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17. OKTOBER 2013 DIE ZEIT N o 43 CH W ir haben gelernt, uns nicht täu- schen zu lassen. Und wenn, dann freiwillig und wider besseres Wissen. Auch das ist ein Ver- dienst der Demokratie. Der Entscheid gegen die Mündigkeit ist nicht strafbar. Demokratie? Für Max Frisch war sie ein »Urnen- volksspiel«. Wieso hat die Mehrheit recht, fragte er sich. Zumal die Mehrheit nicht zur Urne geht. Weiß denn die Mehrheit, worüber sie entscheiden soll? Wer unterrichtet sie, wer hat die Macht und die Medien, sie zu unterrichten? Viele Fragen, schon damals, wenige Antworten, auch heute. Demokratie mag zu jener mittleren Zufriedenheit im Staat führen, die das Höchste ist, was ein ver- nünftiger Mensch von politischen Lösungen überhaupt erwarten kann, meinte der Publizist Hans Tschäni. Wir lassen uns nicht täuschen, nicht als Frau, der man die Fähigkeit zur Demokratie bis vor ei- nigen Jahren absprach. Für Frauen war Demokra- tie immer schon eine doppelbödige Angelegenheit. Lange Zeit von der politischen Teilhabe aus- geschlossen, haben selbst in der Schweiz auch for- mal gleiche Rechte nicht zu einer gleichberechtigten Parti- zipation an der gesellschaft- lichen Macht geführt. Als Le- serin ist man mit gutem Grund skeptisch angesichts eines - Buches, das potent auftritt und mit einem gleichermaßen erschöpfenden wie erschöpf- ten Titel Aufklärung in der Sache verspricht: Herausforde- rung Demokratie, ein wortwörtlich gewichtiges Kompendium zur Geschichte und zum Wesen der besten aller möglichen Staatsformen. Oder, wie der Herausgeber die Demokratie definiert, »der einzigen legitimen Staatsform im 21. Jahrtausend«. Was ist passiert? Der Verlag Lars Müller und das NCCR Democracy, ein durch den Schweizeri- schen Nationalfonds gefördertes Forschungspro- gramm an der Universität Zürich, haben gemein- same Sache gemacht. Das Ergebnis ist nicht zu übersehen: 500 Seiten, 360 Bilder und die Ambi- tion, den State of the Art der Debatte abzubilden, ein Alphabet des Demokratie-Diskurses über alle Kontinente. Tatsächlich leistet Herausforderung Demokratie Pionierarbeit. Von der Antike bis heu- te schweift der Blick der Herausgeber und der Autoren und weniger Autorinnen über Zeiten, Statistiken, Länder – Asien im Besonderen und die arabische Welt –, preist die Revolution als Mutter der Demokratie, bedenkt das Konzept der Megacitys als Schlüssel zur weiteren Demokrati- sierung weltweit und die Globalisierung als neue Gefahr. Doch die ganze wissenschaftliche Em- phase, die der Mitherausgeber Hanspeter Kriesi, Direktor des NCCR, verantwortet, mündet schließlich in ein sonderbar zaghaftes Fazit: »Die Demokratie ist sowohl als Wert wie auch als Ziel einem konstanten Wandel unterworfen.« Der Berg gebiert eine Maus. Wäre Herausforderung Demokratie nur ein Lese- buch, man prophezeite ihm das Schicksal eines Staubfängers, die Zukunft der meisten Bücher dieses Herbsts. Doch die Publikation aus dem Verlag Lars Müller ist ein Ereignis, eine Wuchtbrumme – und das verdankt sie den Bildern. So viele sozialpolitische Foto-Ikonen aus der Vergangenheit und der Gegen- wart in einem Buch Schweizer Provenienz so klug versammelt, das ist einzigartig. Und auch ein Glau- bensbekenntnis an das Medium Fotografie. Denn während die Textautoren in ihrem kompromissberei- ten Gestus dem Wesen der Demokratie nie wirklich unter die Küchenschürze sehen und sich mit dem Chirurgenbesteck der politischen Wissenschaft