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IW-Dossier: Der Arbeitsmarkt 1. Kapitel: Der Arbeitsmarkt im vergangenen Aufschwung Arbeitslosigkeit jenseits der Dauerkrise Nach fünf Krisenjahren hatte sich der Arbeitsmarkt in Deutschland in den vergangenen Jah- ren spürbar erholt. Im Januar 2006 fiel die Zahl der Arbeitslosen zum ersten Mal seit Mitte 2004 unter den Wert des Vorjahresmonats. Anders als zwei Jahre zuvor handelte es sich nicht um ein Strohfeuer, sondern um eine substantielle, andauernde Erholung. Seitdem ist die Zahl der Arbeitslosen um 2 Millionen auf zuletzt 3 Millionen zurückgegangen. Das Jahr 2008 lässt noch einmal sinkende Arbeitslosenzahlen erwarten, auch wenn der Rückgang nicht mehr so stark sein wird wie 2006/2007. Im Jahresdurch- schnitt 2007 sank die Arbeitslosenquote mit 9 Prozent auf das niedrigste Niveau seit 1993. Die neuerliche Entwicklung der Arbeitslosenzahlen hat auch eine andere Qualität. Bisher stieg die Arbeitslosigkeit zwar in einer Rezession stark an; in der darauf folgenden konjunkturellen Erho- lungsphase fiel sie aber nicht auf das Ausgangsniveau zurück. So entstand ein immer höherer So- ckel Arbeitsloser. Das Problem wurde scheinbar unaufhaltsam größer, wofür man den Begriff „Hysterese“ fand. Dieses Muster scheint nunmehr durchbrochen. Die Arbeitslosigkeit ist nicht nur auf das Niveau des letzten Aufschwungs der Jahre 1998 bis 2000 gesunken, sie geht sogar noch weiter zurück. Ob dies auch zu einer langfristig sinkenden strukturellen Arbeitslosigkeit führt, muss die zukünftige Entwicklung zeigen. Von struktureller Arbeitslosigkeit spricht man, wenn das Wirtschaftswachstum nicht zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit führt, z.B. weil Arbeitsplätze und Arbeitskräfte nicht zusammenpassen. Auch im internationalen Vergleich hat Deutschland Boden gutgemacht. Noch im Jahr 2005 zählte Deutschland zu den beschäftigungspoltischen Sorgenkindern Europas. Die harmonisierte Arbeitslo- senquote von hierzulande 9,5 Prozent wurde nur von den Transformationsländern Polen und der Slowakei deutlich übertroffen. Gemeinsam mit Frankreich, Griechenland und Spanien wies Deutschland die höchste Arbeitslosigkeit der alten EU-Mitgliedsländer auf. Zwar hatten früher auch andere Länder mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen, doch in vielen Staaten wurde dem Problem, trotz ähnlicher konjunktureller Voraussetzungen, mehr oder weniger erfolgreich begegnet. So hatten Dänemark und Großbritannien noch Anfang und Mitte der 90er Jahre Arbeitslosenquoten, die höher waren als in Deutschland zur Zeit der tiefsten Krise. Es gelang in diesen Ländern jedoch innerhalb einer Dekade, die Arbeitslosigkeit auf ein erträgliches Maß zurückzuführen. Ob dies auch an Rhein und Oder gelingt, bleibt offen. Nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland vergleichsweise hoch. Zumindest aber konnte der Rückstand zu den erfolgreicheren Nationen etwas verkürzt wer- den. Im Jahr 2007 lag die Quote in Deutschland mit 8,4 Prozent gut einen Prozentpunkt über dem Durchschnitt der Eurozone von 7,4 Prozent, im Herbst 2008 wurde der EU-25-Durchschnitt er- reicht.

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Populär geschriebene Publikationen, die sich mit aktuellen und kontroversen wirtschafts-, sozial- und bildungspolitischen Themen auseinandersetzen

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IW-Dossier: Der Arbeitsmarkt

1. Kapitel: Der Arbeitsmarkt im vergangenen Aufschwung Arbeitslosigkeit jenseits der Dauerkrise Nach fünf Krisenjahren hatte sich der Arbeitsmarkt in Deutschland in den vergangenen Jah-ren spürbar erholt. Im Januar 2006 fiel die Zahl der Arbeitslosen zum ersten Mal seit Mitte 2004 unter den Wert des Vorjahresmonats. Anders als zwei Jahre zuvor handelte es sich nicht um ein Strohfeuer, sondern um eine substantielle, andauernde Erholung. Seitdem ist die Zahl der Arbeitslosen um 2 Millionen auf zuletzt 3 Millionen zurückgegangen. Das Jahr 2008 lässt noch einmal sinkende Arbeitslosenzahlen erwarten, auch wenn der Rückgang nicht mehr so stark sein wird wie 2006/2007. Im Jahresdurch-schnitt 2007 sank die Arbeitslosenquote mit 9 Prozent auf das niedrigste Niveau seit 1993. Die neuerliche Entwicklung der Arbeitslosenzahlen hat auch eine andere Qualität. Bisher stieg die Arbeitslosigkeit zwar in einer Rezession stark an; in der darauf folgenden konjunkturellen Erho-lungsphase fiel sie aber nicht auf das Ausgangsniveau zurück. So entstand ein immer höherer So-ckel Arbeitsloser. Das Problem wurde scheinbar unaufhaltsam größer, wofür man den Begriff „Hysterese“ fand. Dieses Muster scheint nunmehr durchbrochen. Die Arbeitslosigkeit ist nicht nur auf das Niveau des letzten Aufschwungs der Jahre 1998 bis 2000 gesunken, sie geht sogar noch weiter zurück. Ob dies auch zu einer langfristig sinkenden strukturellen Arbeitslosigkeit führt, muss die zukünftige Entwicklung zeigen. Von struktureller Arbeitslosigkeit spricht man, wenn das Wirtschaftswachstum nicht zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit führt, z.B. weil Arbeitsplätze und Arbeitskräfte nicht zusammenpassen. Auch im internationalen Vergleich hat Deutschland Boden gutgemacht. Noch im Jahr 2005 zählte Deutschland zu den beschäftigungspoltischen Sorgenkindern Europas. Die harmonisierte Arbeitslo-senquote von hierzulande 9,5 Prozent wurde nur von den Transformationsländern Polen und der Slowakei deutlich übertroffen. Gemeinsam mit Frankreich, Griechenland und Spanien wies Deutschland die höchste Arbeitslosigkeit der alten EU-Mitgliedsländer auf. Zwar hatten früher auch andere Länder mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen, doch in vielen Staaten wurde dem Problem, trotz ähnlicher konjunktureller Voraussetzungen, mehr oder weniger erfolgreich begegnet. So hatten Dänemark und Großbritannien noch Anfang und Mitte der 90er Jahre Arbeitslosenquoten, die höher waren als in Deutschland zur Zeit der tiefsten Krise. Es gelang in diesen Ländern jedoch innerhalb einer Dekade, die Arbeitslosigkeit auf ein erträgliches Maß zurückzuführen. Ob dies auch an Rhein und Oder gelingt, bleibt offen. Nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland vergleichsweise hoch. Zumindest aber konnte der Rückstand zu den erfolgreicheren Nationen etwas verkürzt wer-den. Im Jahr 2007 lag die Quote in Deutschland mit 8,4 Prozent gut einen Prozentpunkt über dem Durchschnitt der Eurozone von 7,4 Prozent, im Herbst 2008 wurde der EU-25-Durchschnitt er-reicht.

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Arbeitslosigkeit: Licht am Ende des Tunnels

Westdeutschland Ostdeutschland Insgesamt Arbeits-

lose in 1.000

Arbeitslose in Prozent der zivilen Er-

werbspersonen

Arbeits-lose in 1.000

Arbeitslose in Prozent der zivilen Er-

werbspersonen

Arbeits-lose in 1.000

Arbeitslose in Prozent der zivilen Er-

werbspersonen 1991 1.596 1.006 2.602 1992 1.699 1.279 2.979 7,7 1993 2.149 1.270 3.419 8,9 1994 2.426 8,1 1.272 14,8 3.698 9,6 1995 2.427 8,1 1.185 13,9 3.612 9,4 1996 2.646 8,9 1.319 15,5 3.965 10,4 1997 2.870 9,6 1.514 17,7 4.384 11,4 1998 2.752 9,2 1.529 17,8 4.281 11,1 1999 2.605 8,6 1.496 17,3 4.100 10,5 2000 2.381 7,6 1.509 17,1 3.890 9,6 2001 2.320 7,2 1.532 17,3 3.853 9,4 2002 2.498 7,6 1.563 17,7 4.061 9,8 2003 2.753 8,4 1.624 18,5 4.377 10,5 2004 2.783 8,5 1.599 18,4 4.381 10,6 2005 3.247 9,9 1.614 18,7 4.861 11,7 2006 3.007 9,1 1.480 17,3 4.487 10,8 2007 2.486 7,5 1.291 15,1 3.776 9,0

Jahresdurchschnitte Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Arbeitslosenquoten – eine Frage der Definition Je nach Organisation werden die Arbeitslosenquoten unterschiedlich berechnet. Die Arbeitslosenquote ist definiert als Anteil der Arbeitslosen an den Erwerbspersonen. Die Er-werbspersonen umfassen alle Personen, die arbeiten wollen – unabhängig davon, ob sie Arbeit ha-ben oder nicht. Die Erwerbspersonen errechnen sich demnach aus den Erwerbstätigen (ohne Solda-ten) plus Arbeitslose.

igeErwerbstäteArbeitslos

eArbeitslosenquoteArbeitslos

+

=

Die Schwierigkeit besteht darin, dass Arbeitslose, aber auch Erwerbstätige unterschiedlich definiert und ermittelt werden können. Die Bundesagentur für Arbeit weist als Arbeitslosenzahl die bei den Arbeitsämtern registrierten Ar-beitslosen aus. Für den Arbeitslosigkeitsstatus ist es zwar erforderlich, dem Arbeitsmarkt und den Vermittlungsbemühungen der Arbeitsämter zur Verfügung zu stehen und auch eigene Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz zu unternehmen. Inwieweit diese Verpflichtung tatsächlich eingefor-dert wird, ist aber fraglich – insbesondere bei Arbeitslosen, die keine Lohnersatzleistungen erhalten. Zudem bleibt der Arbeitslosigkeitsstatus auch dann erhalten, wenn der Arbeitslose bis zu 15 Stun-den in der Woche arbeitet. Er taucht somit im Nenner der Quote doppelt auf, da er auch als erwerbs-tätig eingestuft ist. Eine Zäsur ergab sich mit der Einführung des Sozialgesetzbuches II im Jahr

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2005 („Hartz IV“). Ab diesem Zeitpunkt wurden auch arbeitsfähige ehemalige Sozialhilfeempfän-ger vollständig als arbeitslos erfasst, was die Arbeitslosenzahl aus rein statistischen Gründen nach oben trieb. Als Bezugsgröße im Nenner verwendet die Bundesagentur nicht die Erwerbstätigenzahl aus der Erwerbstätigenrechnung des Statistischen Bundesamtes, sondern eine eigens errechnete Größe aus verschiedenen Quellen, die einmal jährlich aktualisiert wird. Diese Bezugsgröße weicht mitunter deutlich von der in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ausgewiesenen Erwerbs-tätigenzahl ab. Zuweilen werden von der Bundesagentur noch zwei weitere Arbeitslosenquoten berechnet: Die Ar-beitslosenquote bezogen auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen weist im Nenner nicht die Erwerbstätigen, sondern nur die abhängig Beschäftigten (Angestellte, Arbeiter und Beamte) aus. Weil die Selbstständigen fehlen und der Nenner der Quote kleiner ist, resultiert daraus eine höhere Arbeitslosenquote. Zudem gibt es noch eine Arbeitslosenquote, die auf die sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten bezogen ist. Diese sind nur eine Teilmenge der abhängig Beschäftigten, da etwa Beamte und geringfügig Beschäftigte nicht der Sozialversicherungspflicht unterliegen. Diese beiden Varianten der Arbeitslosenquote werden verwendet, wenn strukturelle Informationen gefragt sind (z.B. die Arbeitslosenquote nach Geschlecht oder Beruf) oder in langen Zeitreihen. So wird die Arbeitslosenquote in Westdeutschland erst seit 1980 auf Basis aller Erwerbspersonen ausgewiesen, zuvor wurde nur die Quote auf Basis der abhängigen Erwerbspersonen berechnet. Eine gänzlich andere Berechnungsweise liegt den international vergleichbaren Arbeitslosenquoten nach Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zugrunde, die z.B. von der EU oder der OECD publiziert werden. Die Arbeitslosen werden dabei von den statistischen Ämtern per Um-frage ermittelt. Arbeitslos ist, wer sich als solches bezeichnet, nicht erwerbstätig ist, aktiv nach Ar-beit sucht und sofort verfügbar ist. Diese Definition von arbeitslos und erwerbstätig ist eindeutig: Wer auch nur eine Stunde in der Woche arbeitet, ist demnach erwerbstätig und kann nicht mehr ar-beitslos sein. Zwar bietet auch diese Methode keine Gewähr, dass die Betroffenen z.B. Fragen über eigene Suchbemühungen wahrheitsgemäß beantworten. Da aber die Befragung nicht mit Folgen für die Berechtigung zum Arbeitslosengeldbezug verknüpft ist, besteht eine größere Wahrscheinlichkeit einer ehrlichen Beantwortung. Problematisch war bislang die unterjährige Erhebung der solcherma-ßen definierten Arbeitslosigkeit. Denn Befragungen zum Erwerbsstatus unternahm das Statistische Bundesamt nur einmal jährlich im Rahmen des Mikrozensus, einer 1-Prozent-Stichprobe der deut-schen Haushalte. Für Monatswerte musste auf Schätzungen auf Basis der Zahl der registrierten Ar-beitslosen zurückgegriffen werden. Seit 2005 führte das Bundesamt monatlich eine Telefonerhe-bung durch, die dann Basis für die monatlichen Arbeitslosenzahlen nach ILO-Standard wurden. Im Jahr 2007 wurde dieses Konzept durch einen unterjährig erhobenen Mikrozensus ersetzt. Die Um-stellung der Methodik hatte einschneidende Auswirkungen. Nach Telefonerhebung lag die Arbeits-losenquote im April 2007 bei 6,6 Prozent. Nach Mikrozensus-Methodik waren es hingegen 8,5 Pro-zent. Die genauen Ursachen der enormen Diskrepanz werden noch erforscht.

