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JAHRGANG C 7451 C  AUSGABE: Weiße Mäuse Umweltschützer wollen die perua- nischen Gletscher retten und er- halten von der Weltbank 200 000 Dollar, um die Anden weiß zu streichen, damit sie die Sonne re- flektieren und die Umgebung kühlen. Hier leben 229 Menschen auf einem Quadratkilometer. Deutschland weiß zu pinseln dürfte uns nicht allzu schwerfal- len. Dann würde es endlich küh- ler, und keiner mehr würde weiße Mäuse sehen. GRN. ZEIT ONLINE Heimliche Revolution: Wie die E-Mail ein ganzes Regierungssystem aufrollt PROMINENT IGNORIERT  Weitere Informationen im Internet:   www.zeit.de/politik S ommer 2010. Der deutsche Aktien- index steigt auf über 6000 Punkte. Investoren und Konsumenten sind unerwartet optimistisch. Die Export- industrie hamstert Aufträge. Und die Ökonomen sagen ein Wirtschafts- wachstum von fast zwei Prozent voraus. Ist die Krise vorbei? Leider nicht. Ähnliche Erfolgsmeldungen gab es schon zum Ende des Winters – bis Südeuropa die Pleite drohte, der Euro abrutschte und die EU in höchster Not ein Rettungspaket von einer halben Billion Euro schnürte. Immer noch ist es möglich, dass Griechenland umschuldet. Was so technisch harmlos klingt, wäre ein historischer Akt. Ein Euro-Lan d würde seine Pleite eingestehen, weil es seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Die Gläubiger aus al- ler Welt müssten auf einen Teil ihres Geldes ver- zichten. Der Ruf des Euro wäre ramponiert. Zum  Abenteuer geriete ein solcher Akt, gäbe es bis da- hin noch keine Insolvenzordnung für Euro-Län- der – also einen vorgezeichneten Weg aus der Pleite. Berlin versucht zu Recht, diese Ordnung in Brüssel durchzusetzen. Die Krise ist vorbei? Wer »Krise« nur als ak- tuellen Absturz der Konjunktur begreift, muss sagen: Ja, das Wachstum ist zurückgekehrt, der  Albtraum vorüber. Doch das hieße, sich zurück- zulehnen, wo Wachsamkeit angebracht ist. Tat- sächlich leben wir seit zwei Jahren in einer Welt- wirtschaft, die abwechselnd in höchste Gefahr gerät und sich dann wieder entspannt. Krise, das ist, richtig betrachtet, eine Phase extremer wirt- schaftlicher Unsicherheit mit teilweise explosi- onsartigen Entwicklungen – dem Scheitern von Lehman Brothers, dem Absturz des Welthandels kurz danach, dem drohenden Bankrott Griechen- lands, Spaniens und Co. ein gutes Jahr später.  Alles begann mit der Bankenkrise – und die ist noch nicht bewältigt Natürlich kann jetzt auch alles gut gehen, die Konjunktur weltweit ein schönes V beschreiben – und nach dem Niedergan g nun also auf Jahre hinaus kräftig zulegen. Dann können die Staaten ihrer Schulden Herr werden, die allermeisten Banken ihre Bilanzen bereinigen, die Unterneh- men investieren. Im wunderbaren Land des  Wachstums geht fast alles leichter von der Hand. Doch damit es so kommt, muss sehr vieles sehr gut laufen. Extrem gut sogar. Das beginnt in Deutschland, das besser über die Runden gekommen ist als die meisten Indus- trieländer – egal, ob man die Arbeitslosigkeit zum Maßstab nimmt, die öffentliche Verschul- dung oder die Auftragslage der Unternehmen.  Angefangen aber hat alles mit der Bankenkrise, und die haben wir keineswegs bewältigt. Fern ihres öffentlichen Auftrags haben sich viele Lan- desbanken verzockt und liegen dem Steuerzahler milliardenschwer auf der Tasche – ohne dass der Staat die Konsequenzen gezogen hätte. Längst sind sich Kenner nahezu einig, dass zwei solcher Institute in Deutschland ausreichend wären. Trotzdem machen acht Landesbanken auf der verzweifelten Suche nach ihrer Daseinsberechti- gung die Republik unsicher. Auch private Ban- ken hängen am Tropf der Zentralbank, die ihnen  Abermilliarden fast kostenlos leiht und ihnen auch noch die Anleihen gefährdeter Euro-Länder abkauft.  