nicht die Hände schmutzig machen, greifen die Bilder ins Leben und in die Vollen. Und nicht die Bilder tun es, es sind natürlich die Fotoreporter, darunter viele Gewinner des World Press Photo Award. Sie stellen sich dem mitleidlosen, erbarmungslosen, dem wirk- lichen Leben, um uns, rund um die Welt, wahre Bilder wahrer demokratischer Bestrebungen zur Kenntnis zu bringen. Bilder als Zeugen. Wir müssen nicht glauben, was wir sehen, denn eine Fotografie ist bekanntlich die Lüge, die die Wahrheit erzählt. Und doch: Wenn im ersten Kapitel unter der Überschrift Ein langer Weg, nach großzügigen Abbildungen alter Meis- ter – von Raphael bis Turner –, die erste Fotogra- fie die englische Radikalfeministin Emmeline Pankhurst (1958 bis 1928) in ihrem Kampf um das Frauenstimmrecht am Tra- falgar Square zeigt, dann ist das ein Statement. Zudem ist das Dokument ein Fundstück, sensationell. Wo immer ein Text etwas be- hauptet, gibt ein Bild, geben Bilderstrecken andere mögliche Ansichten des Themas. Dort die Theorie, hier die Praxis, und wer dabei den Kampf um Glaub- würdigkeit gewinnt, ist klar. Ob das Bild von einem nicht zu identifizierenden Keystone-Fotografen stammt oder eine Magnum-Ikone ist oder sich als Autorenfotografie versteht: Immer ist das Bild dem Buchstaben überlegen, weil es der Realität von Zah- len und Statistiken den Körper und das Gesicht eines Menschen entgegenhält. Nicole Aeby und ihr Team, verantwortlich für Bildkonzept und Bildrecherche, haben eine fotografische Sprache entwickelt, die mehr als pure Illustration will. Erst über den Umweg der Bilder, der Assoziation und des Vergleichs unter- schiedlicher thematischer Bildfelder gewinnt die Idee Demokratie Kontur – in ihrer prekären Verführungs- kraft und grandiosen Widersprüchlichkeit. Herausforderung Demokratie ist dank seines Bildanteils ein Schulbuch, und es ist noch mehr. Aeby, ehemalige Direktorin der Fotoagentur Loo- kat, hat dafür gesorgt, dass der Band auch eine Plattform für Schweizer Fotografen ist. Alle wich- tigen Fotojournalisten, die auf dem politischen Feld in den letzten Jahren Maßgebendes leisteten, sind vertreten: Andreas Seibert mit seiner Arbeit über chinesische Wanderarbeiter, Luca Zanier und die Rooms of Power in den Gebäuden von UN und Nato, Thomas Kern mit den Bildern aus Bosnien, Olivier Vogelsang, Christoph Ruckstuhl, Pascal Mora, Christian Bobst oder Roland Schmid. Glücklich ein Land, in dem sich engagierte Foto- grafen einmischen. Das Land, in dem sich Journa- listen und Politiker eins sind, ist wahrscheinlich keine Demokratie. NCCR Democracy, Hanspeter Kriesi und Lars Müller (Hrsg.): Herausforderung Demokratie. Verlag Lars Müller, Zürich 2013; 528 Seiten, 45,– Fr. Wuchtbrumme fürs Volk Was ist Demokratie? Ein gewaltiges Lese- und Bilderbuch zeigt, wie unsere liebste Staatsform gelebt wird – und kratzt am Lack einer Glücksutopie VON DANIELE MUSCIONICO 16 SCHWEIZ NORD-SÜD-ACHSE Die Zukunftsforscher Vom ewigen Wunsch, zu wissen, was sein wird VON TITO TETTAMANTI Seit jeher fürchtet sich der Mensch vor der Zu- kunft: vor Naturkatastrophen, Kriegen, unvorher- gesehenen Ereignissen. Kurz: Der Mensch hat Angst, dass sich alles zum Schlechten wendet. So groß die Angst des Menschen, so groß war seit jeher seine Leidenschaft für Horoskope, Kartenleger, Kaf- feesatzleser, ja sogar für Sekten. In der Antike waren es die römischen Auguren, die Pythia oder die Pro- phetin des Orakels von Delphi, die weissagten, was