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Acta Medica Scandinavica. Vol. CXXII, fasc. 11, 1945. Die kgl. tieraztliche- und landwirtschaftliche Hochschule, Kopenhagen. Die Ursache des Auftretens von Kinderl5hmung zur Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche. Von D. MULLER. (Bei der Redaktion am 5. Januar 19.15 eingegangen.) IIelge Petersen hat in einer Ahhandlung in Acta niedica scancli- navica die Epiderniekurven von Kinderliihniurlg (Poliomyelitis acutn) und anderen epidemischen Krankheiten zum Gegenstand einer tiefgehenden mathematischen hnalyse gemacht. Seine I-nter- suchurigen zcigen, dass die I<pideinien von Kindcrlahniung jeden falls nichf durch gegenseitigc Ansteckung zwisehen den Patierlien zustande gekommen sind. Zrl eineni gewissen Zeitpunkt tauchen empfiingliclie Individueri auf, und wenn das Virus genugend ver- breitet ist, werden die ernpfiinglichen Individuen kraiik. IXe An- hiiufung von Krankhcitsfiillen im Herbst sol1 soniit auf eincr Verminderung der Hesistenz beruhcn. rhss die Ilisposition fur Infektionskrankheiten periodiscli variicrt, ist von vielen Krank- heiten bekannt (Zusa~inieiistc.lliin~ von Kalmus). Die ITrsache der wechsclnden Ihposition ist aber in vielen Killen unbekannt. Die Kinderlahn7.ungs-l'pitlerriien treffen un), die EIerhst-Tag- undnachtgleiche ein, indem die grosste wocheritliche %ah1 von 1:iiI- len auf der nijrdlichen €Ienj.isphare voiii 6.---22. Septriirher und auf der siidlichen um den 1. April herum eintrifft. Die Kurven der Kinderlahmungs-Epidemien werden u-eniger steil in Gegenden die dem Aquator naher liegen. Helge Petersen stellt nun die Ilypothese auf, dass die Empfiinglichkeit fur KinderlHhniungs-Virus heson-

Die Ursache des Auftretens von Kinderlähmung zur Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche

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Acta Medica Scandinavica. Vol. CXXII, fasc. 11, 1945.

Die kgl. tieraztliche- und landwirtschaftliche Hochschule, Kopenhagen.

Die Ursache des Auftretens von Kinderl5hmung zur Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche.

Von

D. MULLER.

(Bei der Redaktion am 5. Januar 19.15 eingegangen.)

IIelge Petersen hat in einer Ahhandlung in Acta niedica scancli- navica die Epiderniekurven von Kinderliihniurlg (Poliomyelitis acutn) und anderen epidemischen Krankheiten zum Gegenstand einer tiefgehenden mathematischen hnalyse gemacht. Seine I-nter- suchurigen zcigen, dass die I<pideinien von Kindcrlahniung jeden falls nichf durch gegenseitigc Ansteckung zwisehen den Patierlien zustande gekommen sind. Zrl eineni gewissen Zeitpunkt tauchen empfiingliclie Individueri auf, und wenn das Virus genugend ver- breitet ist, werden die ernpfiinglichen Individuen kraiik. IXe An- hiiufung von Krankhcitsfiillen im Herbst sol1 soniit auf eincr Verminderung der Hesistenz beruhcn. rhss die Ilisposition fur Infektionskrankheiten periodiscli variicrt, ist von vielen Krank- heiten bekannt (Zusa~inieiistc.lliin~ von Kalmus). Die ITrsache der wechsclnden Ihposit ion ist aber in vielen Killen unbekannt.

Die Kinderlahn7.ungs-l'pitlerriien treffen un), die EIerhst-Tag- undnachtgleiche ein, indem die grosste wocheritliche %ah1 von 1:iiI- len auf der nijrdlichen €Ienj.isphare voiii 6.---22. Septriirher und auf der siidlichen um den 1. April herum eintrifft. Die Kurven der Kinderlahmungs-Epidemien werden u-eniger steil in Gegenden die dem Aquator naher liegen. Helge Petersen stellt nun die Ilypothese auf, dass die Empfiinglichkeit fur KinderlHhniungs-Virus heson-

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ders durch die abnehmendc Beleuchtung verursacht wird und dass die Resistenz darum a m geringsten zu der Jahreszeit ist, wo das Licht am. schnellsten abnimmt. Petersen meint, dass die abneh- mende Beleuchtungsstarke und damit die kleinere Lichtinenge, die das Individuum empfiingt, die Hesistenz herabsetzt. Er schreibt u. a. (1. c. S. 284): ))Zn aciual facf, fhe accordance is so good that fo all appearances the maximum of the epidemic curue tends fo coincide with the time of the greatest rate of decrease .of radiafion, und owe shall see that f i e epidemic rimes in both cases (sc. Kopenhagcn und Auck- land) coincides in lime almost exacily iuifh ihe descending part of the curue of radiation, (kursiviert wie bei 11. P.).