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Arbeitslosenquoten im April 2007 in Prozent Nach Definition der Bundesagentur auf Basis aller Erwerbspersonen 9,5 Nach Definition der Bundesagentur auf Basis der abhängigen Erwerbspersonen 10,7 Nach Definition der ILO (Basis Telefonerhebung) 6,6 Nach Definition der ILO (Basis Mikrozensus) 8,5 Arbeitslosigkeit: Nicht überall ein großes Problem Arbeitslosenquoten in Prozent

1997 2007 Polen 10,9 9,6 Deutschland 9,4 8,4 Spanien 16,6 8,3 Frankreich 11,4 8,3 Belgien 9,2 7,5 Eurozone 10,5 7,4 Finnland 12,7 6,8 Italien 11,2 6,1 Schweden 9,9 6,1 Vereinigtes Königreich 6,8 5,3 Tschechien 4,8 5,3 Irland 9,9 4,6 Österreich 4,4 4,4 Dänemark 5,2 3,8 Niederlande 4,9 3,2

Quelle: OECD

Erwerbstätigkeit auf Rekordniveau Spiegelbildlich zum Abbau der Arbeitslosigkeit nahm die Zahl der Arbeitsplätze rapide zu. Im Herbst 2007 waren in Deutschland zum ersten Male überhaupt mehr als 40 Millionen Menschen erwerbstätig. Gegenüber dem Vorjahr ergibt sich ein beachtlicher Zuwachs von 670.000 Jobs oder um 1,7 Prozent. Eine derartige Steigerung hat es zuletzt im New-Economy-Boom im Jahre 2000 gegeben. Dass die Erwerbstätigkeit Rekordhöhen erreicht hat, lag allerdings nicht nur an der Dynamik des Aufschwungs. Die Entwicklung der Erwerbstätigkeit hat vielmehr nie die Krisensymptome gezeigt wie die Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Die Zahl der Erwerbstätigen stieg in jedem Boom deutlich an, ohne in der darauf folgenden konjunkturellen Schwächephase wieder auf das alte Niveau zurückzufallen – eine Hysterese unter umgekehrten Vorzeichen. Langfristig führt dieses Muster zu einer starken Ausweitung der Erwerbstätigkeit. In den vergangenen 35 Jahren sind in Westdeutschland rund 6 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Insbesondere der Aufschwung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre brachte viele neue Jobs. Dagegen fallen die Arbeitsmarktkrisen 1997 und 2003/2004 kaum ins Gewicht. Anders verlief die Entwicklung allerdings in den neuen

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Bundesländern. Hier gingen insbesondere nach dem Ende des New-Economy-Booms viele Arbeits-plätze verloren. Dafür, dass die Erwerbstätigkeit im Westen stark zunahm, sind im Wesentlichen zwei Faktoren ver-antwortlich: 1. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nahm in den 80er Jahren deutlich zu, als die geburten-starken Jahrgänge aus den 60er Jahren auf den Arbeitsmarkt drängten. Im Jahr 1970 gab es noch 38,8 Millionen Einwohner zwischen 15 und 65 Jahren, die potenziell erwerbstätig werden konnten. Im Jahr 1990 war diese Zahl auf 44,2 Millionen angestiegen. Am aktuellen Rand ist die Tendenz al-lerdings umgekehrt. Aus demografischen Gründen gehen dem Arbeitsmarkt jährlich rund 100.000 Erwerbspersonen verloren. Seit zwei Jahren kann dieser Verlust nicht mehr durch Zuwanderung und eine höhere Erwerbsbeteiligung kompensiert werden. Insofern könnte es sein, dass die Job-Erfolgsstory demnächst abbricht. 2. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung stellt seine Arbeitskraft zur Verfügung. Insbesondere die Erwerbsbeteiligung der Frauen stieg an. Im Jahr 1980 wollten lediglich 50 Prozent der Frauen arbeiten, heute sind es 66 Prozent. Demgegenüber ist die Erwerbsbeteiligung der Männer sogar leicht gesunken. In beiden Fällen bleibt aber festzuhalten: Für die Zunahme der Beschäftigung war in erster Linie die Zunahme der Nachfrage nach Jobs maßgeblich. Das Angebot an Arbeitsplätzen hat darauf flexibel reagiert. Die Job-Erfolgsstory Erwerbstätige in 1.000

Westdeutschland Ostdeutschland Insgesamt 1970 26.589 1971 26.710 1972 26.857 1973 27.181 1974 26.924 1975 26.248 1976 26.139 1977 26.198 1978 26.457 1979 26.968 1980 27.420 1981 27.453 1982 27.241 1983 26.993 1984 27.226 1985 27.608 1986 28.138 1987 28.531 1988 28.937 1989 29.480 1990 30.409 1991 31.261 7.360 38.621 1992 31.559 6.500 38.059 1993 31.215 6.340 37.555 1994 31.030 6.486 37.516

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1995 30.994 6.607 37.601 1996 30.950 6.548 37.498 1997 31.002 6.461 37.463 1998 31.440 6.471 37.911 1999 31.941 6.483 38.424 2000 32.704 6.440 39.144 2001 32.975 6.341 39.316 2002 32.856 6.240 39.096 2003 32.561 6.165 38.726 2004 32.704 6.176 38.880 2005 32.718 6.128 38.846 2006 32.921 6.167 39.088 2007 33.485 6.283 39.768

1991 bis 2006: Berlin nach früherer Verteilung West- bzw. Ostdeutschland zugeschlagen Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt, Arbeitskreis „Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder”

Fachkräfte sind weiter knapp Die rasante Erholung des Arbeitsmarktes hat mancherorts schon die Befürchtung aufkeimen lassen, dass Arbeitskräfte knapp werden könnten. In Teilen ist das der Fall. Ein allgemeiner Arbeitskräftemangel droht angesichts von immer noch 3 Millionen Arbeitslosen zunächst nicht, auch wenn von insgesamt rund eine Million unbesetzten Arbeitsplätzen ausgegan-gen werden muss. In ihrer Statistik wies die Bundesagentur für Arbeit für den November 2008 rund 539.000 gemeldete offene Stellen aus. Viele Betriebe suchen neue Mitarbeiter z.B. über Zeitungs-annoncen, Aushänge, Headhunter, das Internet etc. – oder sie nutzen persönliche Kontakte zur Ak-quise. Diese Stellenangebote tauchen in der Statistik der Bundesagentur nicht auf. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) führt jedoch für die Bundesagentur regelmäßig Untersu-chungen durch, die das gesamte Stellenangebot und den Anteil der gemeldeten Stellen daran ermit-teln sollen. Demnach waren im 3. Quartal 2008 genau 58 Prozent des gesamten Stellenangebotes gemeldet. Daraus ergibt sich eine Gesamtzahl von knapp einer Million offenen Stellen, wovon rund 800.000 dem ersten Arbeitsmarkt zuzuordnen sind. Bei dem Rest handelt es sich um geförderte Stellenangebote (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, 1-Euro-Jobs usw.). Die offenen Stellen verteilen sich sehr ungleich über Regionen und Berufe. Die meisten gemeldeten Offerten gibt es in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern. Dies liegt jedoch nicht allein an der Wirtschaftsentwicklung, sondern auch an der Größe dieser Länder. Wird die Zahl der Arbeitslosen auf die Zahl der offenen Stellen bezogen, lässt sich die Frage beantworten, wie viele Arbeitslose um einen Job konkurrieren. Zur besseren Vergleichbarkeit ist eine Beschränkung auf Stellenangebote auf dem ersten Arbeitsmarkt sinnvoll. Denn in einigen Ländern wie Bremen oder Berlin wird exzessiv Gebrauch von Beschäftigungsgelegenheiten auf dem zweiten oder dritten Ar-beitsmarkt gemacht – d.h. öffentlich geförderter Beschäftigung. In Bremen etwa sind nur 58 Prozent der Stellen reguläre Angebote, im Saarland 42 Prozent und in Berlin 31 Prozent. Demgegenüber sind in Baden-Württemberg und Hamburg über 80 Prozent der gemeldeten Stellen dem ersten Ar-beitsmarkt zuzuordnen. Die besten Chancen auf einen neuen Job haben die Bewohner Hamburgs. Hier ist rein rechnerisch nahezu für jeden Arbeitslosen eine Stelle vorhanden. Auch in Baden-Württemberg und Bayern sind die Aussichten gut. Ganz anders die Lage in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Im Osten der Republik bewirbt sich ein Dutzend Arbeitslose auf ein Angebot.

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Noch drastischer sind die Unterschiede, wenn man die Vakanzen nach Berufen ordnet. Die meisten offenen Stellen, nämlich 88.000, werden für Hilfsarbeiter angeboten. Gemessen an den über 500.000 beschäftigten Hilfsarbeitern ist das jedoch recht wenig. Und was auf den ersten Blick sehr wenig aussieht, kann bei näherem Hinsehen viel sein. So gibt es bundesweit 7 offene Stellen für Mineralaufbereiter – auf der anderen Seite sind aber auch nur 4.000 Arbeitnehmer in diesem Beruf beschäftigt. Umgekehrt arbeiten in Deutschland über 4 Millionen Bürofachkräfte – es liegt auf der Hand, dass es in diesem Bereich auch viele offene Stellen gibt. Auf den Bestand der offenen Stellen hat darüber hinaus die Fluktuation in einem Beruf großen Ein-fluss. Der Stellenbestand ist eine zeitpunktbezogene Größe. Er ist um so höher, je häufiger die Ar-beitnehmer in dem Beruf die Stelle wechseln. Deutlich wird dies zum Beispiel an den Gästebetreu-ern (Kellner u.ä.). Hier ist der Bestand der offenen Stellen auch im Verhältnis zur Zahl der Beschäf-tigten vergleichsweise hoch. Die Vakanzrate – der Anteil der offenen Stellen an der gesamten Ar-beitskräftenachfrage – beträgt 4,4 Prozent. Das ist deutlich mehr, als etwa bei den Bank- und Versi-cherungskaufleuten (0,6 Prozent). Die Vakanzrate reflektiert jedoch nicht einen Arbeitskräfteman-gel bei Kellnern, sondern lediglich die hohe Fluktuation in diesem Bereich. Da die Arbeitnehmer häufiger wechseln, muss eine Stelle auch häufiger neu besetzt werden. Eine geeignete Kennzahl zur Charakterisierung des Grades der Arbeitskräfteknappheit oder des Ar-beitskräfteüberschusses in einem Berufsfeld ist – wie schon bei der regionalen Betrachtung – die Zahl der Arbeitslosen je offene Stelle. Dadurch werden Arbeitskräfteangebot und -nachfrage glei-chermaßen berücksichtigt. Uneingeschränkt aussagekräftig ist jedoch auch diese Relation nicht. Denn es bieten ja nicht nur Arbeitslose ihre Arbeitskraft an, sondern auch Personen, die nicht als arbeitssuchend registriert sind. Das muss man bei allen Vergleichen berücksichtigen. Beispiel: Insbesondere in Metall verarbeitenden Berufen ist das Verhältnis von Arbeitslosen je of-fene Stelle aus Sicht der Arbeitnehmer günstig. Bei Drehern, Werkzeugmachern oder Schlossern kommen weniger als zwei Arbeitslose auf ein gemeldetes Stellenangebot. Da nur rund jedes zweite Stellenangebot gemeldet wird, zeigt eine Relation von zwei Arbeitslosen je offene Stelle einen aus-geglichenen Arbeitsmarkt an. Ein im Bundesdurchschnitt rechnerisch ausgeglichener Arbeitsmarkt bedeutet aber auch, dass es Regionen mit ausgeprägtem Fachkräftemangel gibt. In Baden-Württemberg existieren knapp 3.700 gemeldete offene Stellen für Schlosser, was auf eine Gesamt-zahl der Vakanzen von etwa 7.300 hindeutet. Diesem Arbeitsplatzangebot stehen im Ländle nur gut 2.100 arbeitslose Schlosser gegenüber. Ähnliche Befunde ergeben sich in Bayern und Hamburg. Auch wenn ein allgemeiner Arbeitskräftemangel in Deutschland nicht vorliegt – einen Fachkräfte-mangel in einzelnen Bereichen des Arbeitsmarktes und in einzelnen Regionen gibt es durchaus. Be-sonders davon betroffen sind Metall verarbeitende Berufe sowie Elektriker und Ingenieure. Dass es zu einem Fachkräftemangel kommen konnte, liegt auch an der geringen Neigung junger Menschen, einen Beruf in der Metall- und Elektro-Industrie zu erlernen. Trotz exzellenter beruflicher Perspek-tiven zieht es viele in Berufe mit deutlich schlechteren Aussichten. Dies trifft insbesondere für jun-ge Frauen zu. So zählen Arzthelferin oder Friseurin immer noch zu den beliebtesten Ausbildungsbe-rufen. Der Mangel an Ingenieuren hat Folgen auch für andere Berufe. Ohne sie finden viele Arbeitnehmer mit komplementären Qualifikationen keine Arbeit. Wo kein Ingenieur ist, der eine neue Maschine konstruiert, werden auch keine Arbeitskräfte gebraucht, die diese Maschine bauen, vermarkten, transportieren, warten oder bedienen.