die Zukunft bringen werde. Heute versuchen wir mit wissenschaftlichen und technologischen Mit- teln, dasselbe zu tun. Und das ist richtig. Zwei Beispiele: 1970 war das Hudson Institute unter der Leitung von Herman Kahn tonangebend. Mit The Year 2000 wagte es einen Blick in die Zu- kunft, der interessant und ausführlich, letztlich aber nicht zutreffend war. Schlicht darum, weil man zwei Entwicklungen, die die Zukunft entscheidend ver- ändern sollten, überhaupt nicht in Erwägung ge- zogen hatte: die Implosion der UdSSR und die Wiedervereinigung von Deutschland. Zwei Jahre später veröffentlichte der Club of Rome The Limits of Growth, eine Studie zur Zu- kunft der Weltwirtschaft. Auch dieses Werk machte Furore. Wenn sich die damals skizzierten Szenarien bewahrheitet hätten, würde die Welt heute über fast keine Ölreserven mehr verfügen. In diesen Wochen streiten wir wieder über die Deutung der Zukunft. Zur Diskussion steht der Be- richt des UN-Weltklimarates, ein Werk, an dem Hunderte von Wissenschaftlern mitgewirkt haben. Auch diese Publikation wird von Polemik und Streit begleitet. Hunderte von Wissenschaftler, die ande- rer Meinung sind als ihre Kollegen, die den Bericht verfasst haben, kritisieren diesen aufs Schärfste. Dabei ist die Kritik nicht neu. Bereits 2001 hat Bjørn Lomborg die Metho- de und die Resultate des ersten IPCC-Reports infra- ge gestellt und im Bestseller The Skeptical Environmen- talist – Measuring the Real - State of the World publiziert. Vor zwei Jahren sollen au- ßerdem Mitarbeiter dessel- ben Berichtes der Versu- chung erlegen sein, Daten zu frisieren, um ihre These beweisen zu können. Ich gehöre zu den 99,99 Prozent der Weltbevölkerung, die den jüngst publizierten, 2000-seitigen Bericht nicht gelesen haben. Ich versuche aber, mir aus den Kommentaren von Wissenschaftsjournalisten eine Meinung zu bilden. Persönlich habe ich daraus – und mehr noch aus den Fehlern von früheren Zu- kunftsforschern – einige Lehren gezogen. Erstens: Die Prognosen fallen nicht in einen luft- leeren Raum. Was als Zukunft skizziert wird, kann enorme Konsequenzen haben. So müsste Europas Wirtschaft im nächsten Jahrzehnt 270 Milliarden Euro für den Klimaschutz ausgeben. Zweitens: Wer denkt, dass die Stellungnahmen frei von Interessen seien, ist naiv. Man denke nur an die milliarden- schweren Aufträge, die als Folge des Berichtes zu erwarten sind. Das mahnt zur Vorsicht. Drittens: Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass gewisse Berichte die eine oder andere Weltanschau- ung untermauern wollen. Forschung aber, die einer Ideologie dient, leistet der Sache einen Bären- dienst. Viertens – und das ist mir am wichtigsten, wir tun gut daran, uns an ein großes Wort zu er- innern: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Gemeint nicht nur im popperianischen Sinne, sondern auch im Sinne des Philosophen Edgar Morin: »l’impré- visible et l’inconcevable«. Wir sollten es wagen, auch das Unvorhersehbare und das Unvorstellbare für möglich zu halten. Nächste Woche in unserer Kolumne »Nord-Süd- Achse«: Die Basler Ständerätin Anita Fetz Ein gewichtiges Kompendium zur »einzig legitimen Staatsform im 21. Jahrhundert« Angewandte Demokratie: (v.o.) Penas, Bolivien 2011. Kabul, Afghanistan 2004. Mosul, Irak 2005. Accra, Ghana 2012 Der Financier Tito Tettamanti lebt im Tessin Fotos: D. Mercado/Reuters; L. Slezic/Panos/Visum; Y. Kozyrev/Noor; G. Barnuevo/EPA/picture-alliance/dpa (v.o.n.u.); J. Dijohn