Als Feuerwehrmann in der Krise war die deutsche Politik zur Stelle, als Architekt der Zu- kunft erweist sie sich bisher nicht. Die ob ihrer Laxheit gescholtenen USA sind einer harten Bankenregulierung näher als Deutschland, das seit Beginn der Krise nach mehr Regeln ruft. Bis zu dem Tag, an dem die Bundesrepublik die staatlichen Banken neu organisiert und die ge- samte Finanzbranche reguliert hat, ist die Krise hierzulande nicht vorüber. Noch größere Gefahren drohen dem Export- land D von außen, und unheimlich daran ist, dass wir selber sie gar nicht abwenden können. Die New Yorker Wirtschaftskassandra Nouriel Roubini sagte die Finanzkrise vorher, nun glaubt der Ökonom, die Staatenkrise mache nicht in Europa halt. Japan drohe die Überschuldung, und ob die USA sich aus der eigenen Falle befrei- en könnten, sei keineswegs ausgemacht. Immer noch finanzieren die Amerikaner viele Importe, indem sie sich im Ausland weiter und weiter ver- schulden. Aus diesem Strudel kommen sie nur noch heraus, wenn China als Großgläubiger weiter an den Dollar glaubt und zudem die Volk srepublik künftig weit mehr Waren aus dem  Westen kauft. Die Schicksalsgemeinschaft der großen zwei kann zum Schaden aller jederzeit zerbrechen. Und wenn es schlecht geht, dann richtig. Denn auch das gehört zur Krise: Das Immunsys- tem der Weltwirtschaft ist angeschlagen. Die meisten Staaten haben sich finanziell verausgabt, viele Bankbilanzen erhalten noch beträchtliche Risiken, und Verbraucher bleiben ängstlich. Ei- nen erneuten Schock kann die Welt in den nächs- ten beiden Jahren also schwerlich verkraften. Keine Angst, aber Vorsicht ist geboten. Was im Winter richtig war, stimmt auch heute noch: Die Zeiten bleiben gefährlich. Weshalb Berlin bald zeigen muss, ob es das Zeug zum Architek- ten der Zukunft hat. Auf dem Finanzmarkt ebenso wie im Rest der Volkswirtschaft. Halb- herzige Gesundheitsreformen zulasten der Mit- telschicht und Sparpakete voller Luftbuchungen sind da einfach nicht gut genug. Und wo blei- ben wichtige schwarz-gelbe Vorhaben? Die gro- ße Entbürokratisierung zum Beispiel, die Fir- mengründern das Leben leichter macht und mehr Dienstleistungen entstehen lässt.  Angriff ist immer eine gute Verteidigung, in der Krise ist er die beste. Ein Sommerhoch Der Jubel über das Ende der Krise kommt zu früh. Noch können Banken scheitern und Staaten pleitegehen VON UWE JEAN HEUSER A uf den ersten Blick klären die Ham- burger an diesem Sonntag per Volksentscheid eine wenig auf- regende Frage: Sollen die Kinder der Hansestadt künftig sechs Jah re lang die Grundschule (dann »Pri- marschule« genannt) besuchen? So jedenfalls will es der Senat aus CDU und Grünen, so wollen es auch die SPD und die Linkspartei. Oder bleibt es bei der vierjährigen Grundschulzeit? Dafür engagiert sich eine Elterninitiative, die mit einer überraschenderfolgreichen Unterschriften samm- lung den Volksentscheid erzwungen hat. Doch im Kern geht es um eine Frage, die weit über den Stadtstaat hinausreicht: Werden die Schulen, von denen die Zu kunft unseres Landes abhängt, wieder zum Ort von Glaubenskriegen? Oder setzt sich die Vernunft durch? Also eine Politik, die pragmatisch, gestützt auf Erkennt- nisse der Bildungsforschung, unsere Schulen vo- ranbringt. Auch darüber entscheiden die Ham- burger am Sonntag. Die Bildungspolitik muss sich auf die Hilfe für die Schwachen konzentrieren Für die sechsjährige Primarschule spricht allein der Glaube an die Vorteil e des – so die Modeflos- kel – »längeren gemeinsamen Lernens«. Dieser Glaube treibt auch die SPD und die Grünen in Nordrhein-Westfalen, die bis 2015 dreißig Prozent der Schulen des Bundeslandes in sogenannte Ge- meinschaftsschulen umwandeln wollen. Im Ge- gensatz zur Zwangsbeglückung nach Hamburger  Art immerhin mit dem Versprechen, dies solle auf freiwilliger Basis geschehen. Das »längere gemeinsame Lernen« werde, so die Überzeugung seiner Unterstützer – und der gute Wille sei ihnen nicht abgesprochen –, mehr Bildungsgerechtigk eit schaffen. Kinder aus sozial schwachen Familien könnten demnach in der Gemeinschaft mit Kindern aus höheren Bildungs- schichten mehr lernen, als wenn die Schüler nach der vierten Klasse auf verschiedene Schularten aufgeteilt wer den. Das Ziel ist lobenswert, sogar sehr wichtig, denn das deutsche Schulsystem hat sich im internationalen Vergleich als ungerecht erwiesen.  