgekehrte. Da ihre Muskelebenen senkrecht zur Gesichtslinie stehen, wenn diese um 40° abduciert ist, so haben sie auf das um 40° abducierte Auge keinerlei hebenden bezw. senkenden Einfluss, sondern rotieren es lediglich um die Gesichtslinie als Axe. Sie wirken aber als reine Heber bezw. Senker, wenn die Gesichts- linie ad maximum adduciert ist. Die antagonistischen Rol- lungskomponenten eines gr'aden und schragen Hebers (Sen- kers) kompensieren sich normaler Weise derart, dass keine Schiefstellung der Netzhaut-Meridiane zustande kommt. Eben- so wird die Minderung der hebenden oder senkenden Kompo- nente, die jeder dieser Muskeln bei Kombination der vertikalen mit einer Seitenbewegung erfahrt, kompensiert durch den Zu- wachs der Hebungs- bezw. Senkungsfunktion des anderen Muskels bei eben dieser Bewegung. Das gilt mutatis mutandis ebenso fur die Zu- und Abnahme der Rollungswirkung der genannten Muskeln bei Anderung der Blicklage in lateraler Richtung. Auf diesen anatomisch-mechanischen Einrichtun- gen beruht die Aktion der Vertikalmotoren sowie die Gleich- massigkeit der gleichsinnigen Hebung und Senkung beider Augen in den verschiedenen Blickrichtungen. Die Vertikal- motoren sind aber nicht nur zur Ausfuhrung paralleler Verti- kalbewegungen mit einander verknupft. Sie sind, freilich in wesentlich geringerem Umfange, noch in anderen Kombina- tionen tatig, wobei sie anderen Centren unterstellt sind. Die Heber eines jeden Auges werden zugleich mit den Senkern des andern Auges zur Ausfuhrung gegensinniger Vertikalbewe- gungen, der positiven und negativen Vertikaldivergenz (V. D.) innerviert, ebenso wie ja auch die Seitenwender der Augen neben der Rechts- und Linkswendung eine Convergenz- und Divergenzbewegung der Augen zu vermitteln haben. In einer dritten Kombination unterstehen die Vertikalmotoren dem Vestibularapparat und bewirken bei Seitwartsneigung des Kopfes die parallele (gleichsinnige) Raddrehung der Augen nach der entgegengesetzten Seite um die Gesichtslinien als Axen. Diese Gegenrollung der Augen erfordert das Zusamnien- wirken der oberen Muskeln des einen und der unteren Muskeln des andern Auges. Bei der Rechtsrollung der Augen, die ein- tritt, wenn der Kopf gegen die linke Schulter geneigt yird,

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wirken Rectus inf. und Obliquus inferior am rechten, Rectus sup. und Obliquus sup. am linken Auge zusammen, weil die beiden ersteren eine auswarts-, die letzteren eine einwarts- rollende Komponente haben. Da die genannten Muskeln ab- gesehen von ihrer Rollungskomponente Antagonisten sind, der Rect. sup. z. B. hebend und adducierend, der Obl. sup. senkend und abducierend wirkt, kommt bei gleichzeitiger Innervation und gleichmassiger Leistungsfahigkeit dieser Muskeln ledig- lich eine Raddrehung der Augen um die Gesichtslinien, aber keine Lageveranderung der letzteren zustande. Die Verwer- tung dieser Gegenrollung fur diagnostische Zwecke in patholo- gischen Fallen wird noch zu erortern sein. In einer vierten Kombination bewirken die Vertikalmotoren eine Conclination, bezw. Disclination der Vertikalmeridiane, also eine gegen- sinnige Rollungsbewegung. Die beziigliche Innervation ent- steht nur unter dem Einfluss von Fusionsreizen, z. B. dann, wenn identische Objekte, wie Druckschriften, die im Stereo- skop oder Haploskop verschmolzen sind, gegen einander ver- dreht werden. Dieser Verdrehung folgen die Augen innerhalb gewisser Grenzen, so dass die Abbildung der Bilder auf kor- respondierenden Netzhautbezirken und damit binokulares Einfachsehen erhalten bleibt. Noch einer fiinften besonderen Innervationsart der Hebermuskeln muss Erwahnung getan werden, weil sie fur diagnostische Zwecke wichtig ist. Beim Lidschlussimpuls erfolgt eine Mitbewegung der Augen nach oben (Bell’sches Phanomen). Es giebt Faille, in denen die Augen nicht nur zur willkurlichen Hebung unfahig sind, son- dern auch auf vestibulare und Fusionsreize vollig versagen, und nur die prompte Ausfiihrung der Hebung beim Lid- schlussimpuls erkennen lasst, dass sowohl die Kerne wie die Nerven der Hebermuskeln vollig intakt, aber von den zu ihnen absteigenden Bahnen mit der einzigen Ausnahme der Bahn fur das Bell’sche Phanomen abgeschnitten sind.

Bei Untersuchung der Motilitatsstorungen der Augen sind stets die folgenden Fundamentalgesetze der Augenbewegungen zu beriicksichtigen :

1 ) Alle beim normalen Sehakt vorkommenden Innervatio- nen, sowohl die willkurlichen, wie die durch optische, akusti- sche und sensible Erregungen ausgelosten Innervationen von

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reflexahnlichem Character, wozu auch die Fusionsinnervatio- nen gehoren, endlich auch die echtien Reflexinnervationen vesti- bularen Ursprungs fliessen stets gleichmassig zu denjenigen Muskelgruppen beider Augen, die zur Ausfuhrung bestimmter Bewegungen associiert sind ; dabei werden die Agonisten zur Verkiirzung, die Antagonisten gleichzeitig zur ( aktiven) Er- schlaffung veranlasst.

2 ) Es ist unmoglich, willkiirlich einen Muskel oder ein Auge isoliert oder beide Augen verschieden stark zu innervie- ren. An jeder Bewegung sind stets samtliche Muskeln beider Augen beteiligt: die eine Halfte erfahrt eine Tonuszunahme, die andere eine Tonusverminderung.

Das Associationsgesetz, wie das Gesetz von der gleichmas- sigen Innervation beider Augen genannt ist, ist vielfach nicht verstanden und seine strenge Giltigkeit deswegen angezweifelt worden, weil unter Umstanden ungleichmassige und sogar einseitige Augenbewegungen vorkommen. Man muss sich daruber klar sein, dass gleichmassige Znnervation nicht gleich- bedeutend ist mit gleichmassiger Bewegung der Augen. Wenn man von der Betrachtung eines fernen, in der Medianebene ge- legenen Objektes iibergeht zur Fixation eines nahen, in der rechten Gesichtslinie befindlichen Punktes, so macht nur das linke Auge eine Adduktionsbewegung, die rechte Gesichtslinie behalt ihre Lage unverandert bei. Trotz Einseitigkeit der Be- wegung ist die bilateral-gleichmassige Innervation der Augen in solchen Fallen eindeutig nachzuweisen : nicht nur erfolgt dabei ein bilateral-gleichmassiger Zuwachs an Accommoda- tion und gleichmassige Verengerung beider Pupillen, sondern beide Augen erfahren auch die mit der Einstellung auf ein nahes Objekt verbundene leichte Raddrehung um die Ge- sichtslinien als Axen. Ausserdem sieht man an dem nahen Objekt im Moment der Einstellung der Augen auf dieses eine Scheinbewegung nach rechts, die darauf hinweist, dass jetzt das Doppelauge unter dem Impuls zur Rechtswendung steht, der am rechten Auge nur deswegen nicht in Erscheinung tre- ten kann, weil der Effekt des Rechtswendungsimpulses an diesem Auge durch den gleichzeitig mit letzterem erteilten Convergenzimpuls kompensiert wird, wahrend beide Impulse das linke Auge zu einer in gleicher Richtung erfolgenden Be-

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wegung veran1assen.l) In der kasuistischen Literatur werden als Beweise gegen die Giltigkeit des Associationsgesetzes Falle mitgeteilt, in denen willkurlich einseitige Divergenz- oder gar Vertikalbewegungen ausgefuhrt werden konnen, die normaler Weise dem Willen nicht unterstehen. Ich bin einer Reihe solcher Falle nachgegangen und habe keinen gefunden, in dem die einseitige Bewegung nicht auf bilateral-gleichmassige Innervationen analog der vorher erwahnten einseitigen Ad- duktionsbewegung zuriickgefuhrt werden konnte. Vorausset- zung fur das Zustandekommen solcher einseitigen Divergenz- oder Vertikalbewegungen ist zweierlei : eine abnorme Ruhe- lage der Augen, also ein fur gewohnlich latentes Divergenz- oder Vertikalschielen, und ein gut entwickelter Fusionsme- chanismus. Wenn derartige Personen die Augen sozusagen sich selbst uberlassen, d. h. die die Schielstellung korrigie- rende Innervation erschlaffen, so geht ein Auge entsprechend der abnormen Ruhelage nach aussen bezw. oben oder unten, wahrend das andere auf das zur Fixation gebotene Objekt eingestellt bleibt. Richtet der Patient aber seine Aufmerksam- keit auf die nunmehr auftretenden Doppelbilder, so fiihrt der Fusionsreiz das abgelenkte Auge zur binokularen Fixation zu- ruck, und die Doppelbilder gelangen zur Verschmelzung. Ei- nen besonders instruktiven Fall von willkurlicher einseitiger Vertikalbewegung habe ich seinerzeit nachgepriift,2) und zei- gen konnen, dass der betr. Patient eine alte - vielleicht an- geborene - Trochlearis-Parese hatte. E r konnte das gelahmte Auge nach Belieben nach oben und wieder zur Horizontal- ebene zuruckwandern lassen, aber nur, wenn der Fusions- zwang wirksam werden konnte. War das betr. Auge verdeckt, oder der Kopf des Patienten, nach der gelahmten Seite ge-

l) Man kann es ziemlicli leicht erlernen, einseitige Seitenwen- dungen der Augen willkurlich auszufuhren. Wenn man, ohne auf ein nahes Objekt zu blicken, willkurlich zur Convergenz innervieren kann, .so treten gleichseitige Doppelbilder eines fernen Objektes auf. Betrachtet man dauernd das linkc Bild, wahrend man den Conver- genzimpuls weiter steigert, so bewegt sicli nur das rechte Auge nach innen, das linke bleibt anscheinend unverruckt.

