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© Sonja Valady 2016 Diplomarbeit im Rahmen des Diplomlehrgangs Psychosoziale Beratung/Lebens- und Sozialberatung WIE WIRKSAM SIND ACHTSAMKEITSORIENTIERTE THERAPIEANSÄTZE UND INTERVENTIONEN? WIRKSAMKEIT UND WIRKMECHANISMEN DES KONZEPTES ACHTSAMKEIT Autorin: Mag. a Sonja Valady Diplomarbeitsbetreuerin: Anna Starschowitz Wien, im April 2016

Diplomarbeit - Schlossberginstitut · Achtsamkeit wurde in den letzten Jahren zunehmend in der psychosozialen Beratung - auch im Hinblick auf Entschleunigung, Entspannung und Stressreduktion

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© Sonja Valady 2016

Diplomarbeit im Rahmen des Diplomlehrgangs Psychosoziale Beratung/Lebens- und Sozialberatung

WIE WIRKSAM SIND

ACHTSAMKEITSORIENTIERTE

THERAPIEANSÄTZE UND INTERVENTIONEN? WIRKSAMKEIT UND WIRKMECHANISMEN DES KONZEPTES ACHTSAMKEIT

Autorin:

Mag.a Sonja Valady

Diplomarbeitsbetreuerin:

Anna Starschowitz

Wien, im April 2016

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Abstract

Achtsamkeit wurde in den letzten Jahren zunehmend in der psychosozialen Beratung - auch im

Hinblick auf Entschleunigung, Entspannung und Stressreduktion - zu einem wichtigen Thema.

Daher widmet sich die gegenständliche Arbeit der Frage nach der Wirksamkeit des Konzeptes

Achtsamkeit und ihrem möglichen Einsatz in der psychosozialen Beratung bzw. Lebens- und So-

zialberatung (LSB).

Insbesondere standen die Wirksamkeit von achtsamkeitsorientierten Interventionen sowie der

Nutzen und die Vorteile für die Tätigkeit als psychosoziale Beraterinnen und Berater im Fokus der

Arbeit. Dabei wurde im Vorfeld davon ausgegangen, dass achtsamkeitsorientierte Interventionen

positive Effekte auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden haben.

Anhand ausgewählter Fachliteratur wurde ein tieferer Einblick in die der gegenständlichen Arbeit

zugrundeliegenden Fragestellungen gewonnen und Einsichten für die Tätigkeit als Lebens- und

Sozialberaterin bzw. -berater abgeleitet. In diesem Zusammenhang dienten vor allem klinische

sowie neurowissenschaftliche Studien zur Verifizierung der zu untersuchenden Hypothesen.

Als positive Wirkungen der Achtsamkeit sind beispielweise die verstärkte Aufmerksamkeits- und

Emotionsregulation oder die verbesserte Körper- und Selbstwahrnehmung, aber auch die Verän-

derungen im Gehirn zu nennen (z.B. wird die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit erhöht

und die Aktivität im präfrontalen Cortex nimmt zu).

Das Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist, dass achtsamkeitsorientierte Interventionen sowie eine

achtsame Haltung gesundheitsfördernd in der LSB eingesetzt werden können und dies sowohl für

Klientinnen und Klienten als auch für psychosoziale Beraterinnen und Berater.

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Inhalt

1 Einleitung und Problemstellung ........................................................................................ 5

2 Definition und Historie ..................................................................................................... 7 2.1 Ursprung von Achtsamkeit ................................................................................... 7 2.2 Definitionen von Achtsamkeit............................................................................... 7

3 Übungs- und Anwendungsformen achtsamkeitsorientierter Interventionen ....................... 9 3.1 Achtsamkeit in der Psychiatrie und Psychotherapie ............................................... 9

3.1.1 Psychodynamische Verfahren ................................................................ 9 3.1.2 Humanistische Verfahren .................................................................... 12

3.2 Achtsamkeitsbasierte und Achtsamkeitsinformierte Verfahren ............................ 13 3.2.1 Achtsamkeitsbasierte Verfahren .......................................................... 13 3.2.2 Achtsamkeitsinformierte Verfahren ..................................................... 16

3.3 Praxis der Achtsamkeit ...................................................................................... 17

4 Wirkmechanismen achtsamkeitsorientierter Verfahren .................................................... 23 4.1 Bausteine der Achtsamkeit ................................................................................. 23 4.2 Wirkungsweise achtsamkeitsbasierter Verfahren anhand von MBCT .................... 26 4.3 Wirkungen von Achtsamkeit ............................................................................... 29

4.3.1 Aufmerksamkeitsregulation ................................................................. 29 4.3.2 Emotionsregulation ............................................................................. 31 4.3.3 Veränderungen im Selbsterleben ......................................................... 32

4.4 Wirkung auf die Hirnfunktion ............................................................................. 33 4.5 Wirkung auf das Stressniveau ............................................................................. 34

4.5.1 Abbau von Stress ................................................................................ 34 4.5.2 Stressreaktivität .................................................................................. 35

4.6 Liverpooler Arbeitsmodell zu den Wirkmechanismen .......................................... 35 4.7 Wirkfaktorenspirale ............................................................................................ 39

5 Achtsamkeit im Klientenkontakt ..................................................................................... 40 5.1 Achtsame Haltung psychosozial Tätiger ............................................................. 40 5.2 Zum Wohlbefinden psychosozial Tätiger ............................................................. 43

6 Ergebnisse und Ausblick ................................................................................................ 45 6.1 Stand der Achtsamkeitsforschung ...................................................................... 46 6.2 Befunde aus klinischen Studien .......................................................................... 46 6.3 Befunde aus neurowissenschaftlichen Studien .................................................... 47 6.4 Zukünftige Forschungsaufgaben und Conclusio .................................................. 47

7 Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 50

8 Anhang ......................................................................................................................... 53 8.1 Übung: Drei Minuten-Atemraum ........................................................................ 53 8.2 Übung: Den Tag beginnen .................................................................................. 53 8.3 Übung: Achtsamkeit bei der Arbeit ..................................................................... 54 8.4 Übungen für psychosoziale Beraterinnen und Berater ......................................... 55

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Abbildungen

Abbildung 1: Bausteine der Achtsamkeit .................................................................................. 23

Abbildung 2: Diskrepanzbasierter und erfahrungsbasierter mentaler Modus ............................ 28

Abbildung 3: Liverpooler Arbeitsmodell zu den Wirkmechanismen der Achtsamkeitspraxis ....... 38

Abbildung 4: Wirkfaktorenspirale ............................................................................................. 39

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Abkürzungen

ACC anteriore cinguläre Cortex

ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

ACT Acceptance and Commitment Therapy

DBT dialektisch-behaviorale Therapie

FFA Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit

FFMQ Five Facet Mindfulness Questionnaire

HKR konduktiver Hautleitwiderstand

MAAS Mindfulness Attention and Awareness Scale

MBCP Mindfulness-Based Childbirth and Parenting

MBCT Mindfulness-Based Cognitive Therapy - Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie

MB-eat Mindfulness-Based Eating Awareness Training

MBRE Mindfulness-Based Relationship Enhancement

MBSR Mindfulness-Based Stress Reduction – Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion

MRT Magnetresonanztomografie

KIMS Kentucky Inventory of Mindfulness Skills

LSB Lebens- und Sozialberatung / Lebens- und Sozialberaterinnen und -berater

Pat. Patientinnen und Patienten

TMS Toronto Mindfulness Scale

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1 Einleitung und Problemstellung

Achtsamkeit wurde in den letzten Jahren zunehmend in der psychosozialen Beratung und in der

Psychotherapie zu einem wichtigen Thema. Da die Anwendung von Achtsamkeit immer mehr an

Bedeutung - auch im Hinblick auf Entschleunigung, Entspannung und Stressreduktion - gewinnt,

widmet sich die gegenständliche Arbeit der Frage nach der Wirksamkeit des Konzeptes Achtsam-

keit und ihrem möglichen Einsatz in der psychosozialen Beratung bzw. Lebens- und Sozialbera-

tung (LSB).

Achtsamkeitsbasierte Interventionen, die auf die Reduktion von Stress und Verbesserung der Le-

bensqualität gerichtet sind, bekommen in der wissenschaftlichen Forschung verstärkte Aufmerk-

samkeit. Insbesondere das von Jon Kabat-Zinn entwickelte Programm zur achtsamkeitsbasierten

Stressreduktion (MBSR), wurde vielfach sowohl zur Behandlung von Patientinnen und Patienten

unterschiedlicher Grunderkrankung, als auch in Gruppen relativ gesunder Menschen eingesetzt.

Die Wirksamkeit der MBSR nicht nur gegen Stress, sondern auch für ein breites Spektrum chroni-

scher Störungen und Probleme, konnte bereits in zahlreichen Studien nachgewiesen werden. Dass

Achtsamkeit prinzipiell heilsam ist, beschreiben mittlerweile unzählige Publikationen, die in der

vorliegenden Studie in Hinblick auf ihre Wirksamkeit analysiert werden. Darüber hinaus werden

die verschiedenen Programme beleuchtet, die in unterschiedlichen Ausmaß Achtsamkeit beinhal-

ten, aber auch beschrieben, bei welchen psychischen Erkrankungen achtsamkeitsorientierte Inter-

ventionen wirksam sind bzw. zur Anwendung kommen.

In weiterer Folge werden die Wirkmechanismen des Konzeptes Achtsamkeit dargestellt, um einen

Überblick zu vermitteln, in welcher vielfältigen Art und Weise dieses Konzept in der Lebens- und

Sozialberatung eingesetzt werden kann. Klientinnen und Klienten suchen sich zunehmend psy-

chosoziale Beraterinnern und Berater, die ihre Meditationspraxis verstehen können. Diese Ent-

wicklungen sind nicht überraschend angesichts der Tatsache, dass die buddhistische Psychologie

und ihre Kernübung, die Achtsamkeit, im Westen an Beliebtheit gewonnen haben.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuhinweisen, dass Achtsamkeit nicht vermittelt

werden kann, wenn psychosozial Tätige sie nicht selbst praktizieren. Daher werden auch die acht-

same Haltung erklärt und Vorteile für Lebens- und Sozialberaterinnen und -berater näher be-

trachtet.

Die vorliegende Studie liefert somit einen Überblick über die verschiedenen Anwendungsmöglich-

keiten achtsamkeitsorientierter Interventionen in der psychosozialen Beratung und ihren Wirkfak-

toren. Folgende Forschungsfragen sollen dabei beantwortet werden:

Welche Behandlungsmethoden setzen vorwiegend Achtsamkeitselemente ein, welche

basieren ausschließlich auf dem Prinzip Achtsamkeit?

Wo liegt der Nutzen des Einsatzes von Achtsamkeit für die Lebens- und Sozialberatung?

Durchführung der Arbeit zur Unterstützung folgender Hypothese: „Das Konzept Acht-

samkeit hat positive Effekte auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden!“

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Bereits an dieser Stelle soll betont werden, dass es viele Wege gibt, Achtsamkeit in die LSB zu

integrieren, und sie schließen sich alle gegenseitig nicht aus.

Eine psychosoziale Beraterin bzw. ein psychosozialer Berater kann selbst Achtsamkeit im Alltag

üben, um mehr achtsame Präsenz zu entwickeln. Sie oder er kann den theoretischen Hintergrund

als Erklärungsmodell nutzen, der abgeleitet ist von Einsichten der Achtsamkeitspraxis, der neue-

ren psychologischen Literatur zur Achtsamkeit oder der buddhistischen Psychologie (achtsam-

keitsinformierte Beratung). Oder sie lehren den Klientinnen und Klienten, wie man Achtsamkeit

übt (achtsamkeitsbasierte Beratung) (vgl. Germer et al. 2009, S36).

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2 Definition und Historie

2.1 Ursprung von Achtsamkeit

Der Begriff Achtsamkeit hat seinen Ursprung im Buddhismus. Achtsamkeit ist dort eines der zent-

ralen Konzepte der Lehre und hat in den letzten 2500 Jahren in den asiatischen Verbreitungsge-

bieten des Buddhismus nur wenig Veränderung erfahren. Buddhismus kann als ein spiritueller Weg

der Selbsttransformation beschrieben werden. Ziel dieses Prozesses ist, sich von der eigenen Be-

dingtheit zu befreien und Mitgefühl für alle Wesen zu entwickeln.

Die ältesten schriftlichen Hinweise auf Achtsamkeit (sati in der damaligen Schriftsprache Pãli;

mindfulness im Englischen) findet man im sogenannten Pãli-Kanon (den ältesten Redesammlun-

gen des historischen Buddha). In den buddhistischen Meditationswegen spielt die Entwicklung von

Achtsamkeit eine zentrale Rolle. Dies trifft für den Theravada-Buddhismus, die tibetische Tradition

und den Zen-Buddhismus zu (vgl. Knuf, Hammer 2013, S 18). Sati bedeutet Gewahrsein, Auf-

merksamkeit und Erinnern. Achtsamkeit ist demzufolge auch ein Sich-Erinnern an das, was gerade

im Moment stattfindet.

Die Achtsamkeitspraxis in den buddhistischen Meditationswegen verfolgen unterschiedliche Ziele,

die zum Beispiel sind: Befreiung, Einsicht in die Vergänglichkeit oder auch satori (Erleuchtung).

Damit ist ein wichtiger Unterschied der Anwendung von Achtsamkeit in einem therapeutischen

Kontext zu sehen. Hier wird Achtsamkeit herausgelöst aus den ursprünglich weltanschaulichen,

religiösen oder spirituellen Hintergründen und angepasst an das Beratungssetting. In diesem Zu-

sammenhang wird Achtsamkeit daher als „ein allgemein menschliches Phänomen, das nicht an

eine bestimmte Tradition oder Technik gebunden ist“ bezeichnet. Daher sollte in der therapeuti-

schen Arbeit berücksichtigt werden, dass Achtsamkeit als Methode vermittelt werden kann, ohne

dass der Klientin bzw. dem Klienten ein Weltbild oder eine religiöse Tradition übergestülpt wird.

2.2 Definitionen von Achtsamkeit

Das Wort Achtsamkeit kann benutzt werden, um ein theoretisches Konstrukt (Achtsamkeit) zu

beschreiben oder die Praxis der Kultivierung von Achtsamkeit (wie etwa Meditation) oder ein psy-

chologisches Geschehen (achtsam sein).

Eine Grunddefinition von Achtsamkeit ist „Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick“.

Brown & Ryan (2003 zitiert in: Germer et al. 2009, S 18) definieren Gewahrsein wie folgt: „Be-

wusstsein umfasst Gewahrsein und Aufmerksamkeit. Gewahrsein ist das „Hintergrundradar“ des

Bewusstseins und überwacht ohne Unterlass das innere und äußere Umfeld.

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Gewahrsein ist eine Art von Wissen, das umfassender als bloßes Denken ist. Gewahrsein und Auf-

merksamkeit sind in der Weise verflochten, dass Aufmerksamkeit fortlaufend „Figuren“ aus dem

„(Hinter-) Grund“ des Gewahrseins herauszieht und diese unterschiedlich lange im Brennpunkt

hält“ (Germer et al. 2009, S 19).

Andere Definitionen beinhalten „was im gegenwärtigen Moment geschieht, die volle Aufmerksam-

keit schenken“ (Hanh 2013, S 10), „das klare und einsgerichtete Gewahrsein dessen, was uns und

in uns in aufeinanderfolgenden Momenten des Wahrnehmens tatsächlich geschieht“ (Nyanaponika

Thera, 1972 zitiert in: Germer et al. 2009, S 20), „Aufmerksamkeitskontrolle“ (Teasdale, Segal &

Williams, 1995 zitiert in: Germer et al. 2009, S 20) und aus einer mehr westlichen psychologischen

Perspektive „ein kognitiver Vorgang, der die Entstehung neuer Kategorien, Offenheit für neue In-

formationen und Gewahrsein aus mehr als einer Perspektive anwendet“ (Langer, 1989 zitiert in:

Germer et al. 2009, S 20). Letztendlich kann Achtsamkeit nicht vollständig in Worten erfasst wer-

den, weil es eine subtile, nicht-verbale Erfahrung ist.

Wenn Achtsamkeit in den therapeutischen Bereich übertragen wird, erweitert sich die Definition

oft dahin, das Nicht-Werten mit einzubeziehen: „die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht

wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt“ (Kabat-Zinn 2013, S 23). Ak-

zeptanz ist eine Erweiterung des Nicht-Wertens. Wenn Helfende mit intensiven Emotionen arbeiten

wie Scham, Zorn, Angst oder Trauer, ist es wesentlich eine offene, mitfühlende und akzeptierende

Haltung aufrechtzuerhalten. Empathie und positive Achtung sind wichtige Beziehungsaspekte ei-

ner erfolgreichen Beratung, die sich mit Akzeptanz überlagern. Falls der psychosozial Tätige oder

die Klientin bzw. der Klient sich mit Angst oder Ekel von unangenehmer Erfahrung abwendet, wird

es unmöglich, das Problem zu verstehen. Aus der Achtsamkeitsperspektive deutet Akzeptanz auf

die Willensbereitschaft hin, Dinge so zu lassen, wie sie in dem Moment sind, wenn wir ihrer gewahr

werden – friedvolle und schmerzhafte Erfahrungen zu akzeptieren, sobald sie auftauchen. Akzep-

tanz geht einer Verhaltensveränderung voraus.

Eine Kurzdefinition für Achtsamkeit ist zusammenfassend: 1. Gewahrsein der 2. gegenwärtigen

Erfahrung mit 3. Akzeptanz.

Diese drei Elemente können in den meisten Diskussionen über Achtsamkeit sowohl in der thera-

peutischen als auch in der buddhistischen Literatur gefunden werden. Für einen Augenblick voll-

ständiger Achtsamkeit sind alle drei Bestandteile erforderlich.1

Abschließend ist zu betonen, dass Achtsamkeit nicht nur ein begriffliches Konzept, sondern vor

allem eine Form zu sein, darstellt.

1 Zum Beispiel: Gewahrsein kann auch ohne Akzeptanz vorhanden sein, wie etwa bei verleugneter Scham.

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3 Übungs- und Anwendungsformen achtsam-keitsorientierter Interventionen

Der Großteil der Forschung zur Achtsamkeit ist im Bereich der Interventionen auf Achtsamkeits-

basis durchgeführt worden. Achtsamkeit wird in einer Vielzahl von klinischen und therapeutischen

Settings eingesetzt, nachdem gezeigt werden konnte, dass sie bei chronischen Schmerzen wirk-

sam ist; bei Stress, depressiven Rückfällen, Krebs und Selbstmordgefährdung. Die erste Interven-

tion auf Achtsamkeitsbasis war die Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) im Jahre 1979.

MBSR war zu diesem Zeitpunkt eine neuartige Methode klinischer Betreuung im Rahmen der Ver-

haltensmedizin, eines damals noch jungen Forschungszweigs, der heute allgemeiner als integra-

tive oder ganzheitliche Medizin bezeichnet wird (vgl. Kabat-Zinn 2013, S 29). Etwas jünger ist die

Kognitive Therapie auf Achtsamkeitsbasis (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, MBCT), ein Be-

handlungsansatz, der zur Reduzierung depressiver Rückfälle führt (vgl. Hick, Bien 2010, S 23). Im

Folgenden wird ein zusammenfassender Überblick über die verschiedenen Verfahren präsentiert,

bei denen Achtsamkeit eine Rolle spielt bzw. als zentrales Therapieprinzip gesehen wird.

3.1 Achtsamkeit in der Psychiatrie und Psychotherapie

Psychotherapeutinnen und -therapeuten und klinische Praktiker haben sich mit Achtsamkeit auf

einer theoretischen und methodischen Ebene auseinandergesetzt. Zum Teil hatte dies auch Aus-

wirkungen auf ihre alltägliche psychiatrische Arbeit. Im Folgenden wird ein zusammenfassender

Überblick über jene Verfahren gegeben, die sich in unterschiedlicher Art und Weise mit dem Kon-

zept Achtsamkeit bzw. meditativen Ansätzen auseinandergesetzt haben.