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Nur jede zweite Firma schaltet die Agenturen ein Gemeldete und ungemeldete offene Stellen in 1.000

Gemeldete Stellen

Gesamtes Stellen-angebot

Meldequote in Prozent

1997 313 809 39 1998 382 1.100 35 1999 424 1.167 36 2000 484 1.383 35 2001 429 1.094 39 2002 366 1.001 37 2003 289 849 34 2004 241 729 33 2005 423 1.113 38 2006 609 1.371 44 2007 577 1.222 47

jeweils 4. Quartal Ursprungsdaten: IAB

Arbeitsmarkt: Hamburg leuchtet

Arbeitslose je gemeldete offene Stelle

Arbeitslose je gemel-dete und ungemeldete

offene Stelle Hamburg 3,3 1,4 Baden-Württemberg 4,0 1,7 Bayern 4,7 2,0 Hessen 6,3 2,7 Bremen 6,6 2,8 Rheinland-Pfalz 7,8 3,4 Schleswig-Holstein 8,9 3,8 Nordrhein-Westfalen 9,4 4,0 Niedersachsen 9,6 4,1 Saarland 10,3 4,4 Thüringen 14,8 6,3 Sachsen 16,2 7,0 Mecklenburg-Vorpommern 16,5 7,1 Berlin 22,6 9,7 Sachsen-Anhalt 24,0 10,3 Brandenburg 26,5 11,4

Oktober 2007; nur Stellen des 1. Arbeitsmarktes Ursprungsdaten: Bundesagentur für Arbeit, IAB

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Metaller gesucht Arbeitslose je gemeldete offene Stelle

Top Ten: Metallverformer (spanend), z.B. Dreher, Fräser, Schleifer

0,9

Metallverbinder, z.B. Schweißer 1,0 Werkzeugmacher 1,1 Feinblechner, Installateure 1,5 Elektriker 1,5 Schlosser 1,7 Ingenieure 2,1 Former, Formgießer 2,1 Wasser- und Luftverkehrsberufe, z.B. Nautiker, Piloten

2,1

Mechaniker 2,5 Flop Ten: Lagerverwalter, -arbeiter 10,0 Geistes- und naturwissenschaftliche Berufe, z.B. Soziologen, Historiker, Biologen

10,1

Dienst- und Wachberufe 10,2 Textilverarbeiter 11,4 Speisenbereiter 11,6 Bürofachkräfte 11,8 Warenkaufleute 13,2 Künstler 14,3 Metallverformer (spanlos), z.B. Presser, Stanzer 18,5 Reinigungsberufe 23,8

Oktober 2007; nur Berufe mit mehr als 50.000 Beschäftigten Ursprungsdaten: Bundesagentur für Arbeit

Wer von der Arbeitsmarkterholung profitiert hat Auch die Problemgruppen des Arbeitsmarkts profitierten vom Aufschwung. Kennzeichnend für die Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahrzehnte war die schwierige Lage der sogenannten Problemgruppen: Jüngere, Ältere und Geringqualifizierte wurden immer häu-figer arbeitslos. Daran konnten auch zahlreiche teure Arbeitsmarktprogramme nichts ändern. Zu-mindest für einen Teil der Problemgruppen hat sich dieses Muster im vergangenen Aufschwung nicht fortgesetzt: Ältere. Sie haben es auf dem deutschen Arbeitsmarkt seit jeher schwer. Ihre Arbeitslosigkeit über-trifft die jüngerer Altersgruppen deutlich. Erstaunlich ist, dass dies in anderen Ländern nicht der Fall ist. Dort ist es zumeist umgekehrt: Ältere sind längst nicht so oft arbeitslos wie Jüngere. Nicht zuletzt diese Beobachtung weckt Zweifel an der lange Zeit vertretenen These, dass die Unterneh-men in Deutschland einem Jugendwahn verfallen seien, der in der Diskriminierung Älterer münde. Erklärungsbedürftig ist, warum sich deutsche und ausländische Unternehmen in Deutschland in die-ser Hinsicht anders verhalten als Unternehmen (darunter auch deutsche) in anderen Ländern. Plau-

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sibler als die Diskriminierungsthese ist die Vermutung, dass die Arbeitsmarktprobleme Älterer et-was mit den hierzulande herrschenden Rahmenbedingungen zu tun haben. Dafür spricht auch eine zweite Beobachtung – nämlich die, dass sich die Arbeitsmarktlage der Älte-ren seit dem Ende der 90er Jahre wieder verbessert. Mitte der 90er Jahre wurden verschiedene Ren-tenreformen beschlossen, die z.B. das Rentenzugangsalter für Frauen angehoben und den vorzeiti-gen Renteneintritt wegen Arbeitslosigkeit erschwert haben. Auch die Abschläge für einen vorzeiti-gen Rentenbeginn wurden erhöht. Wegen langer Übergangsfristen wurden diese Reformen erst En-de der 90er Jahre wirksam. Die Strategie, den vorzeitigen Abschied aus dem Erwerbsleben weniger attraktiv zu machen, ging auf: Im Jahr 1999 wollten nur 56 Prozent der über 50-Jährigen arbeiten. Im Jahr 2007 stieg dieser Anteil auf 68 Prozent. Die jahrelange staatliche Subventionierung des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben erwies sich als schwerer Fehler. In der Hoffnung, mit dem Abgang der Älteren Arbeitsplätze für Jüngere frei zu machen, wurden den Sozialversicherungen riesige Lasten aufgebürdet, die von den Beschäftigten bezahlt werden mussten. Die daraus resultierende Verteuerung des Faktors Arbeit hat zur Entstehung von Arbeitslosigkeit beigetragen. Darüber hinaus wurde Älteren der Anreiz ge-nommen, sich nach dem Verlust des Arbeitsplatzes eine neue Beschäftigung zu suchen. Diese An-reizproblematik spiegelt sich in der geringen Konzessionsbereitschaft Älterer wider, sich auf einen neuen Job einzulassen. Erst allmählich ändert sich dies wieder. Allerdings existieren immer noch zahlreiche Anreize zur Frühverrentung, z.B. durch Altersteilzeit oder das „Arbeitslosengeld unter erleichterten Voraussetzungen“ (auch: „58er-Regelung“), das jedoch Anfang 2008 auslief. Das Argument, der Arbeitsmarkt könne gar keine weiteren Arbeitskräfte verkraften, sticht nicht. Denn der Anteil der älteren Erwerbstätigen an der erwerbsfähigen Bevölkerung stieg seit 1999 von 48 auf 61 Prozent. Die meisten davon fanden einen Job als Arbeitnehmer; der Anteil der abhängig Erwerbstätigen kletterte von 40 auf 52 Prozent. Der reguläre Arbeitsmarkt ist offenbar aufnahmefä-higer, als so mancher denkt. Das zeigt auch die Tatsache, dass die Zahl der Teilnehmer an arbeits-marktpolitischen Maßnahmen unter dem Strich zurückgegangen ist. Zwar befinden sich in jüngster Zeit 67.000 Ältere in 1-Euro-Jobs, doch dafür sank z.B. die Zahl der Älteren in anderen Formen der geförderten Beschäftigung seit 1999 um über 80.000, die der Teilnehmer an Weiterbildungsmaß-nahmen noch einmal um 16.000. Die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld, die nach der „58er-Regel“ dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen müssen, hat sich in den vergangenen vier Jahren kaum geändert. Mithin hat die Erschwerung der Frühverrentung auch zu einer stärkeren Erwerbstätigkeit Älterer beigetragen. Insbesondere vom vergangenen Aufschwung haben Ältere stärker als Jüngere profitiert: Während 2007 die Zahl der unter 50-jährigen Arbeitslosen um 16,0 Prozent sank, nahm die der über 50-Jährigen um 17,4 Prozent ab. Bei den über 55-Jährigen war sogar ein Rückgang um 20,2 Prozent zu beobachten. Auch für diese Erholung könnte eine Reform ausschlaggebend gewesen sein. Denn mit Wirkung zum Februar 2006 wurde die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, die bis dahin für Ältere bis zu 32 Monate betrug, auf höchstens 18 Monate begrenzt. Dadurch rechnete es sich für viele nicht mehr, nach dem Verlust des Arbeitsplatzes erst einmal die Hände in den Schoß zu legen, um dann in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen. An dieser Stellschraube wurde jedoch zuletzt wieder gedreht und die Höchstbezugsdauer auf 24 Monate verlängert. Darüber hinaus ist die nach Auslaufen des Arbeitslosengeldanspruchs gezahlte Arbeitslosenhilfe mit Inkrafttreten der Hartz-IV-Reform zugunsten des Arbeitslosengeldes II abgeschafft worden. Dieses sieht aber im Vergleich zur Arbeitslosenhilfe eine stärkere Anrechnung von Partnereinkom-men und Vermögen vor. Insofern ist es für viele ältere Arbeitslose attraktiver, eine neue Beschäfti-gung auch bei ungünstigen Bedingungen anzunehmen.

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Ältere Arbeitslose: In Deutschland eine große Gruppe Arbeitslose im Alter von 55 bis 64 Jahren in Prozent der zivilen Erwerbspersonen

Italien 2,4 Irland 2,6 Österreich 3,0 USA 3,1 Vereinigtes Königreich 3,3 Japan 3,4 Belgien 3,8 Schweden 3,9 OECD-Durchschnitt 4,1 Niederlande 4,1 Dänemark 4,2 Spanien 5,9 Frankreich 6,6 Deutschland 11,8

Stand: 2007 Ursprungsdaten: OECD

Hoffnung für Ältere Arbeitslose ab 50 Jahren in 1.000

in Prozent aller Arbeitslosen

1992 810 27,2 1993 981 28,7 1994 1.076 29,0 1995 1.140 31,6 1996 1.227 30,9 1997 1.335 30,4 1998 1.367 31,9 1999 1.361 33,2 2000 1.259 32,4 2001 1.163 30,2 2002 1.098 27,0 2003 1.094 25,0 2004 1.080 24,6 2005 1.210 24,9 2006 1.161 25,9 2007 987 26,1

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Langzeitarbeitslosigkeit. Sie ist ein in Deutschland besonders ausgeprägtes Phänomen. Fast 40 Prozent aller Arbeitslosen sind hierzulande schon über ein Jahr auf Arbeitssuche. Wird die interna-tional standardisierte Definition von Arbeitslosigkeit zugrunde gelegt, sind es sogar 57,2 Prozent. Im Vergleich zu anderen Ländern rangiert Deutschland damit auf einem der hintersten Plätze. Ein höherer Wert findet sich nur noch in der Slowakei. Selbst in Frankreich, einem Land mit sonst gro-ßen Arbeitsmarktproblemen, gibt es weniger Langzeitarbeitslose. In Schweden liegt der Anteil da-gegen unter 20 Prozent, in den USA und in Kanada sogar unter 10 Prozent. Langzeitarbeitslosigkeit

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ist besonders problematisch, da die Betroffenen weitgehend unabhängig von ihrer formalen Qualifi-kation oftmals nur noch für Tätigkeiten im Niedriglohnbereich einsetzbar sind. Vorhandene Fähig-keiten und Fertigkeiten erodieren im Laufe der Arbeitslosigkeit, da sie nicht ständig auf dem Lau-fenden gehalten werden. Im Extremfall gehen sogar grundlegende soziale Kompetenzen verloren wie die Fähigkeit, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Der Versuch, die Langzeitarbeitslosen durch arbeitsmarktpolitische Weiterbildungsmaßnahmen wieder „aufzubauen“, erweist sich häufig als ein teurer und zudem ineffektiver Weg. Ähnliches gilt für Menschen mit geringen formalen Qualifikationen. Auch sie sind in der Regel nur für Tätigkeiten im Niedriglohnsektor einsetzbar. Denn die individuelle Produktivität – und damit die Entlohnung – steigt tendenziell mit den Fähigkeiten, die üblicherweise durch formale Abschlüs-se dokumentiert sind. Geringqualifizierte sind deutlich häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als Menschen mit besserer Ausbildung. Im Jahr 2005 betrug die Arbeitslosenquote von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung 26 Prozent und damit fast das Dreifache der Quote von Personen mit einer Lehre (10 Prozent). Akademiker dagegen sind nur zu 4 Prozent arbeitslos. Diese spezifischen Arbeitsmarktprobleme resultieren aus mehreren Entwicklungen. Erstens sorgt der technische Fortschritt dafür, dass einfache Tätigkeiten in zunehmendem Maße und zu geringe-ren Kosten von Maschinen übernommen werden können. Zweitens bewirkt die Globalisierung, dass einheimische Arbeitskräfte mit Beschäftigten anderer Ländern konkurrieren müssen – entweder di-rekt durch Standortkonkurrenz oder indirekt durch Warenimporte. Geringqualifizierte weisen keine speziellen Fähigkeiten auf und müssen in stärkerem Maße über den Lohn konkurrieren, was ange-sichts der Wettbewerber aus Niedriglohnländern nur wenig Aussicht auf Erfolg bietet. Drittens be-wirkt das Niveau der sozialen Sicherung, dass der finanzielle Anreiz, einer gering bezahlten Tätig-keit nachzugehen vergleichsweise gering ist. Diese Faktoren bewirkten, dass vorrangig die Gering-qualifizierten in Deutschland von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte sind häufig Arbeitslosengeld-II-Bezieher. Bei den Langzeitarbeitslosen ist dies definitionsgemäß wahrscheinlich, da ein Anspruch auf Arbeitslosen-geld I in der Regel nur für 12, höchstens aber für 24 Monate besteht. Geringqualifizierte können zwar auch Arbeitslosengeld I bekommen, haben aber häufig nicht lange genug gearbeitet, um einen Anspruch darauf zu besitzen. Oder sie brauchen ergänzende Transfers, um mit der Familie über die Runden zu kommen. Die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger ohne Job – daneben gibt es Bezieher, die ein geringes Einkommen aufgestockt bekommen – nahm von November 2007 bis November 2008 um rund 280.000 auf 2,1 Millionen ab. Dies entspricht einem Rückgang von 12 Prozent. Insofern haben auch Arbeitslosengeld-II-Empfänger von der Arbeitsmarkterholung profitiert. Insgesamt verharrte die Zahl der Leistungsempfänger lange Zeit bei rund 5 Millionen. Denn es stieg die Zahl der Erwerbstätigen, die ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen, da ihr Erwerbseinkommen nicht den Bedarf deckt. Im Juli 2008 waren knapp 1,4 Millionen Erwerbstätige auf ergänzende Transfers angewiesen, in der Mehrzahl Teilzeitbeschäftigte. Dies waren 500.000 mehr als im Sep-tember 2005. Erst im Herbst 2008 sank dann die Zahl der ALG-II-Empfänger deutlich.