*) A. Bielschowsky, Uber die Genese der einseitigen Vertikalbewe- gungen der Augen. Zeitschr. f . Augenheilk., XII, H. 4, S . 548, 1904.

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neigt, wobei das Maximum der Ablenkung eintrat, so konnte das Auge aus seiner Schielstellung nicht zuriickgebracht wer- den; ebensowenig konnte der Patient es von der normalen in die Schielstellung gehen lassen, wenn sein Kopf nach der nicht-gelahmten Seite geneigt und dadurch der paretische Muskel maximal entlastet war. Willkiirlich ist also in solchen Fallen lediglich das Nichtbeachten, resp. das Beachten der von dem betreffenden Auge vermittelten Eindrucke, sowie das Festhalten der Fixationsabsicht. Alles andere besorgt’der Fu- sionsmechanismus gleichsam automatisch.

Manche Fehldiagnose ist friiher dadurch verschuldet wor- den, dass man den aus den topographisch-anatomischen Ver- ha1 tnissen berechneten Zugwirkungen der einzelnen Muskeln ein entscheidendes Gewicht bei der Untersuchung von Motili- tatsstorungen beilegte und nicht daran dachte, dass ja nie- mals ein einzelner Muskel isoliert eine Augenbewegung aus- fiihrt, selbst wenn er dazu imstande ware. Im Vertrauen auf die Tatsache, dass die isolierte Aktion des Rect. inf. in einer Senkung, Adduktion und Rollung besteht, nahm man z. B. eine Lahmung dieses Muskels an, wenn das betreffende Auge nicht nach unten-innen bewegt werden konnte. Dabei wurde nicht bedacht, dass der Einfluss des Rect. inf. auf die Senkung immer geringer wird, je mehr die Gesichtslinie adduciert wird. Bei der Bewegung nach innen-unten wirken drei Muskeln als Agonisten: die beiden Senker und der Rectus medialis, von den ersteren hat den Hauptanteil der Obl. sup., dessen sen- kende Komponente mit zunehmender Adduktion der Gesichts- h i e wachst. Eine erhebliche Beschrankung des Blickfeldes nach innen-unten weist also nicht auf eine Schwache des gra- den, sondern des schragen Senkers hin. Sie ist ein regelmas- siges Merkmal der Trochlearis-Parese.

Die Storungen im Bereich der Vertikalmotoren lassen sich in folgende 5 Gruppen teilen: 1) die rein konkomitierenden Vertikalablenkungen; 2 ) die Vertikalablenkungen paretischen Ursprungs; 3) die das Bild uni- oder bilateraler Uberfunktion des Obl. inf. zeigenden; 4 ) die dissociierten und 5) die Verti- kalablenkungen mit Merkmalen mehrerer der zuvor genann- ten Gruppen.

Zur ersten Gruppe gehoren Vertikalablenkungen, die die

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Merkmale des rein konkomitierenden Schielens zeigen im Ge- gensatz zum paretischen : also vor allem die Unabhangigkeit des Schielwinkels von der Blickrichtung und vom Dbergang der Fixation von dem einen zum anderen Auge. Die bezgl. Feststellungen sind relativ einfach, wenn es sich um perma- nente (manifeste) Vertikalablenkungen handelt. In vielen solchen Fallen ist die Ablenkung aus einer horizontalen und vertikalen Komponente zusammengesetzt, die man gesondert zu untersuchen hat, um zu entscheiden, ob die vertikale Kom- ponente etwa auf einer atypischen Nebenwirkung der hori- zontalen Muskeln beruht oder die Merkmale einer oder mehre- rer anderer Formen von Vertikalablenkung bietet. Das l a s t sich feststellen durch vergleichende Messung des Schielwin- kels in der primaren Blickrichtung, sowie bei Seitenwendung, Hebung, Senkung und in den Diagonalstellungen der Augen. Es ist relativ leicht, wenn Doppelbilder bestehen oder sich mittels farbiger Differenzierung der Netzhautbildern zum Be- wusstsein bringen lassen, und ihre Lokalisation auf Grund der normalen Netzhautkorrespondenz erfolgt, d. h. der objektiven Stellung der Augen zu einander entspricht. In Fallen mit ano- maler Netzhautkorrespondenz muss man sich auf die objektive Messung mittels einer der hier nicht naher zu erortenden Me- thoden beschranken. Falls nicht eine hohergradige einseitige Amblyopie vorliegt, mussen die Doppelbilder gepriift werden, indem das dunkelfarbige Glas zunachst vor das eine, dann vor das andere Auge gehalten wird. Wenn sich hierbei Unter- schiede in der Grosse und Ar t der Ablenkung ergeben, die bei Wiederholungen regelmassig wiederkehren und nicht die Merkmale einer Parese - speziell den Grossenunterschied zwischen primarem und sekundarem Schielwinkel - zeigen, so weisen diese Unterschiede auf eine sog. dissociierte Storung der Vertikalmotoren hin. Finden sich aber bei wiederholten derartigen Messungen und bei Vergleich der Ergebnisse an- genahert die namlichen Ablenkungsgrade bei allen Blickrich- tungen, so ist man einigermassen sicher, dass eine rein kon- komitierende Storung vorliegt. In solchen Fallen fehlt auch der bei paretischen Vertikalablenkungen zu erwartende und von der jeweiligen Blickrichtung abhangige Schragstand der Doppelbilder, sowie der in vielen Fallen paretischer Herkunft

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so charakteristische Einfluss der Seitwartsneigung des Kopfes auf die Grosse der Vertikal-Divergenz (V. D.) . Wesentlich schwieriger ist die Untersuchung und Analyse der latenten bezw. nur periodisch manifest werdenden Vertikalablenkun- gen. Bei diesen kann man nur durch eine Reihe von verglei- chenden Bestimmungen des Schielwinkels ein einigermassen sicheres Urteil iiber die Natur der Ablenkung gewinnen. Die Hauptschwierigkeit ist darin begriindet, dass in diesen Fallen die vom Fusionszwang unterhaltene, zum Ausgleich der V. D. dieriende Innervation trotz Aufhebung des Fusionszwanges nicht sofort vollstandig erschlafft werden kann. Ebensowenig wie man den jugendlichen Hyperopen durch Vorsetzen von Convexglasern dazu bringen kann, den erhohten Tonus der Ci- liarmuskeln sofort vollstandig aufzugeben, ebensowenig geniigt die Ausschaltung des Fusionsreizes durch farbige Differen- zierung der beiderseitigen Netzhautbilder oder durch das Mad- dox-Stabchen zur vollstandigen Erschlaffung der Ausgleichs- innervation, die einen erhohten Tonus der Heber an dem einen und der Senker an dem andern Auge unterhalt. Die durch Aufhebung des Fusionszwanges veranlasste Erschlaffung der Ausgleichs-Innervation ist nicht nur , unvollstandig, sondern, wenn zu verschiedenen Zeiten gepriift, auch ganz ungleich- massig, so dass bei Wiederholung der Untersuchung unter den gleichen Bedingungen bald grossere bald kleinere Ablenkungs- werte gefunden werden, als bei der ersten Messung; die stan- digen Schwankungen der Ausgleichsinnervation konnen mit- unter eine paretische Storung vortauschen, indem bei ver- schiedenen Blickrichtungen verschieden grosse Ablenkungs- werte gefunden werden. Vor diesem Irrtum schiitzt nur die mehrfaohe Wiederholung der Messung, wobei man nicht selten ein ganz ungleichartiges Verhalten der V. D. beim Ubergang von der einen zur andern Blickrichtung findet. Eine wertvolle Hiilfe zur Sicherung der Diagnose in solchen Fallen bietet die sorgfaltige Bestimmung der vertikalen Fusionsbreite. Neh- men wir als Beispiel einen Fall von rechtsseitiger Hyper- phorie (+V. D.l) ) die fur gewohnlich durch die Innervation zur -V.D., also durch einen erhohten Tonus der rechten

l) +V. D. = positive, -V. D. = negative Vertikaldivergenz.

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Senker- und linken Hebermuskeln latent gehalten wird. Wenn man Prismen von allmahlich zunehmender Starke mit der Basis unten vor das rechte oder mit der Basis oben vor das linke Auge bringt, so findet man die +V.D. Breite be- trachtlich grosser als normal, weil ja die aktive Innervation zur +V. D. erst einzusetzen braucht, wenn nach Erschlaffung der Ausgleichs-Innervation die Augen die ihrer Ruhelage ent- sprechende V. D-Stellung eingenommen haben. Dagegen ist die negative V. D.-Breite erheblich verschmalert bezw. auf Null reduciert, weil die Innervation zur -V. D. zunachst die als abnorme Ruhelage bestehende +V. D. i i b e k n d e n muss, bevor sie die Augen in die entgegengesetzte V. D.-Stel- lung bringen kann. Durch eine Serie von +V.D. bewirken- der Versuche gelingt es in der Regel, eine vollstandige oder zum mindesten wesentlich weitergehende Erschlaffung der Ausgleichs-Innervation herbeizufuhren, als durch blosse Un- terbrechung des Fusionszwanges. Solche Untersuchungen er- fordern natiirlich Zeit, Geduld und eine zweckmassige Ver- suchsanordnung ( Prismenleiter, Doppelprismen - Apparat, Haploskop, Farbglas) . Trotz aller Sorgfalt und haufiger Wiederholung der Untersuchung ist es nicht immer moglich zu unterscheiden, ob eine reine Hyperphorie, d. h. eine auf anatomisch-mechanischen Faktoren der Ruhelage beruhende Stellungsanomalie vorliegt, oder ob die V. D. auf abnormen Innervationen beruht, die als intermittierende Spasmen auf- treten konnen sowohl in Fallen mit normaler anatomischen Ruhelage, als auch in solchen, in denen die Innervationsano- malie mit einer Anomalie der Ruhelage vergesellschaftet ist. Ich werde nach Besprechung der iibrigen Formen von Ver- tikalablenkungen Beispiele solcher Storungen, die der thera- peutischen Indikationsstellung grosse Schwierigkeiten bereiten konnen, anfuhren.