Die Zukunftsforscher fürs Volk130.60.130.4/news_events/media_articles/Zeit17102013.pdf · Olivier Vogelsang, Christoph Ruckstuhl, Pascal Mora, Christian Bobst oder Roland Schmid

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  • 17. OKTOBER 2013 DIE ZEIT No 43

    CH

    Wir haben gelernt, uns nicht täuschen zu lassen. Und wenn, dann freiwillig und wider besseres Wissen. Auch das ist ein Verdienst der Demokratie. Der

    Entscheid gegen die Mündigkeit ist nicht strafbar. Demokratie? Für Max Frisch war sie ein »Urnenvolksspiel«. Wieso hat die Mehrheit recht, fragte er sich. Zumal die Mehrheit nicht zur Urne geht. Weiß denn die Mehrheit, worüber sie entscheiden soll? Wer unterrichtet sie, wer hat die Macht und die Medien, sie zu unterrichten? Viele Fragen, schon damals, wenige Antworten, auch heute. Demokratie mag zu jener mittleren Zufriedenheit im Staat führen, die das Höchste ist, was ein vernünftiger Mensch von politischen Lösungen überhaupt erwarten kann, meinte der Publizist Hans Tschäni.

    Wir lassen uns nicht täuschen, nicht als Frau, der man die Fähigkeit zur Demokratie bis vor einigen Jahren absprach. Für Frauen war Demokratie immer schon eine doppelbödige Angelegenheit. Lange Zeit von der politischen Teilhabe ausgeschlossen, haben selbst in der Schweiz auch formal gleiche Rechte nicht zu einer gleichberechtigten Partizipation an der gesellschaftlichen Macht geführt. Als Leserin ist man mit gutem Grund skeptisch angesichts eines Buches, das potent auftritt und mit einem gleichermaßen erschöpfenden wie erschöpften Titel Aufklärung in der Sache verspricht: Herausforde-rung Demo kratie, ein wortwörtlich gewichtiges Kompendium zur Geschichte und zum Wesen der besten aller möglichen Staatsformen. Oder, wie der Herausgeber die Demokratie definiert, »der einzigen legitimen Staatsform im 21. Jahrtausend«.

    Was ist passiert? Der Verlag Lars Müller und das NCCR Democracy, ein durch den Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprogramm an der Universität Zürich, haben gemeinsame Sache gemacht. Das Ergebnis ist nicht zu übersehen: 500 Seiten, 360 Bilder und die Ambition, den State of the Art der Debatte abzubilden, ein Alphabet des DemokratieDiskurses über alle Kontinente. Tatsächlich leistet Herausforderung Demokratie Pionierarbeit. Von der Antike bis heute schweift der Blick der Herausgeber und der Autoren und weniger Autorinnen über Zeiten, Statistiken, Länder – Asien im Besonderen und die arabische Welt –, preist die Revolution als Mutter der Demokratie, bedenkt das Konzept der Megacitys als Schlüssel zur weiteren Demokratisierung weltweit und die Globalisierung als neue Gefahr. Doch die ganze wissenschaftliche Emphase, die der Mitherausgeber Hanspeter Kriesi, Direktor des NCCR, verantwortet, mündet schließlich in ein sonderbar zaghaftes Fazit: »Die Demokratie ist sowohl als Wert wie auch als Ziel einem konstanten Wandel unterworfen.« Der Berg gebiert eine Maus.

    Wäre Herausforderung Demokratie nur ein Lesebuch, man prophezeite ihm das Schicksal eines Staubfängers, die Zukunft der meisten Bücher dieses Herbsts. Doch die Publikation aus dem Verlag Lars Müller ist ein Ereignis, eine Wuchtbrumme – und das verdankt sie den Bildern. So viele sozialpolitische