3.1.1 Psychodynamische Verfahren

Psychotherapiemethoden, die sich mit den bewussten und unbewussten Kräften der Psyche be-

schäftigen, werden als „Psychodynamische Verfahren“ bezeichnet. Bei diesen Verfahren geht es in

der Therapie darum, zu verstehen, wie die verschiedenen psychischen Anteile das eigene Verhal-

ten und Erleben beeinflussen. Häufig wird hierfür auch der Begriff „Tiefenpsychologische Verfah-

ren“ verwendet (vgl. https://de.wikipedia.org/).

Als Begründer der psychoanalytischen Tradition setzte sich Sigmund Freud sehr früh mit medita-

tiven Ansätzen auseinander. In seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ äußert er sich eher

ablehnend zu Meditationen. Er sieht die Gefahr der Regression. Er spricht vom „ozeanischen Ge-

fühl“, das in der Meditation entstehe, durch ein Gefühl des Einsseins und der Verbundenheit.

Gleichzeitig forderte Freud von den Therapeutinnen und Therapeuten eine „gleichschwebende“

Aufmerksamkeit, also ein nicht-urteilendes, offenes Präsentsein (vgl. Knuf, Hammer 2013, S 24).

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Carl Gustav Jung, der Begründer der Tiefenpsychologie, schrieb 1939 einen Kommentar zum Ti-

betischen Totenbuch und zeigte sich sehr offen und interessiert vor allem für religiöse und spiri-

tuelle Themen (Jung 1992 zitiert in: Knuf, Hammer 2013, ebd.).

Erich Fromm führte einen Dialog mit dem Zen-Gelehrten D.T.Suzuki. Es entstanden daraus Schrif-

ten und Bücher (Fromm et al. 1960 zitiert in: Knuf, Hammer 2013, ebd.).

Durch die Arbeit von Jon Kabat- Zinn inspiriert, setzt sich Luise Reddemann seit Mitte der neun-

ziger Jahre mit Anwendung von Achtsamkeit in der psychodynamischen Behandlung von Trauma-

folgestörungen auseinander. Sie integrierte Achtsamkeit in die störungsspezifische psychodyna-

mische Behandlung. Dabei dient das Training der Achtsamkeit vor allem der Ich-Stärkung.

In den siebziger Jahren inspirierte der Zen-Buddhismus viele Therapeutinnen und Therapeuten.

Der amerikanische Sozialpsychiater Edward Podvoll baute seine Windhorse-Arbeit auf der bud-

dhistischen Tradition und Meditationspraxis auf, die in der gegenständlichen Arbeit aufgrund des

Einflusses von Achtsamkeit auf die Gesundung von Menschen, näher beschrieben wird.

Das Windhorse-Projekt2 wurde 1981 von Edward Podvoll und einer Gruppe von Absolventinnen

und Absolventen des Master-Studiengangs in Kontemplativer Psychologie an der Naropa Univer-

sity, Colorado, begründet. Wenn jemand zu Windhorse kommt, wird in der Regel ein Aufenthalt

von sechs Monaten bis zu einem Jahr vereinbart. Die therapeutische Unterstützung hängt von der

jeweiligen Person ab. Allerdings bietet das Windhorse-Team keine Unterstützung rund um die

Uhr, die Leute sind in der Regel in der Lage, einen Teil des Tages allein zu verbringen. In Notzeiten

kann die therapeutische Unterstützung jedoch intensiviert werden (vgl. Herrick et al. 2007, S 173f).

Die Windhorse-Prinzipen sollen in weiterer Folge kurz dargestellt werden. Grundlage des Wind-

horse-Ansatzes ist das Vertrauen, dass jeder Mensch eine innere Gesundheit sowie Intelligenz

besitzt, die man bei Schwierigkeiten oder Herausforderungen einsetzen kann. "Windhorse" ist im

zentralasiatischen Raum (tibetisch: lungta) ein Symbol für grundlegende geistige Gesundheit und

für die Wachheit und Kraft, die es Menschen möglich macht, die Heilung der eigenen Krankheit zu

fördern (http://www.windhorse.at/). „Windhorse“ steht für Energie des grundlegenden Gutseins

und wird daher als eine in sich selbst ruhende Energie bezeichnet. Der Wind-Aspekt besagt, dass

die Energie des grundlegenden Gutseins stark und strahlend ist. Zugleich kann man das grundle-

gende Gutsein aber auch reiten, weshalb dieser Aspekt mit „Horse“ (Pferd) bezeichnet wird. Die

Bereitschaft, die Kraft des grundlegenden Gutseins in sich selbst anzunehmen und diesen Geis-

teszustand furchtlos gegenüber anderen zu manifestieren – das wird als Entdeckung von Wind-

horse genannt. Windhorse-Energie ist sogar inmitten schwerster Krankheit und Verzweiflung ver-

fügbar. Selbst bei unüberwindbaren körperlichen und kognitiven Behinderungen können wir uns

der Situation anpassen, Sinn und Zweck finden und sogar Lebensfreude erfahren. Aufgrund der

Windhorse-Energie ist keine Person verloren und keine Situation aussichtslos (vgl. Herrick et al.

2007, S 177f).

2 Weitere Informationen zu Windhorse sind unter http://www.windhorse.at/ online verfügbar.

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Die therapeutischen Windhorse-Praktiken setzen sich aus einer Basisbetreuung und den Wind-

horse-Teams zusammen. Die Windhorse-Prinzipien manifestieren sich in der zentralen Praxis der

Basisbetreuung. Es gibt zehn Fertigkeiten der Basisbetreuung, die notwendig sind, um in jeder

Situation entsprechend achtsam zu sein. Diese Fähigkeiten beinhalten: Präsent sein, den anderen

einlassen, nach Hause bringen, gewähren lassen, mitnehmen, wahrnehmen, Aktivieren der Ener-

gie, Übernahme von Verantwortung, Entdeckung der Freundschaft und wechselseitiges Lernen.

Jedes Mitgleich eines Windhorse-Teams - auch die Klientinnen und Klienten selbst - praktizieren

Basisbetreuung. Grundsätzlich ist die therapeutische Arbeit gemeinschaftlich, da die Klientin bzw.

der Klient ein gleichwertiges Mitglied im Team ist. Die Rolle der Klientinnen und Klienten besteht

darin, das Team über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu informieren. Auch bringen sie zum

Ausdruck, welche Praktiken für sie sinnvoll oder wann Teammitglieder eher eine Irritation als eine

Unterstützung sind. Hat eine Person ein starkes Bedürfnis nach Unterstützung werden folgende

Leute hinzugezogen: Die Mitbewohnerin bzw. der Mitbewohner wird zum Anker innerhalb des

Windhorse-Haushalts, er lebt mit der Klientin bzw. dem Klienten als Begleitung im Kontext der

Gemeinschaft. Die bzw. der Team-Leiterin bzw. -Leiter ist die organisatorische Schaltstelle im

Team und beaufsichtigt die häusliche Wohngemeinschaft. Die bzw. der Intensive Psychothera-

peut/in steht in engem Kontext zur/zum Teamleiterin/er. Sie bzw. er richtet ihre bzw. seine Auf-

merksamkeit auf den Zusammenhalt und dem Team-Geist und trifft sich zwei bis drei Mal in der

Woche mit der Klientin bzw. dem Klienten zur Einzeltherapie. Die bzw. der Wellness-Pfleger/in

arbeitet mit der Klientin bzw. dem Klienten hinsichtlich ihres bzw. seines umfassenden Gesund-

heitszustands zusammen, unterstützt sie bzw. ihn bei der Diät, der Körperbewegung, dem Schlaf

usw. und ist hinsichtlich der Medikation Bindeglied zwischen Psychiater/in, Klient/in und Psycho-

therapeut/in. Teamberater/in und psychiatriebetroffene Beraterinnen/er treffen sich mit der Kli-

entin bzw. dem Klienten ein oder zwei Mal in der Woche zur Basisbetreuung. Die eigenen gelebten

Erfahrungen der ehemaligen Betroffenen veranschaulichen, dass Gesundung möglich ist. Sobald

das Bedürfnis nach Unterstützung abnimmt, wird das Team verkleinert. Mit der Zeit kann es bis

auf eine Person reduziert werden, die als therapeutische/r Mentor/in dient. Diese Aufgabe kann

von einer/einem Team-Berater/in oder einem/r psychiatriebetroffen Berater/in ausgeführt werden

(vgl. Herrick et al. 2007, S 182f).

Darüber hinaus gibt es kontemplative Windhorse-Praktiken, die ihren Ursprung in der Achtsam-

keits-Gewahrseins-Meditation haben. Diese Praxis arbeitet mit der Synchronisation von Körper,

Geist und Umgebung als einer Form von Präsentsein im Alltag. Im Kontext der Heilung ist diese

grundlegende Praxis entscheidend für den therapeutischen Alltag von Klientinnen und Klienten,

Familienmitgliedern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Praktiken, die Windhorse hier an-

wendet, sind: Stiller Moment, kontemplative Gruppenpraxis, Praxis Aussenden und Aufnehmen,

Körper-Rede-Geist-Supervision und Weg des Kollegiums.

In der Praxis „Stiller Moment“ wird insbesondere auf das Konzept Achtsamkeit Bezug genommen.

Die in diesem Zusammenhang verwendete Praxis bedeutet, die Achtsamkeit in den Moment zu

bringen und Gedankenverlorenheit hinter sich zu lassen, um einer Situation klar und offen zu

begegnen (vgl. Herrick et al. 2007, S 184).

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3.1.2 Humanistische Verfahren

Die Humanistische Psychotherapie stellt das psychische Wachstum (im Sinne persönlicher Weiter-

entwicklung) durch Aktivierung und Entfaltung spezifisch menschlicher Ressourcen auf ein von

Sinn getragenes, selbstverwirklichendes, authentisches Leben hin in den Mittelpunkt. Die Metho-

den, die dazu zählen sind z.B.: die Gesprächspsychotherapie (Carl Rogers), die Gestalttherapie

(Fritz Perls), das Psychodrama (Jakob Moreno) und die Existenzanalyse und Logotherapie (Viktor

Frankl).

Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie hat „awareness“ im therapeutischen Prozess einge-

führt. Er lenkte im therapeutischen Prozess immer wieder die Aufmerksamkeit auf das Hier und

Jetzt, das nonverbale Verhalten und die Körpersprache, um ein tieferes Verständnis für ein Prob-

lem zu bekommen. Durch die kontinuierliche Arbeit mit dem Hier und Jetzt können Klientinnen

und Klienten eine Haltung der Achtsamkeit entwickeln. Es entstanden vielfältige gestalttherapeu-

tische Übungen, um Achtsamkeit kontinuierlich im Alltag zu trainieren.

Moshé Feldenkrais integrierte in seine Arbeit das Konzept „Bewusstheit durch Bewegung“. Es sind

Bezüge zum Thema Achtsamkeit enthalten.

In aktuelleren Publikationen wird darauf hingewiesen, dass die Gesprächspsychotherapie nach Carl

Rogers sehr viele Bezüge zu achtsamkeitsbasierten Ansätzen zeigt. Insbesondere die Gewichtung

der therapeutischen Präsenz und die empathische Beziehungsgestaltung legen ein achtsames und

akzeptierendes Therapeutenverhalten zugrunde. Eugene Gendlin, ein enger Mitarbeiter von Ro-

gers an der Universität von Chicago, untersuchte vor allem die Bedeutung des gegenwärtig ge-

spürten körperlichen Erlebens. Er fand heraus, dass Veränderungen im therapeutischen Prozess

vor allem dadurch geschehen, dass Klientinnen und Klienten die Aufmerksamkeit in freundlicher

Weise nach innen richten und bei dem körperlich spürbaren Problem verweilen. Er entwickelte das

sogenannte „Focusing“, eine spezielle Methode der Selbstaufmerksamkeit.

Innerhalb des humanistischen Zweiges der Psychologie war es Ron Kurtz, der in den siebziger

Jahren die HAKOMI-Methode (erfahrungsorientierte Körperpsychotherapie) begründete, die Acht-

samkeit als eines ihrer Grundprinzipien verankert (vgl. Knuf, Hammer 2013, S 25f).

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3.2 Achtsamkeitsbasierte und Achtsamkeitsinformierte Ver-fahren

Mittlerweile liegen eine Reihe von Behandlungsansätzen vor, bei denen die Entwicklung von Acht-

samkeit eine wichtige Rolle spielt. Die Ansätze unterscheiden sich dahingehend, wie zentral die

Rolle der Achtsamkeit darin eingesetzt wird.

Von achtsamkeitsbasierten Ansätzen spricht man, wenn die Entwicklung von Achtsamkeit als

zentrales Therapieprinzip angesehen wird (Mindfulness-Based Stress Reduction und Mindfulness-

Based Cognitive Therapy) und der Klientin bzw. dem Klienten gelehrt wird, wie man Achtsamkeit

übt.

Bei achtsamkeitsinformierten Ansätzen spielt Achtsamkeit zwar eine wichtige Rolle, aber auch an-

dere Therapieprinzipien haben eine gleichrangige Bedeutung (z.B. dialektisch-behaviorale Thera-

pie, Acceptance and Commitment Therapy) (vgl. Michalak et al. 2012, S 9). In diesem Zusammen-

hang identifiziert sich der psychosozial Tätige zwar mit einem theoretischen Bezugsrahmen, der

von Einsichten der Achtsamkeitspraxis, der neueren psychologischen Literatur zur Achtsamkeit

oder der buddhistischen Psychologie abgeleitet ist, jedoch wird der Klientin bzw. dem Klienten

nicht explizit gelehrt, wie man Achtsamkeit übt.

Diese beiden Ansätze werden gemeinsam als achtsamkeitsorientierte Therapie genannt (vgl. Ger-

mer et al. 2009, S 36).

3.2.1 Achtsamkeitsbasierte Verfahren

3.2.1.1 Mindfulness-Based Stress Reduction – Achtsamkeits-basierte Stressreduktion (MBSR)

Die Entwicklung von Achtsamkeit ist das zentrale Behandlungselement im seit der Mitte der

1970er Jahre von Jon Kabat-Zinn angebotenen Mindfulness-Based Stress Reduction-Programm

(MBSR). Es handelt sich um ein achtwöchiges erfahrungs- und übungsbasiertes Gruppenpro-

gramm. Die Patientinnen und Patienten werden intensiv in sogenannten formellen (bestehend aus

Body-Scan, Sitzmeditation, achtsame Bewegungs- und Yoga-Übungen) und informellen Achtsam-

keitsübungen (zur Integration von Achtsamkeit in den Alltag) geschult. Das Programm betont das

Gegenwärtig-Sein für Körperempfindungen, das dann auf Emotionen und Gedanken ausgeweitet

wird. MBSR hat das Ziel, den Menschen zu einer kontinuierlichen Meditationspraxis zu verhelfen.

Ein zentrales Kennzeichen von MBSR-Kursen besteht darin, dass in der Gruppe ausführlich über

die Erfahrungen und Schwierigkeiten während der formellen Übungen und bei der Übertragung

von Achtsamkeit in den Alltag gesprochen wird.

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14 © Sonja Valady 2016

Ursprünglich wurde MBSR vor allem für die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit chro-

nischen körperlichen Erkrankungen (z.B. chronische Schmerzen) entwickelt. Mittlerweile liegen

eine Vielzahl von Untersuchungen zu MBSR auch bei anderen Störungsbildern wie Angststörungen,

Essstörungen (Mindfulness-Based Eating Awareness Training, MB-eat)3 oder Hauterkrankungen

vor. Beispiele für neuere Entwicklungen sind ein auf Achtsamkeit basiertes Programm zur Rück-

fallprophylaxe bei Substanzabhängigkeit und eine für die Verbesserung der Qualität von Paarbe-

ziehungen entwickelte MBSR-Version von James und Kimberly Carson (Mindfulness-Based Relati-

onship Enhancement, (MBRE)). MBRE baut auf MBSR-Interventionen und -Meditationen auf, die

jedoch für Paare adaptiert wurden (z.B. liegt der Fokus bei der Metta-Meditation – sprich die

freundliche, wohlwollende Haltung - auf der Partnerin/dem Partner und Yoga-Übungen werden

gemeinsam ausgeführt) (vgl. Niemiec 2014, S 18).

Die amerikanische Hebamme Nance Bardacke hat auf Basis des Kurses MBSR von Jon Kabat-Zinn

ein auf Achtsamkeitsprinzipien basierendes Programm für schwangere Frauen und Paare entwi-

ckelt, dass sie Mindfulness-Based Childbirth and Parenting (MBCP)4 nennt. Es handelt sich dabei

um einen Geburtsvorbereitungskurs mit Achtsamkeitsübungen, der nicht nur als Vorbereitung auf

die Geburt sinnvoll ist, sondern auch „life skills“ für das Leben und den Alltag mit dem Kind bein-

haltet. Zum Thema „Achtsamkeit in der Schwangerschaft“ liegen bislang drei spezifische Studien

vor, die aus den USA und aus Großbritannien stammen. Sie zeigen, dass Achtsamkeit in der

Schwangerschaft im Sinne von Übungen und Geburtsvorbereitungskursen einen günstigen Effekt

auf die Ängste und Befürchtungen von schwangeren Frauen haben. Außerdem wirken sich Acht-

samkeitsübungen nicht nur positiv auf den Geburtsverlauf aus, sondern auch auf die Zeit nach der

Geburt. Insbesondere wird Depression reduziert und Bindungsfähigkeit gestärkt. Bemerkenswert

ist ein Effekt auf die Compliance der Schwangeren, was dazu führt, dass ihr Verhalten gegenüber

Ärztinnen und Ärzten unbequemer ist. Aus Sicht der Frau verhält sie sich weniger als das „brave,

angepasste Mädchen“, da sie sich mehr durch ihre eigenen Bedürfnisse leiten lässt (vgl. Schwarz

2011, S 65).

3.2.1.2 Mindfulness-Based Cognitive Therapy - Achtsam-keitsbasierte kognitive Therapie (MBCT)

Segal, Williams und Teasdale (2002, 2008 zitiert in: Michalak et al. 2012, S 10) entwickelten im

Zuge ihrer Forschung zum Rückfallgeschehen bei Depression die achtsamkeitsbasierte kognitive

Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, MBCT), indem sie die Grundstruktur des MBSR-

Programms um kognitiv-verhaltenstherapeutische Elemente ergänzten, die spezifisch auf die Be-

handlung von ehemals Depressiven zugeschnitten sind. Ausganspunkt für die Entwicklung für

MBCT war die Beobachtung, dass das Rückfallsrisiko bei ehemals depressiven Personen – vor allem

mit mehreren depressiven Episoden - sehr hoch ist.

3 Für weitere Informationen siehe unter: http://www.thecenterformindfuleating.org/

4 Für weitere Informationen siehe unter: http://www.mindfulbirthing.org/

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In mehreren methodisch aufwendigen Studien wurde die Wirksamkeit von MBCT bei der Rückfall-

prophylaxe von Depressionen bisher untersucht. Hier zeigten sich für Patientinnen und Patienten

mit drei oder mehr depressiven Episoden in der Vorgeschichte bedeutsame Reduktionen der Rück-

fallraten im Vergleich zu einer Standardbehandlung oder eine Verlängerung der Zeit, bis es wieder

zu einem Rückfall kam.

Die MBCT ist eine Art Behandlungsanleitung, die MBSR-Achtsamkeitspraxis ohne Yoga lehrt, mit

dem „Drei-Minuten-Atemraum“5 als Kernfertigkeit. Die MBCT fügt dem eine kognitive Therapie-

komponente hinzu, um eigene Gedanken und Gefühle zu entdecken. Der Achtsamkeitsaspekt bei

der MBCT bedeutet zu erkennen, dass „Gedanken keine Fakten sind“, und wie sie kommen und

gehen können, anstatt sie auszudiskutieren (vgl. Germer et al. 2009, S 181). Zur Wirkungsweise

von MBCT siehe Kapitel 4.2.