Vertikalablenkungen paretischer Herkunft bediirfen hier keiner detaillierten Erorterung, sofern es sich um typische Falle im frischen Stadium der Parese handelt. Ob ein Heber- oder Senkermuskel gelahmt ist, ergiebt sich in solchen Fal- len aus der Feststllung, dass die V. D. bei Hebung bezw. Senkung des Blicks zu- bezw. abnimmt, weil ein Auge bei Bewegung in der einen oder anderen Richtung hinter dem

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andern Auge zuriickbleibt. Ob ein grader oder schrager Muskel gelahmt ist, entscheidet die Feststellung, dass die V. D. entwe- der bei Abduktion oder Adduktion des paretischen Auges zu- und nach der entgegengesetzten Richtung abnimmt. Schrag- stand der Doppelbilder spielt keine entscheidende Rolle fur die Diagnose, wie noch zu erortern sein wird. Noch vie1 weniger geniigt der neben der V. D. etwa bestehende Seiten- abstand der Doppelbilder fiir die Differentialdiagnose. Es ist durchaus nicht gesagt, dass wegen der abducierenden Wir- kungskomponente der schragen Muskeln bei Trochlearis- Lah- mung ein gleichseitiger Seitenabstand der hohendistanten Dop- pelbilder bestehen muss. In ca. 25 76 der Trochlearis-Lahmun- gen zeigen die Doppelbilder bei primarer Blickrichtung entwe- der keinen oder einen gekreuzten Seitenabstand. Das beruht auf der grossen Haufigkeit einer divergenten Ruhelage, die, friiher latent, erst nach Eintritt der Lahmung manifest wird und die geringe Konvergenz, die der Ausfall der abducierenden Komponente des Obl. Sup. zur Folge hat, kompensiert oder iiberkompensiert. Diagnostische Schwierigkeiten konnen in einem spateren Stadium der paretischen Vertikalablenkungen entstehen, dann namlich, wenn der paretische Muskel seine Funktion ganz oder teilweise wiedergewonnen hat, aber die Vertikalablenkung fortbesteht infolge einer wahrend Be- stehens der Parese entstandenen Kontraktur des Antagonisten des gelahmten Muskels. Die Ablenkung zeigt dann nicht mehr die charakteristischen Merkmale der paretischen Herkunft, sonden wird dem konkomitierenden Typus immer ahnlicher, analog dem atypischen Spatstadium einer Abducensparese, die das Bild eines einfachen Strabismus conv. bieten kann, wenn weder ein deutlicher Bewegungsdefekt, noch eine Dif- ferenz zwischen primarem und sekundarem Schielwinkel, noch die Zu- bezw. Abnahme der Konvergenz bei Rechts- und Linkswendung des Blicks zu konstatieren ist. Ein entspre- chendes Verhalten zeigen Lahmungen der Vertikalmotoren im atypischen Spatstadium insofern, als die V. D. bei Hebung bezw. Senkung des Blicks sich nicht andert, also nicht erken- nen lasst, ob ursprunglich ein Heber des einen oder ein Senker des andern Auges paretisch war. Regelmassig aber findet man in solchen Fallen eine betrachtliche Grossendifferenz der V. D.

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bei Rechts- und Linkswendung der Augen, da der Ablenkung entweder eine Storung des Gleichgewichts zwischen den graden oder zwischen den schragen Vertikalmotoren zu Grunde liegt. Als Beispiel sei der Fall einer zunachst typischen Parese des rechten Trochlearis gewahlt, die sich weitgehend zuruckgebil- det hat, wahrend die +V. D. fortbesteht zufolge einer sekun- daren Kontraktur des rechten Obl. inf. Sie andert sich weder bei Hebung noch bei Senkung des Blicks, wachst aber betracht- lich beim Blick nach links, d. h. also bei Adduktion des rechten Auges, dessen Hohenlage dabei vorwiegend von den schragen Muskeln abhangt. Die V.D. nimmt beim Blick nach rechts erheblich ab, weil in abducierter Stellung des rechten Auges die schragen Muskeln auf dessen Hohenlage keinen Einfluss haben. Ein gleiches Verhalten der V. D. bei den verschiedenen Blickrichtungen konnte auch durch eine Parese des linken Rect. sup. im atypischen Spatstadium bedingt sein; auch in solchen Fallen wurde die V.D. ihr Maximum bei Linkswen- dung, wobei das linke Auge abduciert ist, ih r Minimum bei Rechtswendung erreichen, wo die Hohenlage des linken Auges nicht oder nur in untergeordnetem Masse von den graden Vertikalmotoren beeinflusst ist. Auch der Schragstand der Doppelbilder gabe keinen sicheren Anhaltspunkt, ob der rechte Obl. sup. oder der linke Rect. sup. fur die Vertikalablenkung verantwortlich ist. Der Schragstand lasst nur erkennen, ob eine >>Verrollungcc der Augen im Sinne einer Dis- oder Con- clination der vertikalen Meridiane vorliegt. Da beide in Frage kommenden Muskeln Einwartsroller sind, so entsteht bei Lahmung eines j eden von beiden eine pathologische Disclina- tion. Es ist nicht etwa stets das dem paretischen Auge zu- gehorige Bild, das dem Patienten schrag erscheint, sondern oft genug sieht er entweder beide Bilder geneigt oder sogar das Bild des nicht-gelahmten Auge schief, das des gelahmten Auges grade. Bestimmend fur das eine oder andere Verhalten ist, ob das gelahmte oder das gesunde Auge das fuhrende ist. Ersterenfalls werden vertikale und horizontale Contoure, trotzdem sie auf Schragschnitten der Netzhaut abgebildet sind, vertikal und horizontal gesehen ; die entsprechenden Bilder im andern Auge miissen dann, trotzdem sie auf dem Langs- bezw. queren Mittelschnitt der Netzhaut liegen, von der Ver-

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tikalen bezw. Horizontalen des Raums um denjenigen Winkel abweichen, den die Bild tragenden schragen mit den Haupt- schnitten der Netzhaut einschliessen. In solchen Fallen giebt es zwei Moglichkeiten fur die Differentialdiagnose. Die eine ist die Priifung des Einflusses, den die Seitwartsneigung des Kopfes auf die Grosse der Vertikalablenkung hat. Hierbei wird bekanntlich eine vestibulare Innervation zur parallelen Gegenrollung der Augen adsgelost ; bei Rechtsneigung des Kopfes erfolgt am rechten Auge eine Innervation zur Ein- wartsrollung, am linken zur Auswartsrollung. Eine Storung im Gleichgewicht der rechten schragen Muskeln, hervorgerufen durch eine Parese des oberen Schragen hat zur Folge, dass der zugleich mit dem Obl. sup. zur Einwartsrollung inner- vierte Rect. sup. die Gesjchtslinie nach oben ablenkt, wahr- end am linken Auge, an dem die beiden unteren Muskeln (Rectus inferior und obliquus inf.) zur Auswartsrollung zu- sammenwirken, die senkende Componente des einen durch die hebende des anderen Muskels kompensiert wird, so dass das Auge lediglich eine Drehung um die Gesichtslinie als Axe erfahrt. Bei Linksneigung des Kopfes tritt der paretische rechte Obl. sup. nicht in Aktion; die Folge davon ist ein Zuruckgehen oder volliges Verschwinden der sonst bestehen- den Vertikalablenkung. Da der rechte Obl. sup. als Einwarts- roller bei der Linksrollung, der linke Rect. sup. als Einwarts- roller bei der Rechtsrollung der Augen mitzuwirken hat, ergiebt der Kopfneigungsversuch ein verschiedenes Resultat, je nachdem die Parese des einen oder anderen Muskels fur die V. D. verantwortlich ist. Zu einer exakten Feststellung des Einflusses, den die Seitwartsneigung des Kopfes in der- artigen Fallen auf den Abstand der Doppelbilder hat, bedarf es einer Versuchsanordnung, welche die unveranderte Beibe- haltung der relativen Lage des fixierten Objektes zu den Augen wahrend der Seitwartsneigung des Kopfes verburgt. Ohne eine solche Versuchsanordnung konnte die im Versuche eintretende Zu- oder Abnahme des Doppelbilderabstandes we- nigstens teilweise, durch eine unbeabsichtigte Anderung der Blickrichtung - Hebung, Senkung oder Seitenwendung der Ge- sichtslinien - bewirkt werden, also nicht ausschliesslich die Reaktion auf die im Versuche beabsichtigte vestibulare Er-