Dass die herabsetzte Resistenz durch cine Verin,inderung der Beleuchtungsstarke verursacht werden sollte, koninit mir indes- sen wcnig wahrscheinlich vor. Man kennt irn ‘lierreiche sonst kcine ausgesprochcnen Reaktionen auf eine Verminderung der Ucleuch- tung. Ob man nohl ~ n e h r fur Kindcrliihniung empfiinglicli wurde, wenn man um den I . August herum Aufenthalt in einem \?'aid niihme, wo die Releuchtungsstarke sehr niedrig ist?

Dagegen ’ kennt man sowohl voiv. Tier- wie voni Pflanzenzreiche schr ticfgreifende Reaktionen auf eine h d e r u n g der Belichtungs- dauer oder I’hotopcriode, wie sie auch genannt wird. Es ist cben nicht eine Anderung dcr Releuchtungsstiirke, sondcrn eine Ande- rung der Zcitspanne, in dem die Individuen tiiglich beleuchtet werden, die e h e so ausgesprochene Wirkung auf die verschieden- sten Lebensfunktionen hat. Diese Reaktionen auf die Photo- pcriode sind zuerst bei den hoheren Pflanzen gefunden worden Hier influiert die Liinge der Photoperiode auf das llintreten des Hluhens, die Knollenbildung u. a. Man kennt z. B. Bliitcnpflanzen, die nur bliihen, wenn die tagliche Beliclitungszeit zwischen 12 und 13 Stunden lang ist. Ein Korbblutler (Xanthium pcnsylva- nicunj.) bliiht schon 14 Tage nach der Kein~wng, weiin die tagliche Belichtungszeit unterhalh 15 Stunden lang ist, aber selbst nicht nach mehrerc Monatcn, wenn die tiigliche Belichtungszcit grosser als 15 Stunden ist. Nur eifleinziger Aufenthalt von 40 Stunden im Dunkeln ruft jedoch Rliitenhildung hervor, auch w n n die Pflan- zen bei einer tiiglichcn nelichtungsdauer von uber 15 Stunden wei-

Die durchschnittliche BeleuchtungsstPke ist Mittags urn 12 IJhr in Kopenhagen ungefahr 35000 BJ-Lux im Juli, 28000 im August, 25000 im September und 10000 in1 Qktober (Romose, 1. c. S . 81).

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ter kultiviert werden. \Veiteres uber die vielen uherraschenden Reaktionen dcr Pflanzen auf die 'I'agcslange, d. h. die tliglic.he Helichtungsdauer, kann in den f h m i c h t e n voii Garner und Jlcl- chers nachgesehen werden.

In allen diesen Fiillrn hat eine IIerabsefiirng der ~t~lcirchlrrngs- sfiirke nirr geringe LVirkung. Es isf die Anderring der Bt,lichlungs- darrer, die den grossten biologischen Effekt haf .

1)ie eingreifende Wirkurig der TageslKnge in die 1,ehensfunk- tionen, insbesondere den Sexualrythm.us, dcr hoheren Tiere ist un- ter andcrem aus Untersuchungeii von Hissonnette und Hemming- sen & Krarup bekannt. rbersichten uber die Resultate sind hci Bissonnette und Kalnius zu finden. Bei Staren (S lamus uitlgnris) iind Sperlingen (Posser riornesficir.7) ruft cine kiinstliche Verliiiige- rung der Wintertage 'I'estiswachstuni. iind Ikifung voii Sperriiieii im Soveniber-Mirz hervor anstatt in1 ilpril-Juni. Ihsselhe ist der Fall bei der Ente (Anas boschas dom.). Cnter den Siiugetieren ist bcsonders das 1;rettchen (I'utoriu.s furo) studiert worticn. Auf tler nordliclirn Halbkugel trifft bei den Frettchen die I3runst in1 lliirz- August ein. Hei Zusatzbeleuchtung wijhrend des iihrnds kann ni i in

aber auch in). Novem.bcr-T)ezember Brunst hervorrufen. Auch bei Igel und FeltImaus hKngt der Sexualcyclus von der Tageslange ah. \\'eitcres iiber den Einfluss der 'Iagesl8nge auf die 'I'icre ist in den citicrten Abhandlungen zu finden.