MBCT wurde zwar ursprünglich zur Rückfallprophylaxe bei Depression entwickelt, wird mittler-

weile jedoch adaptiert für mehrere psychische Erkrankungen wie generalisierte Angststörung, Pa-

nikstörung, soziale Phobie oder Schlafstörungen in Anwendung gebracht. Zuletzt wurde die MBCT

auch für Patientinnen und Patienten mit Zwangsstörung angepasst; hier liegen bislang zwei Ein-

zelfallstudien und eine kleine kontrollierte Studie vor, welche die Effektivität von Achtsamkeits-

strategien in der Behandlung von Zwängen generell nahelegen (vgl. Külz et al. 2014, S 35).

3.2.1.3 Grenzen achtsamkeitsbasierter Verfahren

Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass achtsamkeitsbasierte Verfahren zwar offen-

sichtlich einen breiten Indikationsbereich aufweisen, jedoch gibt es auch hier Kontraindikationen.

MBSR wurde als ergänzendes Therapieangebot konzipiert und kann daher eine medizinische oder

psychotherapeutische Behandlung nicht ersetzen. Beim Vorliegen körperlicher oder psychischer

Symptome sollte daher immer zuerst die Indikation einer medizinischen und/oder psychothera-

peutischen Versorgung überprüft werden. Die alleinige Behandlung mit MBSR ist vor allem bei

Klientinnen und Klienten mit psychotischen Krisen, akutem Substanzmissbrauch oder akuter Sui-

zidalität kontraindiziert. Letzteres vor allem deshalb, weil aufgrund des gruppentherapeutischen

Settings kein ausreichendes Monitoring gewährleistet kann.

Bei Klientinnen und Klienten mit körperlichen Erkrankungen, einer Schwächung aufgrund von Be-

handlungsmaßnahmen (z.B. Chemotherapie) oder einer Traumatisierung sollte außerdem vorab

sowohl mit der Klientin bzw. dem Klienten als auch mit dem medizinischen Personal geklärt wer-

den, ob die körperbezogenen Achtsamkeitsübungen eine Überforderung für den körperlich Ge-

schwächten darstellen. In diesem Fall sollte das Programm entsprechend angepasst werden (vgl.

Michalak et al. 2012a, S 253).

5 Siehe Anhang: Übung 1: Drei-Minuten-Atemraum

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Auch aus klinischer Perspektive werden bei einigen Störungsbildern mögliche Kontraindikationen

formuliert. Bei Abhängigkeitserkrankungen können achtsamkeitsbasierte Verfahren zwar hilfreich

sein, jedoch sollten diese erst nach einem erfolgreichen Entzug beginnen. Bei psychotischen Stö-

rungen besteht die Gefahr, dass die Folgen von Körperwahrnehmungsübungen und Meditationen,

eine Reizüberflutung sowie Verstärkung psychotischer Gedanken und Wahrnehmungen sind. Bei

affektiven Störungen sind bei einer aktuellen manischen Phase sowie sehr depressiven Zuständen

achtsamkeitsbasierte Interventionen kontraindiziert (vgl. Knuf, Hammer 2013, S 270).

3.2.2 Achtsamkeitsinformierte Verfahren

Neben diesen beiden Verfahren (MBSR und MBCT), bei denen Achtsamkeit als zentrales Therapie-

prinzip angesehen wird, gibt es noch weitere Behandlungsprogramme, in denen die Vermittlung

von Achtsamkeit ebenfalls wichtig ist, aber auch andere Therapieelemente gleichrangig angewen-

det werden.

Hier ist zum einen die von Marsha M. Linehan6 zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit

Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelte dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) zu nen-

nen. Die DBT wurde in den 1980er entwickelt und ist eine werteorientierte und umfassende The-

rapiemethode, die unter anderem Elemente aus der Gestalt- und Verhaltenstherapie, aber auch

der achtsamkeitsbasierten Therapie integriert (vgl. Ambrust et al. 2016, S 69). Die DBT umfasst

zwei Schwerpunkte: Einzeltherapie, vor allem zur Bearbeitung akuter Krisen und Traumata, und

Gruppentherapie zum Erlernen neuer Fertigkeiten (Skills Training). Das Skillstraining ist sozusagen

das Herzstück der DBT, aber nur ein Teil des Gesamtansatzes.

Das Fertigkeitentraining besteht aus insgesamt fünf Modulen und wird üblicherweise als Grup-

pentherapie angeboten, die auf einen Behandlungszeitraum von sechs Monaten angelegt ist. Acht-

samkeit steht am Beginn der 5 Skills-Module und ist die Basis aller Fertigkeiten; danach folgen die

Module: Stresstoleranz, Emotionsregulation, zwischenmenschliche Fertigkeiten und Selbstwert

(vgl. Armbrust et al. 2016, S 70). Beim Modul Achtsamkeit geht es darum, Erlebnisanteile intensi-

ver wahrzunehmen und die Erlebnisqualitäten zu verbinden. Da Borderline-Betroffene hauptsäch-

lich Schwierigkeiten haben, Gedanken und Gefühle „unter einen Hut zu bekommen“, wird dieser

Ansatz in der Therapie besonders hervorgehoben. Durch das Erlernen und Einüben von Achtsam-

keit soll ein Zustand entstehen, in dem die körperlichen, emotionalen und gedanklichen Anteile

gleichberechtigt und aufeinander bezogen das Wahrnehmen und Erleben bestimmen. Man kann

hierbei äußere und innere Achtsamkeit unterscheiden. Viele Betroffene berichten im Verlauf, dass

die Achtsamkeitspraxis und die erlebten Veränderungen den entscheidenden positiven Entwick-

lungsschritt für sie gebracht haben. Im Skillstraining werden Was-Fertigkeiten (Wahrnehmen, Be-

schreiben, Teilnehmen) und Wie-Fertigkeiten (wirkungsvoll, konzentriert, nicht wertend bzw. an-

nehmend) unterschieden (vgl. Armbrust et al. 2016, S 74).

6 Marsha M. Linehan ist eine US-amerikanische Psychologin und leitet ein Therapiezentrum für Borderline-Persönlichkeits-

störungen (http://www.linehaninstitute.org/).

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Ein weiteres Verfahren, in dem achtsamkeitsbasierte Therapieelemente angewendet werden, ist

die Acceptance and Commitment Therapy (ACT).

Im Rahmen von ACT sollen vor allem zwei zentrale Prinzipien vermittelt werden: Steigerung von

Akzeptanz und Förderung von wertorientiertem Leben. In ACT wird davon ausgegangen, dass den

meisten psychischen Störungen eine Vermeidung von sogenannten privaten Erfahrungen voraus-

gehen (d.h. bei Vorliegen von intensiven Angstsymptomen, Zwangsstörungen: Versuche, Gefühle

von Ekel, Unruhe oder bestimmte beunruhigende Gedanken zu vermeiden). Diese Vermeidung von

inneren Erfahrungen stabilisiert die Störung und schränkt Möglichkeiten, ein wertbesetztes Leben

zu führen, immer mehr ein. (Kürzere) Achtsamkeitsübungen werden, in Kombination mit anderen

Therapieelementen, im Rahmen von ACT eingesetzt, um Patientinnen und Patienten zu unterstüt-

zen, gegenüber ihren inneren Erfahrungen eine grundlegend akzeptierende Haltung zu entwi-

ckeln. Akzeptanz ist dabei aber kein Selbstzweck. Sie dient vielmehr dazu, engagiertes Handeln

in Richtung der von der Patientin bzw. dem Patienten gewählten Werthaltungen (z.B. in Bereichen

wie Familie, Beruf oder Spiritualität) zu unterstützen (vgl. Michalak et al. 2012, S 13).

Auch in einigen stärker psychodynamisch orientierten Ansätzen wird - wie bereits an früherer

Stelle angeführt - in den letzten Jahren mit der Integration von Achtsamkeit gearbeitet. Im

deutschsprachigen Raum ist es in diesem Zusammenhang vor allem die Traumatherapie von Red-

demann. Durch Achtsamkeit soll das gestörte Hier-und-Jetzt-Erleben der Patientinnen und Pati-

enten gefördert und dissoziativen Zuständen vorgebeugt werden. Dabei wird vor allem eine acht-

same Arbeit mit dem Körper eingesetzt, bei der es hauptsächlich ums Spüren geht. Die achtsame

Form der Körperarbeit ist für traumatisierte Menschen sehr geeignet, da der Körper der Ort der

Traumatisierung darstellt (vgl. Reddemann 2010, S 91ff).

Beim Alliance Ruptures- Ansatz von Safram und Muran (2000 zitiert in Michalak et al. 2012, S 13)

soll Achtsamkeit der Therapeutin bzw. dem Therapeuten (und Pat.) dabei helfen, mit Brüchen in

der therapeutischen Beziehung umzugehen. Achtsamkeit soll dabei ermöglichen, subtile Ablauf-

muster in der therapeutischen Interaktion wahrzunehmen sowie offener und flexibler mit der the-

rapeutischen Beziehung umzugehen. Ziel ist es, über die interaktionellen Ablaufmuster in einen

metakommunikativen Austauschprozess zu kommen. Spezielle Achtsamkeitsübungen für Patien-

tinnen und Patienten werden dabei nicht vermittelt. Die Therapeutinnen und Therapeuten selbst

sollen sich aber in Achtsamkeit üben.

3.3 Praxis der Achtsamkeit

Die Vermittlung und Kultivierung von Achtsamkeit erfolgt auf der Basis einer intensiven Schulung

in formellen und informellen Meditations-Praktiken sowie andere, nicht-meditative Übungen.

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Formelle Praxis

Bei der formellen Achtsamkeit, meist als Meditation bezeichnet, wird die Aufmerksamkeit auf ein

Objekt gerichtet (Atem, Körperempfindungen) oder was jeden Moment entsteht („choiceless awa-

reness“, „unvermeidliche Bewusstheit“).

Die wichtigsten Elemente der formellen Praxis sind, wurden bei der achtsamkeitsbasierten Stress-

reduktion (MBSR) bereits erwähnt, werden jedoch an dieser Stelle detaillierter beschrieben:

der Body-Scan

die achtsame Körperarbeit (Hatha-Yoga)

die Sitz- und Gehmeditation

Im Rahmen dieser Übungen wird über einen zuvor festgelegten Zeitraum die Entwicklung von

Achtsamkeit trainiert. Hierbei geht es nicht darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder eine

Übung „richtig“ auszuführen. Die Praktizierenden werden stattdessen dazu eingeladen, mir ihrer

Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick zu bleiben (vgl. Michalak et al. 2012a, S 246).

Der Body Scan

Bei dieser Übung lenken die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Aufmerksamkeit zunächst ei-

nige Minuten auf das Atmen. Danach wandern sie mit ihrer Aufmerksamkeit systematisch durch

den ganzen Körper. Die einzelnen Regionen werden möglichst bewusst wahrgenommen. Es geht

dabei nicht darum, an die jeweiligen Körperteile zu denken, sondern in die Körperregion hinein-

zuspüren und mit Achtsamkeit und einer nicht wertenden Haltung das wahrzunehmen, was man

im jeweiligen Moment spüren kann. Wenn man den jeweiligen Körperteil nicht spürt, dann ist es

genau dieses Nichtspüren, was man wahrnehmen sollte. Wichtig ist, dass es bei dieser Übung nicht

um das Erreichen eines bestimmten Zustands geht. Entspannung und Wohlbefinden können sich

einstellen, sind aber nicht Ziel der Übung. Auch sollte Verspannung und Unruhe bewusst wahrge-

nommen werden, da es wichtig ist, gerade solchen unangenehmen und oft schmerzhaften Emp-

findungen mit einer Haltung möglichst großer Akzeptanz und Offenheit zu begegnen. Falls die

Aufmerksamkeit während der Übung abschweift, kehren die Übenden, sobald sie dies registrieren

zur jeweiligen Körperpartie zurück, ohne sich dafür zu verurteilen.

So werden nacheinander alle Teile des Körpers mit Achtsamkeit "gescannt". Abschluss der Übung

ist die Wahrnehmung des Gesamtkörpergefühls. Insgesamt dauert der Body-Scan rund 45 Minu-

ten. Er kann zwar im Sitzen oder Stehen ausgeführt werden, erfolgt meist jedoch im Liegen. Nach

dem Body-Scan, aber auch nach allen weiteren Achtsamkeitsübungen, findet in der Gruppe ein

ausführlicher Austausch über die Erfahrungen während der Übungen statt. Die Leiterin bzw. der

Leiter der Gruppe erkundet dabei die konkreten Erfahrungen im Körper und die gedanklichen Re-

aktionen darauf. Auf dieser Grundlage werden dann auch mögliche Alternativen zu habituellen

Gedanken und Verhaltensmustern entwickelt.

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Achtsame Körperarbeit

In der Regel werden einfache Übungen aus dem Hatha-Yoga vermittelt. Hier sollen die Teilneh-

merinnen und Teilnehmer lernen, ihre Grenzen bewusst zu spüren und jene gewohnten Gedan-

kenmuster wahrzunehmen, die üblicherweise auftauchen, wenn sie an ihre Grenzen stoßen (z.B.

„Das schaffe ich niemals“ oder „Streng dich mehr an“). Durch die achtsame und nicht wertende

Haltung werden die Yogaübungen und jede andere Form der Körperarbeit zur Meditationen. Bei

körperlichen Einschränkungen ist es möglich, die betreffenden Übungen abzuwandeln oder sich

nur vorzustellen.

Sitzmeditation

Diese Übung wird entweder auf einem Sessel oder – wenn möglich – auf einem Meditationskissen

oder –bänkchen auf dem Boden ausgeführt. Die Übenden nehmen zunächst eine aufrechte Haltung

ein und lenken ihre Aufmerksamkeit auf ihre Atmung – genauer gesagt auf die körperlichen Emp-

findungen, die mit der Atmung verbunden sind. Schweift die Aufmerksamkeit zu Gedanken, Ge-

fühlen oder anderen Körperempfindungen ab, wird dieses Abschweifen bewusst und ohne sich

dafür zu verurteilen wahrgenommen, bevor die Aufmerksamkeit behutsam zum Atem zurückge-

führt wird. Es wird empfohlen, zunächst mit fünf- bis zehnminütigen Sitzmeditationen zu begin-

nen und die Dauer allmählich zu steigern. In weiter Folge können durch entsprechende Übung

auch Sitzperioden von bis zu 45 Minuten und länger erfolgen und diese Meditation kann dabei auf

andere Erfahrungsbereiche ausgedehnt werden, wie z.B. auf Geräusche in und außerhalb des Rau-

mes, Gedanken oder Gefühle.

Gehmeditation

Bei der Gehmeditation setzt man möglichst langsam einen Fuß vor den anderen. Dazu sollten die

Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Tempo wählen, bei dem sie achtsam auf jede einzelne Be-

wegung und die damit verbundenen Empfindungen achten können. Zuvor legen sie sowohl eine

Zeitspanne fest, wie lange sie diese Meditation durchführen möchten, als auch die Strecke, auf der

sie üben wollen. Wichtig ist, dass es auch hier nicht darum geht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Am besten wählt man daher eine Strecke, die man ungestört auf- und abgehen kann, ohne einen

bestimmten Endpunkt wählen zu müssen. Nachdem man die Gehmeditation anfangs zunächst als

formale Übung praktiziert, kann man sie später zu einer informellen Übung wandeln, indem man

auch andere Strecken im Alltag auf achtsame Weise zurücklegt (vgl. Michalak et al. 2012a, S 247f).

Informelle Praxis

Informelle Achtsamkeit ist die Anwendung achtsamer Aufmerksamkeit im Alltag. Achtsames Essen

und achtsames Gehen sind Beispiele für informelle Achtsamkeits-Übungen. Tatsächlich kann jede

alltägliche Aktivität das Objekt informeller Achtsamkeitspraxis sein (z.B. achtsam Zähne putzen,

achtsames Autofahren, achtsam bügeln, achtsam telefonieren).7

7 Anleitungen zu diversen Achtsamkeitsübungen sind im Anhang zu finden.

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Nicht auf Meditation beruhende Achtsamkeits-Übungen werden besonders in der bereits erwähn-

ten DBT und in der ACT eingesetzt.

ACT beinhaltet 41 Übungen, von denen neun zum Typ „formelle oder informelle Achtsamkeit“

gehören. Der Rest basiert nicht auf Achtsamkeit. Zum Beispiel beginnt ACT mit einer Übung na-

mens „Leidens-Inventur“, bei der die Klientin bzw. der Klient schmerzhafte und schwierige The-

men in ihrem bzw. seinem Leben auflistet und gewichtet. Eine andere Übung demonstriert, wie

schwierig es ist, Gedanken zu unterdrücken. Dabei werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer

gebeten, sich im Geiste ein ganz klares Bild von einem gelben Jeep zu machen und dann so gut

wie möglich zu versuchen, überhaupt nicht mehr an einen gelben Jeep zu denken.

DBT beinhaltet ausführliche Fragebögen und Übungen, die Klientinnen und Klienten helfen sollen,

Emotionen besser zu regulieren, ihr persönliches Identitätsgefühl zu stärken und ihr Urteilsver-

mögen und ihre Beobachtungsgabe zu schärfen. Andere Übungen beinhalten zum Beispiel das

Achten auf Elemente der Außenwelt wie Musik oder Gerüche.

Ob auf Meditation basierend oder nicht: Achtsamkeit ist eine fortlaufende Disziplin und Praxis,

die unsere Fähigkeit verfeinert, aufmerksam zu sein, und genau hierin liegt das Potential im Kli-

entenkontakt.

Umgang mit Hindernissen bei Achtsamkeitsübungen

Oft beginnt man die Achtsamkeits-Schulung, indem man den Fokus der Aufmerksamkeit auf ir-

gendetwas eingrenzt, zum Beispiel den Atem oder eine bestimmte Aktivität. Wenn man etwas wie

den Atem gezielt beobachtet, beginnt man den Geist in Achtsamkeit zu üben. Indem man einfach

die Empfindungen fühlt, wie der Atem in den Körper einströmt und wieder hinaus, kann man üben,

im gegenwärtigen Moment zu sein. Die Übung klingt einfach, aber versucht man es, so stellt man

fest, wie schwierig es tatsächlich ist. Der Geist schweift ab und denkt darüber nach, was gestern

geschehen ist, oder macht Pläne für den Nachmittag. Achtsamkeit ist eine nicht-zielorientierte

Aktivität. Es geht dabei nicht darum, irgendwo hinzugelangen oder einen besonderen Geisteszu-

stand zu erreichen – auch nicht Entspannung oder Stressabbau. Das stellt den psychosozial Täti-

gen der Achtsamkeits-Kurse zur Stressreduzierung anbietet, vor ein interessantes Paradoxon. Die

Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen mit dem Wunsch nach fassbaren Ergebnissen zum Kurs

und werden in der ersten Sitzung informiert, diese Ziele beiseite zu lassen, in Bewusstheit zu

ruhen und zu beobachten, wie Geist, Körper und Welt sich im gegenwärtigen Moment entfalten.

Das kann in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft für manche Menschen auch eine echte Her-

ausforderung darstellen (vgl. Hick 2010, S 23f). Daher werden im Folgenden die Hindernisse be-

schrieben, die beim Üben entstehen können.

Es sind folgende vier Arten von Hindernissen im Zusammenhang mit Achtsamkeitsübungen be-

kannt (Michalak et al. 2012, S 74):

1. eine Haltung gegenüber der Übung, die durch die Frage „Mache ich es auch richtig?“ ge-

kennzeichnet ist.

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2. Körperlich schmerzhafte und unangenehme Empfindungen (z.B. Spannungen und Ver-

krampfungen)

3. Die Überzeugung, dass innere oder äußere Rahmenbedingungen für die Übung nicht

günstig sind (z.B. zu wenig Zeit, zu viele Ablenkungen, zu viel innere Unruhe)

4. Gedankenwandern

Auf diese Hindernisse sollte die psychosoziale Beraterin bzw. der Berater entsprechend reagieren

können, um einem Übungsabbruch zu vermeiden oder Widerwillen gegenüber Achtsamkeitsübun-

gen, vorzubeugen.