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regung der Vertikalmotoren zum Ausdruck bringen. F. B. Hofmann und ichl) benutzten, um der envahnfen Forderung zu genugen, einen nach dem Prinzip des Helmholtz’schen Vi- sierzeichens konstruierten Apparat (Fig. 1 ) . Ein Beissbrett- chen, dass der Patient fest zwischen den Zahnen halt, ist an einem etwa 40 cm langen, horizontal gehaltenen Metallstabe befestigt, an dessen anderem Ende parallel zur Frontalebene sich ein weisser Karton mit schmalem horizontalem schwar- Zen Streifen in Augenhohe befindet, dessen Centrum vom Patienten fixiert wird. Wenn er seinen Kopf gegen die eine oder andere Seite neigt, so macht der fixierte Streifen die Neigung in gleicher Hichtung und gleichem Umfange mit. Bei dieser Versuchsanordnung ist eine Anderung der Blickrichtung ausgeschlossen, so dass die etwa wahrend des Versuches auf- tretende Stellungsanderung der Gesichtslinien relativ zu einan- der nur auf die durch Seitwartsneigung des Kopfes ausgeloste reflektorische Innervation zur Rollung der Augen nach der ent- gegengesetzten Richtung zuruckgefiihrt werden kann. Die Dop- pelbilder des Streifen werden vom Patienten zunachst in auf- rechter, dann bei seitwarts geneigter Kopfhaltung beobachtet und aufgezeichnet. Eine andere Methode, die zur Entschei- dung, ob die Vertikalablenkung auf Lahmung des schragen Senkers bezw. Hebers an dem einen oder des graden Hebers bezw. Senkers des anderen Auges beruht, ist folgende. Ein im Dunkelraum einaugig durch eine Rohre beobachteter schwach gliihender Faden erscheint dem Untersuchten in der Regel nur dann vertikal bezw. horizontal, wenn sein Bild auf dem Langs- bezw. queren Mittelschnitt der Netzhaut liegt. Bei Lahmung eines Muskels mit rollender Komponente stehen diese Hauptschnitte schief ; infolge dessen muss der Gliihfaden entsprechend schief gestellt werden, um dem gelahmten Auge des Patienten vertikal oder horizontal zu erscheinen. Zeigen die nacheinander gepruften Einzelaugen wesentliche Differen- Zen in der Lokalisation der Vertikalen und Horizontalen, so ist daraus abzuleiten, welchem Auge der paretische Heber- oder Senkermuskel zugehort.

Eine dritte Gruppe von Storungen der Vertikalmotoren

*) F. B. Hofmann u. A. Bielschowsky, Die Verwertung der Kopf- neigung zur Diagnostik von Augenmuskellahmungen etc. Graefe’s Arch. f . Ophth., LI, 1, S. 174, 1900.

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Abb. 1 a-c. Einfluss der seitlichen Iiopfneigung im Reissbrettchen- versuch bei ciner doppelstitigen Trochlearisparese. Die Doppelbilder des fixierten Iiorizoritalen Streifens zeigeii bei aufreclrter Iiopfhaltung (1 a) den Hoherstand des rcclrten Auges nebst. Verrollung (Meridian- abweichung); das zugehorige Trugbild (gestrichelt) steht tiefer und schief. Bei Rechtsneigung des Iiopfes (1 c) erreicht die Ablenkung ihr Maximum, bei Linksneigung des Kopfes (1 b) steht das Bild des rechten Auges holier, worin die Parese des linken Obl. sup. zum Ausdruck kommt, der bei Linksneigung des Kopfes zur Gegen-

rollung der Augen iniierviert wird. l i

Acta Opthalrnol., Vol. 16. 2-3.

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steht den zuletzt besprochenen atypischen Vertikalablenkun- gen paretischer Herkunft nahe, unterscheidet sich aber doch von diesen durch gewisse Besonderheiten. Sie bietet in ihrer

Fig. 2a . Beiderseitige Uberfunktion des Obl. inf. In Primar- stellung volligcs Muskelgleichgewicht.

Fig. 2 b. Beim Blick nach links Fig. 2 c. Beim Blick nach rechts weiclit rechtes Auge nach weicht linkes Auge nacli

oben ab. obcn ab.

reinsten und einfachsten Form folgende Merkmale. Beim Blick gradeaus stehen die Gesichtslinien parallel, zeigen auch bei Ausschal tung des Fusionszwanges keine oder belanglose laten- te Gleichgewichtsstorungen. Folgen aber die Augen einem in der Horizontalebene seitwarts bewegtem Objekt, so weicht die nach innen sich bewegende Gesichtslinie nach oben ab, mit- unter in sehr betrachtlichem Umfange. Wenn die Storung an beiden Augen besteht, so ist bei Rechtswendung des Blickes also das linke, bei Linkswendung das rechte Auge nach oben abgelenkt (Fig. 2a, b, c) . Priift man die Blickfelder beider Au- gen, so ist jedes Blickfeld im oberen-nasalen Quadranten be- trachtlich erweitert, ohne im oberen-temporalen Quadranten eingeschrankt zu sein. Die Grenzen im unteren Blickfeld sind

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entweder normal oder im unteren-temporalen Quadranten et- was erweitert. Das Verhalten der Doppelbilder entspricht durch- aus dem objektiven Befunde. Ihr Schragstand weist auf eine

Fig. 3 a. Strab. conv. 0. d. mit bilateraler Gberfunktion des Obl. wartsschielen des 1. Auges inf. Bei primarer Blickriclitung

keine V. D.

Fig. 3 b. Bei Rechtswendung Auf-

Fig. 3 c. Bei Linkswendung Auf- wartsscliielen des rechten Auges.

Disclination der Vertikalmeridiane hin, e r kann aber auch fehlen. Der Kopfneigungsversuch ist mitunter negativ, jedoch in Fallen, in denen die Ablenkung nur beim Blick nach der einen Seite auftritt, haufig positiv, indem er eine Storung analog dem vorher erorterten atypischen Spatstadium der Trochlearislahmung erkennen lasst. Vielfach findet man ein derartiges, bei Seitenwendung auftretendes Aufwartsschielen des adducierten Auges in Verbindung mit strab. conv. oder div. ; bei primarer Blicklage braucht neben der horizontalen keine oder n u r eine geringe Ablenkung zu bestehen. (Fig. 3 a, b, c ) .

Die hier skizzierte Anomalie der Vertikalmotoren ist ent- weder einseitig oder doppelseitig. Sie entspricht dem Bilde

17'

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einer Uberfunktion des Obl. inf. auf Grund der weitgehenden Ubereinstimmung mit dem atypischen Spatstadium der Trochlearislahmung, in dem die Ablenkung nur durch eine sekundare Kontraktur des Obl. inf. unterhalten wird. Dass aber auch eine primare Uberfunktion des Obl. inf. vorkommt, ist ausser Zweifel. Ich habe sie im Anschluss an Radikalopera- tionen der Stirnhohle auftreten sehen an Stelle der in solchen Fallen wesentlich haufigeren Trochlearisparese. Wenn bei diesen Operationen die Trochlea nicht durch die Periostnaht an ihren richtigen Platz zuriickgebracht wird, sondern etwas nach hinten dislociert bleibt, so muss zum mindesten zeit- weilig die Funktion der schragen Muskeln des betreffenden Auges gestort sein. Meist ist die des Obl. sup. geschwacht, gelegentlich aber auch ohne diese Schwachung die Funktion des Obl. inf. gesteigert. Letzteres kann daher riihren, dass ein Hemmungsband fur den Obl. inf. an der Trochlea inse- riert und seinen Einfluss auf die Funktion dieses Muskels mehr oder weniger verliert, wenn die Trochlea dislociert oder das Hemmungsband selbst verletzt wird. Nach mir hat auch C . H. Sattler iiber primare Uberfunktion des Obl. inf. nach Stirnhohlenoperationen berichtet. In diesen Fallen ist die Genese und Natur der Anomalie sicher gestellt. Die Gleich- artigkeit der Symptome in den wesentlich zahlreicheren FaI- len, in denen die Anomalie angeboren ist oder doch seit friihester Kindheit besteht, weist zwar auf das Bild der Uber- funktion des Obl. inf. hin, aber man hat keine Sicherheit uber die Genese, speziell dariiber, ob die Storung eine primare oder sekundare, d. h. im Verlauf einer urspriinglich be- stehenden, aber ausgeheilten Trochlearisparese entstanden ist. Es ware auch denkbar, dass eine symmetrische (schiefe) In- sertion des Rect. med. der zugleich mit der Adduktion des Auges bei einfachem Seitenwendungsimpuls eintretenden Auf- wartsbewegung zu Grunde liegt, wie Cords auf Grund einiger von ihm operierter Fallc behauptet hat. Ich habe in den zahl- reichen Fallen von anscheinend angeborener Dberfunktion des Obl. inf., die mit Strab. conv. einherging, keine Asymmetrie der Medialis-Insertion oder doch nur eine so geringfugige gefunden, dass sie fur die hochgradige Aufwartsbewegung des Auges bei Einwartsbewegung nicht verantwortlich gemacht