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ALG-II-Empfänger: Jetzt unter 5 Millionen Arbeitslosengeld-II-Empfänger in 1.000

2005 Januar 4.502 Februar 4.658 März 4.786 April 4.921 Mai 4.967 Juni 5.017 Juli 5.063 August 5.118 September 5.153 Oktober 5.178 November 5.193 Dezember 5.224 2006 Januar 5.299 Februar 5.391 März 5.469 April 5.482 Mai 5.477 Juni 5.442 Juli 5.416 August 5.406 September 5.363 Oktober 5.329 November 5.310 Dezember 5.311 2007 Januar 5.350 Februar 5.404 März 5.425 April 5.402 Mai 5.362 Juni 5.311 Juli 5.281 August 5.242 September 5.185 Oktober 5.155 November 5.110 Dezember 5.098 2008 Januar 5.135 Februar 5.167 März 5.165 April 5.142 Mai 5.100 Juni 5.054 Juli 5.021 August 4.991 September 4.898 Oktober 4.860 November 4.779

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

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Regionen. Der Arbeitsmarkt lief in einigen Regionen gut – in anderen hätten die Fortschritte größer sein können. So fehlt in Baden-Württemberg und Bayern mit einer Arbeitslosenquote von jeweils 5 Prozent nicht mehr viel an der Vollbeschäftigung. Ganz anders in den neuen Bundesländern: Hier sind im Durchschnitt rund 14 Prozent der Erwerbspersonen arbeitslos. Die größten Fortschritte im Jahr 2007 konnten ebenfalls in den beiden süddeutschen Ländern verbucht werden. Hier ging die Zahl der Arbeitslosen um jeweils über 20 Prozent zurück. Die geringsten Fortschritte gelangen in Sachsen-Anhalt, dem Saarland und Brandenburg, wo die Arbeitslosigkeit nur um rund 10 Prozent abnahm. Noch größer als zwischen den Bundesländern sind die Differenzen zwischen den Agenturbezirken. Auf dieser Ebene reicht die Spannbreite der Arbeitslosenquoten von 2,6 Prozent im bayerischen Freising bis zu 18,3 Prozent in Sangerhausen (Sachsen-Anhalt). Das Süd-Ost-Gefälle des deutschen Arbeitsmarktes wird auch hier sichtbar. In 18 der insgesamt 181 Agenturen liegt die Arbeitslosen-quote unter 4 Prozent, was faktisch Vollbeschäftigung signalisiert – davon liegen sieben in Baden-Württemberg und elf in Bayern. Die elf Agenturbezirke, in denen die Arbeitslosenquote höher als 15 Prozent ist, befinden sich ausnahmslos in Ostdeutschland. Der Bezirk in Westdeutschland mit der höchsten Arbeitslosigkeit ist Gelsenkirchen, das auf 14 Prozent kommt. Dabei wird im aktuellen Aufschwung die Kluft noch größer. Trotz eines geringen Niveaus der Arbeitslosigkeit konnte diese in den erfolgreichen Regionen im Zeitraum Oktober 2006 bis Oktober 2007 noch einmal deutlich gesenkt werden. So ging in Schwäbisch-Hall und in Memmingen, wo die Arbeitslosenquote rund 3 Prozent beträgt, die Zahl der Arbeitslosen jeweils um ein Drittel zurück. Zwar sank die Arbeitslo-sigkeit auch in Regionen mit überdurchschnittlichem Niveau, doch erreichte der Rückgang im all-gemeinen nicht den Bundesdurchschnitt. Die meisten neuen Arbeitsplätze entstanden in den großen Städten: In Hamburg und Berlin-Mitte waren es je 20.000, in München 18.000, in Frankfurt 16.000 usw. Dies liegt im Wesentlichen je-doch an der Größe der jeweiligen Bezirke. Bezogen auf den Ausgangswert war das Arbeitsplatz-Wachstum in den eher ländlichen Gebieten am größten: Passau plus 6,6 Prozent, Leer plus 6,1 Pro-zent, Fulda plus 5,9 Prozent, Deggendorf plus 5,5 Prozent. Größere Städte mit nennenswertem Zu-wachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung waren Berlin (Mitte), Potsdam, Leipzig, Es-sen und Dresden. Hier stieg die Zahl der Jobs um deutlich mehr als 3 Prozent. Lediglich vier Agen-turbezirke verzeichneten einen Rückgang der Beschäftigung: Gelsenkirchen, Wilhelmshaven, Of-fenbach und Helmstedt, das an der Verlagerung von Unternehmen in das benachbarte Sachsen-Anhalt leidet, wo Unternehmen noch häufig Subventionen erhalten. Im Süden fast Vollbeschäftigung Arbeitslosenquote in Prozent

2006 2007 Mecklenburg-Vorpommern 19,0 16,5 Sachsen-Anhalt 18,3 16,0 Berlin 17,5 15,5 Brandenburg 17,0 14,9 Sachsen 17,0 14,7 Thüringen 15,6 13,2 Bremen 14,9 12,7 Nordrhein-Westfalen 11,4 9,5 Hamburg 11,0 9,2 Niedersachsen 10,5 8,9 Schleswig-Holstein 10,0 8,4 Saarland 9,9 8,4

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Hessen 9,2 7,6 Rheinland-Pfalz 8,0 6,5 Bayern 6,8 5,3 Baden-Württemberg 6,3 4,9

Jahresdurchschnitte Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Die Qualität der neuen Jobs Die vielfach geäußerten Vorbehalte gegenüber den neu entstandenen Jobs sind nicht gerecht-fertigt. Die beschäftigungspolitischen Erfolge der jüngsten Vergangenheit sind unübersehbar. Die Erwerbs-tätigkeit legte von November 2005 bis November 2008 über 1,5 Millionen Personen zu. Trotz die-ses unbestreitbaren Fortschritts werden mitunter Zweifel geäußert, ob es sich bei dem Zuwachs an Beschäftigung um gewünschte Formen der Erwerbstätigkeit handele. So wird befürchtet, dass ein Großteil der neuen Jobs atypisch, prekär und nicht existenzsichernd sei, während „reguläre“ Be-schäftigung weiterhin abgebaut würde. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Befürch-tungen unbegründet sind. Im vergangenen Aufschwung entstand eine große Anzahl regulärer neuer Arbeitsplätze. Zudem zeigte sich, dass „atypisch“ nicht unbedingt bedeutungsgleich mit „prekär“ ist. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. In den vergangenen Jahrzehnten hatte die sozialver-sicherungspflichtige Beschäftigung stetig an Bedeutung verloren. Allein zwischen 2001 und 2005 wurden über 1,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs gestrichen. Die Zahl der Erwerbstäti-gen sank dagegen nur um knapp 700.000, weil die geringfügige Beschäftigung gestiegen ist. Die letzte Arbeitsmarkterholung war in dieser Hinsicht anders: Nicht nur die Erwerbstätigkeit, sondern auch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm stark zu. Im August 2007 war die Zahl der Erwerbstätigen um 634.000 höher als im entsprechenden Vorjahresmonat. Die sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigung wuchs im gleichen Zeitraum um 590.000, die Zahl der Selbstständi-gen um knapp 50.000. Die Bundesknappschaft weist für das 3. Quartal 2007 rund 200.000 geringfügig Beschäftigte mehr aus als ein Jahr zuvor. Der Zuwachs schließt allerdings Personen ein, die sich neben ihrem sozial-versicherungspflichtigen Haupterwerb noch den einen oder anderen Euro dazu verdienen. Die Bun-desagentur für Arbeit meldet einen Zuwachs von 66.000 Personen, die ausschließlich einen Minijob haben. Wenn also die Datenlage auch nicht ganz eindeutig ist, so lässt sich mit Sicherheit sagen, dass ein Großteil der neu entstandenen Erwerbstätigkeit aus sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-verhältnissen besteht. Das bedeutet erstens, dass die Sozialversicherungen von dem Aufschwung durch höhere Beitragseinnahmen profitieren. Wenn die Politik der Versuchung widersteht, die Leis-tungen durch neue soziale Wohltaten auszuweiten, können Beiträge gesenkt werden und somit noch mehr Jobs entstehen. Zweitens sind Befürchtungen unbegründet, dass die sozialversicherungspflich-tige Beschäftigung ein Auslaufmodell sei und es Arbeitnehmer in Zukunft nur noch in Form mo-derner Arbeitsnomaden gebe, die ihre Arbeitskraft auf Zeit für einzelne Projekte bereitstellen und im Übrigen selbst für ihre soziale Absicherung sorgen müssen. Der Aufschwung in den Jahren 2006 und 2007 spricht eher für eine gegenläufige Tendenz. Im letzten Boom 1998 bis 2000 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4,8 Prozent. Im gleichen Zeitraum entstanden 613.000 sozialversi-

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cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. In den Jahren 2005 bis 2007 kletterte das BIP nur um 4,2 Prozent – es entstanden aber schon 718.000 neue Jobs. Darüber hinaus begann der Arbeits-marktaufschwung erst 2006 und führte im Jahr 2008 noch einmal zu einer Ausweitung des Stellen-angebots. Im Ergebnis war der vergangene Aufschwung beschäftigungsintensiver als der New-Economy-Boom der Jahre 1998 bis 2000. Teilzeit. Sie spielt in Deutschland eine wichtige Rolle. Jeder vierte abhängig Erwerbstätige stuft sich als Teilzeitarbeitnehmer ein. Bei Frauen beträgt der Anteil sogar 44 Prozent. Teilzeit ist über-wiegend freiwilliger Natur – zumindest was die ökonomischen Faktoren betrifft. Nur 21 Prozent der Teilzeitbeschäftigten geben an, keine Vollzeitbeschäftigung gefunden zu haben. Rund die Hälfte arbeitet Teilzeit wegen persönlicher oder familiärer Verpflichtungen – die ihrerseits durchaus un-freiwilliger Natur sein können. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Ursächlich dafür ist in erster Linie die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen. Schon vor diesem Hintergrund ist es kaum vertretbar, Teilzeitbeschäftigung als uner-wünschte oder geringwertige Erwerbsform zu charakterisieren. In vielen Fällen entspricht sie den Arbeitzeitwünschen der Arbeitnehmer. Dort, wo Beschäftigte ihre Stundenzahl gerne ausweiten würden, stehen eher andere Hindernisse im Weg als ein Mangel an Vollzeitstellen. Dass Arbeits-zeitwünsche nicht erfüllt werden können, liegt vielmehr an mangelnden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Der letzte Aufschwung am Arbeitsmarkt war zwar in starkem Maße vom Wachstum der Teilzeitbe-schäftigung geprägt. Dies ist für eine konjunkturelle Belebung jedoch normal. Da Entlassungen in Deutschland mit hohen Kosten verbunden sind, versuchen Unternehmen zunächst, den zusätzlichen Arbeitsanfall über flexible Arbeitszeitmodelle aufzufangen. So können Entlassungen vermieden werden, falls die Auftragslage wieder schlechter wird. Reicht dies nicht aus, werden Überstunden und gegebenenfalls flexible Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung oder Zeitarbeit herangezogen. Erst wenn absehbar ist, dass der Aufschwung auch langfristig Bestand hat, wird neues Personal fest eingestellt. Dieses Muster war im Hinblick auf die Teilzeitarbeit auch im vergangenen Aufschwung zu beobachten. Im Juni 2006 war die sozialversicherungspflichtige Be-schäftigung um knapp 180.000 höher als im Vorjahr. Von den zusätzlichen Arbeitsplätzen entfielen 93 Prozent auf Teilzeitstellen. Dieser Anteil hat sich bis zum September 2007 auf 48 Prozent redu-ziert. Das heißt, rund die Hälfte der neu entstandenen Arbeitsplätze sind Vollzeitjobs. Beschäftigungsplus: Mehr Voll- als Teilzeit Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in 1.000

Vollzeit Teilzeit Insgesamt März 05 21.688 4.300 25.988 Juni 05 21.802 4.365 26.167 September 05 22.174 4.381 26.555 Dezember 05 21.784 4.410 26.194 März 06 21.494 4.432 25.926 Juni 06 21.815 4.530 26.345 September 06 22.292 4.568 26.860 Dezember 06 22.007 4.618 26.625 März 07 21.925 4.667 26.592 Juni 07 22.070 4.773 26.855 September 07 22.581 4.834 27.427 Dezember 07 22.352 4.861 27.224 März 08 22.304 4.909 27.225

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

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Existenzsichernde Arbeitsplätze. Ein häufig geäußerter Vorbehalt gegenüber den Arbeitsmarkt-wirkungen des Aufschwungs war, dass zwar durchaus Arbeitsplätze entstehen, diese aber nicht die Existenz der Arbeitnehmer sichern können, da der Lohn zu gering sei. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang gerne auf die wachsende Zahl derjenigen, die erwerbstätig sind und ergänzend Ar-beitslosengeld II erhalten, um den Bedarf des Haushalts decken zu können. Das Arbeitslosengeld II fungiert als eine Art Kombi-Einkommen: Wer so wenig verdient, dass er davon nicht leben kann, erhält ergänzende Leistungen, die das sozio-kulturelle Existenzminimum garantieren. Erwerbstätige erhalten zudem eine Prämie, so dass sie sich grundsätzlich besser stellen als Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die nicht arbeiten. Tatsächlich steigt die Zahl dieser sogenannten „Aufstocker“ an – von rund 950.000 Empfänger im September 2005 auf rund 1,4 Millionen im Juli 2008. Von den Erwerbstätigen mit ergänzendem ALG-II-Bezug sind rund zwei Drittel geringfügig be-schäftigt, sozialversicherungspflichtig teilzeitbeschäftigt oder in Ausbildung. Bei diesen Personen muss davon ausgegangen werden, dass sie ALG II bekommen, weil sie nicht lange genug arbeiten oder sich in Ausbildung befinden. Nun wäre es durchaus möglich, dass sie auch bei längerer Ar-beitszeit weiter ALG II benötigen, um über die Runden zu kommen. Vollzeitarbeit ist so vielleicht keine hinreichende, auf jeden Fall aber eine notwendige Bedingung dafür, mit dem Erwerbsein-kommen allein klar zu kommen oder die Armutsgrenze zu überschreiten. Von 100 Aufstockern sind 32 sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigt. Von diesen leben 25 in Bedarfsgemeinschaften mit mehreren Personen. Diese Bedarfsgemeinschaften hätten aber auch dann noch Anspruch auf ergänzende Transferleistungen bzw. wären auch dann noch arm, wenn ein vergleichsweise hoher Bruttostundenlohn gezahlt werden würde. Ein Alleinstehender benötigt bei Vollzeitarbeit einen Bruttostundenlohn von 6,50 Euro, um ein Einkommen zu erzielen, bei dem kein Anspruch mehr auf ergänzendes ALG II besteht. Eine allein erziehende Person mit einem Kind unter 14 Jahren benötigt dafür schon 10 Euro Bruttostundenlohn. Arbeitet die Person nur Teilzeit mit 25 Stunden die Woche, wären knapp 16 Euro erforderlich. Je größer der Haushalt ist, desto grö-ßer ist die Wahrscheinlichkeit, auch bei hohen Stundenlöhnen auf die Zuwendungen vom Amt an-gewiesen zu sein. Bei einer Familie mit zwei Kindern braucht ein Alleinverdiener schon 11,70 Eu-ro, um seinen Anspruch auf ALG II zu verlieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Bei den größe-ren Haushalten hilft ein höherer Stundenlohn nicht aus der Armut heraus – schon gar nicht, wenn nur Teilzeit gearbeitet wird. Nur bei 7 von 100 Aufstockern, die einerseits vollzeitbeschäftigt und auf der anderen Seite Singles sind, kann zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass der Transferbezug bzw. das Unterschreiten der Armutsgrenze Resultat niedriger Stundenlöhne ist. In diesen 60.000 bis 70.000 Fällen würde ei-ne Erhöhung des Stundenlohnes, z.B. durch einen Mindestlohn, auch zu einem Überschreiten der Armutsgrenze führen – immer vorausgesetzt, dass der Arbeitsplatz der Lohnerhöhung nicht zum Opfer fällt. Job plus ALG II So viel Prozent der Aufstocker arbeiten …