Die Herausforderung der Achtsamkeitspraxis ist es, so gut es geht, zu üben, Hindernisse als

Chance wahrzunehmen und nicht als etwas, was nicht sein sollte oder vermieden werden muss.

Im Folgenden werden die möglich auftauchenden Hindernisse dargestellt und Hinweise zum Um-

gang mit solchen Schwierigkeiten gegeben.

„Mache ich es auch richtig?“: Tauchen solche Gedanken und damit verbundene Gefühle auf (z.B.

Ängstlichkeit), so sollen sie achtsam wahrgenommen und dann, so gut es geht, losgelassen wer-

den. Danach wird wieder Kontakt mit der eigentlichen Übung aufgenommen (z.B. die Aufmerk-

samkeit wird wieder sanft zu dem Körperteil im Body-Scan zurückgeholt, der gerade im Fokus ist).

Dieser Umgang mit Gedanken ist natürlich sehr herausfordernd und ungewohnt. Was durch dieses

Loslassen und Zurückkehren geübt werden soll, ist die Fähigkeit zur Konzentration auf ein be-

stimmtes Objekt – z.B. im Fall des Body-Scans auf bestimmte Körperteile.

Schmerzhafte Empfindungen: Auch hier ist es wichtig, solchen Empfindungen möglichst offen und

mit einer neugierigen Haltung zu begegnen. Verbinden sich mit den Empfindungen Gedanken wie

z.B. „Es ist wirklich unangenehm. Warum muss ich so angespannt sein? Warum kann ich nichts

richtig machen?“, sollen diese achtsam wahrgenommen und losgelassen werden. Dabei kommt es

natürlich auf den Grad des Schmerzes an. Wenn der Schmerz sehr groß ist, kann dieses Vorgehen

nicht so einfach sein. In einer solchen Situation kann es hilfreich sein, zunächst einmal ganz be-

wusst wahrzunehmen, wie stark ablenkend die schmerzhafte Empfindung ist: sie zieht nahezu die

gesamte Aufmerksamkeit in ihren Bann. Gerade da ist es wichtig zu versuchen, so bald wie möglich

wieder zum Fokus der Aufmerksamkeit zurückzukehren (z.B. zum Atem oder zum Körper) und

eine akzeptierende und freundliche Haltung einzunehmen (vgl. Michalak et al. 2012, S 75f).

Die Rahmenbedingungen sind nicht richtig: Viele Übende denken, dass erst bestimmte Bedingun-

gen erfüllt sein müssen, damit sie die Übungen erfolgreich praktizieren können. Dazu gehören

äußere (Ruhe, Störungsfreiheit, Zeit) wie innere (innere Ruhe, Entspanntheit) Bedingungen. Auch

wenn es natürlich sein kann, für günstige äußere Rahmenbedingungen bei der Übung zu sorgen,

wird es sicherlich niemals optimale Bedingungen geben. Auch hier ist es ratsam, diese scheinbar

ungünstigen Bedingungen mit in die Übung einzubeziehen und sich dadurch nicht vom Üben ab-

halten zu lassen. Es geht dabei nicht darum, auf Störungen nicht negativ zu reagieren, sondern

vielmehr darum, solche Reaktionen zu beobachten, sie achtsam wahrzunehmen und sich so gut

es geht nicht in sie zu verstricken.

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Dabei kann auch der Umgang mit Störungsquellen während der Sitzungen (z.B. Telefonläuten vor

der Praxis, Sirene der Einsatzfahrzeugen) genutzt werden, um diese Haltung zu verdeutlichen.

Gedankenwandern: Ein häufiges und auch bei erfahrenden Übenden immer wieder auftretendes

Phänomen ist das Abschweifen der Gedanken. Wird dieses mit der Bewertung: „Das ist ein Fehler,

der korrigiert werden muss“ versehen, so findet man sich schnell in einer Abwärtsspirale von

Selbstabwertung und negativen Gefühlen. Da es aber die Natur von Gedanken ist, zu schweifen,

lassen sie sich nicht einfach stoppen. Der entscheidende Punkt ist also nicht, die Gedanken abzu-

schalten, sondern eine andere Haltung ihnen gegenüber zu entwickeln: sie als das zu sehen, was

sie wirklich sind – Gedankenströme, Ereignisse im Geist – und sich nicht in ihnen zu verlieren.

Insgesamt sollte beim Umgang mit Hindernissen beim Üben eine balancierte Haltung bei der Um-

setzung der Übungsanforderungen eingenommen werden. Auf der einen Seite sollten die Wich-

tigkeit und der Sinn der jeweiligen Übung betont werden. Auf der anderen Seite ist es ratsam, mit

der Klientin bzw. dem Klienten zu besprechen, welche Art der Umsetzung in der jeweiligen Situa-

tion möglich ist (vgl. Michalak et al. 2012, S 77).

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4 Wirkmechanismen achtsamkeitsorientierter Verfahren

In diesem Abschnitt wird dargestellt, über welche Wirkmechanismen achtsamkeitsorientierte Ver-

fahren ihre positiven Wirkungen zeigen. Zur Erforschung von Achtsamkeit werden vor allem neu-

rowissenschaftliche Verfahren herangezogen. Lazar und ihr Team (Lazar 2015, S 75) führten die

erste funktionelle Magnetresonanztomografie-Studie durch, in der die Forschungsgruppe unter-

suchte, welche Gehirnregionen bei Langzeitmeditierenden bei einer einfachen Meditations-Übung

aktiv sind. Es zeigte sich, dass durch das Meditieren Gehirnareale aktiviert werden, die an der

Aufmerksamkeitsregulation und der Regulation des autonomen Nervensystems beteiligt sind. Zu-

dem verlangsamte sich während der Meditation die Atmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmern

stark und auch das das Herz-Kreislauf-Systems veränderte sich. Bevor im gegenständlichen Ka-

pitel näher auf die neuronalen Veränderungen durch Meditation eingegangen wird, werden die

Bausteine der Achtsamkeit beschrieben. Diese Bausteine sind daran beteiligt, dass eine achtsam-

keitsbezogene Wirkung entsteht und in weiterer Folge gemessen werden kann.

4.1 Bausteine der Achtsamkeit

Die in Kapitel 2 angeführten, unterschiedlichen Definitionen beinhalten zumeist folgende vier Bau-

steine, die in der psychosozialen Arbeit mit Achtsamkeit zu berücksichtigen sind und über diese

ihre Wirkungen entfaltet (vgl. Weiss et al. 2012, S 22):

Abbildung 1: Bausteine der Achtsamkeit

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24 © Sonja Valady 2016

Baustein 1: Bewusste Aufmerksamkeitslenkung

Wir kennen die folgenden Situationen zumeist nur allzu gut: Wir stehen vor dem Kühlschrank und

können uns nicht mehr erinnern, was wir eigentlich wollten. Wie lesen in einem Buch und stellen

nach einer halben Seite fest, dass wir gedanklich ganz woanders waren und nichts vom gelesenen

Inhalt wirklich erfasst haben. In achtsamkeitsorientierten Ansätzen spricht man dabei vom „Auto-

pilotmodus“. Wir werden sozusagen mechanisch vom Autopiloten gesteuert. Wir erfassen und er-

leben nicht mehr bewusst, was wir tun. Das Verhalten ist durch Gewohnheiten gesteuert, die mehr

oder weniger mechanisch ablaufen. Körperlich oder geistig läuft ein automatisierter Prozess ab

(vgl. Knuf, Hammer 2013, S 31). Durch das bewusste Wahrnehmen, was wir gerade tun, kann der

Autopilotmodus verlassen werden. Es erfordert jedoch Energie und Willenskraft, immer wieder zu

bemerken, was in diesem Augenblick passiert.

Menschen mit depressiven Störungen leiden häufig unter ausgeprägten Grübelverhalten. Viele

sind davon überzeugt, dass sie selbst nichts wert sind und die Welt um sie herum schlecht ist. Für

Depressive ist es deshalb schwer, etwas ohne solche negativen Bewertungen wahrzunehmen.

Diese Grundüberzeugungen und die damit verbundenen Grübelgedanken beeinträchtigen und fil-

tern die Wahrnehmung. Depressive Menschen werden sozusagen von einem „depressiven Autopi-

loten“ gesteuert.

Im Gegensatz zum Autopilotenmodus meint Achtsamkeit bezüglich Körper und Geist, in der Ge-

genwart anwesend zu sein. Körper und Geist werden zusammengeführt und Multitasking wird

beendet. Im Rahmen von Beratungsgesprächen beobachten psychosoziale Beraterinnen und Bera-

ter immer mal wieder, dass Klientinnen und Klienten innerlich abwesend wirken, dann hilft schon

das freundliche Ansprechen: „Kann es sein, dass Sie gerade in Ihren Gedanken woanders sind?“

Viel schwieriger ist, diese Aufmerksamkeit wiederholt zu erreichen und über längere Zeiträume

diese Bewusstheit und Wahrnehmung der Gegenwart aufrechtzuerhalten.

Baustein 2: Gegenwärtigkeit

Achtsamkeit bedeutet, sich dem gegenwärtigen Moment zuzuwenden. Menschen neigen dazu,

darüber nachzudenken, was war oder was sein wird. Diese Beschäftigung mit der Vergangenheit

und Zukunft führt dazu, dass jener Zeitabschnitt vernachlässigt wird, in dem sich das Leben aus-

schließlich abspielt: gerade JETZT. Dieser Gegenwartsmoment hat keine bestimmte Dauer, er ist

gerade so lang, dass eine Erfahrung auftauchen und ins Bewusstsein treten kann. Hier ist auch die

Haltung des „Anfänger-Geists“ gemeint: man begegnet dabei Dingen und Menschen so wie ein

Kind. Man betrachtet sie, als ob man sie noch nicht kennen würde und sie noch nie gesehen hätte.

Konzepte, innere Kommentare und Bewertungen tauchen dann gar nicht auf. Dies führt zu einem

offenen, neugierigen und interessierten Erfahren des Augenblicks (vgl. Weiss et al. 2012, S 33f).

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Baustein 3: Akzeptanz

Akzeptanz bedeutet Annehmen und nichtbewertendes Wahrnehmen der jetzigen Situation und

meiner Reaktionen auf diese Situation. Ich nehme das, was gerade geboten wird, ohne es abzu-

lehnen, Widerstand zu leisten oder es zu bewerten (Hayes u.a. 2004 b, zitiert in: Knuf, Hammer

2013, S 35).

Nicht selten ist es so, dass sich eine unangenehme Situation nicht verändert oder sogar verstärkt,

solange man dagegen ankämpft. Erst wenn es gelingt, sie freundlich zu akzeptieren, verändert sie

sich manchmal wie von selbst oder löst sich auf (man spricht hier auch vom „Paradoxon der Ver-

änderung“). Eine Ebene der Erklärung könnte sein, dass es einer gewissen Akzeptanz bedarf, um

überhaupt einmal genau hinzuschauen, besonders wenn ein problematischer Zustand massiv ab-

gelehnt und eine Auseinandersetzung damit vermieden wird. Die buddhistische Psychologie be-

schreibt hier auch noch eine weitere Eigenheit des Menschen, die völlig automatisch abläuft: näm-

lich alles Wahrgenommene durch Gedanken zu begleiten. Mit diesen Gedanken sind meistens Be-

wertungen verbunden. Achtsamkeit führt dazu, eine neue, meist ungewohnte Haltung den eigenen

Wahrnehmungen und Erfahrungen gegenüber einzunehmen: Sie wie Gäste in sein Haus einzula-

den, sie willkommen zu heißen, sie wieder gehen zu lassen und zwar ohne Bevorzugung oder

Ablehnung. Es ist nicht leicht, aus dem Mustern von Bewertung und Vermeidung herauszutreten.

Der erste Schritt in diese Richtung ist, zu beobachten, welche Bewertungsprozesse automatisch

ablaufen und welche Impulse ein näheres Hinschauen verhindern. Allein schon dieses Beobachten

führt zu einer größeren Distanz gegenüber den Bewertungen und erleichtert, sich wieder der un-

mittelbaren Erfahrung zuzuwenden. Durch das Hinschauen gewinnt man Verständnis, was wiede-

rum hilft, eine akzeptierende Haltung zu finden. Es gibt in den Traditionen der Achtsamkeit un-

terschiedliche Auffassungen darüber, ob Akzeptanz ein Bestandteil der Definition von Achtsamkeit

sein soll oder ob sie eine Folge der Achtsamkeitspraxis darstellt. Wahrnehmen oder zu bewerten

ist dagegen Teil nahezu aller Definitionen (vgl. Weiss et al. 2012, S 42).

Recovery-Ansätze betonen, dass für eine psychische Gesundung die Bewältigung von Verlusten

und Einschränkungen der Lebensqualität sehr wichtig ist. Die Annahme von Verlusten und das

Akzeptieren des „ungelebten Lebens“ ist für viele Betroffene eine Herausforderung, der sie ohne

Unterstützung nicht gewachsen sind. Psychosoziale Beraterinnern und Berater erleben jedoch

häufig, dass diese anstrengenden Prozesse des Annehmens eine wichtige Voraussetzung für den

Beginn des Neuen darstellen. In diesem Zusammenhang spricht Marsha M. Linehan (Linehan 1996a

zitiert in: Knuf, Hammer 2013, S 36) von „radikaler Akzeptanz“; damit ist gemeint, daran zu ar-

beiten, ausweglose, nicht mehr veränderbare, länger zurückliegende Situationen und die eigenen

Reaktionen darauf radikal akzeptieren zu können. Für Klientinnen und Klienten wirkt es oft ent-

lastend, wenn sie hören und auch selbst dazu stehen können, dass es in Ordnung ist, traurig oder

wütend zu sein angesichts eines Verlustes oder einer Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren ist.

Sie betont außerdem, dass für Annehmen des Lebens, so wie es im Augenblick ist, eine innere

Bereitschaft erforderlich ist. Akzeptanz bedeutet die Bereitschaft, Realitäten unvoreingenommen,

offen und frei von Vorurteilen zu betrachten und schafft somit ein Klima, das Veränderung und

Heilung ermöglicht.

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Baustein 4: Der innere Beobachter

Achtsamkeit wird in diesem Kontext als das Erwachen des „Inneren Beobachters“ beschrieben. Der

innere Beobachter ist ein Teil von uns. Er wird oft überlagert von Gedanken und Vorstellungen. Er

kann jederzeit aufgeweckt und durch Achtsamkeitsübungen geschult werden.

Es bedeutet teilhabend zu beobachten, charakterisiert durch einen engen Kontakt zur Erfahrung,

während gleichzeitig Distanz zu ihr besteht. Entscheidend dabei ist der Perspektivenwechsel: nicht

mehr von den Fluten mitgerissen zu werden, sondern aus der Stille heraus das Vorbeifließen zu

beobachten. In der buddhistischen Lehre wird immer wieder von „reinem Gewahrsein“ gesprochen,

was bedeutet, sich dieses Beobachten bewusst zu sein, selbst wenn nichts mehr beobachtet wird.

Dies sind besondere Zustände, die erst nach längerem Achtsamkeitstraining auftreten können (vgl.

Weiss et al. 2012, S 43 f).

Der Denkende kann sein eigenes Denken und Fühlen beobachten, z.B. „Ich fühle gerade starke

Wut.“ Der Fühlende kann sich freundlich der Wut zuwenden, diese wahrnehmen, ohne sich mitrei-

ßen zu lassen. Er kann beobachten, wie die Wut kommt und geht. Der innere Beobachter nimmt

sozusagen eine Metaperspektive ein, die nicht kritisch-bewertend ist, sondern offen und teilha-

bend. Dies ist auch ein wichtiger Unterschied zu dissoziativem Erleben, in dem aus Gefühlen oder

Körperempfindungen ausgestiegen wird. Gefühle und Empfindungen werden in der Dissoziation

abgespalten, sind dem bewusstem Erleben nicht mehr zugänglich.

Diese teilhabend, reflektierende Metaperspektive ist ein zentraler Wirkmechanismus von Acht-

samkeit. Achtsamkeit schult das Gehirn darin, das Auftreten von Gefühlen und Gedanken in Aktion

zu erleben und dabei beobachtend verweilen zu können. Verhaltenstherapeutinnen/en sprechen

dabei auch von „Exposition“. Damit ist ein Sicht-Aussetzen von angstbesetzen oder unangeneh-

men Gefühlen gemeint, ohne dabei Sicherheitsverhalten zu nutzen oder in Vermeidung zu flüch-

ten. Auf diese Weise können automatisch ablaufende Muster bewusst gemacht und in der Folge

verändert werden (vgl. Knuf, Hammer 2013, S 34).

4.2 Wirkungsweise achtsamkeitsbasierter Verfahren anhand von MBCT

Anhand der im Kapitel 3.2.1.2 dargestellten achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie (MBCT),

die zur Rückfallprävention bei Depressionen entwickelt wurde, wird im gegenständlichen Ab-

schnitt die Wirkungsweise achtsamkeitsbasierter Verfahren veranschaulicht.

Im Rahmen von MBCT wird davon ausgegangen, dass eine zentrale Fertigkeit, die die Patientinnen

und Patienten lernen sollten, eine Veränderung der Haltung gegenüber ihren Gedanken oder an-

deren inneren Erlebnissen ist. Diese veränderte Haltung wird als „descentering“ oder „disidentifi-

cation“ bezeichnet. Die Patientinnen und Patienten sollen – vor allem durch das Üben von Acht-

samkeit – dabei unterstützt werden, sich nicht mit ihren Gedanken zu identifizieren, sondern sie

als das zu sehen, was sie letztendlich sind: mentale Ereignisse.

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Bei der MBCT wird, im Gegensatz zur klassischen kognitiven Therapie, keine direkte Veränderung

von Gedanken angestrebt. Negative Gedanken werden nicht kommentiert und gezielt modifiziert,

sodass sie positiver werden. Die Patientinnen und Patienten lernen vielmehr im Rahmen der Übun-

gen, Gedanken (schon sehr frühzeitig) zu erkennen, diese loszulassen (d.h. ihrer Eigendynamik

zu überlassen) und zum Fokus der Aufmerksamkeit im Hier-und-Jetzt (z.B. zur Atmung oder zur

derzeit ausgeführten Tätigkeit) zurückzukommen. Dies alles soll so gut es geht in einer Atmo-

sphäre von geduldigem, offenherzigem und nicht wertendem Mitgefühl mit sich selber geschehen.

Die Übung der Achtsamkeit kann durch die Erhöhung der Bewusstheit für Gefühle, Gedanken und

Körperempfindungen dabei helfen, ungünstige Aufschaukelungsprozesse früher zu erkennen, be-

vor sie sich zu einem manifesten depressiven Rückfall verfestigt haben. Dies erleichtert ein fle-

xibles und selbstfürsorgliches Umgehen mit Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen, das

bei einer Eskalierung des Aufschaukelungsprozesses immer schwieriger wird.

Dabei sollte Achtsamkeit nicht mit einer einfachen Ablenkungsstrategie gleichgesetzt werden. Der

Versuch, Dinge durch Ablenkung zu verbannen, funktioniert nicht, weil die Inhalte eine hohe emo-

tionale Bedeutung besitzen und wir deswegen wieder zu diesen hingezogen werden. Zieht des-

wegen zum Beispiel im Rahmen einer Übung ein negatives Gefühl die Aufmerksamkeit sehr stark

auf sich und ist es deswegen schwer, den Fokus der Aufmerksamkeit beim Atem zu lassen, so

werden die Übenden dazu ermuntert, die konkrete körperliche Manifestation dieses Gefühls acht-

sam mit möglichst großer Offenheit und mit Mitgefühl mit sich selbst, wahrzunehmen. Hierdurch

kann die Vermeidung von innerem Erleben abgebaut werden und der Übende wird eingeladen, von

einem diskrepanzbasierten „Modus des Tuns“ so gut es geht in einen akzeptierenden und offenen

„Seins-Modus“ überzugehen. Häufig ist dabei ein Anspruch auf Perfektion zu beobachten („Ich

muss doch jetzt das schwierige Gefühl akzeptieren – ich darf nicht Grübeln“). Hier kann sich also

sehr schnell die Tendenz einschleichen, den „Seins-Modus“ in einen „verkappten“ „Modus des

Tuns“ zu verwandeln. Diese Tendenz ist „ganz normal“ und sollte in eine freundliche Haltung sich

selber gegenüber integriert werden: Es geht nicht darum, die Dinge gut oder perfekt zu machen,

ich darf mir die Erlaubnis geben, so zu sein, wie ich gerade bin (vgl. Michalak et al. 2012, S 17).