    FotoIkonen aus der Vergangenheit und der Gegenwart in einem Buch Schweizer Provenienz so klug versammelt, das ist einzigartig. Und auch ein Glaubensbekenntnis an das Medium Fotografie. Denn während die Textautoren in ihrem kompromissbereiten Gestus dem Wesen der Demokratie nie wirklich unter die Küchenschürze sehen und sich mit dem Chirurgenbesteck der politischen Wissenschaft nicht die Hände schmutzig machen, greifen die Bilder ins Leben und in die Vollen. Und nicht die Bilder tun es, es sind natürlich die Fotoreporter, darunter viele Gewinner des World Press Photo Award. Sie stellen sich dem mitleidlosen, erbarmungslosen, dem wirklichen Leben, um uns, rund um die Welt, wahre Bilder wahrer demokratischer Bestrebungen zur Kenntnis zu bringen. Bilder als Zeugen.

    Wir müssen nicht glauben, was wir sehen, denn eine Fotografie ist bekanntlich die Lüge, die die Wahrheit erzählt. Und doch: Wenn im ersten Kapitel unter der Überschrift Ein langer Weg, nach großzügigen Abbildungen alter Meister – von Raphael bis Turner –, die erste Fotografie die englische Radikalfeministin Emmeline Pankhurst (1958 bis 1928) in ihrem Kampf um

    das Frauenstimmrecht am Trafalgar Square zeigt, dann ist das ein Statement. Zudem ist das Dokument ein Fundstück, sensationell.

    Wo immer ein Text etwas behauptet, gibt ein Bild, geben Bilderstrecken andere mögliche Ansichten des Themas. Dort die Theorie, hier die Praxis, und wer dabei den Kampf um Glaub

    würdigkeit gewinnt, ist klar. Ob das Bild von einem nicht zu identifizierenden KeystoneFotografen stammt oder eine MagnumIkone ist oder sich als Autorenfotografie versteht: Immer ist das Bild dem Buchstaben überlegen, weil es der Realität von Zahlen und Statistiken den Körper und das Gesicht eines Menschen entgegenhält. Nicole Aeby und ihr Team, verantwortlich für Bildkonzept und Bildrecherche, haben eine fotografische Sprache entwickelt, die mehr als pure Illustration will. Erst über den Umweg der Bilder, der Assoziation und des Vergleichs unterschiedlicher thematischer Bildfelder gewinnt die Idee Demokratie Kontur – in ihrer prekären Verführungskraft und grandiosen Widersprüchlichkeit.

    Herausforderung Demokratie ist dank seines Bildanteils ein Schulbuch, und es ist noch mehr. Aeby, ehemalige Direktorin der Fotoagentur Lookat, hat dafür gesorgt, dass der Band auch eine Plattform für Schweizer Fotografen ist. Alle wichtigen Fotojournalisten, die auf dem politischen Feld in den letzten Jahren Maßgebendes leisteten, sind vertreten: Andreas Seibert mit seiner Arbeit über chinesische Wanderarbeiter, Luca Zanier und die Rooms of Power in den Gebäuden von UN und Nato, Thomas Kern mit den Bildern aus Bosnien, Olivier Vogelsang, Christoph Ruckstuhl, Pascal Mora, Christian Bobst oder Roland Schmid. Glücklich ein Land, in dem sich engagierte Fotografen einmischen. Das Land, in dem sich Journalisten und Politiker eins sind, ist wahrscheinlich keine Demokratie.NCCR Democracy, Hanspeter Kriesi und Lars Müller (Hrsg.): Herausforderung Demokratie. Verlag Lars Müller, Zürich 2013; 528 Seiten, 45,– Fr.

    Wuchtbrumme fürs Volk Was ist Demokratie? Ein gewaltiges Lese und Bilderbuch zeigt, wie unsere liebste Staatsform gelebt wird – und kratzt am Lack einer Glücksutopie VON DANIELE MUSCIONICO

    16 SCHWEIZ

    NORD-SÜD-ACHSE

    Die ZukunftsforscherVom ewigen Wunsch, zu wissen, was sein wird VON TITO TETTAMANTI

    Seit jeher fürchtet sich der Mensch vor der Zukunft: vor Naturkatastrophen, Kriegen, unvorhergesehenen Ereignissen. Kurz: Der Mensch hat Angst, dass sich alles zum Schlechten wendet. So groß die Angst des Menschen, so groß war seit jeher seine Leidenschaft für Horoskope, Kartenleger, Kaffeesatzleser, ja sogar für Sekten. In der Antike waren es die römischen Auguren, die Pythia oder die Prophetin des Orakels von Delphi, die weissagten, was die Zukunft bringen werde. Heute versuchen wir mit wissenschaftlichen und technologischen Mitteln, dasselbe zu tun. Und das ist richtig.