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werden konnte. Fur die Moglichkeit, dass das Bild der Uber- funktion des Obl. inf. noch durch andere Faktoren herbei- gefuhrt werden kann, spricht in manchen Fallen das Fehlen gewisser Merkmale, die bei einer echten (sekundaren) Uber- funktion des Obl. inf. nie vermisst werden: wahrend namlich bei der letzteren die Verrollung der Augen im Sinne der Discli- nation stets vorhanden ist, wenn das Gleichgewicht zwischen den Obliqui durch Uberfunktion des einen oder Schwache des anderen gestort ist, fehlt die Disclination in einem Teile der Falle von scheinbar primarer Uberfunktion des Obl. inf., ebenso fehlt dann auch der Einfluss der Seitwartsneigung des Kopfes auf die Grosse der V.D.. Auch die bei primarer Uberfunktion des Obl. inf. vielfach vollkommen normale Stel- lung der Augen beim Blick gradeaus in die Ferne findet man nie bei sekundarer Kontraktur des Obl. inf., der eine Parese des Antagonisten vorausgegangen ist. Wodurch das Bild der primtiren Uberfunktion des Obl. inf. entstehen kann, bei der die eben erwahnten, fur eine vorausgegangene Trochlearis- parese charakteristischen Merkmale der sekundtiren Anomalie fehlen, weiss man noch nicht. Andererseits giebt es viele Falle einer anscheinend primaren Uberfunktion, die alle wesent- lichen Merkmale der sekundaren Uberfunktion, speziell auch den auf eine Disclination hinweisenden Schragstand der Dop- pelbilder, sowie den Einfluss der Seitwartsneigung des Kopfes auf die V. D. und eine Vertikalablenkung schon in Primar- stellung der Augen zeigen. Das gilt besonders fur die ange- borenen bezw. schon in fruhester Kindheit beobachteten Storun- gen dieser Art, die haufig dem Arzt wegen des habituellen, seit dem 2. oder 3. Lebensjahr bestehenden Torticollis zu- gefuhrt werden. Naturlich kann in diesen Fallen die sekundare d. h. postparetische Natur der muskularen Storung nicht aus- geschlossen werden. Fur therapeutische Zwecke ist es indes- sen ziemlich belanglos, ob eine primare oder sekundare Uber- funktion vorliegt. Wichtig ist nur die Feststellung, dass es sich in der Tat um eine solche Uberfunktion z. B. des rechten Obl. inf. und nicht um eine paretische Schwache des linken R. sup. handelt. Letztere wird vielfach in derartigen Fallen zu Unrecht angenommen, weil das linke Auge beim Blick nach links oben hinter dem rechten zuriickbleibt. Wenn letz-

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teres, wie das nicht selten der Fall ist, das fiihrende Auge ist, so ist dessen Motilitat bestimmend fur die Innervation des Doppelauges. Und bei abnorm gesteigerter Funktion seines Obl. inf. wird das rechte Auge zur Erreichung der oberen-

Fig. 4 a. Einfluss der Seitwarts- Fig. 4 b. Binokulares Einfach- neigung des Kopfes bei congeni- sehen bei der habituellen Links- taler Uberfunktion des rechten neigung des Kopfes. Obl. inf. Maximale V. D. bei

Rechtsneigung.

inneren Blickfeldgrenze schon durch eine geringere Innerva- tion gebracht, als sie das linke Auge mit normalem R. sup. braucht, um in der parallelen Bewegung, d.i. also nach aus- sen-oben die normale Blickfeldgrenze zu erreichen. Pruft man aber die Blickfelder der Einzelaugen gesondert, so wird man keine Einschrankung im Blickfeld des einen Auges nach aus- sen-oben, wohl aber eine betrachtliche Erweiterung des ande- ren Blickfeldes nach innen-oben finden. Ausserdem ist in der Mehrzahl der in Rede stehenden Falle die Zunahme der V. D. bei Neigung des Kopfes nach der einen und Abnahme der V. D. bei Neigung nach der anderen Seite entscheidend fur die Diagnose einer zwischen den schragen Muskeln bestehenden Gleichgewichtsstorung. Die Entscheidung ist wichtig fur das therapeutische Vorgehen. Die Schwachung des uberkraftigen Obl. inf. durch Myektomie und Resektion ist ein wesentlich einfacheres und besser dosierbares Verfahren, als die Starkung der Funktion des R. sup. am andern Auge durch die Vor- lagerung bezw. Verkurzung, die auch den Nachteil hat, dass

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sie in der Regel einen kosmetisch unvorteilhaften Enophthal- mus mit leichter Ptosis hinterlasst. Ich habe mit der Myek- tomie des Obl. inf. in zahlreichen Fallen sehr befriedigende Erfolge erzielt. Nachdem binokulares Sehen auch bei normaler

Fig. 5 a, b. Alternierendes Aufwartsscliielen.

Kopfhaltung ermoglicht war, verschwand der habituelle Tor- ticollis ganz von selbst, ebenso wie das entstellende Aufwarts- schielen bei Seitenwendung des Blickes. Wenn die V. D. mit betrachtlichem Strab. div. oder conv. verbunden war, fand ich es zweckmassig, erst die laterale Ablenkungskomponente zu beseitigen, wonach sich mitunter eine weitere Operation eriibrigt. Besteht die V. D. im ganzen Blickfeld, so beseitigt die Myektomie des Obl. inf. mitunter zwar die V.D. im hori- zontalen und oberen Teile, aber nicht im unteren Teile des Blickfeldes. Um sie auch in letzterem zu beseitigen, muss man durch eine vorsichtige Riicknahung des R. inf. am anderen Auge das muskulare Gleichgewicht der Augen herstellen auf Grund derselben Uberlegungen, die fur den operativen Aus- gleich einer stationar gewordenen Trochlearislahmung mass- gebend sind.

Die interessantesten, weil in ihrer Genese und Symptoma- tologie von den bisher besprochenen fundamental verschiede- nen Storungen im Bereiche der Vertikalmotoren sind die sog. dissociierten Vertikalablenkungen. Am ausgepragtesten sind

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ihre Eigentumlichkei ten beim alternierenden A ufwartsschie- len. Die Patienten in Fig. 5 a, b und Fig. 6 a, b, c haben fur

Fig. 6 a. Parallelismus der Gesichtslinien. b, c. Alternierendes Auf- wartsschielen, spontan bei Ermudung oder nach vorubergehendem

Verdecken des einen oder andern Auges eintretend.

gewohnlich binokulare Fixation. Nur gelegentlich, wenn sie miide sind oder gedankenlos vor sich hinblicken, zeigt sich ein Aufwartsschielen des einen oder anderen Auges. Bei Prii- fung auf Doppeltsehen steht bald das Bild des rechten, bald das des linken Auges tiefer, je nachdem das Rotglas vor das rechte oder linke Auge gehalten wurde. Der charakteristische

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Unterschied zwischen einer derartigen und den vorher be- sprochenen Vertikalablenkungen ist offenkundig : diese sind entweder konkomitierende Stellungsanomalien oder solche paretischer Herkunft, oder beruhen auf Uberfunktion bezw. Kontraktur eines der Vertikalmotoren. Gemeinsam ist allen diesen Vertikalablenkungen, dass bei Einstellung des nach oben abgewichenen Auges auf das zuerst vom anderen Auge fixierte Objekt dieses anaere Auge nach unten abweicht, und zwar in Fallen von konkomitierender V. D. um denselben Win- kel, um welchen das zuerst schielende Auge nach oben ab- gewichen ist, oder aber um einen grosseren oder kleineren Winkel, wenn der V.D. eine frische Parese zu Grund liegt. Dieser an den Ubergang von dem einen auf das andere Auge gebundene Wechsel zwischen Auf- und Abwartsschielen ba- siert auf den Gesetzen von der gleichmassigen Innervation der beiden Augen. Zur Einstellung des aufwarts schielenden Auges auf ein in der Horizontalebene gelegenes Objekt muss ein Senkungsimpuls erteilt werden, der das zuerst horizontal gestellte Auge nach unter abweichen lasst. Wenn man dage- gen in den jetzt zur Diskussion stehenden Fallen das auf- warts schielende Auge durch Verdecken des anderen zur Ein- stellung auf das Fixationsobjekt veranlasst, so macht zwar das verdeckte Auge synchron mit der Einstellungsbewegung des anderen Auges zunachst eine ganz geringe Abwartsbewe- gung, aber unmittelbar nach Abschluss der Bewegung des die Fixation ubernehmenden Auges erfolgt eine isolierte Auf- wartsbewegung des verdeckten Auges. Solche Falle hat man fruher auf ein, an beiden Augen bestehendes Ubergewicht der Heber- uber die Senkermuskeln zuruckgefuhrt. Dass diese Auffassung nicht zutrifft, zeigt eine einfache Uberlegung. Wenn das angenommene Ubergewicht der Heber uber die Senker an beiden Augen gleichmtissig stark ware, wie z. B. in Fallen von associierter Parese der Senkermuskeln, so sind die Augen entweder unbeeinflusst von Willensimpulsen gleich- mussig nach oben abgelenkt oder werden durch eine ver- mehrte Innervation der Senker bis zur oder naher an die horizontale Stellung gebracht; niemals ist dabei bald das eine bald das andere Auge nach oben abgelenkt. 1st das Obergewicht der Heber- uber die Senkermuskeln an beiden Augen ver-