Die nachstehende Abbildung verdeutlicht, dass durch das Üben von Achtsamkeit eine Verände-

rung in Richtung des erfahrungsbasierten mentalen Modus ermöglicht wird. Dabei ist zu beachten,

dass bei Erwachsenen der „Modus des Tuns“ meist habituell und automatisch abläuft. Deswegen

wird im Rahmen von MBCT davon ausgegangen, dass es wichtig ist, den Kontakt mit dem erfah-

rungsbezogenen „Seins-Modus“ entsprechend zu kultivieren. Ziel dabei ist es nicht, Grübeln oder

Sorgen einfach zu stoppen, sondern eine andere Art der Verarbeitung zu fördern, die durch ihre

Gegenwartsbezogenheit und ihren Bezug auf das konkrete Erleben einen alternativen Zugang er-

öffnet. Zudem kann es sinnvoll sein, von Seiten der Patientin bzw. des Patienten (oder psychoso-

zialen Tätigen) sich zu überlegen, welche Verhaltensweisen langfristig stabilisierend sind und wel-

che ungünstigen Verhaltensweisen möglicherweise verändert werden sollten.

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Abbildung 2: Diskrepanzbasierter und erfahrungsbasierter mentaler Modus

Solche Phasen der Reflexion und Veränderung sind auch Bestandteile von MBCT. Allerdings sollte

dies immer aus einer möglichst achtsamen Haltung heraus erfolgen, da Achtsamkeit dabei helfen

kann, unerfreuliche Zustände möglichst frühzeitig, d.h. bevor sie sich aufgeschaukelt und verfes-

tigt haben, zu erkennen. Die Wahrnehmung dieser Zustände, ohne in den dargestellten dysfunk-

tionalen mentalen Modus zu verfallen und die Fähigkeit, achtsam für die Auswirkungen von Ver-

änderungen zu sein, stellen wichtige Kompetenzen dar. Der „Seins-Modus“ sollte also gewisser-

maßen die Basis für den „Modus des Tuns“ darstellen (vgl. Michalak et al. 2012, S 18).

Neben der Veränderung des mentalen Modus beinhaltet die Übung von Achtsamkeit eine gezielte

Schulung der Aufmerksamkeit. Wir lernen immer wieder – nicht nur in formalen Übungen, sondern

den ganzen Tag über – die Aufmerksamkeit auf das Hier-und-Jetzt auszurichten. Das heißt nicht,

dass Erinnerungen an die Vergangenheit oder Planungen der Zukunft verboten sind oder unter-

drückt werden sollen. Vielmehr geht es darum, bei der Erinnerung an Vergangenes sich des Aktes

der Erinnerung bewusst zu sein.

Im Rahmen von MBCT werden Aufmerksamkeitsstörungen als Teil eines Aufschaukelungsprozess

gesehen, der zu Grübeln und negativer Stimmung beitragen kann. Dementsprechend soll die

Schulung der Aufmerksamkeit die Patientinnen und Patienten dabei unterstützen, aus dem un-

günstigen mentalen Modus, der durch Grübeln gekennzeichnet ist, auszusteigen und in lebendi-

gen Kontakt mit dem Hier-und-Jetzt zu treten. Dieser Kontakt stellt dabei einen weiteren wichti-

gen Aspekt der Wirkungsweise von achtsamkeitsbasierter Therapie dar. Er ermöglicht die leben-

dige Wahrnehmung des Reichtums jedes Augenblicks. Achtsamkeit kann dabei helfen, die bei je-

dem Menschen vorhandene Tendenz, die Aufmerksamkeit auf ausschließlich problematische As-

pekte der Situation und der eigenen Person zu verengen, zu lösen und den „Blick zu weiten“.

Deswegen sollte Achtsamkeit auch in möglichst allen Situationen des Lebens geübt werden.

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4.3 Wirkungen von Achtsamkeit

Basierend auf Studien in der Psychologie und den Neurowissenschaften wurde eine positive Wir-

kung von Achtsamkeit auf folgende drei Bereiche festgestellt (vgl. Hölzel et al. 2015, S 43):

1. Verstärkte Aufmerksamkeitsregulation

2. Verbesserte Emotionsregulation

3. Veränderungen im Selbsterleben

Diese Komponenten ermöglichen gemeinsam einen Prozess verbesserter Selbstregulation, das

heißt, das Funktionieren der Vorgänge, mit denen Menschen ihr Erleben und Verhalten steuern,

wird positiv beeinflusst.

4.3.1 Aufmerksamkeitsregulation

Die meisten Meditationstraditionen beginnen ihr Meditationstraining mit einer Schulung der Auf-

merksamkeit. Es ist ganz normal, dass die Aufmerksamkeit abgleitet, wenn man versucht, sie für

längere Zeit bei ein und demselben Aufmerksamkeitsobjekt zu halten. Ein gewisses Maß an Fä-

higkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, ist jedoch notwendig, um von Tagträumen ab-

zulassen. Die Aufmerksamkeit wird z.B. in der Atemachtsamkeitsmeditation geschult einer Medi-

tationstechnik mit fokussierter Aufmerksamkeit (vgl. Hölzel et al. 2015, S 44). Meditierende be-

richten, dass sie mit widerholten Üben die Aufmerksamkeit auch über längere Zeit besser auf-

rechterhalten können und dass Störfaktoren den Fokus weniger unterbrechen. In Übereinstim-

mung mit diesen Berichten hat eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen verbesserte Auf-

merksamkeitsleistung bei Meditierenden dokumentiert.

Aufmerksamkeit wird oft in drei Komponenten unterteilt:

1. Vigilanz (Daueraufmerksamkeit): bezeichnet die Bereitschaft, in monotonen und lange

andauernden Situationen auf seltene Reize angemessen zu reagieren

2. Selektive Aufmerksamkeit (oder Umorientierung): bezeichnet die Auswahl einer spezifi-

schen Information aus einer Vielzahl von Informationen. Hierbei geht es um die Auswahl

des Objekts oder Gedankengangs, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet wird.

3. Exekutive Aufmerksamkeit: bezeichnet das Überwachen und Lösen von Konflikten der

Aufmerksamkeit durch ablenkende Reize. Hierbei geht es darum, sich bewusst einem

Stimulus zuzuwenden.

Verschiedene psychologische Tests wurden eingesetzt, um die Effekte von Achtsamkeitstraining

in Hinblick auf die Aufmerksamkeitsleistung zu erforschen.

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In einem systematischen Review einer größeren Anzahl von Studien, die die Auswirkung von Acht-

samkeitstraining auf verschiedene Aspekte der Kognition untersuchten, kommen Chiesa et al. (zi-

tiert in Hölzel et al. 2015, S 47) zu dem Schluss, dass es in frühen Phasen des Achtsamkeitstrai-

nings zu einer Verbesserung der exekutiven und der selektiven Aufmerksamkeit kommt, wohin-

gegen längeres Training mit einer Verbesserung in der Vigilanz in Zusammenhang steht.

Die Hirnregion, die in neurowissenschaftlichen Studien am häufigsten in Zusammenhang mit der

verbesserten Aufmerksamkeitsregulation gebracht wird, ist der sogenannte anteriore cinguläre

Cortex (ACC). Verschiedene Studien haben einen Effekt der Achtsamkeitsmeditation auf den ACC

belegt. Es wurde z.B. die Hirnaktivierung von Meditierenden und Kontrollpersonen ohne Medita-

tionspraxis im MRT beobachtet, während die Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer eine

Achtsamkeitsmeditation praktizierten, und es zeigte sich eine erhöhte Aktivierung des ACC bei

den Meditierenden. Andere Studien fanden im Bereich des ACC einen dickeren Kortex (die graue

Substanz im Gehirn8) und eine erhöhte Integrität der Verbindungsfasern (der weißen Substanz).

Neben den zuvor genannten Effekten auf die drei Aufmerksamkeitskomponenten wurden positive

Wirkungen von Achtsamkeit auf weitere Aufmerksamkeitsleistungen untersucht. Slagter et al. (zi-

tiert in Hölzel et al., S 50) erfassten z.B. den Effekt eines dreimonatigen intensiven Achtsamkeits-

retreats auf den sogenannten attentional blink. Der attentional blink bezeichnet den kurzfristigen

blinden Fleck in der Aufmerksamkeit, der entsteht, wenn ein Reiz verarbeitet wird. Es wurde dabei

herausgefunden, dass dieser Effekt bei Meditierenden nach dem Retreat verringert war.

Auch Valentine und Sweet (1999 zitiert in Lazar 2009, S 330f) führten eine Studie zur Aufmerk-

samkeit durch, um direkt die Wirkung von Achtsamkeits- und Konzentrationsmeditation bei fort-

dauernder Aufmerksamkeit mit Anfängerinnen und Anfängern sowie erfahrenen Meditierenden zu

vergleichen. Interessant ist anzumerken, dass alle Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer bud-

dhistische Meditationen übten, aber entweder dem Achtsamkeits- oder dem Konzentrationsstil

zugeordnet waren. Das hing von der Selbsteinschätzung ab, was während der Meditation mentaler

Fokus war. Obwohl die Größe des Samples recht klein war (9-10 pro Gruppe), war die Achtsam-

keitsgruppe signifikant besser in ihrer Fähigkeit, unerwartete Stimuli (Töne mit unterschiedlichen

Wiederholungssequenzen) auszumachen als die Konzentrationsgruppe. Dann waren alle Meditie-

renden besser als die dritte Gruppe der Kontrollsubjekte in ihrer Fähigkeit, alle Stimuli zu entde-

cken. Das lässt die Vermutung zu, dass beide Gruppen, Achtsamkeits- und Konzentrationsmedi-

tation, einen erhöhten Aufmerksamkeitsgrad als Ergebnis ihres Übens entwickelt hatten.

Diese Befunde – die verbesserte Aufmerksamkeitsregulation und -leistung sowie die erhöhte Hirn-

aktivierung in Regionen, die Aufmerksamkeitsfunktion unterstützen - sind vielversprechend für

die Behandlung von Krankheiten, die mit einem Defizit in diesen Funktionen einhergehen, wie z.B.

die bipolare Störung oder Aufmerksamkeitsdefizitstörungen.

8 Die graue Substanz ist eine wesentliche Komponente des Zentralnervensystems.

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4.3.2 Emotionsregulation

Emotionen sind ein wesentliches Element in unserem Leben. Sie lassen uns erst das Erlebte fühlend

wahrnehmen und motivieren uns zu handeln. Für ein gesundes und zufriedenes Zurechtkommen

in der Welt ist es essentiell, dass wir angemessen auf unsere – oft plötzlich aufkommenden -

Emotionen reagieren und diese auch regulieren können. Für eine gute psychische Gesundheit ist

daher die Fähigkeit zur Emotionsregulation zentral, da psychische Erkrankungen häufig mit

Schwierigkeiten in ebendiesen Bereich einhergehen.

Verschiedene Studien haben die Verbesserung in der Emotionsregulation durch Achtsamkeit un-

tersucht. Diese Studien zeigen vielfältige positive Effekte, z.B. berichten Teilnehmerinnen und

Teilnehmer von Achtsamkeitstrainings anschließend von einer Verringerung der Schwierigkeiten

mit der Emotionsregulation, von einer verminderten Intensität und Häufigkeit negativer Gefühle,

von verbesserten positiven Gefühlszuständen, schnellere Erholung von einer Stressreaktion und

eine Verminderung der Beeinträchtigung durch ablenkende emotionale Reize (in Bezug auf die

„Emotionale Interferenz9)“ (vgl. Hölzel et al. 2015, S 51).

Jene Mechanismen, die der Verbesserung der Emotionsregulation durch Achtsamkeitspraxis zu-

grunde liegen, werden wie folgt in Forscherkreisen angeführt:

- Reappraisal: Die Umbewertung bzw. Umdeutung wird verbessert, da Achtsamkeitspraxis

eine positive Umdeutung von emotionalen Situationen erleichtert.

- Konditionierungen: Achtsamkeit beeinflusst das Gefühlsleben, hilft alte Konditionierun-

gen zu lösen und somit neue, flexiblere Gefühlsreaktionen zuzulassen.

Die neurowissenschaftliche Forschung hat zudem gezeigt, dass Hirnregionen, die an der Emoti-

onsregulation beteiligt sind, wie z.B. die Amygdala10 oder der präfrontale Cortex eine positive

Veränderung durch Achtsamkeitspraxis zeigen. Einige Studien untersuchten die Frage, ob acht-

same Emotionsregulation wirkt, indem kognitive Kontrollmechanismen gestärkt werden. Das sind

z.B. Strategien zur Regulation von Gefühlen, die auf Veränderung der Aufmerksamkeitsrichtung

beruhen. Von verschiedenen kognitiven Emotionsregulationsstragien weiß man, dass sie mit einer

erhöhten Aktivierung in bestimmten Regionen des präfrontalen Kortex einhergehen. Diese präf-

rontalen Regionen üben einen regulierenden Effekt auf die limbischen Regionen, wie z.B. die

Amygdala aus, die normalerweise aktiviert werden, wenn neuartige emotionale Reize verarbeitet

werden oder wenn jemand mit einem angstauslösenden Reiz konfrontiert wird.

9 Emotionale Interferenz: bezeichnet das Phänomen, dass intensive emotionale Reize die Leistung bei einer anderen, davon

unabhängigen Aufgabe, z.B. einer Reaktionszeitaufgabe, beeinträchtigen.

10 Die Amygdala ist ein paariges Kerngebiet des Gehirns im medialen Teil des jeweiligen Temporallappens. Sie ist Teil des

Limbischen Systems. Sie wird auch als Mandelkern oder als Corpus amygdaloideum (Mandelkernkomplex) bezeichnet.

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Neurowissenschaftliche Untersuchungen der Angstkonditionierung und -löschung zeigten auch,

dass die Amygdala, der Hippocampus und der ventromediale präfrontale Cortex für das Umlernen

von emotionalen Reaktionen wichtig sind. Alle drei Hirnregionen zeigten eine Veränderung durch

Achtsamkeitspraxis: In der Amygdala wird häufig eine geringere Aktivierung nach Achtsamkeits-

training gefunden. Der Hippocampus wiederum zeigt eine Zunahme der Dichte der grauen Sub-

stanz – dies stellte sich bereits nach einem achtwöchigen MBSR-Training heraus. Und auch im

ventromedialen präfrontalen Cortex zeigten sich Veränderungen im Zusammenhang mit Acht-

samkeitspraxis. Diese Überschneidung könnte vermuten lassen, dass Achtsamkeitspraxis auch

dadurch funktioniert, dass emotionales Umlernen begünstigt wird.

Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass vieles darauf hindeutet, dass Achtsamkeitspraxis

die Fähigkeit fördert, die eigenen Emotionen zu regulieren. Die verbesserte Emotionsregulation ist

vermutlich ein zentraler Mechanismus, über den die Achtsamkeitspraxis die psychische Gesund-

heit und das Wohlbefinden erhöht (vgl. Hölzel et al. 2015, S 53).

4.3.3 Veränderungen im Selbsterleben

Selbsterleben bezeichnet die Art und Weise, wie wir uns selbst wahrnehmen, wie wir mit uns selbst

in Beziehung sind und womit wir uns identifizieren. Mit größerer Meditationserfahrung beginnen

wir, uns von unserem starren Selbstbild zu lösen. Wir identifizieren uns weniger starr mit uns und

den Dingen in unserem Leben – mit unseren Besitztümern, unserem Äußeren, aber auch mit Ge-

danken, Gefühlen, mit unserer Persönlichkeit, Gewohnheiten und Eigenarten. An die Stelle, wo

vorher eine feste Identifikation mit einer Persönlichkeit stand, tritt ein Empfinden, dass wir alle in

unserer menschlichen Erfahrung miteinander – mit einem größeren Ganzen verbunden sind. Das

Erleben ist dann weniger durch unsere Bewertungen geprägt, die uns Dinge als „gut“ oder

„schlecht“ für uns selbst erleben lassen, und es tritt zunehmend ein unmittelbares Erleben in den

Vordergrund. Bereits zu Beginn der Achtsamkeitspraxis wird von einer deutlicheren und bewuss-

teren Wahrnehmung von (Körper)Empfindungen berichtet.

Meditierende berichten typischerweise, dass sie als Folge der Achtsamkeitspraxis ein größeres

Gewahrsein für die Empfindungen im eigenen Körper haben. Studien bei Meditierenden setzen

meist einen Test ein, der das Gewahrsein innerhalb des Körpers erfasst, den „heart beat detection“

-Test, der die Fähigkeit erfasst, den eigenen Herzschlag zu erspüren. Obwohl die Meditierenden

erwarteten ihren Herzschlag besser spüren zu können, fanden sich objektiv keine besseren Er-

gebnisse im Vergleich zu Nicht-Meditierenden. Der Test scheint daher kein guter Indikator für die

Art des Gewahrseins zu sein, und es sind daher weitere Studien erforderlich, die das Körperge-

wahrsein bei Meditierenden untersuchen.

Die Forschung steht hier noch ganz am Anfang – auch, weil diese Veränderungen im Selbsterleben

nur sehr schwer objektiv messbar sind.

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4.4 Wirkung auf die Hirnfunktion

In den vergangenen 10 bis 15 Jahren hat es in der Grundlagenforschung einige aufsehenregende

Entdeckungen gegeben, die unser Verständnis des Wirkungszusammenhangs zwischen Körper

und Geist und seiner Bedeutung für die Gesundheit grundlegend verändern.

Vor allem das Phänomen der Neuroplastizität ist bei Wirkungsanalysen in Bezug auf achtsamkeits-

basierte Interventionen relevant. Es ist inzwischen erwiesen, dass das Gehirn ein lebenslang, lern-

fähiges Organ ist, das bis ins hohe Alter hinein und in Anpassung an äußere Einflüsse ständig

weiter ausreicht, sich wandelt und neu strukturiert. Es ist auch bekannt, dass gezielte Übung und

wiederholte Konfrontation mit komplexen Aufgabenstellungen diese grundlegende Fähigkeit des

Gehirns zusätzlich stimuliert. Das neu entstandene Forschungsgebiet der kontemplativen Neuro-

wissenschaft untersucht die Gehirnfunktionen im Zusammenhang mit den Grundfragen nach dem

Bewusstsein und dem Geist-Körper-Zusammenhang. Diesem Ziel dienen Studien sowohl mit Per-

sonen mit langjähriger Meditationserfahrung als auch mit Probanden, die erst seit relativ kurzer

Zeit regelmäßig meditieren (vgl. Kabat-Zinn 20103, S220f).

Die Annäherung der Gehirnwissenschaft und des Achtsamkeitsbegriffes ist besonders fruchtbar.

James Austins Arbeit Zen und das Gehirn (1998) hat dem zuerst einen Auftrieb gegeben. Mit dem

Fortschritt der bildgebenden Verfahren, wie etwa der breiten Anwendung der funktionalen Mag-

netresonanztomografie, können subjektive Berichte einer/eines Experimentsteilnehmers/in mit

objektiven Bildern korrelieren. Neuroplastizität, die Fähigkeit des Geistes, das Gehirn zu formen,

ist ein spannendes Forschungsfeld. Zwischenzeitlich gibt es viele Forschungsergebnisse darüber,

wie Achtsamkeitspraxis die Gehirnfunktion verändern kann. „Normale Leute“, die trainiert wurden,

acht Wochen lang zu meditieren, zeigten eine linke, präfrontale Aktivierung, als sie sich „im Leer-

lauf“ und Antwortmodus auf eine emotionale Herausforderung befanden.