Vollzeit Teilzeit/geringfügig beschäftigt Alleinstehende 7,1 22,8 Alleinerziehende 2,5 10,6 Paare ohne Kinder 8,1 11,6 Paare mit Kindern 14,0 14,9 Insgesamt 31,7 59,9

Rest: Ausbildung, Sonstige; Stand: September 2005 Ursprungsdaten: IAB

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Zeitarbeit. Die arbeitsmarktpolitischen Erfolge der vergangenen Jahre wurden auch anderweitig kleingeredet. Die neuen Arbeitsplätze seien prekär, da es sich größtenteils um Zeitarbeit handele. Tatsächlich ist die Zeitarbeit in den Jahren seit 2003 sehr stark angestiegen. Im Jahresdurchschnitt 2005 kamen gegenüber dem Vorjahr knapp 60.000 und 2006 noch einmal 140.000 Zeitarbeitnehmer hinzu. Das Jahr 2007 brachte einen weiteren Zuwachs von 135.000. Insofern ist der Hinweis be-rechtigt, dass bis zu einem Viertel der neuen Arbeitsplätze Zeitarbeitarbeitsstellen sind. Aber inwie-fern ist es berechtigt, bei der Zeitarbeit sogleich von einer prekären Beschäftigung auszugehen? Zeitarbeit ist durch eine mehrfache Vertragsbeziehung zwischen Zeitarbeitsunternehmen, Arbeit-nehmer und Kundenunternehmen gekennzeichnet. Das Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt den Ar-beitnehmer. Es übernimmt dabei alle Arbeitgeberpflichten, die ein Unternehmen aus einer anderen Branche auch übernimmt. Aus Sicht des Arbeitnehmers unterscheidet sich Zeitarbeit also in keiner Weise von einer Beschäftigung in einem anderen Wirtschaftszweig. Dass der Zeitarbeitnehmer sei-ne Tätigkeit im Kundenunternehmen verrichtet, spielt für die Vertragsbeziehung zwischen dem Zeitarbeitsunternehmen als Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer keine Rolle. Der Zeitarbeitnehmer ist beim Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt, nicht beim Kundenunternehmen. Das Verhältnis zwi-schen Kundenunternehmen und Zeitarbeitnehmer beschränkt sich auf die Überlassung der Arbeits-kraft auf der einen Seite und eine hauptsächlich auf den Arbeitsschutz bezogene Fürsorgepflicht auf der anderen Seite. Die vertragliche Beziehung zwischen Zeitarbeits- und Kundenunternehmen ist für den Arbeitnehmer nur indirekt von Bedeutung. Das Zeitarbeitsunternehmen erhält seine Vergü-tung auch nicht ausschließlich für die Arbeit der überlassenen Arbeitnehmer. Viele Zeitarbeitsun-ternehmen erbringen zusätzlich personalwirtschaftliche Dienstleistungen, z.B. durch die passgenaue und bedarfsgerechte Bereitstellung von qualifiziertem Personal. Eine prekäre, d.h. unsichere Beschäftigung liegt vor, wenn das Arbeitsverhältnis von vornherein nicht auf Dauer angelegt ist. Das ist z.B. bei einer Schwangerschaftsvertretung der Fall. Nach Ab-lauf des Vertrages muss sich der Arbeitnehmer eine neue Beschäftigung suchen; er steuert also in eine unsichere Zukunft. Durch Zeitarbeit lässt sich eine solche Konstellation vermeiden. Denn nicht der als Schwangerschaftsvertretung eingesetzte Zeitarbeiter trägt das Risiko der Arbeitslosigkeit, sondern das Zeitarbeitsunternehmen, das seine Arbeitnehmer auch in Zeiten ohne Überlassungsauf-trag weiter beschäftigen muss. Zwar existieren auch in der Zeitarbeitsbranche befristete Verträge, diese unterliegen jedoch genau den gleichen Regelungen des Teilzeit- und Befristungsgesetzes wie die Kontrakte in anderen Branchen. Das heißt: Auch ein Zeitarbeitsunternehmen darf nicht beliebig befristete Verträge abschließen. Zeitarbeit per se ist kein sachlicher Grund, der eine mehrmalige Be-fristung gestatten würde. Ein anderes Merkmal für Prekarität wäre ein unausgewogenes Verhältnis zwischen der Lohnver-handlungsmacht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wenn die Arbeitgeber Löhne diktieren kön-nen, werden diese im Verhältnis zu dem, was die Arbeitnehmer erwirtschaften, gering sein. In der Zeitarbeit ist aber eher das Gegenteil der Fall, was an einer Regelung des Gesetzgebers liegt. Mit der Verabschiedung des Hartz-I-Gesetzes wurde die Zeitarbeit zwar dereguliert. Dafür wurde das Equal-treatment-Prinzip eingeführt, nach dem Zeitarbeiter genauso bezahlt werden müssen wie Be-schäftigte in dem Kundenunternehmen, in dem sie arbeiten. Eine Abweichung von dem Prinzip der Gleichbehandlung ist nur zulässig, wenn Tarifverträge vorliegen. Die Zeitarbeitsunternehmen wur-den somit einem faktischen Tarifzwang ausgesetzt. Dieser hat die Verhandlungsposition der Arbeit-geber in den Tarifgesprächen mit den Gewerkschaften geschwächt, denn diese konnten es sich jetzt erst recht nicht leisten, die Verhandlungen scheitern zu lassen. Darüber hinaus dürfte der Grad der Tarifbindung in der Zeitarbeitsbranche weit überdurchschnittlich sein, so dass Arbeitnehmer min-destens eine ausgewogene Verhandlungsmacht vorfinden.

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Im Übrigen gelten für Zeitarbeitnehmer die gleichen Bedingungen wie für Arbeitnehmer anderer Branchen: Sie sind sozialversichert, unterliegen den gleichen arbeitsrechtlichen Vorschriften z.B. beim Kündigungsschutz oder beim Arbeitsschutz. Im bevorstehenden Abschwung werden zwar vie-le Zeitarbeitnehmer ihre Jobs verlieren. Fraglich ist aber, ob sie ohne die Zeitarbeit überhaupt eine Beschäftigung hätten und wenn ja, ob diese nicht genauso gefährdet wäre. Es gibt auch von daher keine Gründe, warum Zeitarbeit per se als prekär eingestuft werden müsste. Im Gegenteil: Zeitar-beit ist für viele eine Möglichkeit, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Arbeitslose und Be-rufsrückkehrer sind darauf angewiesen, dass sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, wo sie Berufserfahrungen sammeln und ihre Fertigkeiten wieder auf einen aktuellen Stand bringen können. Eine solche Chance bietet die Zeitarbeit. Durch die vielfältigen Anforderungen in Einsätzen bei ver-schiedenen Kundenunternehmen kann ein Zeitarbeitnehmer in kurzer Zeit viele Erfahrungen sam-meln, die ihm unmittelbar weiterhelfen. Er ist dabei eine vollwertige Arbeitskraft. Wenn der Zeitarbeiter gut arbeitet und die Firma die Stelle dauerhaft besetzen möchte, stehen zu-dem die Chancen nicht schlecht, dass der Kollege auf Zeit den Job bekommt. Eine Studie des IW Köln in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Zeitarbeit (BZA) belegt diesen Klebeeffekt. Da-nach wird jeder vierte Zeitarbeitnehmer, wenn er eine Weile seine Zuverlässigkeit unter Beweis ge-stellt hat, direkt vom Kundenunternehmen übernommen. Ein weiteres Fünftel kommt aufgrund sei-ner neuen Erfahrungen in einem anderen Betrieb unter. Damit bestätigt sich die Vermutung, dass die Zeitarbeit vielen Menschen hilft, sich wieder an die Arbeitswelt zu gewöhnen und neue Heraus-forderungen im Job anzunehmen. Der Zeitarbeitnehmer profitiert außerdem davon, dass sich sein Arbeitgeber auf dem lokalen Ar-beitsmarkt bestens auskennt. Jener weiß genau, wen er wo unterbringen kann. Das nutzt vor allem Langzeitarbeitslosen. Von den rund 520.000 im zweiten Halbjahr 2006 neu eingestellten Zeitarbeit-nehmern waren 44 Prozent bis zu einem Jahr lang arbeitsuchend und weitere 15 Prozent länger als ein Jahr ohne Beschäftigung. Nur eine Minderheit von 9 Prozent war zuvor als Zeitarbeitnehmer bei einem anderen Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt, 23 Prozent waren in anderen Branchen tätig. Knapp 9 Prozent nutzten die Zeitarbeit für den Berufseinstieg. Zeitarbeitnehmer: Die Branche boomte bis zuletzt 1973 34.379 1974 19.380 1975 11.805 1976 16.858 1977 21.186 1978 26.408 1979 36.318 1980 47.021 1981 43.058 1982 29.117 1983 25.702 1984 32.976 1985 48.707 1986 70.376 1987 73.083 1988 87.743 1989 104.930 1990 123.378 1991 133.734

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1992 140.579 1993 121.400 1994 138.451 1995 176.185 1996 177.935 1997 212.664 1998 252.895 1999 286.394 2000 339.022 2001 357.264 2002 326.295 2003 327.331 2004 399.789 2005 453.389 2006 598.284 2007 731.152 2008 794.363

Stand: jeweils Juni; bis 1990 nur Westdeutschland Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Hintergrund: Equal Treatment und Equal Pay „Equal Treatment“ ist der Begriff für die Forderung des Gesetzgebers, dass Zeitarbeitnehmer in al-len Belangen der Stammbelegschaft gleichgestellt werden müssen (§9 Abs. 2 des Arbeitnehmer-überlassungsgesetzes). Dies bedeutet, dass nicht nur der Lohn gleich sein muss („equal pay“), son-dern dass auch andere für die Arbeitsbedingungen relevante Aspekte wie Arbeitszeit, Urlaub, gege-benenfalls betriebliche Altersvorsorge usw. angeglichen werden müssen. Die Zeitarbeitsunterneh-men stellt diese Forderung vor zwei Probleme: Erstens ist gerade für kleine und mittelständische Unternehmen der administrative Aufwand extrem hoch. Die Arbeitsbedingungen des Kundenunter-nehmens müssen recherchiert und in die eigenen Arbeitsverträge übertragen werden. Dabei wird ih-nen zweitens die Möglichkeit zur freien Gestaltung von Verträgen stark eingeschränkt. In der Praxis ist die geforderte Gleichstellung kaum realisierbar.

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2. Kapitel: Der Kern des Problems Arbeitslosigkeit – kein unabänderliches Schicksal Der Beschäftigungsaufbau ist keine Eintagsfliege, trotz des sich abzeichnenden Abschwungs. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in den kommenden Monaten wieder steigen dürfte, so darf nicht vergessen werden, dass in den vergangenen Jahren Erfolge erzielt wurden, die auch über die Krise gerettet werden können. Noch im Jahr 2005 wurde die Grenze von 5 Millionen Arbeitslosen über-schritten. Kommentatoren und Politiker fragten sich, wann die 6 Millionen erreicht sein würden und verglichen die Lage mit der Endphase der Weimarer Republik. Seitdem hat sich Vieles verbessert; im Jahresdurchschnitt 2007 waren knapp 3,8 Millionen Menschen ohne Arbeit, im Jahr 2008 rund 3,3 Millionen. Jeder Arbeitslose kostet Geld. Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung verursachte die Arbeitslosigkeit 2003 gesamtfiskalische Kosten von knapp 83 Milliarden Euro, darunter 16 Milliarden Euro Steuermindereinnahmen und 23 Milliarden Euro Mindereinnah-men der Sozialversicherung. Dazu kommen noch Kosten für nicht-arbeitslose Leistungsempfänger, die allein bei den Vorruheständlern, die von der Bundesagentur für Arbeit gefördert werden, 10 Milliarden Euro betragen. Schwerer zu beziffern ist der volkswirtschaftliche Schaden, der durch die Inaktivität der Betroffenen entsteht. Würden alle Arbeitslosen mit durchschnittlicher Wertschöp-fung arbeiten, könnte das Bruttoinlandsprodukt um rund 250 Milliarden Euro höher sein. Dazu kommt ein nicht zu quantifizierender Schaden durch Humankapitalverluste: Insbesondere Langzeit-arbeitslose verlieren ihre berufsspezifischen Fertigkeiten. Werden Kenntnisse nicht durch „training on the job“ ständig auf dem Laufenden gehalten, zieht die technische und organisatorische Entwick-lung am Kenntnisstand der Arbeitslosen vorbei und entwertet das Know-how der Betroffenen. Die Beschäftigungsgewinne der vergangenen Jahre werden von vielen nur als Strohfeuer gesehen. Langfristig beharren die Pessimisten auf ihrem Standpunkt, dass uns aufgrund des technischen Fort-schritts die Arbeit ausgehe. Immer mehr Tätigkeiten würden automatisiert und wesentlich billiger und präziser von Maschinen ausgeführt. Um die gleiche Menge Güter und Dienstleistungen herzu-stellen, würden immer weniger Arbeitskräfte benötigt. Diese Befürchtung ist keineswegs neu. Sie wurde schon von den schlesischen Webern gehegt, die im Zuge der Einführung mechanischer Web-stühle im 19. Jahrhundert ihre Arbeitsplätze verloren und zu Maschinenstürmern wurden. Aber ge-nau wie die Weber zu Beginn der industriellen Revolution haben die Apologeten einer dauerhaften und steigenden Massenarbeitslosigkeit Unrecht. Technischer Fortschritt führt zwar zu steigender Produktivität, er führt aber auch zu neuen Arbeitsplätzen. Erstens entstehen zusätzliche Arbeitsplät-ze in den Branchen, die technische Neuerungen konstruieren, bauen und warten. Zweitens entsteht durch Produktinnovationen eine Nachfrage nach Gütern oder Diensten, die es zuvor gar nicht gab. Drittens können die Preise für Güter, die produktiver hergestellt werden, sinken. Dadurch erhöht sich die Nachfrage, es werden Arbeitskräfte benötigt, die diese zusätzlichen Güter herstellen. Per Saldo hat die Wirtschaftsgeschichte sehr deutlich gezeigt, dass der enorme technische Fortschritt keineswegs zwingend zu hoher Arbeitslosigkeit führen muss. Widerlegt wird die These von der ausgehenden Arbeit schon allein durch die Entwicklung der Er-werbstätigkeit, die 2007 einen vorläufigen historischen Höchststand erreichte. Es ist durchaus eine große Anzahl neuer Arbeitsplätze entstanden; allerdings reichen sie nicht aus, um den noch größe-ren Anstieg der Zahl derer zu kompensieren, die arbeiten wollen. Dass sich das Arbeitsangebot so stark vergrößert hat, liegt nicht an einer wachsenden Bevölkerung. Entscheidend war vielmehr die gestiegene Erwerbsneigung, insbesondere von Frauen. Im Jahr 1975 wollten 31 Prozent aller Frauen im erwerbsfähigen Alter arbeiten, 2007 waren es bereits 69 Prozent.