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schieden, z. B. bei bilateral ungleichmassiger Parese der Sen- ker, so wird das starker gelahmte Auge nach oben abgewichen sein, und seine Einstellung auf ein in der Horizontalebene gelegenes Objekt ein Abwartsschielen des anderen Auges zur Folge haben, weil beide Augen dem Senkungsimpulse folgen mussen. Beweisend fur die Unhal tbarkeit der oben erwahnten Hypothese ist folgender Versuch. LIsst man in einem Falle von alternierendem Aufwartsschielen das rechte Auge eine in der Horizontalebene gelegene Flamme fixieren, wahrend das linke Auge nach oben abgelenkt ist, und halt man dann ein etwas verdunkelndes Glas vor das fixierende rechte Auge, so erfolgt, ohne dass sich an der Stellung des letzteren etwas andert, eine isolierte Abwartsbewegung des nach oben schie- lenden linken Auges, durch die es bis zur oder sogar unter die Horizontalstellung gebracht wird. Diese isolierten Verti- kalbewegungen des abgelenkten Auges kann man haufig auch ohne die Verdunkelung des fixierenden Auges konstatieren. Wahrend dieses dauernd die Fixation einhalt, behalt das durch Verdecken zum Aufwartsschielen gebrachte Auge seine Stel- lung hinter der Deckung nicht unveranckrt bei, sondern macht kleinere und grossere Vertikalbewegungen in unregelmassigen Intervallen, so dass bald ein starkerer, bald schwacherer Grad von Aufwartsschielen, gelegentlich sogar ein geringes Abwarts- schielen zu beobachten ist. Ein derartiges Verhalten ist natur- lich unvereinbar mit der Annahme eines elastischen Uber- gewichts der Hebermuskeln oder paretischer Storungen des antagonistischen Gleichgewichts der Vertikalmotoren. Das alternierende Aufwartsschielen und die erwahnten einseitigen Stellungsanderungen in vertikaler Richtung mussen auf ab- norme, vom Willen unabhangige, in ihrer Intensitat schwan- kende gegensinnige Innervationen der Vertikalmotoren zu- ruckgefuhrt werden. Die Untersuchung einer grossen Zahl derartiger Falle hat mich zu der Uberzeugung gebracht, dass es sich nicht, wie ich anfangs dachte, um abnorme Innerva- tionen der Einzelaugen handelt, sondern um intermittierende und alternierende Erregungen der Zentren fur die positive und negative Vertikaldivergenz. Fur diese Annahme spricht die Feststellung, dass in Fallen von alternierender Hyper- phone mit gutein Fusionszwang die beiden antagonistischen

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Vertikaldivergenzen durch entsprechende Fusionsreize in einem uber das Durchschnittsmass weit hinausgehenden Um- fang hervorzurufen sind. Wir wissen, dass normalerweise nicht mehr als 3--4a durch positive oder negative V. D. uber- wunden werden, ferner, dass bei der einfachen Hyperphorie die V. D.-breite entweder im Sinne der positiven oder nega- tiven V. D. erweitert und in der entgegengesetzten Richtung eingeschrankt oder Null ‘ist, je nach dem eine Hyperphoria dextra oder sinistra vorliegt. Bei der alternierenden Hyper- phorie dagegen werden lOa und mehr sowohl mit der Basis nach unten wie nach oben vor jedem der beiden Augen uber- wunden. Mitunter sind die fur positive und negative V. D. gefundenen Werte verschieden gross, aber beide - und das ist ein Characteristicum dieser Falle - gegenuber der Norm gesteigert. Es kann unmoglich beim a1 ternierenden Aufwarts- schielen ein beiderseitiges iibergewicht der Heber- uber die Senkermuskeln bestehen, wenn Vertikalprismen von gleicher Starke vor dem rechten bezw. linken Auge sowohl durch ein- seitige Senkung wie durch einseitige Hebung zu ubenvinden sind. Dies kann nur darauf beruhen, dass die einseitige Ver- tikalbewegung in dem einen wie im anderen Falle durch gegensinnige V. D.-Innervationen zu stande kommt. Die Be- wegung ist einseitig, weil, wie vorher erortert wurde, sich bei dieser Prufung mit der gegensinnigen Fusionsinnervation ein gleichsinniger Bewegungsimpuls verbindet, der vom Fixa- tionsbestreben veranlasst ist und an dem einen Auge den Ef- fekt der gegensinnigen Innervation aufhebt, wahrend er ihn am anderen Auge entsprechend vergrossert. Woher die ab- normen Erregungen der V. D.-Innervationen stammen, ist vorlaufig vollig dunkel. Fest steht nur folgendes. So lange der Fusionsmechanismus in normalem Umfange wirksam ist, ver- mag er die Tendenz zum alternierendem Aufwartsschielen ebenso latent zu halten, wie geringfugige Heterophorien oder Paresen. 1st aber der Fusionszwang geschwacht - z. B. bei eintretender Ermudung -, oder geht er ganz verloren infolge Erblindung oder Schwachsichtigkeit eines Auges, so wird die abnorme Erregung der V. D.-Centren manifest und aussert sich entweder in alternierendem Aufwartsschielen oder - bei ein- seitiger Amblyopie - in einseitigen, durch unregelmassige

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Intervalle unterbrochenen Vertikalbewegungen des amblyo- pischen Auges, wodurch dieses bald mehr, bald weniger nach oben, bald nach unten abgelenkt ist. Die Blickrichtung des fixierenden Auges hat in uncomplizierten Fallen keinen Ein- f l u s auf die dissociierte V. D.. Sehr haufig ist letztere in Ver- bindung mit konkomitierendem Schielen anzutreffen. Das nach innen oder aussen schielende Auge zeigt dann noch eine unbestandige vertikale Ablenkungskomponente, deren Umfang und Richtung bis zu einem gewissen Grade d u k h Verdecken des schielenden und Verdunkeln des fixierenden Auges - Vor- setzen eines farbigen Glases - beeinflusst werden kann. Der- artige Falle sind in mehrfacher Hinsicht misdeutet worden. Bei alternierendem Schielen bezw. solchem mit erhal tenem centralen Fixationsvermogen des gewohnlich abgelenkten Auges glaubte man die isolierte Abweichung desselben nach oben, wenn es verdeckt, sowie seine isolierte Abwarts- bewegung, wenn es wieder freigegeben wurde, als eine Fusions- bewegung auffassen zu miissen, trotzdem die Abwartsbewe- gung des Schielauges nur die vertikale, nicht auch die hori- zontale Ablenkung beseitige. Man nahm an, dass ein binoku- larer Sehakt bestand auf dem Boden einer anomalen, der horizontalen Schielstellung angepassten Netzthautkorrespon- denz, und dass zufolge spaterer Anderung der anatomischen Ruhelage eine vertikale Ablenkung neben der horizontalen entstanden war, aber beim Sehen mit beiden Augen latent gehalten wurde. Genauere Untersuchungen widerlegten diese Auffassung. Die isolierte Abwartsbewegung des Schielauges tritt namlich auch dann ein, wenn das eine Flamme fixierende Auge durch ein vorgeschaltetes Farbglas verdunkelt wurde, trotzdem das Schielauge verdeckt blieb. Damit war der Ein- fluss eines binokular wirkenden Fusionsreizes natiirlich ausge- schlossen. Zu dem gleichen Schluss notigte die Beobachtung, dass auch bei hochstgradiger Amblyopie des Schielauges, die einen binokularen Sehakt und somit auch das Wirken von Fusionsreizen ausschloss, Verdecken des Schielauges seine Aufwartsbewegung entstehen liess oder forderte, Freigabe des- selben oder Verdunkeln des fixierenden Auges die isolierte Abwartsbewegung des ersteren herbeifiihrte. Von manchen Au- toren wurde die isolierte Abwartsbewegung des schielenden

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Auges bei Verdunklung des fixierenden als eine Mitbewegung, gebunden an die Lichtreaktion der Pupillen, aufgefasst. Die zur Pupillenenveiterung fiihrende Verdunkelung des fixieren- den Auges sollte nach jener Auffassung auf Grund einer ab- normen Ausbreitung der nervosen Erregung im Kerngebiet auch die isolierte Abwartsbewegung des Schielauges bewirken. Ware dem wirklich so, dann miisste die Pupillenerweiterung, die auftritt sowohl bei Verdunkelung des fixierenden wie des schielenden Auges, am starksten aber die Verdunkelung beider Augen die einseitige Abwartsbewegung auslosen. Das ist nicht der Fall. Die Verdunkelung des Schielauges hat die entgegen- gesetzte Wirkung, wie die Verdunkelung des fixierenden Auges: erstere bewirkt oder fordert die isolierte Aufwarts-, die letztere die isolierte Abwartsbewegung des Schielauges, wahrend gleichmassige Verdunkelung beider Augen, die eine noch starkere Pupillenerweiterung veranlasst, iiberhaupt keine Stellungsanderung des Schielauges oder nur die namlichen geringfiigigen Vertikalbewegungen im Gefolge hat, wie sie auch bei unverdeckten Augen zu beobachten sind. Ausserdem konnte ich nachweisen, dass die einseitigen Vertikalbewegun- gen auch dann eintreten, wenn durch entsprechende Versuchs- anordnung statt der Erweiterung eine Verengerung der Pupil- len infolge starkerer Belichtung erfolgt. An Stelle des ver- deckenden Schirmes brachte ich einen Spiegel in die Mediane- bene des Kopfes und drehte ihn um seine Vertikalaxe, bis er das amblyopische Schielauge teilweise verdeckte, aber es gleich- zeitig starker belichtete, indem er das vom seitlich gelegenen Fenster stammende Licht in das Auge reflektierte. Trotz der so veranlassten beiderseitigen Pupillenverengerung trat dabei die namliche Aufwartsbewegung des Schielauges ein, wie bei Ver- decken desselben mit einem Schirm, der eine Pupillenerwei- terung bewirkt. Diese und andere Versuche, die ich hier im Einzelnen nicht wiedergeben kann, machten es wahrschein- lich, dass eine abnorme Erregbarkeit der die gegensinnigen Vertikalbewegungen beherrschenden Zentren latent bleibt, so lange von beiden Netzhauten gleichartige sensorische Erre- gungen ausgelost werden, wahrend die Schwachung oder Aus- schaltung der von dem einen Auge vermittelten Eindriicke den Erregungszustand desjenigen V. D.-Centrums manifest

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werden lasst, das die Abweichung des betr. Auges nach oben oder des anderen nach unten bewirkt, je nachdem die Fixa- tionsabsicht diesem oder j enem Auge zugewendet ist. Dass den einseitigen Vertikalbewegungen amblyopischer Augen die gleiche Storung zu Grunde liegt, wie dem alternierenden Auf- wartsschielen, geht aus dem geschilderten Verhalten, speziell daraus hervor, dass das amblyopische Schielauge bei Ver- decken nach oben, bei Freigabe desselben oder bei Verdunkeln des fixierenden Auges nach unten geht, genau so wie es bei alternierendem Aufwartsschielen zu beobachten ist, wenn ein Auge verdeckt oder das andere verdunkelt wird. Das Auf- wartsschielen des sehtuchtigen fixierenden Auges in Fallen von unilateralem Schielen kann nur wegen des Fehlens des centralen Fixationsvermogens des Schielauges nicht demon- striert werden.