In weiterer Folge wird dargestellt, wie Meditieren das Gehirn beeinflusst und wie diese Verände-

rungen im Gehirn dann zu einem lang anhaltenden positiven Nutzen führen können.

In der Neurowissenschaft wird davon ausgegangen, dass alle Verhaltensweisen mit der Hirntätig-

keit zusammenhängen, die wiederum von der Hirnstruktur abhängt. Die Hirnstruktur kann, defi-

niert werden als alles, was mit der Art und Weise zu tun hat, wie Neuronen miteinander kommu-

nizieren, angefangen bei der Anzahl der Verbindungen zwischen Neuronen bis hin zur Menge der

Neurotransmitter, die an den Verbindungsstellen (Synapsen) ausgeschüttet werden. Allgemein

wird angenommen, dass wir unser Verhalten nur dann dauerhaft umstellen können, wenn dieser

Schritt mit einer entsprechenden Veränderung in der Hirnstruktur einhergeht. Will man z.B. eine

neue Information aufnehmen, ums sie sich für den nächsten Tag zu merken, dann muss sie ir-

gendwo im Gehirn gespeichert sein. In diesem Falle ist die neu aufgenommene Information in den

Neuronen kodiert, in einem Prozess der als Neuroplastizität bekannt ist. Von diesem Moment an

kommunizieren die Neuronen anders miteinander, und dies führt dazu, dass Erinnerung gebildet

wird. Eine andere Art Hirnstruktur zu verändern, besteht darin, ein Verhalten viele Male zu wie-

derholen.

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34 © Sonja Valady 2016

Jedes Mal löst man eine Abfolge entsprechender Hirntätigkeit aus; mit der Zeit werden diese Mus-

ter automatisiert und anders gespeichert als zufällige Verhaltensweisen. So entstehen Gewohn-

heiten.

Neuroplastizität ist auch ein Kernstück des therapeutischen Prozesses. Geht bspw. eine depressive

Person zum Arzt, dann kann der Arzt ein Antidepressivum verschreiben, das seine Hirnstruktur

verändert. Die regelmäßige Einnahme des Medikaments verändert die Anzahl der Neurotransmit-

ter, die im Spalt zwischen den Neuronen ausgeschüttet oder aus ihm wieder aufgenommen wer-

den. Dies wiederum wirkt sich auf die Hirntätigkeit aus und führt zu einer weniger depressiven

Stimmung. Wendet sich dieselbe Person an einen Psychotherapeuten, dann könnte dieser mit einer

Gesprächstherapie beginnen. Wenn die eingesetzten Techniken Erfolg haben, dann gibt es auch

Veränderungen in der Hirnstruktur bzw. -funktion, die durch die therapeutische Arbeit veränderte

Sichtweise einhergeht (Lazar 2015, S 72).

Die Forschungsresultate deuten gemeinsam mit Neuroplastizitätsstudien darauf hin, dass wir das

Gehirn selbst durch Achtsamkeitspraxis verändern könnten, und man als Individuum die Möglich-

keit hat, Verhalten besser zu kontrollieren, indem man das achtsame Gewahrsein der Gehirnakti-

vität steigert (vgl. Germer et al. 2009, S 43).

4.5 Wirkung auf das Stressniveau

4.5.1 Abbau von Stress

Ein wichtiges Anwendungsgebiet für Meditationstechniken ist der Abbau von Stress. Wenn jemand

viel Stress hat, wird viel Cortisol11 ausgeschüttet. Dieses Stresshormon schädigt langfristig den

Hippocampus, eine Region, die für das Gedächtnis und die Bewertung von Situationen eine Rolle

spielt. In der ersten Längsschnittstudie12 zur Wirkung des MBSR-Trainings von Jon Kabat-Zinn

(2011) wurden Messungen vor und nach einem achtwöchigen Übungsprogramm bei den Teilneh-

merinnen und Teilnehmer und der Kontrollgruppe durchgeführt, sodass Veränderungen im Gehirn

direkt auf die Teilnahme am Training zurückgeführt werden konnten. Bei den Teilnehmerinnen/er

am Programm „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ war bereits nach acht Wochen eine Zunahme

der grauen Substanz im Hippocampus zu verzeichnen (vgl. Ott 2015, S 84). Wenn jemand lernt,

sich mittels Meditation zu entspannen und das Stressniveau zu senken, dann kommt es offenbar

zu einer Erholung und zu einem Zellwachstum in dieser Struktur.

11 Cortisol: lebenswichtiges Stresshormon, das von der Zona fasciculata (der Niebennierenrinde) ausgeschüttet wird (vgl.

Wilson 2011, S 462)

12 Bei den meisten „Achtsamkeitsstudien“ handelt es sich um Querschnittsstudien, d.h., es können auch andere Faktoren als

die Meditationspraxis für die Unterschiede verantwortlich sein.

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4.5.2 Stressreaktivität

Die Entwicklung der Gelassenheit erhöht die Fähigkeit des Praktizierenden, bei negativen Ergeb-

nissen weniger reaktiv zu sein. Goleman und Schwartz (1976 zitiert in Lazar 2009, S 330) stellten

die Hypothese auf, dass Meditierende weniger physiologische Reaktivität auf unangenehme Sti-

muli zeigen sollten als Kontrollsubjekte. Um diese Hypothese zu testen, hatten sie den kondukti-

ven Hautleitwiderstand (HKR) bei Meditierenden und Kontrollsubjekten gemessen, während die

Subjekte sich nachgespielte Unfälle in einer Holzwerkstatt ansahen. HKR-Messungen erfassen, wie

viel Schweiß als Indikator für die autonome Erregung produziert wird. Verglichen mit der Kontroll-

gruppe erfuhren die Meditierenden einen etwas erhöhten Anstieg des HKR, kehrten dann aber

schneller als die Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer der Kontrollgruppe zu den Ausgangs-

werten zurück. Das deutet darauf hin, dass die Meditierenden eine erhöhte Antwortrate auf nega-

tive Bilder hatten, aber schneller in der Lage waren, die Bilder „loszulassen“ und zu einem Zustand

mentaler Ruhe und Ausgeglichenheit zurückkehren konnten. Vermutlich engagieren sich diese

Subjekte nicht in Grübeleien, die die Dauer ihrer autonomen Erregung verlängern würde (Lazar

2009, S 330).

4.6 Liverpooler Arbeitsmodell zu den Wirkmechanismen

Im Lauf der letzten Jahre wurden achtsamkeitsbasierte Verfahren in das Repertoire psychologi-

scher Interventionen aufgenommen. Bisher wurden kaum die zugrunde liegenden Wirkmechanis-

men untersucht, obwohl diese sehr wichtig sind, um achtsamkeitsbasierte Methoden so gezielt

wie möglich zu gestalten, sodass sie in der jeweiligen Situation ihren Nutzen voll entfalten können

(z.B. wird ein Programm für Jugendliche mit ADHS andere Schwerpunkte aufweisen als Programme

zur Raucherentwöhnung).

Um entscheiden zu können, in welcher Situation welche Aspekte zu betonen sind, ist es unerläss-

lich zu verstehen, welche Faktoren wie an den Entwicklungsprozessen beteiligt sind, die auf Acht-

samkeitspraxis beruhen. Die Liverpooler Forschungsgruppe zu Meditation und Achtsamkeit hat

daher auf Grundlage folgender Definition die Wirkmechanismen von Achtsamkeit analysiert (Ma-

linowksi 2015, S 92):

„Das Herz der Praxis ist, eine nüchterne, beobachtende Geisteshaltung zu kultivieren, bei der alle

erscheinenden Gedanken und Gefühle als Geistesregungen erkannt werden, ohne ihnen eine be-

sondere Wirkung zuzuschreiben.“

Für die Untersuchung der Achtsamkeit und der Analyse der Wirkmechanismen werden von der

Liverpooler Forschungsgruppe vier unterschiedliche methodische Zugangsweisen verwendet:

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36 © Sonja Valady 2016

1. Studien zur dispositionellen Achtsamkeit: beschäftigen sich im Wesentlichen mit Acht-

samkeit als Persönlichkeitseigenschaft und damit, wie diese mit anderen Merkmalen, mit

Verhaltens- und Erlebnisweisen in Zusammenhang steht

2. Laborstudien: erforschen spezifische Hypothesen zur Wirkweise von Achtsamkeit

3. Gruppenvergleiche: um Unterschiede zwischen Meditierenden und Nicht-Meditierenden

herauszufinden

4. Längsschnittstudien: verfolgen, welche Auswirkungen Meditationspraxis über längere

Zeiträume hat

Studien zur dispositionellen Achtsamkeit stehen am Anfang im Vordergrund. Hier wird Acht-

samkeit als Persönlichkeitsmerkmal verstanden, die alle Menschen in gewissen Ausmaß be-

sitzen, unabhängig davon, ob sie Achtsamkeitsübungen ausführen. Anhand verschiedener

Fragebogen wird erfasst, wie achtsam eine Person im Alltag generell ist. Dafür wird von der

Liverpooler Forschungsgruppe häufig der Five Facet Mindfulness Questionnaire (FFMQ) ver-

wendet, der Achtsamkeit anhand von fünf Teilaspekten (Beobachten, achtsames Handeln, Be-

schreiben, Nichtwertende Bewusstheit, Nicht-Reagieren) definiert.

Exkurs: Messinstrumente zur Erfassung der Achtsamkeit13

Beim Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit (FFA) oder in der englischen Version Freiburg

Mindfulness Inventory gibt es eine Langversion mit 30 Items, sowie eine Kurzversion mit 14

Items. Der Fragebogen wurde ursprünglich für die Erfassung der Veränderung von Achtsam-

keit im Rahmen von Meditationsretreats entwickelt.

Das Kentucky Inventory of Mindfulness Skills (KIMS) erfasst das Beschreiben, Beobachten,

achtsame Handeln und das Akzeptieren ohne zu Urteilen anhand von 39 Items. Das primäre

Ziel bei der Entwicklung des KIMS war es, ein multidimensionales Inventar zu erstellen, das

möglichst alle relevanten Facetten von Achtsamkeit beinhaltet. Jede Facette von Achtsamkeit

sollte für sich identifiziert und gemessen werden können. Daneben sollte es psychosozial Tä-

tigen, die mit achtsamkeitsbasierten Verfahren arbeiten, mit dieser Skala möglich gemacht

werden, die jeweiligen Stärken und Schwächen ihrer Klientinnen und Klienten hinsichtlich des

Konstruktes Achtsamkeit in Erfahrung zu bringen. Ein weiteres Kriterium war es, ein Inventar

zu schaffen, welches für die Allgemeinbevölkerung ohne Meditationserfahrung leicht ver-

ständlich und zu bearbeiten war. Es sollte mit diesem Inventar die Achtsamkeit im alltäglichen

Leben gemessen werden, ohne dass ein Training oder Erfahrung vorausgesetzt wurde.

Der Five Facet Mindfulness Questionnaire (FFMQ) stellt eine Weiterentwicklung der multidi-

mensionalen Konzeptualisierung des KIMS dar und erfasst reliabel und valide fünf Facetten

der Achtsamkeit mit 39 Items (zu den ursprünglich vier Facetten des KIMS wird außerdem

noch die Facette Nichtreagieren auf innere Erfahrungen abgefragt) (vgl. Glück 2010, S 18).

13 Ein Selbsttest zur Ermittlung „Wie achtsam bin ich?“ steht z.B. vom TRIAS Verlag zum kostenfreien Download zur Verfü-

gung: https://www.thieme.de/de/gesundheit/achtsamkeitstest-15914.htm

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Mit der Mindfulness Attention and Awareness Scale (MAAS) liegt ein Fragebogen vor, der beson-

ders den Aspekt der Achtsamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick betont und mit 15 Items zu

erfassen versucht. Der Fokus des MAAS liegt auf der umfassenden Wahrnehmung der im Hier und

Jetzt vorhandenen inneren und äußeren Gegebenheiten, ohne auf zusätzliche Facetten (wie bspw.

Akzeptanz, Vertrauen, Empathie) einzugehen (vgl. Anderssen-Reuster 2011, S 323).

Im Gegensatz zur MAAS, versucht die Toronto Mindfulness Scale (TMS) Achtsamkeit mittels 15

Items im Sinne eines State zu erfassen. Hier steht im Mittelpunkt, inwieweit sich Achtsamkeit mit

Hilfe von Achtsamkeitsübungen verändert, d.h. der TMS-Score erhöht sich im günstigsten Falle

mit zunehmender Achtsamkeitserfahrung (vgl. Anderssen-Reuster 2011, S 323).

Exkurs Ende

Darüber hinaus wurden von Seiten der Liverpooler Forschungsgruppe in Laborstudien geprüft, ob

die experimentelle Beeinflussung von Achtsamkeit durch entsprechende Instruktionen einen di-

rekten, messbaren Einfluss auf Gefühlszustände sowie auf die Selbstwahrnehmung von Hunger

und Sättigung hat und wie sich das auf das Essverhalten auswirkt.

In einem Gruppenvergleich wurde die kognitive Flexibilität von Meditierenden, die mindestens ei-

nen 6-wöchigen Anfängerkurs in Achtsamkeitsmeditation besucht haben, untersucht. Im Ver-

gleich zu einer nichtmeditierenden Kontrollgruppe schnitten die Meditierenden bei der Bearbei-

tung des sogenannten Stroop-Tests deutlich besser ab. Bei diesem Test geht es darum, so schnell

wie möglich die Farbe zu nennen, in der ein Wort in einer Wörterliste gedruckt ist. Die Aufgabe

wird dadurch erschwert, dass es sich um Farbwörter handelt. In der Studie der Liverpooler Gruppe

machten die Meditierenden deutlich weniger Fehler, sie unterlagen dem Einfluss des automati-

schen Lesens viel weniger als die Kontrollgruppe. Zudem zeigte sich eine deutliche Korrelation mit

dispositioneller Achtsamkeit, die vorher mit einem Fragebogen erhoben wurde. Je achtsamer die

Probanden sich einschätzen, umso weniger Fehler machten sie in der Stroop-Aufgabe.

Querschnittsstudien geben zwar eine gute erste Orientierung, doch können sie keine gültigen

Aussagen über die Wirkmechanismen machen, da es durchaus sein kann, dass die gefundenen

Unterschiede andere Ursachen haben, die nicht direkt mit der Meditationspraxis im Zusammen-

hang stehen. Eine Alternativerklärung wäre z.B., dass Menschen, die bessere Aufmerksamkeitsfä-

higkeiten besitzen, sich eher für Meditation begeistern als Menschen mit einer weniger guten

Aufmerksamkeit. Unterschiede würden sich dann aufgrund unabhängig von der Meditationspraxis

bestehender Merkmale oder Eigenschaften zeigen.

Solche Zusammenhänge lassen sich nur durch kontrollierte Längsschnittstudien klären, bei denen

direkt beobachtet und gemessen wird, wie sich Meditationspraxis auswirkt. In einer Längsschnitt-

studie der Liverpooler Forschungsgruppe wurden daher 40 Freiwillige, die alle Achtsamkeitspraxis

erlernen wollten, per Los in eine Meditations- und eine Kontrollgruppe eingeteilt. Die Teilnehme-

rinnen und Teilnehmer in der Meditationsgruppe erhielten Anleitung in einer einfachen Meditation

der Achtsamkeit auf den Atem und die Anweisung, 16 Wochen lang täglich zehn bis fünfzehn

Minuten zu meditieren. Zudem nahmen beide Gruppen zu Beginn und zu Ende der Studie an einer

EDV-Version des Stroop-Tests teil.

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Während sie die Aufgaben bearbeiteten, wurde die elektrische Gehirnaktivität mittels EEG-

Messungen aufgezeichnet. Bei der Analyse der Veränderungen zeigten sich deutliche Unterschiede

zwischen Meditations- und Kontrollgruppe. Die EEG-Aufzeichnungen machen es möglich, genau

zu untersuchen, wie das Gehirn die dargebotenen Reize (in diesem Fall Farbwörter) verarbeitet. Es

wurde dabei festgestellt, dass sich die Reizverarbeitung durch Meditation veränderte und dass

Probanden als Resultat der Meditationspraxis die Farbwörter gezielter und effektiver mit fokus-

sierter Aufmerksamkeit wahrnahmen. Die Forschungsgruppe kam daher zu dem Schluss, dass die

Meditationspraxis zu einer effizienteren Verwendung kognitiver Hirnressourcen führte. Aufgrund

dieser Ergebnisse und anderen Befunden, geht diese Forschungsgruppe von einem Modell aus,

das Achtsamkeitspraxis im Zusammenhang mit Aufmerksamkeitsprozessen, Gefühlssteuerung

und kognitiver Flexibilität sieht. Diese Komponenten wirken sich wiederum auf die Wahrnehmung

der Umwelt sowie auf das Verhalten und Handeln im Alltag aus.

Das Liverpooler Arbeitsmodell zu den Wirkmechanismen beschreibt folgende Abbildung (vgl. Ma-

linowski 2015, S 96):

Abbildung 3: Liverpooler Arbeitsmodell zu den Wirkmechanismen der Achtsamkeitspraxis

Die bisherige Meditations- und Achtsamkeitsforschung liefert erste brauchbare Hinweise, in wel-

cher Weise Achtsamkeitsmeditation nützliche, alltagsrelevante Wirkungen entfaltet. Über die Stär-

kung und Verfeinerung von Aufmerksamkeitsprozessen, die Verbesserung der emotionalen Steu-

erung sowie die Zunahme an kognitiver Flexibilität werden verschiedene Aspekte des Erlebens

beeinflusst, sodass rationalere, weniger emotionsbeladene Entscheidungen möglich werden.

Erste Meditationsstudien zeigen, dass selbst recht kurze Perioden der Achtsamkeitspraxis das

seelische Wohlbefinden verstärken und dass Mitgefühlsmeditationen eine noch größere Wirkung

entfalten kann (vgl. Malinowski 2015, S 97).

Gefühlssteuerung Aufmerksamkeit Kognitive Flexibilität

Nichtwertende Bewusstheit Bewusstes Handeln

Verändertes Erleben

Zunehmende Flexibilität

Zunehmende Handlungsfreiheit

Achtsamkeitspraxis

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39

4.7 Wirkfaktorenspirale

Die verschiedenen in der Fachliteratur beschriebenen und in dieser Arbeit zusammengefassten

Wirkfaktoren von Achtsamkeit beeinflussen sich wechselseitig und verstärken sich gegenseitig.

Die unterschiedlichen Wirkmechanismen erklären auch die umfangreiche Anwendung: Bei depres-

siven Störungen steht der Umgang mit Gedanken im Vordergrund; bei Menschen mit einer Border-

line-Störung die Wirkmechanismen, die die Emotionsregulation verbessern; bei ADHS die Verbes-

serung der Aufmerksamkeitssteuerung und bei Angststörungen ist es die Erfahrungsorientierung.

Achtsamkeit wird längst störungsspezifisch angewandt, wenn auch betont werden muss, dass

noch ein intensiver Forschungs- und Entwicklungsbedarf besteht, um genauer herauszufinden,

wann und in welcher Form die Übungen und welche Intensität für den jeweiligen Hilfesuchenden

indiziert scheinen. In Abbildung 3 wird gezeigt, wie die verschiedenen Wirkfaktoren spiralmäßig

verbunden bzw. hierarchisch aufgebaut sind und die Wahrnehmung und Stärkung eines

Wirkfaktors in weiterer Folge zum Erreichen des nächsten Wirkfaktors führt. Wenn z.B. die

Körper- und Selbstwahrnehmung mittels Achtsamkeitsübungen verbessert wird, kann auch der

innere Beobachter besser wahrgenommen werden (Hammer et al. 2013, S 42):

Abbildung 4: Wirkfaktorenspirale

Anhand der verschiedenen Wirkfaktoren wird deutlich, dass Achtsamkeit zu einer heilsamen und

positiven Lebensführung beiträgt, und zwar völlig unabhängig davon, ob jemand krank oder ge-

sund ist. Daher ist das Konzept Achtsamkeit auch in der Lebens- und Sozialberatung sehr gut

anzuwenden und kann z.B. durch die Anleitung von konkreten Übungen (auch im Sinne einer

Hausaufgabe) im Klientenkontakt als Intervention eingesetzt werden.