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Auch wenn demnächst die Zahl der Arbeitslosen steigen dürfte, langfristig wird der Gesellschaft Arbeit gewiss nicht ausgehen.

Wie Arbeitslosigkeit entsteht Erklärungsansätze für die Existenz von Arbeitslosigkeit gibt es so viele, wie es ökonomische Denkschulen gibt. Zu hohe Löhne sind ein Grund. Die Annahme der neoklassischen Theorie ist, dass ein höherer Preis eines Gutes (auch des Gutes Arbeit) zu sinkender Nachfrage führt. Auf der anderen Seite steigt die Angebotsmenge. Wenn also die Beobachtung gemacht wird, dass das Arbeitsangebot größer ist als die Nachfrage nach Arbeits-kräften, ist der Preis – im Falle des Gutes Arbeit also die Arbeitskosten – zu hoch. Ein Unterneh-men schafft nur dann einen Arbeitsplatz, wenn die zusätzliche Wertschöpfung, die durch den zu-sätzlichen Arbeitnehmer erzeugt werden kann, mindestens so hoch ist wie die Arbeitskosten. An-dernfalls wird kein Arbeitsplatz entstehen, bzw. wenn er schon vorhanden ist, wird er abgebaut. Dabei ist der Lohn eine wichtige, aber keineswegs die einzige Komponente der entscheidenden Größe Arbeitskosten. Eine wichtige Rolle spielen auch die Lohnnebenkosten sowie die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Aber wie kommt es zu den „zu hohen“ Löhnen? Diese Frage wird von verschiedenen theoretischen Ansätzen unterschiedlich beantwortet. Die Effizienzlohntheorie besagt, dass die Unternehmen zu hohe Löhne zahlen, weil ein hoher Lohn in Zusammenhang mit einer hohen Produktivität steht. So kann ein Unternehmen mit einem höheren als dem markträumenden Lohn – also dem Lohn, zu dem jeder einen Job bekäme, – verhindern, dass ein Arbeitnehmer nach Belieben in ein anderes Unter-nehmen wechselt und damit wertvolles betriebsspezifisches Humankapital verloren geht. Die Insider-Outsider-Theorie geht wiederum davon aus, dass die Arbeitnehmer sich darüber im Klaren sind, dass ein Unternehmen die Arbeitskräfte nicht nach Belieben austauschen kann, da Ein-arbeitungskosten anfallen. Sie fordern daher einen Lohn, der über dem markträumenden Lohn liegt, aber noch unterhalb der Lohnforderung der Outsider (der Arbeitslosen) zuzüglich der Einarbei-tungskosten. Im Ergebnis bleiben die Outsider arbeitslos, da es sich für die Unternehmen nicht rechnet, den Insider durch den eigentlich billigeren Outsider zu ersetzen. Eine andere Erklärung bietet die Segmentationstheorie. Sie nimmt an, dass der Arbeitsmarkt in zwei Segmente – eines für Hoch- und eines für Geringqualifizierte – geteilt ist. Die Anbieter von Ar-beitskraft drängen wegen der höheren Löhne in den Hochqualifiziertensektor und nehmen dabei Arbeitslosigkeit in Kauf. Diese „Arbeitslosigkeit im Wartezustand“ ergibt sich aber auch ohne An-nahme eines segmentierten Marktes. Denn ein Arbeitssuchender braucht eine bestimmte Zeit, bis er ein für sich passendes Arbeitsplatzangebot gefunden hat. Die Länge dieser Arbeitssuche wird durch den Anspruchslohn bestimmt, der unter anderem auch davon abhängt, wie viel Arbeitslosengeld be-zahlt wird. Denn der Anspruch an den künftigen Lohn wird in der Regel höher sein, als es das Ar-beitslosengeld ist. Sonst lohnt sich der Job nicht. Neben diesen genannten Theorien gibt es noch eine Vielzahl weiterer Erklärungsansätze, darunter auch solche, die die Rolle der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage betonen. Theorien, die auf menschlichen Verhaltensweisen aufbauen, kommen jedoch nicht umhin, dem Lohn und den institu-tionellen Rahmenbedingungen eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Arbeitslosigkeit beizumessen. Im Kern geht es um die Frage, ob sich Arbeit lohnt – und zwar sowohl für den Ar-

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beitgeber als auch für den Arbeitnehmer. Ist diese Bedingung erfüllt, wird auch Beschäftigung ent-stehen.

Der Anreiz, Arbeitsplätze zu schaffen Die Arbeitskosten sind die entscheidende Größe für die Frage, wie viele Arbeitsplätze entste-hen. Sind sie zu hoch, lohnt sich es für die Unternehmen nicht, Arbeitskräfte einzustellen. Angesichts der noch immer hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Arbeitskosten sinken müssen. Ein erheblicher Bestandteil der Arbeitskosten sind die Lohn-nebenkosten, die rund 70 Prozent des Direktentgeltes erreichen. Mit einer Senkung der Lohnneben-kosten ließen sich zwei Ziele gleichzeitig erreichen: Einerseits können die Arbeitskosten sinken und mehr Arbeitsplätze entstehen. Andererseits steigt das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer. Obwohl es in Tarifverhandlungen um die Erhöhung der Bruttolöhne geht, ist dies für die Unter-nehmen nicht die entscheidende Größe, die bestimmt, wie viele Arbeitskräfte und wie viele Ma-schinen in der Produktion eingesetzt werden. Entscheidend ist vielmehr, welche Kosten insgesamt bei der Beschäftigung eines Arbeitnehmers entstehen. Diese Kosten sind weit höher als der Brutto-lohn, der auf der Gehaltsabrechnung steht. Denn zum Bruttolohn kommen die Sozialversicherungs-beiträge der Arbeitgeber sowie tarifliche und außertarifliche Zulagen (Urlaubsgeld, Weihnachts-geld, bezahlter Urlaub usw.) hinzu. Aber auch der Bruttolohn liegt weit höher als das, was letztend-lich als verfügbares Einkommen für die Arbeitnehmer verbleibt. Abgezogen werden die Sozialver-sicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und Einkommenssteuern. Das verfügbare Einkommen, der Nettolohn, wird dann noch einmal durch Verbrauchssteuern, Gebühren und Abgaben geschmälert. Die Abgabenbelastung treibt einen Keil zwischen den Lohn, den der Arbeitgeber zahlen muss und den Lohn, den der Arbeitnehmer erhält. Dies hat gewichtige Folgen. In der Theorie wird der Lohn als Gleichgewichtslohn bezeichnet, dem sich Arbeitsangebot und -nachfrage treffen. Der Arbeits-markt wird geräumt, d.h. es gibt weder Arbeitslosigkeit noch Arbeitskräftemangel. Erhöht sich aus irgendeinem Grund z.B. das Arbeitsangebot (etwa weil Personen zugewandert sind), fällt der Lohn, bis Angebot und Nachfrage wieder im Gleichgewicht sind. Der Abgabenkeil sorgt nun dafür, dass Arbeitgeber anders kalkulieren als Arbeitnehmer. Für erstere sind die Arbeitskosten insgesamt der maßgebende Faktor für die Kalkulation, ob zu diesem Preis der Arbeit auch das Arbeitserzeugnis zu verkaufen ist. Die Arbeitnehmer würden, wenn sie die Arbeitskosten brutto gleich netto in der Ta-sche hätten, den Job vielleicht annehmen. Zum Nettolohn aber nicht. Denn oftmals stellen sie sich mit Arbeitslosengeld und anderen staatlichen Transfers nicht schlechter als mit dem angebotenen Arbeitslohn. Somit wird der markträumende Gleichgewichtslohn nie erreicht und es entsteht Ar-beitslosigkeit. Ein internationaler Vergleich zeigt, dass der Abgabenkeil in Deutschland außerordentlich groß ist und somit ein wichtiger Bestimmungsfaktor für das spezifisch deutsche Arbeitslosigkeitsproblem ist. Denn 52,5 Prozent der Arbeitskosten, die ein Unternehmen aufwenden muss, um einen allein-stehenden Arbeitnehmer zu beschäftigen, landen beim Staat und kommen gar nicht erst beim Ar-beitnehmer an. Dieser Wert wird lediglich von Belgien übertroffen. Dabei sind tarifliche und außer-tarifliche Zulagen sowie Kosten durch arbeitsrechtliche Bestimmungen noch nicht einmal erfasst. Kennzeichnend für die Situation ist auch folgende Beobachtung: Deutschland weist zwar mit rund 43.000 Euro im Jahr die dritthöchsten Arbeitskosten für einen Durchschnittsverdiener auf, liegt bei den Nettoeinkommen aber nur auf Rang 11. Ein Durchschnittsverdiener in den Niederlanden hat netto rund 1.000 Euro im Jahr mehr zur Verfügung als ein Durchschnittsverdiener in Deutschland. Allerdings liegen dessen Arbeitskosten um 4.000 Euro darunter.

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Der Befund der extrem hohen Abgabenbelastung in Deutschland beschränkt sich nicht auf allein-stehende Durchschnittsverdiener, sondern gilt für nahezu alle Haushaltstypen. Bei alleinstehenden Geringverdienern mit zwei Dritteln des Durchschnittseinkommens beläuft sich der Abgabenkeil hierzulande auf über 47 Prozent. Wiederum ist die Belastung allein in Belgien noch höher. Beschäf-tigungspolitisch erfolgreiche Länder wie das Vereinigte Königreich, die USA oder die Niederlande begnügen sich mit deutlich weniger. In den USA liegt die Abgabenlast bei 26 Prozent, in Großbri-tannien bei 30 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Alleinstehenden mit hohem Einkommen. Allein die klassische Alleinverdiener-Familie mit zwei Kindern steht im Abgabenvergleich nicht ganz so schlecht da. Der Abgabenkeil von 36 Prozent wird von einer Reihe von Ländern übertrof-fen, darunter auch Schweden und Österreich. Gleichwohl bleibt dieser Haushaltstyp über dem Durchschnitt sowohl der OECD als auch der EU. Sobald es indes zwei Erwerbstätige im Haushalt gibt – auch wenn einer davon nur teilzeiterwerbstätig ist –, erreicht die Belastung in Deutschland wieder Höchstwerte. Der Abgabenkeil Abgaben in Prozent der Arbeitskosten bei einem alleinstehenden Durchschnittsverdiener

Sozialabgaben Steuern Insgesamt Belgien 34,0 21,3 55,4 Deutschland 35,0 17,5 52,5 Ungarn 36,4 14,6 51,0 Frankreich 39,3 10,9 50,2 Österreich 36,5 11,5 48,1 Schweden 29,7 18,2 47,9 Italien 31,2 13,9 45,2 Niederlande 32,7 11,7 44,4 Finnland 24,8 19,3 44,1 Polen 38,4 5,3 43,7 Tschechien 35,2 7,4 42,6 Dänemark 11,2 30,1 41,3 Griechenland 34,4 6,8 41,2 Spanien 28,3 10,8 39,1 Slowakei 31,4 7,1 38,5 Norwegen 18,6 18,7 37,3 Portugal 28,1 8,2 36,3 Vereinigtes Königreich 18,0 15,9 33,9 Kanada 17,0 15,0 32,1 Schweiz 19,9 9,8 29,7 USA 14,3 14,6 28,9 Japan 22,4 6,4 28,8 Australien 5,7 22,4 28,1 Irland 14,3 8,8 23,1

Stand: 2006 Ursprungsdaten: OECD

Das Steuer- und Abgabensystem in Deutschland belastet den Faktor Arbeit außerordentlich stark. Die Folge sind Rationalisierung auf Seiten der Unternehmen und eine geringe Erwerbsbeteiligung auf Seiten der Arbeitnehmer. Es gibt zuwenig Anreize, Arbeitsplätze einzurichten und zuwenig An-reize, seine Arbeitskraft am Arbeitsmarkt anzubieten.

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Ein einzelner Schuldiger ist dabei nicht auszumachen. Es ist weniger ein einziger Faktor, der die Belastung in Deutschland so stark in die Höhe treibt, als vielmehr die Gesamtheit der Abgaben. So finanzieren die einzelnen Länder die öffentlichen Aufgaben durchaus aus verschiedenen Quellen. Dänemark etwa hat nur geringe Sozialabgaben, dafür aber eine hohe Steuerbelastung. In den Nie-derlanden ist es umgekehrt: Während die Sozialversicherungslasten hoch sind, ist die Steuerbelas-tung niedrig. In Deutschland sind zwar für sich genommen weder Steuern noch Sozialversiche-rungsbeiträge die höchsten der OECD-Länder, liegen aber beide jeweils in der Spitzengruppe. In der Summe ist die Belastung exorbitant. Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag, die Sozialversi-cherungslasten durch eine Umfinanzierung mittels Steuern auf mehr Köpfe zu verteilen, wenig hilf-reich. Die Belastung würde lediglich auf die Steuerseite verlagert. Der einzig sinnvolle Weg besteht in Leistungsbegrenzungen. Denn mit der Arbeitslosigkeit sinken nicht nur die Einnahmen, sondern steigen auch die Ausgaben der Sozialversicherungen, wenn die individuellen Leistungen nicht angepasst werden. Da diese vor-rangig durch Beiträge, also Lohnnebenkosten, finanziert werden, setzt sich ein unheilvoller Mecha-nismus in Gang: Hohe Lohnnebenkosten verursachen höhere Arbeitslosigkeit, was wiederum höhe-re Beiträge und mithin höhere Lohnnebenkosten nach sich zieht. Zwar funktioniert der Mechanis-mus im Prinzip auch umgekehrt: Bei verbesserter Konjunktur steigen die Einnahmen und sinken die Ausgaben, was zu Beitragssatzsenkungen und mehr Beschäftigung führen kann. Doch leider we-cken Überschüsse bei den Sozialversicherungen sogleich Begehrlichkeiten bei Sozial- und Finanz-politikern. Erstere setzen sich dafür ein, Leistungen auszuweiten; während Letztere danach trachten, die Überschüsse in den Haushalt umzuleiten. Ein illustratives Beispiel dafür, dass diese Gefahr sehr konkret ist, bietet gegenwärtig die Arbeitslo-senversicherung. Das Jahr 2006 schloss die Bundesagentur für Arbeit mit einem Überschuss von 11 Milliarden Euro ab und 2007 wurden erneut Überschusse in Höhe von 6,6 Milliarden Euro erwirt-schaftet. Zwar wurde Anfang 2007 der Beitragssatz um 2,3 Prozentpunkte gesenkt und 2008 noch-mals um 0,9 Prozentpunkte, aber dennoch fließt viel Geld in neue Ausgabenprogramme und in den Bundeshaushalt. Der „Beschäftigungszuschuss“ ist z.B. eine neue Lohnkostensubvention für ABM-Träger, soziale Betriebe und ähnliche Einrichtungen. Er beträgt 75 Prozent der Lohnkosten zuzüg-lich einer Qualifizierungspauschale von 200 Euro pro Monat. Beschäftigt werden sollen Arbeitslo-sengeld-II-Empfänger mit Vermittlungshemmnissen in „zusätzlichen“, d.h. marktfernen, Tätigkei-ten. Bis 2010 sollen 100.000 Arbeitslose mit diesem Programm gefördert werden, was Kosten von über 1 Milliarde Euro verursacht. Ein beschäftigungspolitischer Erfolg ist nicht zu erwarten, das haben die Erfahrungen mit den ähnlich konzipierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen deutlich ge-zeigt. Noch teurer für die Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung werden die diversen Bemühungen der Fiskalpolitik, Geld in den Bundeshaushalt umzuleiten. Dafür gibt es bereits jetzt mehrere An-sätze: • Den Aussteuerungsbeitrag muss die Bundesagentur bislang an den Bund zahlen. Dabei handelt es sich um eine Strafzahlung in Höhe von rund 10.000 Euro für jeden Arbeitslosen, der vom Ar-beitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wechselt. Im Jahr 2006 flossen auf diese Weise 3,3 Mil-liarden Euro von Nürnberg nach Berlin. Der Aussteuerungsbeitrag wird – möglicherweise auch, weil er verfassungswidrig sein könnte – abgeschafft zugunsten des Eingliederungsbeitrags. • Der Eingliederungsbeitrages verpflichtet die Bundesagentur, die Hälfte der Kosten der Pro-gramme der aktiven Arbeitsmarktpolitik und der Verwaltungskosten für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger zu tragen. Dabei handelt es sich beim Arbeitslosengeld II um eine eigentlich steuerfi-