Wenn man bei der Untersuchung von Heterophorien und Strabismen auf etwa gleichzeitig bestehende dissociierte Sto- rungen der Vertikalmotoren fahndet, so ist man von der Hau- figkeit ihres Vorkommens uberrascht. Ich habe sie in mehr als 41 % aller Falle mit angeborener oder erworbener Am- blyopie eines Auges sicher nachweisen konnen und bin uber- zeugt, dass die Anlage zu dissociierten Vertikalbewegungen auch bei gutem binokularen Sehakt sehr vie1 haufiger besteht, als man glauben mochte; nur ist die Storung, so lange sie durch den Fusionszwang latent gehalten wird, vie1 schwerer nachweisbar.

Die praktisch-klinische Bedeutung der dissociierten Ver- tikalablenkungen liegt zunachst darin, dass sie in ihrer reinen Form irgend welcher optischen oder operativen Therapie, wie sie fur konkomitierende oder paretische Ablenkungen in Be- tracht kame, nicht zugangig sind. Ich habe Falle von dis- sociierten Vertikalablenkungen gesehen, bei denen in Verken- nung ihrer Eigenart, d. h. ihrer Herkunft von intermittieren- den abnormen Innervationen, beide Recti supenores tenoto- miert waren. Damit wurde der wahrscheinlich vorher beste- hende Parallelismus der Vertikalmeridiane der Netzhaute in eine Disclination venvandelt, dlie sich dadurch zu erkennen gab, dass Konturen in sich spitzwinklig durchkreuzenden Dop- pelbildern gesehen wurden. Die zeitweilig und abwechselnd

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auftretende positive und negative V. D. bestand fort und unter- schied sich von de r vor der Operation bestehenden Storung nur dadurch, dass die Vertikalbewegungen von einer mehr gesenkten Ruhelage ausgingen, und sich zwar weniger weit nach oben, aber entsprechend mehr nach unten erstreckten. Die einzig mogliche therapeutische Beeinflussung solcher

a b Fig. 7 a, b. Strab. conv. mit periodischem (clissociiertem) Aufwarts- schielen des amblyopischen rechten Auges. Die daneben bestehende bilaterale Uberfunktion cles Obl. inf. ist in Fig. 3 b, c wiedergegeben.

Falle liegt in der Starkung bezw. Erleichterung der Fusion. J e kraftiger diese ist, um so leichter und langer halt sie die Neigung zu dissociierten Vertikalbewegungen latent. Ich habe s. Z. uber einige ebenso interessante als erfreuliche Opera- tionsergebnisse berichtet, die ich durch Beseitigung divergenter Schielstellungen, die mit dissociierten Vertikalbewegungen kombiniert waren, erzielen konnte. Nachdem binokulares Ein- fachsehen hergestellt war, verschwanden die dissociierten, vorher sehr auffallenden spontanen Vertikalbewegungen und waren auch durch zeitweiliges Verdunkeln eines Auges nicht mehr auszulosen. Es versteht sich von selbst, dass bei einseit- iger, nicht besserungsfahiger Amblyopie die dissociierte Sto- rung der Vertikalmotoren auch nach Korrektur der neben ihr bestehenden Schielstellung fortdauert.

Die reine Form des alternierenden Aufwartsschielens ist vie1 seltener, als die Verbindung der dissociierten Storung mit den verschiedenartigsten anderen Storungen des Muskelgleichge- wichts paretischen und nicht-paretischen Ursprungs. Die Ab- bildungen 7 a, b zeigen einen Fall von Strab. conv. mit hoch- gradiger Amblyopie des rechten Auges, dissociierter Storung

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der Vertikalmotoren und sehr ausgepragter Uberfunktion der beiden Obl. in€. (vgl. Fig. 3 a , b, c) . Ein anderer Fall (Fig.

Fig. 8 a. Strah. div. paralyt. 0. d. mit zeitweiligrm Aufwarts- bezm. Abwartsschielen (Fig. 8 b und c) des amblyopischcn Scliielnuges.

8 a, b, c ) zeigt die Kombination einer paralytischen Divergenz verbunden mit dissociiertem Vertikalschielen. Das rechte Auge ist amblyopisch und zeigt abwechselnd reine Divergenz (Fig. 8 a ) , Divergenz und Aufwartsschielen (8 b ) , sowie Divergenz und Abwartsschielen (8 c ) . Die vertikalen Abweichungen nach oben und unten addieren sich i n unregelmassigen Zuischen- raumen zu der stationaren Divergenz, lassen sich aber auch

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durch Verdecken des rechten bezw. Verdunkeln des linken Au- ges beliebig hervorrufen. Durch die Coniplikation aller Arten von Schielstellungen mit dissociierten Storungen der Vertikal- motoren kann gelegentlich die Analyse des Krankheitsbildes ungemein erschwert werden. Das gilt namentlich fur Falle, in denen die dissociierte mit einer konkomitierenden oder pareti- schen Storung der Vertikalmotoren verbunden ist. Fehldiagno- sen konnen dann n u r vermieden werden, wenn man systema- tisch Art und Grosse der Vertikalablenkungen bei Rechts- und Linksfixation in allen Teilen des Blickfeldes pruft. Es kann vorkommen, dass z. B. in einem Falle von rechtsseitiger Trochlearislahmung die Doppelbilder einen betrachtlichen Hoherstand des rechten Auges erkennen lassen, wenn das Rot- glas vor das rechte Auge gehalten wird; bringt man es aber vor das linke Auge, so findet man entweder gar keine oder gar eine geringe negative V. D.. Ich habe solche Falle gesehen in denen die Diagnose der Trochlearislahmung auf Grund der anderen Merkmale eindeutig feststand, und das zunachst be- fremdliche Verhalten der Doppelbilder bei Prufung mittels farbiger Differenzierung erst verstandlich wurde, als ich die Complikation der Trochlearislahmung mit einer dissociierten Storung der Vertikalmotoren erkannte. In einem Falle von rechtsseitiger Trochlearisparese z. B. bestand ein Aufwarts- schielen des rechten Auges. Wurde das Rotglas vor das rechte Auge gehalten, so wuchs die +V. D. dadurch, dass sich die dissociierte zu der paretischen +V. D-Komponente addierte. Wurde aber das Rotglas vor das linke Auge gebracht, so wurde die paretische + V. D. durch die dissociierte Aufwartsbewegung des linken Auges, welche als Folge seiner Verdunkelung ein- trat, teilweise oder vollig kompensiert, evtl. sogar iiberkom- pensiert.

Was hier uber die eigenartigen dissociierten Storungen der Vertikalmotoren gesagt wurde, ist natiirlich n u r eine Skiz- zierung ihrer wesentlichsten, in der Mehrzahl der typischen Falle gesetzmassig wiederkehrenden Symptome. Eine Menge von Einzelheiten, die in manchen Fallen das Bild noch man- nigfaltiger gestalten, sind in meiner eingehenden Bearbeitung der dissociierten Vertikalbewegungen im 125. Bande von Grae- fe’s Arch. f. Opth. (1931) erortert. Ihre Aufzahlung hier wiirde

18 Acta Opthalrnol., Vol. 16. 2 - 3 .

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nur veryirrend wirken, wenn nicht alle Details referiert wur- den. Ich kann um so eher darauf verzichten, als die vorher geschilderten Hauptmerkmale die Zugehorigkeit auch der aty- pischen Varianten zu der Gruppe der dissociierten Storungen der Vertikalbewegungen rechtfertigen.

Zum Schluss nur noch einige Bemerkungen uber die Schwierigkeiten, die der Scheidung der beiden grossen Grup- pen von Storungen im Bereich der Vertikalmotoren nach ihrer verschiedenartigen Grundlage haufig im Wege stehen. Die eine Gruppe umfasst die konkomitierenden Stellungsanomalien und die Ablenkungen paretischer Herkunft einschliesslich der Fal- le, in denen eine sekundare Kontraktur eines oder mehrerer Muskeln im Verlauf einer Lahmung des Antagonisten entstan- den ist, sowie derjenigen, in denen das Bild einer anscheinend primaren Uberfunktion aieser Muskeln besteht. Die zweite Gruppe umfasst die auf spastischen Innervationen beruhenden Ablenkungen. Ihr Hauptmerkmal ist die weitgehende Unbe- standigkeit der Ablenkung im Gegensatz zu der relativ weit- gehenden Bestandigkeit der V. D. in der ersten Gruppe. Schon beziiglich dieses Hauptmerkmals giebt es aber zahlreiche Aus- nahmen. Ich habe bereits bei Erorterung der konkomitieren- den Hyperphorien darauf hingewiesen, dass die vom Fusions- zwang unterhaltene Ausgleichsinnervation bei Ausschaltung des ersteren meist nicht vollkommen, sondern nur teilweise und in den einzelnen Untersuchungen bald mehr bald weniger erschlafft. Man kann die konkomitierende Natur der Stellungs- anomallie zwar erkennen und einen spastischen Ursprung der- selben mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit ausschliessen durch sorgfaltige Messung der Fusionsbreite, wobei sich eine weitgehende Erschlaffung der Ausgleichsinnervation erzielen lasst. J e grundlicher man aber die einzelnen Falle untersucht, und je zahlreichere Varianten man kennen lernt, um so mehr gewinnt man die Uberzeugung, dass in der Mehrzahl der Falle Anomalien der Ruhelage oder paretische Storungen kompli- ziert sind durch abnorme Erregungen der die gegensinnigen Bewegungen beherrschenden Centren. Das ist allgemein be- kannt fur die bei weitem haufigste Stellungsanomalie, den Strab. conv., der wohl nur ausnahmsweise eine reine Anomalie der anatomischen Ruhelage darstellt, sondern zu einem gros-

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seren oder geringeren Teil durch einen erhohten Tonus der Convergenzinnervation bedingt ist. Wir wissen, wie schwer es ist, die beiden atiologischen Componenten von einander zu son- dern und damit die sichere Grundlage fur eine rationelle The- rapie zu schaffen. Weit weniger bekannt ist das Hineinspielen spastischer Innervationen der V. D. in Ablenkungen, die zu- nachst als Reprasentanten der einfachen Stellungsanomalien imponieren. Das Nichterkennen der nervosen (spastischen) Componente kann therapeutische Miserfolge oder zum minde- sten ganz unenvartete, weil den Erfahrungen widersprechende Operationsresultate zur Folge haben. Dafiir mochte ich fol- gende Beispiele anfiihren.