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40 © Sonja Valady 2016

5 Achtsamkeit im Klientenkontakt

5.1 Achtsame Haltung psychosozial Tätiger

Achtsamkeit beinhaltet nicht nur gesundheitsfördernde Strategien, sondern zunächst eine Hal-

tung, die die psychosoziale Beraterin bzw. der psychosoziale Berater sich selbst und anderen Men-

schen gegenüber einnimmt. Der Begriff „Haltung“ gehört wohl mit zu den meisten benutzten Be-

griffen in der psychosozialen Arbeit. Dabei bleibt oft unklar, was damit verbunden und gemeint

ist.

Die gegenständliche Arbeit fokussiert sich ausschließlich auf die achtsame Grundhaltung psycho-

sozial Tätiger. Daniel Siegel (2012 zitiert in Knuf et al. 2013, S 47f) beschreibt mit dem Akronym

COAL vier zentrale Elemente einer achtsamen Haltung:

1. Neugierde (Curiosity),

2. Offenheit (Openness),

3. Annahme (Acceptance) und

4. Liebe (Love)

Darüber hinaus sind insbesondere folgende fünf Achtsamkeitsaspekte in einer Berater-Klienten-

Beziehung zu beachten (vgl. Knuf et al. 2013, S 47):

1. Gegenwärtig oder präsent sein,

2. Annehmend sein,

3. Mitgefühl aufbringen,

4. einen Sein-Modus wählen und

5. Offenheit oder Anfängergeist.

Gegenwärtig sein, wird dabei als das zentrales Element einer achtsamen Haltung gesehen, denn

alle weiteren sind nur dann möglich, wenn dieses überhaupt vorhanden ist. Gegenwärtig zu sein,

bedeutet in der psychosozialen Arbeit vor allem, dass die Fokussierung auf das Verbale, auf das

Gespräch immer mehr zurücktritt. Das Verbale ist vom Verstand geprägt, der sich in der Regel mit

der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt und somit mit der Gegenwart kaum verbunden

ist. In Achtsamkeitsansätzen spielt daher die Wahrnehmung des eigenen Körpers, der Gefühle

oder Sinnesreizen eine größere Rolle als das Verbale, da diese in der Gegenwart verankert sind.

Eine weitere Qualität der achtsamen Gegenwärtigkeit ist die Akzeptanz oder die Annahme, das

Nichtbewerten. Akzeptanz stammt vom lateinischen Wort „accipere“ ab, was so viel bedeutet wie

„empfangen, was gegeben wird“. Es meint, die gegenwärtige Situation zunächst so anzuerkennen,

wie sie ist. Annahme bezieht sich einerseits auf die äußere Situation, bspw. darauf, wie sich eine

Klientin bzw. ein Klient verhält und andererseits auf die inneren Empfindungen, die eine Person

hat.

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Es geht in einer achtsamen Haltung jedoch nicht darum, nicht mehr zu bewerten, sondern sich

dieser Bewertungen bewusst zu werden, sie durch Achtsamkeit langsam zu reduzieren und sie

nicht handlungsleitend werden zu lassen. Mit Annahme ist nicht gemeint, am anderen Menschen

alles zu mögen, sondern darum möglichst wenig Verurteilung für die verschiedenen – oft auch

einen Gesundheitsprozess hinderlichen – Verhaltensweisen der Klientinnen und Klienten zu haben.

Besonders in Krisenzeiten ist es hilfreich, wenn man sich von seinem Umfeld angenommen fühlt.

Annahme durch uns selbst und durch andere Menschen ist eine sehr kraftvolle Energie, die Ver-

änderung und Gesundung fördert.

Ein weiteres Element einer achtsamen Haltung ist das Mitgefühl anderen gegenüber. Wenn wir

wirklich achtsam sind, offen für den gegenwärtigen Augenblick, dann werden wir in der Begeg-

nung mit einem anderen Menschen auch von seinen Gefühlen und seinen Nöten berührt. Doch

Mitgefühl ist nicht einfach ein freundliches Verhalten, das erreicht wird, indem man negative Ge-

fühle zurückhält. Es ist vielmehr ein natürlicher Impuls des ausbalancierten Wesens, dem am Glück

der anderen gelegen ist, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Zum Mitgefühl gehören Fähigkeiten

wie Perspektivenwechsel und Rollenübernahme („Wie würde es mir ergehen, wäre ich in der Situ-

ation der Klientin/des Klienten?“). Ferner das Erkennen der Universalität menschlichen Leids, mit

dem nicht nur die Klientinnen und Klienten konfrontiert sind, sondern früher oder später jeder

Mensch. Die Reflexion der Gemeinsamkeiten mit der Klientin bzw. dem Klienten sowie die der

eigenen psychischen Schwierigkeiten verhindert die bewertende Aufspaltung in „wir Gesunde“ und

„ihr Kranke“, und erleichtert dadurch einen Wechsel in den mitfühlenden Modus. Mitgefühl mit den

Klientinnen und Klienten wird erst durch Selbstmitgefühl und einen liebevollen und annehmenden

Umgang mit sich selbst ermöglicht. Wollen psychosozial Tätige das Mitgefühl der Klientinnen bzw.

Klienten fördern, so können es bspw. Fragen sein: „Wie kritisch bin ich mit mir selbst? Kann ich

mir Fehler verzeihen? Kann ich liebevoll und wertschätzend mit mir selbst umgehen?“

Achtsamkeit bedeutet im Sein-Modus, wahrzunehmen was ist, ohne es verändern zu wollen. Es

wird eine Absicht der Absichtslosigkeit eingenommen. Eine bestimmte Situation, eine Empfindung,

ein Gefühl soll nicht verändert, sondern erst einmal wahrgenommen und angenommen werden.

Demgegenüber steht der Tun-Modus, der in unserer Gesellschaft sehr verbreitet ist. Der Tun-

Modus meint ein fast schon zwanghaftes Tun-Müssen im Sinne von Handeln. Der Tun-Modus

entwertet jedoch die Gegenwart: Die ist eben momentan nicht in Ordnung, was zur Unzufrieden-

heit führt. Erst wenn bspw. bestimmte Ziele erreicht sind, ist die Welt wieder in Ordnung.

Der Sein-Modus im Sinne der Achtsamkeit bedeutet eben, dass Veränderung nicht gezielt herbei-

geführt wird, sondern sich ereignet, wenn der Stress des Sich-verändern-Müssens aufhört. Dieser

Sein-Modus darf nicht mit Passivität verwechselt werden, denn in diesem Modus kann sehr viel

geschehen, und man selbst kann sehr aktiv werden. Die Handlung erfolgt jedoch nicht zwanghaft

und geplant, sondern vielmehr spontan und kreativ. Dem Impuls zur Handlung wird Zeit gegeben.

Die richtigen, stimmigen Aktivitäten können geschehen und ereignen sich eher, als dass sie ge-

macht würden. Im Sein-Modus muss nichts erzwungen werden, die Grenzen des Helfen-Könnens

werden gesehen und akzeptiert.

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Wer achtsam ist, ist offen für das, was gerade passiert. Daraus resultieren Offenheit, Neugierde

und ein Anerkennen dessen, was wir alles nicht wissen oder nicht verstehen. Im Buddhismus wer-

den diese Fähigkeiten auch als Anfängergeist bezeichnet. Expertinnen und Experten für den An-

fängergeist sind Kinder, die dem, was ist, offen und frisch begegnen. Das junge Kind ordnet eine

neue Situation nicht gleich in einem Raster ein („kenn ich eh schon, erinnert mich an…“), sondern

begegnet ihr unvoreingenommen. Eine Anfängerhaltung manifestiert sich darin, dass psychoso-

ziale Beraterinnen und Berater keine Erwartungen haben, keinen Plan, dass sie bereit sind, zu

lernen und sich offen mit Neuem konfrontieren.

Wie lässt sich eine achtsame Haltung im Klientenkontakt fördern?

Wie achtsam wir im Umgang mit unseren Klientinnen und Klienten sind, hängt davon ab, wie acht-

sam wir generell in unserem Leben sind und wie achtsam wir den bisherigen Tag verbracht haben.

Wie achtsam beginne ich meinen Tag? Springe ich beim Klingeln des Weckers aus dem Bett? Oder

kann ich den Tag mit Ruhe beginnen, bewusst duschen, achtsam meinen Tee oder Kaffee trinken?

Es ist hilfreich, sich Achtsamkeitsinseln vor und zwischen den Klientenkontakten zu schaffen, z.B.

eine kurze Atembetrachtung durchführen, bewusst einen Tee zu kochen oder zu trinken, ein Glas

Wasser achtsam anzubieten und somit kleine Gesprächspausen zu schaffen. Während des Klien-

tenkontakts gibt es zahlreiche Möglichkeiten, um die eigene Achtsamkeit und den inneren Be-

obachter aufrechtzuerhalten. Viele Fachpersonen praktizieren während einer Sitzung immer wie-

der kurze Atembeobachtungen. Einige Male bewusst den Atem wahrzunehmen hilft dabei, sich

wieder besser mit der Gegenwart zu verankern. Körperwahrnehmungsübungen eignen sich eben-

falls sehr gut: das Wahrnehmen, wie der Körper den Sessel berührt, wie sich der Körper gerade

anfühlt, ob wir entspannt sitzen. Oft ist es hilfreich, auch während des Klientenkontakts die Augen

kurz zu schließen und dadurch die innere Achtsamkeit zu erhöhen. Bei vielen Klientinnen und

Klienten ist es auch möglich, solche Übungen gemeinsam zu tun. Voraussetzung ist natürlich,

dass sie zuvor mit der Klientin/mit dem Klienten besprochen wurden.

Auch die Durchführung eines Wahrnehmungschecks während einer Sitzung kann helfen, die Acht-

samkeit zu stärken: „Welches Gefühl habe ich gerade? Welche Stimmung? Welche Gedanken sind

besonders stark, welche Körperempfindungen? Steht all das im Zusammenhang zur Klientin bzw.

zum Klienten oder sind es nur meine Empfindungen?

Eine große Herausforderung stellt sich an psychosoziale Beraterinnen und Berater, wenn sie wäh-

rend einer Sitzung von starken eigenen Gefühlen berührt werden, etwa Ärger auf die Klientin bzw.

den Klienten. Dann zeigt sich, wie gut geschult unser innerer Beobachter ist, ob wir in den Auto-

pilotenmodus schalten und unser Gefühl handlungsleitend werden lassen oder ob wird das Gefühl

achtsam wahrnehmen können, ohne zunächst etwas damit zu tun.

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Stattdessen sollten wir das Gefühl erkunden und dann entscheiden, wie sinnvoll damit umgegan-

gen werden könnte. Bspw. ist es oft so, dass sich hinter dem Ärger Gefühle von Überforderung

oder Hilflosigkeit verbergen. Diese dann wahrzunehmen und ggf. sogar anzusprechen, ist natür-

lich hilfreicher für den Klientenkontakt, als aus dem Ärger heraus zu reagieren. Je mehr wir uns

um Präsenz bemühen, desto früher nehmen wir unsere Gefühle wahr und umso leichter ist es

dann, uns nicht von ihnen bestimmen zu lassen.

Auch nach dem Klientenkontakt sollte Achtsamkeit nicht aufhören, sondern z.B. durch achtsames

Fenster öffnen, achtsames Notizen machen, weitergeführt werden, um so für den nächsten Klien-

tenkontakt in einer achtsamen Haltung zu verweilen. Spezielle Übungen für psychosoziale Bera-

terinnen und Berater zur Entwicklung von Konzentration und Achtsamkeit sowie Erweiterung von

Empathie sind im Anhang (Kapitel 8.4) nachzulesen.

An dieser Stelle wird ein Radio-Interview von Thich Nhat Hanh, einem vietnamesischen Achtsam-

keitslehrer, angeführt, dass die Essenz der Achtsamkeit zusammenfasst und verdeutlicht, warum

diese in der Arbeit als psychosoziale Beraterin bzw. Berater integriert werden kann (vgl. Hick, Bien

2010, S 19f):

„Achtsamkeit ist ein Teil des Lebens. Wenn Sie achtsam sind, sind Sie ganz lebendig, sind Sie ganz

anwesend. Sie können mit den Wundern des Lebens in Berührung kommen, die Sie stärken und

heilen können. Und Sie sind stärker, Sie sind ausdauernder, um mit dem Leiden in Ihnen selbst

und um Sie herum umgehen zu können. Wenn Sie achtsam sind, können Sie den Schmerz, den

Kummer in sich und um Sie herum erkennen, umarmen und verkraften … Und wenn Sie mit Kon-

zentration und Einsicht weitermachen, werden Sie fähig sein, das Leiden in sich zu verwandeln

und bei der Verwandlung des Leidens um Sie herum mitzuhelfen.“

5.2 Zum Wohlbefinden psychosozial Tätiger

Obgleich Achtsamkeit allgemeines Wohlbefinden zu verbessern scheint, können psychosozial Tä-

tige von Achtsamkeit aus dem einfachen Grund angezogen sein, weil sie sich mehr Freude an ihrer

Arbeit wünschen. Im psychosozialen Bereich Tätige haben die Wahl getroffen, menschlichen Zwie-

spalt und Verzweiflung beizuwohnen und in vielen Stunden des Tages zu teilen. Manchmal werden

wir von einer Klientin bzw. einem Klienten gefragt: „Wie machen Sie das bloß?“ „Wie bleiben wir

ruhig und mitfühlend?“

Lebens- und Sozialberatung auszuüben ist eine Gelegenheit, im Alltag Achtsamkeit zu praktizie-

ren. Der Praxisraum kann einem Meditationsraum gleichen, in den wir unsere Moment-zu-Mo-

ment-Erfahrung einladen, uns mit Offenheit und ganzem Herzen kennenzulernen. So wie der „Hel-

fende“ lernt, seine eigenen konditionierten Gedanken- und Gefühlsmuster, die in der Beratung

auftauchen, zu identifizieren, so kann die Klientin bzw. der Klient die gleiche Freiheit bei sich

entdecken.

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44 © Sonja Valady 2016

Die Umkehrung ist ebenfalls wahr; wir können vom Potential für Achtsamkeit bei unseren Klien-

tinnen und Klienten bewegt und inspiriert werden, unter Bedingungen, bei denen wir besonders

hart auf die Probe gestellt werden.

In den kommenden Jahren kann sich Achtsamkeitspraxis als ein wirksames Mittel für die Bildung

empirisch gestützter Beziehungsfertigkeiten erweisen. Das mag helfen, unseren Fokus auf die

Verbindung mit der Klientin bzw. dem Klienten zurückzulenken, denn hier können wir etwas zu

ihrer Verbesserung tun. Wie wir Interventionen planen, kann sogar von einem gemeinsamen Prin-

zip angeleitet sein, dem einfachen Wirkprinzip der Achtsamkeit (vgl. Germer et al. 2009, S 27f).

Um die Grundlagen von Achtsamkeit in der Klientenbeziehung einzubringen, gibt es für psycho-

sozial Tätige unterschiedliche Fort- und Ausbildungsmöglichkeiten - bspw. die HAKOMI-

Methode, das Karuna-Training - die im Folgenden näher beschrieben werden.

HAKOMI ist eine körperzentrierte und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapiemethode. Das

Besondere dieses Ansatzes ist die achtsame Erkundung von Erfahrung im Moment des Erlebens.

Das Wort HAKOMI, das aus der Sprache der Hopi-Indianer stammt und mit „Wer bist du?“ übersetzt

werden kann, drückt eine nicht wertende Haltung aus. Das Kernelement der HAKOMI-Methode ist

das Prinzip der Inneren Achtsamkeit sowie die Einheit von Körper und Geist (vgl.

http://www.hakomi-austria.at).

Das Karuna-Training ist eine Weiterbildung in kontemplativer Psychologie. Es verbindet die pro-

zessorientierte Arbeit westlicher psychologischer Schulen mit Erkenntnissen und Methoden aus

dem Buddhismus. In der kontemplativen Psychologie wird davon ausgegangen, dass Menschen

von Natur aus mit geistiger Gesundheit ausgestattet sind und dass die Ursache des Leidens, aber

auch der Schlüssel zu dessen Überwindung, in unserem Geist liegt. Verschiedene Methoden zu

Meditation, Achtsamkeit und Mitgefühl ermöglichen es, sich ohne Kampf in der Gegenwart zu

entspannen, um einen klaren, nicht impulsgesteuerten Blick auf die momentane Erfahrung werfen

zu können. Dadurch reduziert sich Stress und das bereits vorhandene, natürliche Potential an

Mitgefühl und Weisheit kann zutage treten. Diese Erfahrung und Haltung kann in der psychosozi-

alen Arbeit und im Klientenkontakt angewendet werden und somit Heilungsprozesse unterstützen

(vgl. http://www.karunatraining.at).

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6 Ergebnisse und Ausblick

Die Anzahl der Publikationen im Bereich der Achtsamkeitsforschung ist in den letzten zwei Jahr-

zehnten rasant gestiegen. Mittlerweile sind in der Datenbank PubMed über 2200 wissenschaftliche

Artikel registriert. Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass Achtsamkeitsmeditation zu positi-

ven Effekten führt. Sie wird deshalb zunehmend in psychotherapeutische Programme integriert.

Achtsamkeitsbasierte Interventionen werden unter anderem in der Behandlung von Angststörun-

gen sowie zur Rückfallprohylaxe bei wiederkehrenden depressiven Episoden erfolgreich einge-

setzt. Weitere Studien zeigen positive Effekte bei bipolaren Erkrankungen, Substanzabhängigkeit,

Essstörungen und bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Es wurde au-

ßerdem eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität bei verschiedenen körperlichen Erkran-

kungen festgestellt, z.B. bei chronischen Schmerzerkrankungen und Krebserkrankungen. Zudem

wurde gezeigt, dass Achtsamkeitsmeditation positive Wirkungen auf folgende gesundheitsbezo-

gene Variablen hat (Hölzel et al. 2015, S 9f):

eine verbesserte Funktion des Immunsystems,

reduzierte Blutdruckwerte und

Senkung des Cortisolspiegels.

Achtsamkeit wird nicht nur bei der Behandlung von Erkrankungen erfolgreich eingesetzt, es wurde

auch gezeigt, dass sie bei gesunden Menschen zu einer Erhöhung des psychischen Wohlbefindens

und zur Stressreduktion führt.

Die wissenschaftliche Untersuchung von Achtsamkeits- und Mitgefühlstrainings wird unternom-

men, um die Wirkmechanismen von heilsamer psychischer Veränderung allgemein zu erkunden

und Modelle der menschlichen Psyche, des Selbst und der Gefühlsregulation zu erstellen und zu

testen. Neurowissenschaftliche Studien zeigen bspw. grundlegende Prozesse auf, die an der Ver-

arbeitung von Emotionen beteiligt sind. Diese Studienbefunde enthalten Informationen darüber,

wie unser Geist funktioniert, und sie beschreiben Prozesse, von denen wir rückwirkend effektive

Interventionen für Trainingskurse in Achtsamkeit ableiten können. Die Erforschung von Achtsam-

keit dient somit nicht nur dem Zweck der Bewertung der Effektivität von derartigen Trainings,

sondern stellt darüber hinaus auch ein Instrument dar, um besser zu verstehen, auf welche Art

und Weise wir durch mentales Training zu einer besseren geistigen Gesundheit gelangen.

Im Laufe der letzten Jahre sind Hunderte von Einzelstudien und mehrere systematische Über-

sichtsarbeiten und Metaanalysen zur Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Verfahren erschienen,

wobei die Aussagkraft einzelner Studien für psychische Erkrankungen deutlich variiert. Der mitt-

lerweile vorliegende und überzeugende Nachweis, dass MBSR sehr hilfreich ist für die Bewältigung

verschiedener körperlicher Erkrankungen wie Fibromyalgie oder Krebs sowie in der Behandlung

verschiedener psychischer Störungen kann jedenfalls Hinweise auf die Wirkungen achtsamkeits-

basierter Herangehensweisen geben.