Allein – es gibt keinen Beleg dafür, dass die- ses Ziel durch längeres gemeinsames Lernen er- reicht wird. Zwar deuten statistische Berech- nungen vage darauf hin. Aber es gibt handfeste Gegenbeispiele. Die Niederlande und Belgien etwa verfügen über eine sechsjährige Grund- schule und sind, wie die Pisa-Studie zeigt, sozial noch ungerechter als Deutschland. Und welches Bundesland zeigte sich bei dem jüngsten Län- dervergleich der Schülerleistungen als das unge- rechteste? Es war Berlin, wo die Kinder sechs  Jahre lang gemeinsam die Grundschule be- suchen. Dort ist die Leseleistung der Schüler, wie es die Bildungsforscher formulieren, am stärksten an ihre soziale Herkunft gekoppelt. Es ist erstaunlich, wie hartnäckig von den An- hängern des längeren gemeinsamen Lernens auch die Studie des Züricher Bildungsforschers Helmut Fend ignoriert wird. Fend, ursprünglich ein Befürworter der Gesamtschule, hat die Bil- dungsbiografien hessischer Schüler untersucht. Das ernüchternde Ergebnis: Die soziale Herkunft der Schüler bestimmt deren Schul- und Berufs- abschlüsse – unabhängig davon, ob sie vorher eine Gesamtschule oder eine Schule des geglie- derten Systems besucht haben. Man könnte die schulpolitischen Glaubens- krieger gewähren lassen, aber sie richten in zwei- erlei Hinsicht großen Schaden an: Erstens zerschlagen sie ohne Not funktionie- rende Strukturen. In unserem problembeladenen Schulsystem erbringen die bei den Eltern belieb- ten Gymnasien ganz passable Leistungen. Ihnen nach der Belastung durch die Gymnasialzeitver- kürzung (G8) nun zwei weitere Klassen zu am- putieren ist abenteuerlich. Sich zu den vorhande- nen Problemen des Schulsystems noch neue zu schaffen ist eine Torhe it. Zweitens kosten die fragwürdigen Struktur- veränderungen viel Kraft; die der Schulverwal- tungen, durch den Streit auch die der Eltern, Lehrer und Schüler und die der Schulpolitik. Die Kraft aller aber wird an anderer Stelle ge- braucht: Jeder fünfte Schüler verlässt unsere Schulen, ohne dass er richtig lesen und rechnen kann! Das ist die offene Wunde unserer Gesell- schaft. Wenn hier nicht gehandelt wird, dann leidet nicht nur unsere Wirtschaftskraft darunter, weil der Mangel an Fachkräften durch das Schrumpfen der Bevölkerung größer wird; dann nehmen auch der soziale Friede und die politi- sche Stabilität Schaden. Den Jugendlichen, denen der Start in einen qualifizierten Beruf und damit ins Leben ver- baut wird, hilft keine Gerechtigkeitsrhetorik, sondern nur konkrete Unterstützung. Im Gegensatz zum Effekt längeren gemein- samen Lernens ist die Wirkung einiger Maß- nahmen nachgewiesen, welche die Zahl der Bil- dungsverliererminimieren. Einig ist sich die Bildungsforschung darin, dass die frühkindliche Bildung am wirkungs- vollsten ist, beginnend mit Hilfsangeboten für Problemfamil ien von der Geburt an. Was in die- ser Zeit versäumt wird, ist später kaum wieder- gutzumachen. Auch die gezielte Sprachförderung – nachmittags, am Wochenende, in den Ferien, vor der Schule und bis zum Schulabschluss – ver- spricht Erfolg. Nach all dem Streit der siebziger Jahre um die Gesamtschule können wir es uns nicht leisten, wiederum Jahre und Jahrzehnte in Debatten um die Schulstrukturen zu vergeuden.  Wenn die Hamburger am Sonntag die über- flüssige Primarschule ablehnen – dann wird Kraft frei, um den Bildungsverlierern zu helfen. Der Glaubenskrieg Sollen Schüler länger gemeinsam lernen? So will es die Politik in Hamburg und NRW. Der Schade n wäre groß VON THOMAS KERSTAN www.zeit.de/audio www.zeit.de/audio Die Volksrepublik strotzt vor Kraft. Von Krise keine Spur. Die neue Großmacht reißt alles an sich: Firmen, Rohstoffe, Einfluss Politik Seite 6  Wirtschaft Seite 19/20 China trumpft auf Gefährliche Baustellen, endlose Staus: Seit der Staat die Schnellstraßen an private Firmen verpachtet, werden Urlaubsreisen zum Horrortrip DOSSIER SEITE 13–15 Pannenzug ICE: Die Bahn will alles besser machen – und wiederholt die alten Fehler Reisen Seite 57 Im Schwitzkast en     T    i    t   e    l    f   o    t   o   :    D   e   n   n    i   s    W    i    l    l    i   a   m   s   o   n    f    ü   r    D    I    E    Z    E    I    T