Ilie Susception der TI'ageslBnge geschieht bei den Tieren jeden- falls zuni Teil in den Augeii. I)ie I<nten Henoit's reagicrtcn nicht ?[if AntIerung der Tagesl5nge. wenn die Augcn zugedeckt waren. Hissonnette ha t iihnliche Erfahrungeri rnit dem Frettchen geniacht. U'ie verhalten sich die Minden drr Kiiiderliilimung gegeniiber'? Falls tine Anderung dcr 'I'agesliinge primiir duich die Augen nirkt, konnte mail sich eines von h4tlen dcnkeii: Entweder ist es 'sehr seltcn, dass die €3linden von Kinderliihniung getroffen werden, oder die IWle sind ganz unregelm8ssig iiber das J a h r verbreitet ohne die I3elntion zii der .Jahreszeit, die von den Sehenden hekannt isL. T)er Chef der kg1. Hlindenin~titutt t in Diil4emark hat mir mitgcteilt. dass nach den Journalen des Instituttes keiner von dcn Schulern Kinderliihmung gehabt hat. Mehrere .lalire hindurch ist die Schii- lerzahl in1 Institut ungefahr 100 gewesen. Dies is1 naturlich kein grosses Zahlenmaterial, aber zur Zeit ist es rnir nicht moglich, aus anderen 1,Bndern Aufscliluss zu bekonin1,en. Jedenfalls ist das Ver-

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halten der Hlinden Kinderlahm.ung gegeniiber eine Sache, die Auf- merksarnkeit verdient .

Wenn Helge Petersen Hecht hat in seinerhalyse von den Epi- demickurven der Kinderlahm.ung - und m. E:. ist seine Argumen- tation unangreifhar muss man, wie er es auch selher tut, schlies- sen, dass gewisse Menschen aus irgendeinem Grund urn die Herbst- Tagundnachtgleiche herurn so ernpfiinglich fur Poliomyelitis- Virus werden, dass ernstc Storungen eintreffen. Petersen sucht die Ursache der herabgesetzten Hesistenz in dieser Zeit in dem Ab- nehmen der Heleuehtungsstarke. Diese Erklarung ist jedoch un- wahrscheinlich. Eine Verm.inderung der Bcleuchtungsstarke - und das ist es, was Iklgc Petersen unter Abnahme der Beleuchtung versteht - ruft unter andereri Lebewesen nicht solche tiefgreifende Reaktionen hervor. \'iel eher rciird die herabgesefzle Resisfenz durch die Abnahme der Tageslange hervoryerufen, in Analogie mit den tiefgreifendcn Anderungcn der Iacbensfunktionen \-on vielen Pflan- Zen und Tieren, die durch Anderung der Helichtungsdauer, der Photoperiode, verursacht wird. I)ie herabgesetzte Hesistenz gegen Kinderlahmung solltr nacli dieser Hypothese eine photoperiodische Heaktion sein.

Das starkere Bet roffenwrdcn der 1,andbeviilkerung von Kin- derliihmung gegeniiher jener in den griisseren St adten kijnrite auch damit zusammenhiingen, dass die Xnderung der Photoperiode auf dem Lande mchr ausgesprochen ist als in den Strassen und Hinterhofen der Stadt.

Wenn die Hypothese richtig ist, erlieht sich die Frage, oh man in friihen Stadien von Poliom.yelitis die Storungen durch h d e - rung der Photoperiode henimcn kann, dadurch dass man die Pati- enten im Anfangsstadium der Krankheit einer ununterhrochenen tiiglichen Dclichtungszeit von lnehr als 12- -13 Stunden, mindes- tens 15-16 Stunden, aussetzt.

Summary.

According to Petersen the accumulation of poliomyelitis-cases about autumn-equinox is the result of diminished resistibility. Petersen seeks the cause hereof in the big decrease of radiation in Septetnber-October.

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Against this hypothesis can one point out that a decrease in radiation alone has as a rule no greater effect on animals. Changes in the length of day or photoperiod have on the contrary in many cases strong effect on the functions of both plants and animals, for animals especially on the sexual cycle. Susception of the length of day is connected with the animal’s eyes. Blind people’s relation to poliom.yelitis is therefore of special interest. I am afraid I have orily got statistics from the Danish Blind Institute, and these show that not a single person there has ever been attacked by infantile paralysis.

The author sets up the hypothesis that the lessening of resisti- bility to poliomyelitis-virus round about autumn-equinox is caused hy the fact tha t the day-length shortens. The diniinished resistibi- lity is according to this hypothesis a photoperiodical reaction in analogy Hith the various remarkable reactions kno\vn from plants and aniinals.

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