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6.1 Stand der Achtsamkeitsforschung

Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Studien zur empirischen Überprüfung achtsamkeitsbasierter

Ansätze und das Forschungsfeld wächst rasch. Im Folgenden werden zusammenfassend auf einige

zentrale Ergebnisse aus Übersichtsarbeiten und Metaanalysen hingewiesen (vgl. Michalak et al.

2012a, S 252ff).

6.2 Befunde aus klinischen Studien

Insgesamt gibt es konsistente Hinweise auf die Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter und -infor-

mierter Verfahren bei einer Vielzahl von körperlichen und psychischen Störungen. In Metaanalysen

zeigten sich u.a. folgende Befunde:

Bei der Reduktion von Angst- und Depressionssymptomen ergeben sich für MBSR und

MBCT mittlere Effektstärken14. Spezifiziert man die Analyse auf Patientinnen und Patien-

ten mit Diagnosen aus dem Bereich Angststörungen oder affektiven Störungen, ergeben

sich hohe Effektstärken.

In einer aktuellen Metaanalyse zur DBT ergab sich eine moderate globale Effektstärke

und darüber hinaus eine moderate Effektstärke für suizidales und selbstschädigendes

Verhalten.

Metaanalytische Befunde zu ACT ergaben ebenfalls mittlere Effektstärken. Dabei zeigte

sich keine Überlegenheit von ACT gegenüber etablierten Therapieansätzen.

Zusammenfassend wird deutlich, dass es mittlerweile eine breite Befundlage zur Wirksamkeit

achtsamkeitsbasierter und -informierter Therapieansätze gibt. Allerdings zeigt sich auch, dass die

Effektivität der Verfahren nicht größer ist als bei etablierten Therapieansätze. Es wäre daher emp-

fehlenswert, diese Verfahren vor allem bei schwierigen und chronischen Störungsverläufen einzu-

setzen. Bei solchen Klientinnen und Klienten könnten achtsamkeitsbasierte Interventionen eine

sinnvolle Alternative sein.

Außerdem ist zu bedenken, dass in den Primärstudien, die den Metaanalysen zugrunde liegen, die

Symptomreduktion erfasst wurde. Therapieverfahren wie ACT (aber mit Einschränkungen auch

achtsamkeitsbasierte Verfahren) sehen eine Symptomreduktion jedoch nicht als primäres Thera-

pieziel an. Im Vordergrund bei achtsamkeitsorientierten Konzepten steht die Unterstützung zur

Neuorientierung des Lebens (vgl. Michalak et al. 2012a, S 253).

14 Effektstärke (auch Effektgröße) bezeichnet die Größe eines statistischen Effekts. Sie kann zur Verdeutlichung der prakti-

schen Relevanz von statistisch signifikanten Ergebnissen herangezogen werden. Zur Messung der Effektstärke werden un-

terschiedliche Effektmaße verwendet (https://de.wikipedia.org).

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6.3 Befunde aus neurowissenschaftlichen Studien

Auch die neurowissenschaftliche Forschung befasst sich seit einigen Jahren mit den Effekten acht-

samkeitsbasierter Interventionen. Aus Überblicksartikeln von Cahn und Polich sowie Chiesa und

Serreti (zitiert in Michalak et al. 2012a, ebd.) geht beispielsweise hervor, dass Achtsamkeitspraxis

im Gehirn zu folgenden Veränderungen führt:

erhöhte Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit

Zunahme der Aktivität im präfrontalen Cortex sowie im ACC

erhöhte Konzentration der grauen Substanz in Hirnarealen, die für Aufmerksamkeits-

leistungen zuständig sind

weniger altersbedingte Abnahme der grauen Substanz in diesen Bereichen bei Personen

mit langjähriger Meditationserfahrung

Es wird in diesen Artikel zudem darauf hingewiesen, dass sich die neurowissenschaftliche For-

schung zu den Effekten achtsamkeitsbasierter Verfahren noch in ihren Anfängen befindet, und

dass diese Ergebnisse erst durch weitere und vor allem methodisch anspruchsvollere Studien

überprüft werden sollten.

Ebenfalls wird in der Fachliteratur betont, dass Längsschnittstudien erforderlich sind, um kausale

Wirkungen der Meditation auf die Hirnstruktur nachzuweisen.

6.4 Zukünftige Forschungsaufgaben und Conclusio

Obwohl die Anzahl der Publikationen in Bezug auf Achtsamkeit in der letzten Zeit sukzessive an-

steigt, steht noch einiges an wissenschaftlicher Arbeit an, um die Wirkungsweise und Effekte der

Achtsamkeitspraxis klarer nachzuvollziehen und hierzu sind insbesondere Längsschnittstudien

notwendig. Weiterführende Studien sollten dann vor allem die neurowissenschaftlichen Befunde

noch stärker mit den Veränderungen im Empfinden und im Verhalten der Meditierenden in Zu-

sammenhang bringen, um die bisherigen Ergebnisse bezüglich der Wirkmechanismen evaluieren

zu können (vgl. Hölzel et al. 2015, S 70).

Es gibt daher einige zukünftige Forschungsfragen, die noch intensiver zu bearbeiten sind (Lazar

2009, S 338):

Was sind die kurzzeitigen biologischen und psychologischen Wirkungen der Achtsamkeit

in der Meditation oder von Achtsamkeitsaugenblicken im Alltag? Gibt es bestimmte Ge-

hirnprozesse, die zu spezifischen klinischen Bildern gehören, die die Achtsamkeitspraxis

entweder verstärkt oder reduziert? Ergibt das Hinweise für klinische Interventionen?

Welche Langzeitwirkungen können wir sehen, physisch und psychisch? Auf welche Weise

verbessert Achtsamkeit die körperliche und psychische Gesundheit?

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Auf welche Weise verändert die Achtsamkeitspraxis die kognitiven Fähigkeiten oder den

kognitiven Stil einer Person, etwa in Hinblick auf die Aufmerksamkeit, der Emotionsregu-

lation, der Flexibilität oder der Reaktivität? Kommen konzeptuelle Veränderungen vor, wie

Einsicht in die Natur des Leides oder des Geistes? Können wir messen, ob sie Weisheit

entwickelt? Verlagern sich persönliche Werte durch die Praxis? Fühlt sich ein Praktizieren-

der mit der Welt generell mehr verbunden?

Verändert Achtsamkeit Verhalten? Wenn das der Fall ist, welches Verhalten und wie?

Zu den angeführten Fragen, gibt es schon eine Menge an aussagekräftigen Hypothesen oder Über-

blicksarbeiten, jedoch fehlen noch ausreichend kontrollierte Studien, um diese hinlänglich wis-

senschaftlich zu belegen.

Achtsamkeitsbasierte Verfahren enthält Techniken, die Klientinnen und Klienten direkt gelehrt

werden. Sind daher diese Achtsamkeitsinterventionen wirksamer als andere Techniken? Wenn ja,

welche Strategien funktionieren am besten für welche Art von Person und Bedingungen? Warum

können achtsamkeitsbasierte Interventionen erfolgreich sein? Wie viel Training sollte eine psycho-

soziale Beraterin bzw. ein psychosozialer Berater erhalten, um Achtsamkeit lehren zu können? Hat

der Grad des Trainings Auswirkung auf das Ergebnis?

Achtsamkeitsinformierte Verfahren beziehen sich vor allem auf den psychosozial Tätigen, der

selbst Achtsamkeit praktiziert und ein theoretisches Verständnis davon hat, wie Leid durch Acht-

samkeit gelindert wird. Diese Verfahren lehren jedoch den Klientinnen und Klienten nicht unbe-

dingt, wie man Achtsamkeit übt. Folgende Fragen in diesem Zusammenhang sind für zukünftige

Forschungsarbeiten relevant: Führt die Achtsamkeitspraxis des psychosozial Tätigen zu einem

verbesserten Therapieergebnis? Wenn ja, wie geschieht dies? Welcher Grad der Praxiserfahrung ist

erforderlich? Unterscheiden sich achtsamkeitsinformierte Beraterinnen und Berater wirklich von

anderen Beraterinnen/Berater? Wird ein bestimmter Beratertyp zur Meditation hingezogen? Welche

Beziehungsqualitäten verändern sich in der psychosozialen Beratung, wenn die beratende Person

Achtsamkeit übt?

Es gibt zwischenzeitlich viele Belege dafür, dass die willentliche Kontrolle der Aufmerksamkeit

durch Meditation neuropsychologische Wirkungen zeigt. Jedoch ist unklar, wie diese Mechanismen

direkt die geistige und körperliche Gesundheit betreffen, obgleich kognitive und physiologische

Modelle zum Verstehen beitragen. Meditationsübungen der Achtsamkeit haben ihren Nutzen für

die Gesundheit von Klientinnen und Klienten demonstriert und deren Wirkweise sollte daher auch

weiterhin sorgfältig untersucht werden (vgl. Lazar et al. 2009, S 340).

In Hinblick auf die Forschungsfragen der gegenständlich vorliegenden Arbeit können folgende

Conclusio gezogen werden.

Für die psychosoziale Beratung bzw. Lebens-und Sozialberatung können achtsamkeitsorientierte

bzw. –basierte Interventionen insbesondere in Bezug auf folgende Wirkmechanismen gesund-

heitsfördernd eingesetzt werden und zu einem besseren Wohlbefinden beitragen:

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Ausstieg aus dem Auto-Pilot-Modus (um z.B. einen flexibleren Umgang mit automatisier-

ten Reaktionen zu entwickeln),

die Verbesserung der Emotionsregulation (Achtsamkeit ermöglicht eine Haltung einzu-

nehmen, in der auch belastende Emotionen wahrgenommen werden können, ohne unmit-

telbar zu reagieren, sondern beobachtend zu verweilen),

die verbesserte Körperwahrnehmung (Achtsamkeitsübungen enthalten immer einen star-

ken Bezug auf den Körper)

Entspannung: Achtsamkeitsübungen ermöglichen eine Zunahme von Entspannung

Erhöhung des Selbstmitgefühls,

Förderung der achtsamen Haltung im Klientenkontakt.

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53

8 Anhang

8.1 Übung: Drei Minuten-Atemraum

1. Gewahrsein

Bringe dich selbst in den gegenwärtigen Augenblick, indem du mit Absicht eine aufrechte und

würdevolle Haltung annimmst. Wenn möglich, schließe deine Augen. Dann frage dich: „Was ist

meine Erfahrung genau jetzt. Der Gedanken, der Gefühle und der Körperempfindungen?“

Gestehe dir deine Erfahrung zu und halte sie fest, auch wenn sie ungewollt ist.

2. Sammlung

Dann richte deine ganze Aufmerksamkeit sanft auf den Atem, auf jedes Einatmen und Ausatmen,

so wie sie aufeinanderfolgen:

Dein Atem kann als Anker funktionieren, der dich in die Gegenwart bringt, und kann dir helfen,

dich in einen Zustand der Bewusstheit und Stille einzustimmen.

3. Ausweiten

Weite das Bewusstseinsfeld um deinen Atem herum so aus, dass er eine Empfindung des Körpers

als Ganzes, deine Haltung und deinen Gesichtsausdruck enthält (Segal, Williams & Teasdale 2002

S 184, Guilford Press zitiert in: Germer et al. 2012, S 176).

8.2 Übung: Den Tag beginnen

Aufwachen

Das Erste, was wir am Morgen nach unserem Aufwachen tun können, ist uns bewusst zu machen,

welches Geschenk das Leben uns bietet – das Geschenk von vierundzwanzig ganz neuen Stunden.

Wir werden uns bewusst, dass wir nun wach sind, dass wir atmen, dass es da draußen die Sonne

und den Himmel gibt und dass wir lebendig sind. Für all das können wir dankbar sein und uns

sagen:

Ich bin erwacht und sehe den blauen Himmel. Meine Hände lege ich dankbar zusammen.

Wir empfinden Dankbarkeit für das, was wir alles haben, und sind gewahr, dass wir im gegenwär-

tigen Moment mehr als genug Bedingungen vorfinden, um glücklich zu sein. Das ist sehr wichtig,

und diese Art der Bewusstheit ist ein guter Tagesbeginn (Hanh 2013, S 19).

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Sich anziehen

Das Anziehen gibt uns eine weitere Gelegenheit, uns achtsam auf den vor uns liegenden Tag vor-

zubereiten und uns damit anders zu verhalten, als wir vielleicht üblicherweise einen vollgepackten

Arbeitstag angehen. Oft wissen wir beim Anziehen gar nicht, was wir tun. Wir sind auf Autopilot

geschaltet. Folgende Worte können beim Anlegen jedes Mal vorgetragen werden und uns helfen,

unserer Handlungen mehr gewahr zu sein (vgl. Hanh 2013, S 22):

Während ich diese Kleidung anziehe, bin ich denen dankbar, die sie hergestellt haben,

wie auch den Materialen, aus denen sie gefertigt wurden.

Ich wünsche, dass alle Menschen genug zum Anziehen haben.

Zähne putzen

Wie viel Zeit verbringen Sie mit Zähneputzen? Eine Minute oder vielleicht zwei? Diese zwei Minuten

haben Sie, um Ihre Zähne so zu putzen, dass dadurch Freiheit und Freude möglich werden, ohne

gedanklich schon damit beschäftigt zu sein, was Sie danach tun werden. Schenken Sie dem Zäh-

neputzen Ihre volle Aufmerksamkeit. Sie könnten innerlich sagen:

„Ich stehe hier und putze meine Zähne. Ich habe Zahnpasta und eine Zahnbürste. Ich bin glücklich,

denn ich verfüge noch über Zähne, die ich putzen kann. Meine Praxis besteht darin, lebendig zu

sein, frei zu sein und mich am Zähneputzen zu erfreuen.“

Lassen Sie nicht zu, dass Sie gedanklich in der Vergangenheit steckenbleiben oder sich von Sorgen

über die Zukunft davontragen lassen. Hetzen Sie nicht. Genießen Sie es, sich die Zähne zu putzen.

Es ist eine Praxis, die Ihnen hilft, innere Freiheit zu gewinnen (vgl. Hanh 2013, 24).

8.3 Übung: Achtsamkeit bei der Arbeit

Raum zum Atmen

Es kann hilfreich sein, am Arbeitsplatz einen speziellen Bereich zu haben, der Sie daran erinnert,

achtsam zu atmen. Richten Sie sich einen schönen, ruhigen und entspannenden Ort in einer Ecke

Ihres Büros dafür her oder räumen Sie an Ihrem Schreibtisch eine Stelle für eine kleine Glocke oder

eine Blume frei. Betrachten Sie die Glocke oder Blume achtsam atmend immer wieder einmal.

Sitzen

Vielen von uns verbringen bei der Arbeit die meiste Zeit sitzend. Doch wie sieht es mit der Qualität

unseres Sitzens aus? Genießen wir es? Wir könnten einmal in der Stunde unsere Arbeit unterbre-

chen und, statt zu sitzen, um unsere Arbeit zu tun, um des Sitzens willen sitzen. Wir sitzen, nur

um uns am Sitzen und Atmen zu erfreuen, aus keinem anderen Grund. Dafür brauchen wir gar

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nicht viel zu verändern, und keiner unserer Kollegen wird bemerken, was wir tun. Wie können wir

nun in dieser Weise sitzen?

Sitzen Sie mit aufrechtem Rücken, aber nicht verkrampft. Lassen Sie die Luft frei in Ihren Körper

strömen und spüren Sie das Ausdehnen und Zusammenziehen der Bauchdecke. Ist Ihre Wirbel-

säule aufgerichtet und spüren Sie, dass Sie gerade sitzen, entspannen Sie den ganzen Körper

wieder. Dabei lassen Sie sich weder von Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft hinwegziehen

noch von Gefühlen der Wut, Sorge oder Eifersucht. Sie sitzen mit Körper und Geist vollständig da

– als ein freier Mensch. Wir sitzen, um glücklich zu sein. (vgl. Hanh 2013, S 42f).

Telefonieren

Jedes Telefongespräch kann zur Achtsamkeitspraxis werden. Wann immer das Telefon klingelt,

können Sie das als Glocke der Achtsamkeit nutzen, die Sie daran erinnert, innezuhalten in dem,

was Sie gerade tun, und zum gegenwärtigen Moment zurückzukehren.

Statt schnell zum Hörer zu greifen, atmen Sie zunächst dreimal achtsam ein und aus, um sicher-

zustellen, dass Sie wirklich da sind für den, der oder die Sie gerade anruft. Sie unterbrechen den

Gedankenstrom und kommen in den gegenwärtigen Moment zurück, wobei Sie jedes Gefühl von

Stress oder jeden Anflug von Ärger wahrnehmen (vgl. Hanh 2013, S 52).

8.4 Übungen für psychosoziale Beraterinnen und Berater

Konzentration

1. Nimm eine bequeme Haltung ein. Schließe deine Augen. Erlaube deinem Körper, vom Stuhl

gehalten und unterstützt zu werden. Notiere (geistig) die Empfindungen deines Körpers

im Kontakt mit dem Stuhl.

2. Bemerke, wie dein Atem sich schon von selbst bewegt.

3. Richte deine Aufmerksamkeit auf den Fluss des Atems an der Nasenspitze, wo er die Na-

senöffnungen berührt.

4. Wann immer deine Aufmerksamkeit wandert und du bemerkst, dass sie gewandert ist,

bringe deine Aufmerksamkeit zum Atemfluss an der Nasenspitze zurück.

5. Nimm dir Zeit für einige weitere Atemzüge, bevor du langsam deine Augen öffnest.

Achtsamkeit

1. Nimm eine bequeme Haltung ein. Schließe deine Augen. Erlaube deinem Körper, vom Stuhl

gehalten und unterstützt zu werden. Notiere (geistig) die Empfindungen deines Körpers

im Kontakt mit dem Stuhl.

2. Erlaube dem, was im Feld der Erfahrung auftaucht – Bilder, Töne, Empfindungen, Gefühle,

Gedankenformationen – zu kommen und zu gehen, sich frei zu bewegen.

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3. Dann bringe die Aufmerksamkeit zu dem, was im Erfahrungsfeld vorherrscht. Notiere dies

geistig und gib dem Gedankentyp, der entstehen kann, ein Wort, ein Etikett wie analysie-

ren, planen, erinnern, hören und so weiter.

4. Nimmt dir Zeit für einige weitere Atemzüge, bevor du die Augen öffnest (Germer et al.

2009, S 120).

Empathie zu einer neutralen Klientin bzw. einem neutralen Klienten

1. Nimm eine bequeme Haltung ein. Schließe deine Augen. Erlaube deinem Körper, vom Stuhl

gehalten und unterstützt zu werden. Bemerke die Körperempfindung, den Kontakt mit

dem Stuhl.

2. Entspanne deinen Bauch. Notiere, wie dein Bauch sich von allein bewegt. Folge dem Atem

für einige Augenblicke.

3. Schaff ein Bild oder einen „felt sense“ der Klientin bzw. des Klienten, für die/den du weder

starke positive noch negative Gefühle hast. Stell dir vor, diese Person sitzt dir gegenüber.

4. Jetzt stell dir vor, dass du dieser neutralen Person freundliche Gefühle zusendest.

Empathie zu sich selbst

1. Nimm eine bequeme Haltung ein. Schließe deine Augen. Erlaube deinem Körper, vom Stuhl

gehalten und unterstützt zu werden. Bemerke die Körperempfindung, den Kontakt mit

dem Stuhl.

2. Entspanne deinen Bauch. Notiere, wie dein Bauch sich von allein bewegt. Folge dem Atem

für einige Augenblicke.

3. Bring ein Bild oder eine Erinnerung ins Gedächtnis, das ein Gefühl der Freundlichkeit dir

selbst gegenüber bewirkt.

4. Jetzt sende freundliche Wärme zu diesem Bild oder der Darstellung deiner selbst.

5. Wenn deine Aufmerksamkeit wandert, kehre einfach zu diesem Bild von dir selbst zurück

und beginne von Neuem (Germer et al. 2009, S 130f).