Die Zeit: Der Glaubenskrieg

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8/9/2019 Die Zeit: Der Glaubenskrieg

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PREIS DEUTSCHLAND 3,80 €

PREISE IM AUSLAND:DKR 41,00/NOR 56,00/FIN 6,40/E 4,90/Kanaren 5,10/F 4,90/NL 4,30/A 4,10/CHF 7.10/I 4,90/GR 5,50/B 4,30/P 4,90/L 4,30/HUF 1420,00

Da geht noch mehrMit der Gleichstellung derSchwulen und Lesben tutsich der Freistaat schwerPolitik Seite 12

SACHSEN

Kleine Fotos: Ken Seet/Corbis; PR;Smetek für DZ; blickwinkel (v.o.n.u.)

DIE ZEIT W O C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I R T S C H A F T W I S S E N U N D K U L T U R

ZEIT Online GmbH: www.zeit.de;ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.deZeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:[email protected], [email protected]

15. Juli 2010 DIE ZEIT No 29

2965. JAHRGANG

C 7451 C

AUSGABE:

Weiße MäuseUmweltschützer wollen die perua-nischen Gletscher retten und er-halten von der Weltbank 200 000Dollar, um die Anden weiß zustreichen, damit sie die Sonne re-flektieren und die Umgebung kühlen. Hier leben 229 Menschenauf einem Quadratkilometer.Deutschland weiß zu pinselndürfte uns nicht allzu schwerfal-len. Dann würde es endlich küh-ler, und keiner mehr würde weißeMäuse sehen. GRN.

ZEIT ONLINEHeimliche Revolution: Wiedie E-Mail ein ganzesRegierungssystem aufrollt

PROMINENT IGNORIERT

Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/politik S

ommer 2010. Der deutsche Aktien-index steigt auf über 6000 Punkte.Investoren und Konsumenten sindunerwartet optimistisch. Die Export-industrie hamstert Aufträge. Und dieÖkonomen sagen ein Wirtschafts-

wachstum von fast zwei Prozent voraus.Ist die Krise vorbei?Leider nicht. Ähnliche Erfolgsmeldungen gab

es schon zum Ende des Winters – bis Südeuropa die Pleite drohte, der Euro abrutschte und dieEU in höchster Not ein Rettungspaket von einerhalben Billion Euro schnürte.