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nanzierte Fürsorgeleistung, mit der die Arbeitslosenversicherung und damit die Bundesagentur für Arbeit nichts zu tun hat. Der Eingliederungsbeitrag wird die Beitragszahler voraussichtlich rund 5 Milliarden Euro im Jahr kosten. Durch neue Ausgabenprogramme werden die Kosten zusätzlich in die Höhe getrieben. • In Planung ist darüber hinaus der Erwerbstätigenzuschuss. Dieser soll für Arbeitslosengeld-II-Empfänger gezahlt werden, die erwerbstätig sind, mit ihrem Erwerbseinkommen aber nicht ihren Bedarf erwirtschaften. Bislang wird in solchen Fällen ergänzendes Arbeitslosengeld II gezahlt. Der Erwerbstätigenzuschuss, von dem zu befürchten ist, dass er von der Bundesagentur finanziert wer-den soll, ersetzt mithin das vom Bund finanzierte Arbeitslosengeld II. Im Grundsatz handelt es sich also nicht um ein Programm für die Arbeitslosen, sondern für die Genesung des Bundeshaushalts. Das Volumen dieser Umfinanzierung könnte etwa 1 Milliarde Euro betragen. Von den Arbeitskosten zum Nettolohn Arbeitskosten

- Zulagen (Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld usw.) - Sonstige Kosten (betriebliche Altersversorgung, Unfallversicherung usw.) - Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber

= Bruttolohn - Einkommensteuer - Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer

= Nettolohn verteilt sich auf:

- Verbrauchssteuern, Gebühren und Abgaben - Konsum im Ausland hergestellter Güter und Dienst-leistungen - Konsum im Inland hergestellter Güter und Dienst-leistungen - Ersparnis

Arbeitsrecht macht Arbeit teuer Die Umsetzung arbeitsrechtlicher Vorschriften verteuert Arbeit zusätzlich. Die Arbeitskosten bestehen aus mehr Komponenten als nur dem Lohn und den Lohnnebenkosten. Mitunter deutlich schwerer zu quantifizieren sind Kosten, die durch arbeitsrechtliche Bestimmun-gen entstehen. Wer Auszubildende beschäftigt, muss einen separaten Ruheraum für Pausen bereit-stellen; Beschäftigte müssen regelmäßig ärztlich untersucht werden; angehenden Müttern und Be-hinderten sind die Arbeitsplätze entsprechend einzurichten; Kündigungsschutz- und Arbeitszeitge-setze sind zu beachten usw. Dabei breitet sich die Bürokratie immer weiter aus. Mehrere 1.000 Sei-ten neue Gesetze und Verordnungen werden jedes Jahr im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Die Umsetzung all dieser Vorschriften kostet Geld. Allein um die für ein Unternehmen relevanten Gesetzesänderungen zu verfolgen, entsteht ein beträchtlicher Aufwand. Ein erheblicher Teil der Regulierungen ist direkt mit der Beschäftigung von Arbeitnehmern verknüpft, muss also als Be-standteil der Arbeitskosten angesehen werden. Da sich die Vielzahl der gesetzlicher Bestimmungen, die Folgen für die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes haben, kaum vollständig erfassen lässt, wird im Folgenden die Arbeitsmarktwirkung des Kündigungsschutzes exemplarisch aufgezeigt.

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Der gesetzliche Kündigungsschutz soll Arbeitnehmer vor willkürlichen Entlassungen bewahren. Danach sind Kündigungen nur dann wirksam, wenn sie sozial gerechtfertigt sind. Sozial ungerecht-fertigt ist eine Entlassung z.B. dann, wenn der Arbeitnehmer an anderer Stelle im Betrieb weiterbe-schäftigt werden könnte. Da das Kündigungsschutzgesetz viele Interpretationsspielräume lässt, er-geben sich die Anforderungen an eine wirksame Kündigung im Wesentlichen aus der Rechtspre-chung. Die Arbeitsgerichte fordern vom Arbeitgeber, die betriebswirtschaftlichen Gründe, die eine Kündi-gung unvermeidlich machen, detailliert darzulegen. Er muss zudem beweisen, dass allein die Kün-digung die betrieblichen Schwierigkeiten lösen kann. Es muss geprüft werden, ob nicht eventuell mit anderen Maßnahmen (z.B. der Reduzierung von Überstunden) das gleiche Ziel erreicht werden kann. Letztlich wird geprüft, ob die Kündigung der in Frage stehenden Person angemessen ist. Bei der Auswahl der zu kündigenden Mitarbeiter muss eine soziale Auswahl vorgenommen werden, die sich nach den Kriterien Betriebszugehörigkeitsdauer, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwer-behinderung des Arbeitnehmers richtet. Diesen hohen juristischen Anforderungen ist nicht jedes Unternehmen gewachsen. Sie resultieren in erheblichen Rechtsunsicherheiten. So wird eine be-triebsbedingte Kündigung, die das Unternehmen ja finanziell entlasten soll, zu einem oftmals un-kalkulierbaren Risiko. Darüber hinaus führen die Kriterien der Sozialauswahl dazu, dass ausgerech-net die Leistungsträger entlassen werden müssen, weil sie häufig jung, noch nicht lange im Betrieb und ohne Unterhaltsverpflichtungen sind. Der rigide Kündigungsschutz in Deutschland hat gravierende Folgen für den Arbeitsmarkt. Zwar sind Unternehmen bemüht, in Krisenzeiten Arbeitnehmer im Betrieb zu halten. Dies hat auch volkswirtschaftliche Vorteile, weil wertvolles betriebsspezifisches Know-how erhalten werden kann. Aber die Kehrseite zeigt sich in der – auch in konjunkturell guten Zeiten – geringen Einstel-lungsbereitschaft. Sie hat zur Folge, dass es einmal arbeitslos Gewordene schwer haben, schnell ei-nen neuen Job zu finden. So kommt es in Deutschland zu der überdurchschnittlich hohen Zahl Langzeitarbeitsloser. Statt neue Arbeitskräfte einzustellen, weiten deutsche Unternehmen lieber die Arbeitszeit aus oder erhöhen die Zahl der Überstunden. Verzicht auf Kündigung und Neueinstellung Anteil der Unternehmen, die wegen des Kündigungsschutzes auf Kündigungen und Neueinstellungen verzichtet ha-ben, in Prozent

Zahl der Beschäftigten Verzicht auf Kündi-gungen

Verzicht auf Neuein-stellungen

11 bis 49 38,0 37,2 50 bis 249 50,6 36,5 250 bis 500 54,0 28,8 500 und mehr 50,6 26,2 Insgesamt 40,4 36,8 Unternehmensbefragung zu den Kosten des Kündigungsschutzes in Deutschland im Frühjahr 2008 Quelle: IW Köln/IW Consult

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Regulierungswut: Überall ein Thema Regulierungsdichte von 0 (keine Regulierung) bis 6 (hohe Regulierung)

Individueller Kündigungs-

schutz

Kollektiver Kündigungs-

schutz

Arbeitsmarkt-regulierung insgesamt

Portugal 4,2 3,6 3,5 Spanien 2,6 3,1 3,1 Frankreich 2,5 2,1 3,0 Griechenland 2,4 3,3 2,8 Belgien 1,7 4,1 2,2 Deutschland 2,7 3,8 2,2 Schweden 2,9 4,5 2,2 Niederlande 3,1 3,0 2,1 Finnland 2,2 2,6 2,0 Österreich 2,4 3,3 1,9 Tschechien 3,3 2,1 1,9 Italien 1,8 4,9 1,9 Japan 2,4 1,5 1,8 Polen 2,2 4,1 1,7 Ungarn 1,9 2,9 1,5 Dänemark 1,5 3,9 1,4 Australien 1,5 2,9 1,2 Irland 1,6 2,4 1,1 Kanada 1,3 2,9 0,8 Vereinigtes Königreich 1,1 2,9 0,7 USA 0,2 2,9 0,2

Stand: 2003 Quelle: OECD

Der Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen Es gibt ein ganzes Bündel von Faktoren, die letztlich verhindern, dass Arbeitslose so schnell wie möglich ins Berufsleben zurückkehren. Die beiden wichtigsten sind die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld und Sonderregelungen bei Hartz IV.

Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Wenn Arbeitslose eine Beschäftigung suchen und ein Ange-bot erhalten, dann machen sie – bewusst oder unbewusst – eine Rechnung auf: Wenn das Angebot angenommen wird, steht auf der Habenseite künftig ein Erwerbseinkommen. Auf der anderen Seite steht die verloren gegangene arbeitsfreie Zeit sowie die vergebene Chance, eine noch besser bezahl-te Tätigkeit zu finden. Außerdem geht gegebenenfalls ein Anspruch auf Lohnersatzleistungen verlo-ren. Die Lohnersatzleistung – in Deutschland das Arbeitslosengeld – ist aus Sicht des Einzelnen ein Einkommen, für das keine Gegenleistung zu erbringen ist. Wer Arbeitslosengeld bezieht, muss spä-ter keineswegs höhere Beiträge zahlen. Finanzielle Konsequenzen gibt es nicht. Ein Arbeitsangebot wird daher nur angenommen, wenn die Rechnung unter dem Strich ein Plus ergibt. Der Lohn muss höher sein als die Einbußen, die mit der Arbeitsaufnahme verknüpft sind. Hohe Lohnersatzleistun-gen beeinflussen diese Rechnung – sie erhöhen die Kosten der Arbeitsaufnahme. Je höher das Ar-beitslosengeld ist, auf desto mehr muss ein Arbeitsloser verzichten, wenn er eine Arbeit aufnimmt. Das bedeutet, dass bei manchen Arbeitsangeboten die Rechnung anders ausfällt, wenn der Wegfall

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des Arbeitslosengeldes einbezogen wird. Allein die Existenz des Arbeitslosengeldes sorgt dafür, dass manche Arbeitsangebote nicht angenommen werden, die Arbeitssuche fortgesetzt wird und die Arbeitslosigkeit andauert. Eine längere Arbeitslosigkeit bedeutet auch immer, dass das durch-schnittliche Niveau der Arbeitslosigkeit höher ist. Keine Lösung ist es jedoch, die Arbeitslosenversicherung abzuschaffen. Denn das Arbeitslosengeld hat auch positive Wirkungen. So sorgt es dafür, dass Arbeitnehmer überhaupt bereit sind, eine Be-schäftigung in jungen Unternehmen in risikoreichen Branchen anzunehmen. Andernfalls müssten solche Unternehmen, da sie ein höheres Beschäftigungsrisiko aufweisen, zur Kompensation höhere Löhne zahlen, was den Markteintritt erschweren würde. Außerdem können Arbeitnehmer durch ei-ne längere Suche einen Arbeitsplatz finden, der besser zu ihren individuellen Fähigkeiten passt, was sich positiv auf die Produktivität auswirkt. Trotzdem verursacht das Arbeitslosengeld Arbeitslosigkeit. Untersuchungen haben ergeben, dass für die negative Wirkung weniger die zu hohe Lohnersatzrate, also die Höhe des monatlichen Ar-beitslosengeldes verantwortlich ist, sondern vielmehr die Bezugsdauer. Es muss daher überraschen, dass der Gesetzgeber ausgerechnet in diesem Punkt zu Großzügigkeit neigt. Mitte der 80er Jahre wurde die Bezugsdauer, die zuvor einheitlich maximal 12 Monate betrug, für ältere Arbeitslose in mehreren Stufen stark ausgedehnt. Hintergrund dieser Maßnahme war indes eine fiskalische Über-legung: Das Arbeitslosengeld wird von der durch Beiträge der Beschäftigten finanzierten Arbeitslo-senversicherung getragen. Die im Anschluss seinerzeit gezahlte Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfe musste dagegen vom Bund bzw. den Kommunen bezahlt werden. Mit der Verlängerung der Be-zugsdauer verblieben mehr Arbeitslose im Arbeitslosengeld, was dem Bund viel Geld sparte, da er nicht mehr so viel für die Arbeitslosenhilfe aufwenden musste. Das Resultat war aber nicht nur eine kurzfristige fiskalische Entlastung des Bundes, sondern ein veritables Arbeitsmarktproblem Älterer. Da sie lange das vergleichsweise hohe Arbeitslosengeld erhielten – 60 bis 70 Prozent des Nettoloh-nes –, strebten ältere Arbeitslose häufig nicht die schnelle Rückkehr in den Beruf an. Vielmehr planten sie, nach Ausschöpfung des Arbeitslosengeldes die – gegebenenfalls vorgezogene – Alters-rente zu beantragen. Im Ergebnis war die Konzessionsbereitschaft Älterer für die Aufnahme einer neuen Beschäftigung äußerst gering, womit auch ihre Arbeitsmarktchancen schwanden. Erst die Rentenreformen Mitte der 90er Jahre, die aufgrund langer Übergangsfristen erst ab dem Jahr 2000 wirksam wurden, konnten den Trend umkehren. Mehr als hilfreich war auch die Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, die seinerzeit auf bis zu 32 Monate ausgedehnte Bezugsdauer mit Wirkung zum Jahresbeginn 2006 auf maximal 18 Mo-nate zu kürzen. Zusammen mit der Hartz-IV-Reform, die die Arbeitslosenhilfe faktisch abschaffte, ergab sich für ältere Arbeitslose ein deutlich verbesserter Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen – selbst wenn sie dafür umziehen, den Beruf wechseln oder sich mit einem geringeren Lohn zufrie-den geben müssen. Dies zeigte auch Wirkung: Zwischen September 2005 und September 2007 sank die Zahl der Arbeitslosengeld-I-Empfänger um 39 Prozent. Demgegenüber veränderte sich die An-zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger kaum, hier konnte nur ein Rückgang von 3 Prozent festge-stellt werden. Die Zahl der Arbeitslosen über 55 Jahre ging mit 20 Prozent sogar etwas stärker zu-rück als die Arbeitslosigkeit insgesamt (-16 Prozent). In der Folge sanken die Ausgaben für Arbeits-losengeld 2006 um über 4 Milliarden Euro, im Jahr 2007 sind weitere 6 Milliarden Euro eingespart worden. Dadurch wurde eine weitere Senkung des Beitragssatzes von 4,2 auf 3,3 Prozent des Brut-tolohns möglich, der zu neuer Beschäftigung führt. Als fatal dürfte sich deshalb ein neuerlicher Schwenk erweisen; die Bezugsdauer wurde zum Januar 2008 wieder verlängert. Der Langzeitarbeitslosigkeit und der Frühverrentung wird so Vorschub ge-leistet, während auf die Versichertengemeinschaft unabsehbare Kosten zukommen. Zu Buche schlagen nicht nur die direkt anfallenden Kosten, die auf rund 1 Milliarde Euro jährlich geschätzt