    Zwei Beispiele: 1970 war das Hudson In sti tute unter der Leitung von Herman Kahn tonangebend. Mit The Year 2000 wagte es einen Blick in die Zukunft, der interessant und ausführlich, letztlich aber nicht zutreffend war. Schlicht darum, weil man zwei Entwicklungen, die die Zukunft entscheidend verändern sollten, überhaupt nicht in Erwägung gezogen hatte: die Im plo sion der UdSSR und die Wiedervereinigung von Deutschland.

    Zwei Jahre später veröffentlichte der Club of Rome The Limits of Growth, eine Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft. Auch dieses Werk machte Furore. Wenn sich die damals skizzierten Szenarien bewahrheitet hätten, würde die Welt heute über fast keine Ölreserven mehr verfügen.

    In diesen Wochen streiten wir wieder über die Deutung der Zukunft. Zur Diskussion steht der Bericht des UNWeltklimarates, ein Werk, an dem Hunderte von Wissenschaftlern mitgewirkt haben. Auch diese Pu bli ka tion wird von Polemik und Streit begleitet. Hunderte von Wissenschaftler, die anderer Meinung sind als ihre Kollegen, die den Bericht verfasst haben, kritisieren diesen aufs Schärfste. Dabei ist die Kritik nicht neu. Bereits 2001 hat

    Bjørn Lomborg die Methode und die Resultate des ersten IPCCReports infrage gestellt und im Bestseller The Skeptical Environmen-talist – Measuring the Real -State of the World publiziert. Vor zwei Jahren sollen außerdem Mitarbeiter desselben Berichtes der Versuchung erlegen sein, Daten zu frisieren, um ihre These beweisen zu können. Ich

    gehöre zu den 99,99 Prozent der Weltbevölkerung, die den jüngst publizierten, 2000seitigen Bericht nicht gelesen haben. Ich versuche aber, mir aus den Kommentaren von Wissenschaftsjournalisten eine Meinung zu bilden. Persönlich habe ich daraus – und mehr noch aus den Fehlern von früheren Zukunftsforschern – einige Lehren gezogen.

    Erstens: Die Pro gno sen fallen nicht in einen luftleeren Raum. Was als Zukunft skizziert wird, kann enorme Konsequenzen haben. So müsste Europas Wirtschaft im nächsten Jahrzehnt 270 Milliarden Euro für den Klimaschutz ausgeben. Zweitens: Wer denkt, dass die Stellungnahmen frei von Interessen seien, ist naiv. Man denke nur an die milliardenschweren Aufträge, die als Folge des Berichtes zu erwarten sind. Das mahnt zur Vorsicht. Drittens: Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass gewisse Berichte die eine oder andere Weltanschauung untermauern wollen. Forschung aber, die einer Ideologie dient, leistet der Sache einen Bärendienst. Viertens – und das ist mir am wichtigsten, wir tun gut daran, uns an ein großes Wort zu erinnern: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Gemeint nicht nur im popperianischen Sinne, sondern auch im Sinne des Philosophen Edgar Morin: »l’impré-visible et l’inconcevable«. Wir sollten es wagen, auch das Unvorhersehbare und das Unvorstellbare für möglich zu halten.

    Nächste Woche in unserer Kolumne »NordSüd Achse«: Die Basler Ständerätin Anita Fetz

    Ein gewichtiges Kompendium zur »einzig legitimen Staatsform im 21. Jahrhundert«

    Angewandte Demokratie: (v.o.) Penas, Bolivien 2011. Kabul, Afghanistan 2004. Mosul, Irak 2005. Accra, Ghana 2012

    Der Financier Tito Tettamanti lebt im Tessin

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