Immer noch ist es möglich, dass Griechenlandumschuldet. Was so technisch harmlos klingt,wäre ein historischer Akt. Ein Euro-Land würdeseine Pleite eingestehen, weil es seine Schuldennicht mehr bezahlen kann. Die Gläubiger aus al-ler Welt müssten auf einen Teil ihres Geldes ver-zichten. Der Ruf des Euro wäre ramponiert. Zum Abenteuer geriete ein solcher Akt, gäbe es bis da-hin noch keine Insolvenzordnung für Euro-Län-der – also einen vorgezeichneten Weg aus derPleite. Berlin versucht zu Recht, diese Ordnung in Brüssel durchzusetzen.

Die Krise ist vorbei? Wer »Krise« nur als ak-tuellen Absturz der Konjunktur begreift, musssagen: Ja, das Wachstum ist zurückgekehrt, der Albtraum vorüber. Doch das hieße, sich zurück-zulehnen, wo Wachsamkeit angebracht ist. Tat-sächlich leben wir seit zwei Jahren in einer Welt-wirtschaft, die abwechselnd in höchste Gefahrgerät und sich dann wieder entspannt. Krise, dasist, richtig betrachtet, eine Phase extremer wirt-schaftlicher Unsicherheit mit teilweise explosi-onsartigen Entwicklungen – dem Scheitern vonLehman Brothers, dem Absturz des Welthandelskurz danach, dem drohenden Bankrott Griechen-lands, Spaniens und Co. ein gutes Jahr später.

Alles begann mit der Bankenkrise –und die ist noch nicht bewältigt

Natürlich kann jetzt auch alles gut gehen, dieKonjunktur weltweit ein schönes V beschreiben– und nach dem Niedergang nun also auf Jahrehinaus kräftig zulegen. Dann können die Staatenihrer Schulden Herr werden, die allermeistenBanken ihre Bilanzen bereinigen, die Unterneh-men investieren. Im wunderbaren Land des Wachstums geht fast alles leichter von der Hand.Doch damit es so kommt, muss sehr vielessehr gut laufen. Extrem gut sogar.

Das beginnt in Deutschland, das besser überdie Runden gekommen ist als die meisten Indus-trieländer – egal, ob man die Arbeitslosigkeitzum Maßstab nimmt, die öffentliche Verschul-dung oder die Auftragslage der Unternehmen. Angefangen aber hat alles mit der Bankenkrise,und die haben wir keineswegs bewältigt. Fernihres öffentlichen Auftrags haben sich viele Lan-desbanken verzockt und liegen dem Steuerzahlermilliardenschwer auf der Tasche – ohne dass der

Staat die Konsequenzen gezogen hätte. Längstsind sich Kenner nahezu einig, dass zwei solcherInstitute in Deutschland ausreichend wären.Trotzdem machen acht Landesbanken auf derverzweifelten Suche nach ihrer Daseinsberechti-gung die Republik unsicher. Auch private Ban-ken hängen am Tropf der Zentralbank, die ihnen Abermilliarden fast kostenlos leiht und ihnenauch noch die Anleihen gefährdeter Euro-Länderabkauft.

Als Feuerwehrmann in der Krise war diedeutsche Politik zur Stelle, als Architekt der Zu-kunft erweist sie sich bisher nicht. Die ob ihrerLaxheit gescholtenen USA sind einer hartenBankenregulierung näher als Deutschland, dasseit Beginn der Krise nach mehr Regeln ruft. Biszu dem Tag, an dem die Bundesrepublik diestaatlichen Banken neu organisiert und die ge-samte Finanzbranche reguliert hat, ist die Krisehierzulande nicht vorüber.

Noch größere Gefahren drohen dem Export-land D von außen, und unheimlich daran ist,dass wir selber sie gar nicht abwenden können.Die New Yorker Wirtschaftskassandra NourielRoubini sagte die Finanzkrise vorher, nun glaubtder Ökonom, die Staatenkrise mache nicht inEuropa halt. Japan drohe die Überschuldung,und ob die USA sich aus der eigenen Falle befrei-en könnten, sei keineswegs ausgemacht. Immernoch finanzieren die Amerikaner viele Importe,indem sie sich im Ausland weiter und weiter ver-schulden. Aus diesem Strudel kommen sie nurnoch heraus, wenn China als Großgläubigerweiter an den Dollar glaubt und zudem dieVolksrepublik künftig weit mehr Waren aus dem Westen kauft. Die Schicksalsgemeinschaft dergroßen zwei kann zum Schaden aller jederzeitzerbrechen.