Ein Patient litt seit Jahren an heftigen Kopfschmerzen und >>unsicherem Sehen<<, wie er es nannte, das aber auf Dop- peltsehen beruhte. Ich fand eine -V.D. von 9 O und machte eine vorsichtige Riicklagerung des R. sup. sin. mit Sicherungs- naht. Nach vier Tagen war nur noch ein minimaler Ubereffekt in Gestalt einer +V. D. von lo vorhanden. Im Verlauf des nachsten Tages stieg diese auf go an. Ich musste den R. sup. sin. wieder vorlagern. Das Resultat war 8 Tage lang vorzuglich: es war keine Spur von V.D. mehr nachzuweisen. Nach weiteren 3 Tagen kam der Patient wieder und klagte iiber zeitweiliges Doppeltsehen, das er uberwinden konne, wobei aber starke Kopfschmerzen auftraten. Die Untersuchung ergab eine -V.D. von nahezu derselben Hohe, wie sie vor Beginn der Behandlung bestanden hatte. Ich schickte den Patienten, der ein aus- gepragter Neuropath war, fur 4 Wochen ins Gebirge. Als er heim kam, war er beschwerdefrei und zeigte keine V. D. mehr; sie ist auch in spateren Jahren nicht wiedergekehrt. Die Epi- krise dieser Beobachtung will ich mit der Besprechung der weiteren Falle verbinden.

Ein 27 jahriger, sehr intelligenter Ingenieur war ein schwe- rer Neuropath, der iiber Kopfschmerzen und ein uberaus storendes Gefuhl der Benommenheit ( Dosigkeit) klagte, das seine Arbeitskraft lahmte. Ich fand eine +V.D. von sehr schwankendem Ausmass. Nach Erschlaffung der Ausgleichs- innervation war eine anscheinend rein konkomitierende +V.D. von 15O manifest. Die Riicklagerung des R. sup. d. reducierte die V. D. auf lo; sie stieg aber im Verlauf von 14

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Tagen wieder annahernd zu friiherer Hohe. Nach langerer Beobachtungszeit, in der sich nichts wesentliches anderte, entschloss ich mich auf Grund von Uberlegungen, die ich hier iibergehen kann, zu einer Riicknahung des linken Rect. inf. Sie hinterliess zunachst einen sehr geringen, erst nach etwa einer Woche auf 12" ansteigenden Ubereffekt (-V. D.). Da ich die Riicknahung sehr sorgfal tig dosiert hatte, konnte ich mich nicht zu der Annahme entschliessen, dass die -V.D. Folge einer iibermassigen Schwachung des linken R. inf. war. Mein Zweifel zeigte sich begriindet, als ich den Patienten fur mehrere Tage binokularen Verband tragen liess und dann wieder untersuchte. Es fand sich nahezu vollkommenes ver- tikales Gleichgewicht, die Schwankungen bewegten sich zwi- schen lo+ und 1"- V. D.. Nachdem der Patient aber tagsiiber ohne Verband gewesen war, hatte er am Abend wieder 12" -V. D.; trotzdem war er imstande, 7" +V. D. am Doppelpris- menapparat spielend aufzubringen, was unvereinbar erscheint mit der Annahme, dass die 12" -V. D., die er ohne Fusions- zwang zeigte, eine durch Schwachung des linken R. inf. be- wirkte Anomalie der Ruhelage bedeutete. Ich entliess ihn mit einer schwachen Prismenbrille und Anweisungen zu Fusions- iibungen. Er fiihlte sich einige Monate ganz gut, kam aber schliesslich wieder wegen erheblicher Verschlechterung seines Befindens. Die -V.D. betrug 14" und war anscheinend rein konkomitierend. Die Vorlagerung des R. inf. sin. hinterliess eine +V. D. von lo", die noch nach 10 Tagen fortbestand, ein ungewohnlich starker Effekt einer einfachen Vorlagerung. Nach 14 Tagen wurde wieder eine -V.D. von 6" gefunden, die aber noch wahrend der Untersuchung bei gleichbleibendem Ausschluss des Fusionszwanges in eine +V.D. von 2" iiber- ging. Im weiteren Verlauf pendelten die Augen immer nur um einige Grade um die normale Lage nach der einen oder anderen Richtung, die Diplopie verschwand, und der Patient war und blieb beschwerdefrei.

Ein ahnliches Verhalten war noch in einem 3. Fall zu be- obachten. Ein 45. jahriger Mann klagte iiber Doppeltsehen, das keine paretischen Merkmale, aber eine weitgehende Unbe- standigkeit zeigte. Das Maximum der schliesslich zu ermit- telnden +V.D. betrug 18". Die Riicklagerung des R. sup. d.

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ergab fur 5 Tage volliges Gleichgewicht der Vertikalmotoren. Am 6. Tage eine -V.D. von loo, die bei Blickhebung nicht zunahm, wie bei einer postoperativen Schwachung des R. sup. zu envarten gewesen ware, auch bei dauerndem Ausschluss des Fusionszwanges zeitweilig auf Null zuruckging. Ich beob- achtete den Patienten 7 Monate und fand bei gleicher Ver- suchsanordnung bald 25O -V. D., bald vollkommenes Gleich- gewicht. Schliesslich sah ich mich durch die Beschwerden des Patienten doch zu einer vorsichtigen Wiedervorlagerung des rechten R. sup. veranlasst. Innerhalb der ersten Woche nach der Operation ging der leichte Ubereffekt, wie es bei der Vor- lagerung ublich ist, bis auf 2O +V. D. zuriick. In der 2. Woche stieg diese bis auf 1 8 O an. Dass der mechanische Effekt einer einfachen Vorlagerung ca. 43O Stellungsanderung - von 25O -V. D. auf 18O +V. D. -erzielt, habe ich niemals sonst erlebt. Ebenso .aussergewohnlich war der Umstand, dass dieser enor- me Effekt sich erst in der 2. Woche nach der Operation aus- bildete, wahrend doch in der Regel der Effekt unmittelbar nach dem Eingriff am starksten ist und dann langsam zu- riickgeht. Beweis dafiir, dass der iibermassige Effekt der Vor- lagerung nicht mechanisch, also nicht durch die dnderung der mechanischen Bedingungen fur die Gleichgewichtslage der Augen bedingt war, liess sich dadurch erbringen, dass bei Priifung der vertikalen Fusionsbreite sowohl die positive wie die negative V. D.-Breite abnorm und zwar gleichmassig ge- steigert gefunden wurde. Der Patient konnte 1 6 a mit der Basis nach oben wie nach unten, sowohl vor dem einen wie vor dem anderen Auge uberwinden. Er wurde, wie bemerkt sei, i m Laufe einiger Monate, ohne weiteren Massnahmen be- schwerdefrei und zeigte nach 5 Jahren n u r einen unbedeuten- den Bruchteil seiner urspriinglichen V. D.

Das in den mitgeteilten Fallen beobachtete Verhalten lasst meines Erachtens keine andere Deutung zu, als dass ihre V. D., zum mindesten zu einem erheblichen Teile, durch Spas- men bald der einen bald der anderen V.D. Innervation be- dingt waren, die vor der Behandlung der Feststellung ent- gangen, moglicherweise iiberhaupt erst im Verlauf des Heil- verfahrens eingetreten waren. Charakteristisch dafur waren die folgenden, allen drei Patienten gemeinsamen Merkmale :

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die hohen Ablenkungswerte bestanden nur bei Gebrauch beider Augen und verschwanden unter uni- oder binokularem Ver- bande, der ja alle durch Fusionsreize ausgelosten gegensin- nigen Innervationen ausschaltet. Ferner, im Gegensatz zu Heterophorien konkomitierender oder paretischer Herkunft waren beide antagonistischen V. D. Innervationen uber die Norm und zwar ziemlich gleichmassig gesteigert. Auch der aus- gesprochene neuropathische Habitus der Patienten ‘stutzt die Annahme einer spastischen Natur der zeitweiligen, durch mechanische Faktoren nicht zu erklarende Steigerung der V. D..

Ich muss mich hier auf diese Andeutungen beschranken, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Die a. a. 0.l) ausfuhrlich besprochenen Beobachtungen rechtfertigen die Mahnung, in Fallen von Vertikalablenkung stets an die Komplikation mit spastischen Storungen der V. D. Innervationen zu denken und nach deren Merkmalen zu fahnden, um unenvarteten und unerwunschten Operationsergebnissen vorzubeugen.

l) A. Bielschowsky, Beitrag zur operativen Behandlung der Verti- kal-Ablenkungen der Augen. v. Graefes Arch. f. Ophthalm., 405: 656, 1921.