Und wenn es schlecht geht, dann richtig.Denn auch das gehört zur Krise: Das Immunsys-tem der Weltwirtschaft ist angeschlagen. Diemeisten Staaten haben sich finanziell verausgabt,viele Bankbilanzen erhalten noch beträchtlicheRisiken, und Verbraucher bleiben ängstlich. Ei-nen erneuten Schock kann die Welt in den nächs-ten beiden Jahren also schwerlich verkraften.

Keine Angst, aber Vorsicht ist geboten. Wasim Winter richtig war, stimmt auch heute noch:Die Zeiten bleiben gefährlich. Weshalb Berlinbald zeigen muss, ob es das Zeug zum Architek-ten der Zukunft hat. Auf dem Finanzmarktebenso wie im Rest der Volkswirtschaft. Halb-herzige Gesundheitsreformen zulasten der Mit-telschicht und Sparpakete voller Luftbuchungensind da einfach nicht gut genug. Und wo blei-ben wichtige schwarz-gelbe Vorhaben? Die gro-ße Entbürokratisierung zum Beispiel, die Fir-mengründern das Leben leichter macht undmehr Dienstleistungen entstehen lässt.

Angriff ist immer eine gute Verteidigung, inder Krise ist er die beste.

Ein SommerhochDer Jubel über das Ende der Krise kommt zu früh. Noch könnenBanken scheitern und Staaten pleitegehenVON UWE JEAN HEUSER

Auf den ersten Blick klären die Ham-burger an diesem Sonntag perVolksentscheid eine wenig auf-regende Frage: Sollen die Kinderder Hansestadt künftig sechs Jahrelang die Grundschule (dann »Pri-

marschule« genannt) besuchen? So jedenfalls willes der Senat aus CDU und Grünen, so wollen esauch die SPD und die Linkspartei. Oder bleibtes bei der vierjährigen Grundschulzeit? Dafürengagiert sich eine Elterninitiative, die mit einerüberraschend erfolgreichen Unterschriftensamm-lung den Volksentscheid erzwungen hat.

Doch im Kern geht es um eine Frage, die weitüber den Stadtstaat hinausreicht: Werden dieSchulen, von denen die Zukunft unseres Landesabhängt, wieder zum Ort von Glaubenskriegen?Oder setzt sich die Vernunft durch? Also einePolitik, die pragmatisch, gestützt auf Erkennt-nisse der Bildungsforschung, unsere Schulen vo-ranbringt. Auch darüber entscheiden die Ham-burger am Sonntag.

Die Bildungspolitik muss sich auf dieHilfe für die Schwachen konzentrieren

Für die sechsjährige Primarschule spricht alleinder Glaube an die Vorteile des – so die Modeflos-kel – »längeren gemeinsamen Lernens«. DieserGlaube treibt auch die SPD und die Grünen inNordrhein-Westfalen, die bis 2015 dreißig Prozentder Schulen des Bundeslandes in sogenannte Ge-meinschaftsschulen umwandeln wollen. Im Ge-gensatz zur Zwangsbeglückung nach Hamburger

Art immerhin mit dem Versprechen, dies solle auf freiwilliger Basis geschehen.

Das »längere gemeinsame Lernen« werde, sodie Überzeugung seiner Unterstützer – und dergute Wille sei ihnen nicht abgesprochen –, mehrBildungsgerechtigkeit schaffen. Kinder aus sozialschwachen Familien könnten demnach in derGemeinschaft mit Kindern aus höheren Bildungs-schichten mehr lernen, als wenn die Schüler nachder vierten Klasse auf verschiedene Schulartenaufgeteilt werden. Das Ziel ist lobenswert, sogarsehr wichtig, denn das deutsche Schulsystem hatsich im internationalen Vergleich als ungerechterwiesen.

Allein – es gibt keinen Beleg dafür, dass die-ses Ziel durch längeres gemeinsames Lernen er-reicht wird. Zwar deuten statistische Berech-nungen vage darauf hin. Aber es gibt handfesteGegenbeispiele. Die Niederlande und Belgienetwa verfügen über eine sechsjährige Grund-schule und sind, wie die Pisa-Studie zeigt, sozialnoch ungerechter als Deutschland. Und welchesBundesland zeigte sich bei dem jüngsten Län-dervergleich der Schülerleistungen als das unge-rechteste? Es war Berlin, wo die Kinder sechs Jahre lang gemeinsam die Grundschule be-suchen. Dort ist die Leseleistung der Schüler,wie es die Bildungsforscher formulieren, amstärksten an ihre soziale Herkunft gekoppelt.

Es ist erstaunlich, wie hartnäckig von den An-hängern des längeren gemeinsamen Lernensauch die Studie des Züricher BildungsforschersHelmut Fend ignoriert wird. Fend, ursprünglichein Befürworter der Gesamtschule, hat die Bil-dungsbiografien hessischer Schüler untersucht.Das ernüchternde Ergebnis: Die soziale Herkunftder Schüler bestimmt deren Schul- und Berufs-abschlüsse – unabhängig davon, ob sie vorhereine Gesamtschule oder eine Schule des geglie-derten Systems besucht haben.

Man könnte die schulpolitischen Glaubens-krieger gewähren lassen, aber sie richten in zwei-erlei Hinsicht großen Schaden an:

Erstens zerschlagen sie ohne Not funktionie-rende Strukturen. In unserem problembeladenenSchulsystem erbringen die bei den Eltern belieb-ten Gymnasien ganz passable Leistungen. Ihnennach der Belastung durch die Gymnasialzeitver-kürzung (G8) nun zwei weitere Klassen zu am-putieren ist abenteuerlich. Sich zu den vorhande-nen Problemen des Schulsystems noch neue zuschaffen ist eine Torheit.

Zweitens kosten die fragwürdigen Struktur-veränderungen viel Kraft; die der Schulverwal-tungen, durch den Streit auch die der Eltern,Lehrer und Schüler und die der Schulpolitik.Die Kraft aller aber wird an anderer Stelle ge-braucht: Jeder fünfte Schüler verlässt unsereSchulen, ohne dass er richtig lesen und rechnenkann! Das ist die offene Wunde unserer Gesell-schaft. Wenn hier nicht gehandelt wird, dannleidet nicht nur unsere Wirtschaftskraft darunter,weil der Mangel an Fachkräften durch dasSchrumpfen der Bevölkerung größer wird; dannnehmen auch der soziale Friede und die politi-sche Stabilität Schaden.

Den Jugendlichen, denen der Start in einenqualifizierten Beruf und damit ins Leben ver-baut wird, hilft keine Gerechtigkeitsrhetorik,sondern nur konkrete Unterstützung.

Im Gegensatz zum Effekt längeren gemein-samen Lernens ist die Wirkung einiger Maß-nahmen nachgewiesen, welche die Zahl der Bil-dungsverlierer minimieren.

Einig ist sich die Bildungsforschung darin,dass die frühkindliche Bildung am wirkungs-vollsten ist, beginnend mit Hilfsangeboten fürProblemfamilien von der Geburt an. Was in die-ser Zeit versäumt wird, ist später kaum wieder-gutzumachen. Auch die gezielte Sprachförderung – nachmittags, am Wochenende, in den Ferien,vor der Schule und bis zum Schulabschluss – ver-spricht Erfolg.

Nach all dem Streit der siebziger Jahre um dieGesamtschule können wir es uns nicht leisten,wiederum Jahre und Jahrzehnte in Debatten umdie Schulstrukturen zu vergeuden.

Wenn die Hamburger am Sonntag die über-flüssige Primarschule ablehnen – dann wird Kraftfrei, um den Bildungsverlierern zu helfen.

Der GlaubenskriegSollen Schüler länger gemeinsam lernen? So will es die Politik inHamburg und NRW. Der Schaden wäre großVON THOMAS KERSTAN

www.zeit.de/audio www.zeit.de/audio

Die Volksrepublik strotztvor Kraft. Von Krise keineSpur. Die neue Großmachtreißt alles an sich: Firmen,Rohstoffe, EinflussPolitik Seite 6 Wirtschaft Seite 19/20

China trumpft auf

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