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werden. Erhebliche Mehrkosten dürften anfallen, weil die Arbeitslosen ihr Verhalten ändern und länger arbeitslos bleiben. Unberücksichtigt bleiben auch Kosten, die dadurch entstehen, dass sich im Verlaufe langer Arbeitslosigkeit das Humankapital der Arbeitslosen entwertet. Dass die Bundesregierung diese Einwände nicht berücksichtigt, begründet sie mit drei Argumenten, die sich bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig erweisen: 1. Den Arbeitnehmern müsse die Angst vor dem sozialen Abstieg genommen werden. Tatsächlich ist sozialer Abstieg eng mit langer Arbeitslosigkeit verbunden. Daran ändert aber weder eine länge-re Dauer der Arbeitslosengeldzahlung noch ein höheres Arbeitslosengeld II etwas. Die wirkungs-vollste Strategie gegen soziale Ängste ist ein Arbeitsmarkt, der Chancen auf neue Beschäftigung bietet. Genau dies wird aber durch die Verlängerung der Bezugsdauer torpediert. 2. Die Arbeitsmarktchancen Älterer seien schlechter, also brauchen sie auch mehr Unterstützung. Tatsächlich führt die Bevorzugung Älterer beim Arbeitslosengeld dazu, dass sie beim Lohn und bei den übrigen Arbeitsbedingungen weniger Konzessionsbereitschaft an den Tag legen. Durch diese Anreize, dem Arbeitsmarkt fernzubleiben, wird das Arbeitsmarktproblem Älterer erst hervorgeru-fen. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung kann sich Deutschland aber ein Weg-subventionieren Älterer vom Arbeitsmarkt immer weniger leisten. 3. Die längere Bezugsdauer für Ältere sei gerecht, da diese auch länger eingezahlt haben. Dieses Argument verkennt den Charakter der Arbeitslosenversicherung. Diese ist, anders als die Renten-versicherung, kein Sparvertrag, der eine Garantie auf künftige Einkommen bietet. Vielmehr handelt es sich um eine Risikoversicherung, wie z.B. auch die Krankenversicherung. Diese zahlt auch keine Schönheitsoperation als Bonus nach 20 Jahren ohne Krankheit. Wer lange Zeit einbezahlt hat, der hat auch lange Zeit den resultierenden sozialen Schutz genossen – unabhängig davon, ob der Scha-densfall Arbeitslosigkeit eingetreten ist oder nicht. Insofern ist die längere Bezugsdauer für Ältere und/oder langjährig Versicherte keine Lösung eines Gerechtigkeitsproblems, vielmehr schafft sie selbst eine Ungerechtigkeit. Bezugsdauer: Auf und Ab Maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I in Monaten für Empfänger ab … Jahren

42 44 45 47 49 50 52 54 55 57 58 bis 1985 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 1985 12 12 12 12 18 18 18 18 18 18 18 1986 bis 1987 12 16 16 16 20 20 20 24 24 24 24 1987 bis 1997 18 20 20 20 26 26 26 32 32 32 32 1997 bis 2006 12 12 18 22 22 22 26 26 26 32 32 2006 bis 2007 12 12 12 12 12 12 12 12 18 18 18 ab 2008 12 12 12 12 12 15 15 15 18 18 24

Quelle: IW-Zusammenstellung

Hartz IV. Mit der Hartz-IV-Reform im Jahr 2005 ist die soziale Grundsicherung grundlegend um-gestaltet worden. Ein wesentlicher Fortschritt gegenüber dem Status quo ante bestand in der Ab-schaffung der Arbeitslosenhilfe, einer wenig gelungenen Mischung aus steuerfinanzierter Fürsorge-leistung und Lohnersatzleistung. Zudem stand sie neben der Sozialhilfe, die gänzlich anders finan-ziert und organisiert war, aber dem gleichen Zweck diente. Ob Arbeitslose Arbeitslosen- oder Sozi-alhilfe erhielten, hing lediglich von der Frage ab, ob sie zuvor einen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten. Somit bestand auch ein starker Anreiz, Arbeitslose in das jeweils andere System zu verwei-

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sen, um sich der Finanzierungslasten zu entledigen. Das Arbeitslosengeld II ist demgegenüber kon-sequent steuerfinanziert und bedarfsorientiert. Trotz dieser Fortschritte liegt das Kernproblem des deutschen Arbeitsmarktes unzweifelhaft noch immer im Bereich der Empfänger des Arbeitslosengeldes II. Während die Zahl der Arbeitslosen-geld-I-Empfänger auf unter 1 Million gesunken ist, leben immer noch knapp 5 Millionen Menschen vom Arbeitslosengeld II. Dazu kommen noch einmal knapp 2 Millionen Empfänger von „Sozial-geld“, das nicht-erwerbsfähigen Angehörigen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern zusteht. Selbst wenn berücksichtig wird, dass viele Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht als arbeitslos klassifiziert sind, z.B. weil sie wegen der Betreuung kleiner Kinder dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung ste-hen, so belegen diese Zahlen doch den Handlungsdruck. Das System Hartz-IV fördert offenkundig die Aufnahme einer Beschäftigung nicht genug. Um eine Erklärung dafür zu finden, warum das so ist, muss man etwas tiefer in die Materie einstei-gen. Die Höhe des Arbeitslosengeldes II ist abhängig vom Bedarf des Haushaltes bzw. der „Be-darfsgemeinschaft“. Eine Bedarfsgemeinschaft bilden Personen, von denen erwartet werden kann, dass sie wirtschaftlich füreinander einstehen, z.B. Ehepaare und nichteheliche Lebensgemeinschaf-ten. Im Einzelfall ist es für die Behörden allerdings sehr schwer, die Existenz einer Bedarfsgemein-schaft nachzuweisen. Das Arbeitslosengeld II besteht aus den Regelleistungen für die Bedarfsge-meinschaftsmitglieder sowie der Erstattung der Kosten der Unterkunft. Letztere sind regional und einzelfallbezogen recht unterschiedlich. In der Sozialhilfe, die schon vor der Hartz-IV-Reform die Kosten der Unterkunft trug, lagen sie im früheren Bundesgebiet im Jahr 2003 bei gut 300 Euro für einen Alleinstehenden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit veranschlagte die Kosten für Miete und Heizung in seinen Beispielrechnungen aus dem Jahr 2005 auf 317 Euro. Ein Bericht der Bundesagentur für Arbeit (BA) vom Oktober 2006 kam für Westdeutschland auf rund 230 Euro. Die Statistik der BA weist für März 2007 einen Durchschnittsbetrag von 253 Euro aus. Dieser wird allerdings durch Fälle nach unten gedrückt, in denen das ALG II gemindert wurde oder keine Leis-tungen gezahlt wurden, weil z.B. Besitzer von Eigenheimen keine Mietaufwendungen erstattet be-kommen. Somit bestehen je nach Untersuchung und Berichtskreis deutlich voneinander abweichen-de Schätzungen über die Unterkunftskosten. Zusätzlich zu diesen Leistungen kann ein Anspruch auf den „befristeten Zuschlag“ gemäß Para-graph 24 Sozialgesetzbuch II bestehen. Dieser soll den Übergang vom Arbeitslosengeld I zum Ar-beitslosengeld II abfedern, er beträgt im ersten Jahr des ALG-II-Bezugs zwei Drittel des Unter-schiedes beider Leistungen und wird bei 160 Euro monatlich pro Erwachsenen zuzüglich 60 Euro pro Kind gedeckelt. Eine Familie mit zwei Kindern könnte demzufolge mit einem befristeten Zu-schlag von maximal 440 Euro rechnen. In der Praxis dürfte diese Höchstgrenze bei größeren Haus-halten nur in seltenen Fällen erreicht werden: Erst bei einem Bruttoeinkommen an der Bemessungs-grenze von 5.250 Euro (2007: Westdeutschland) resultiert ein maximales Arbeitslosengeld I von 2.284 Euro, was einen befristeten Zuschlag von etwa 470 Euro ergäbe, wenn da nicht die Begren-zung auf 440 Euro wäre. Im zweiten Jahr des ALG-II-Bezuges wird der befristete Zuschlag halbiert, im dritten Jahr fällt er ganz weg.

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ALG II: Wer was bekommt Arbeitslosengeld II in Euro pro Monat

Alleinste-hend

Alleinerziehend, 1 Kind unter 14

Jahren

Verheiratet Verheiratet, 2 Kinder unter

14 Jahren Regelsatz Haus-haltsvorstand

351 351 316 316

+ Regelsatz weite-rer Erwerbsfähiger

316 316

+ Regelsatz Kind(er)

211 421

+ Mehrbedarfszu-schlag

126

= Summe 351 688 632 1.053 + Kosten der Un-terkunft (West)

230 bis 317

328 bis 414 328 bis 412 453 bis 538

= Bedarf 581 bis 668

1.016 bis 1.102 960 bis 1.044 1.506 bis 1.591

= mit maximalem befristeten Zu-schlag (1. Jahr)

741 bis 828

1.236 bis 1.322 1.280 bis 1.364

1.946 bis 2.031

Stand: Anfang 2009 Quelle: IW-Berechnungen

Der Bedarf markiert die Summe, die der Bedarfsgemeinschaft als Einkommen zur Verfügung ste-hen muss. Sie ist nicht gleich der ALG-II-Zahlung, da Einkommen aus anderen Quellen in der Re-gel auf den Anspruch angerechnet werden. Kindergeld und Unterhaltszahlungen mindern z.B. den ALG-II-Anspruch in gleicher Höhe. Anrechnungsfrei bleibt indes das Elterngeld. Gesondert gere-gelt ist die Anrechnung von Erwerbseinkommen. Da der Gesetzgeber einen Anreiz schaffen wollte, sich einen Teil des benötigten Gelds selbst zu verdienen, werden Löhne und Gehälter nur zu Teilen angerechnet. Dadurch erhält das ALG II den Charakter eines Kombi-Einkommens. Niedrige Er-werbseinkommen werden zumindest soweit aufgestockt, dass den Arbeitnehmern im Vergleich zum Arbeitslosengeld kein finanzieller Nachteil entsteht. Ansonsten würde auch jede Motivation arbei-ten zu gehen schwinden. Somit wird erreicht, dass selbst niedrigste Löhne zu einem existenzsi-chernden Einkommen führen. Durch weitere Stellschrauben wird zudem darauf hingewirkt, dass derjenige, der arbeitet, sich besser stellt als der Nur-ALG-II-Bezieher. In der Kombination mit Transfers erreichen Bezieher niedriger Stundenlöhne durchaus auskömmliche Einkommen.

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Arbeitslosengeld II: Oft höher als ein Stundenlohn in Euro pro Monat Verheiratet,

keine Kinder Alleinerziehend, 1 Kind unter 14

Jahren

Verheiratet, 2 Kinder unter 14

Jahren Nettoeinkommen 868 861 871 + Ergänzendes Arbeitslosen-geld II

357 299 615

+ Kindergeld 0 154 308 = Verfügbares Einkommen 1.225 1.314 1.794 entspricht Bruttoeinkommen ohne Transfers

1.550 1.550 1.900

entspricht Bruttostundenlohn ohne Transfers

9,10 9,10 11,20

Annahme: Bruttostundenlohn 6,50 Euro, Arbeitszeit 170 Stunden pro Monat, durchschnittliche Unterkunftskosten Quelle: IW-Berechnungen

Dabei wird das Erwerbseinkommen gestaffelt angerechnet. Die ersten 100 Euro Bruttoeinkommen bleiben gänzlich anrechnungsfrei; darüber hinaus gehendes Einkommen bis 800 Euro zu 20 Pro-zent. Wer mehr verdient, darf von jedem Euro zwischen 800 und 1.200 Euro dann nur noch 10 Pro-zent behalten. Bei Hilfebedürftigen mit Kindern verschiebt sich die Höchstgrenze auf 1.500 Euro brutto im Monat. Im Ergebnis wird das ALG II mit steigendem Bruttoeinkommen abgeschmolzen. Aus diesem System erwachsen jedoch verschiedene Anreizprobleme: 1. Da der befristete Zuschlag an den Anspruch auf Arbeitslosengeld gekoppelt ist, fällt er bei Ü-berschreiten der Einkommensgrenze, bis zu der ergänzendes ALG II gezahlt wird, ersatzlos weg. Im Extremfall sinkt das verfügbare Einkommen bei einer marginalen Bruttolohnerhöhung um mehrere hundert Euro ab. Daraus entsteht ein starker Anreiz, die Grenze der Hilfebedürftigkeit nicht zu ü-berschreiten, zumindest so lange Anspruch auf den befristeten Zuschlag besteht. 2. Wenn ALG-II-Empfänger arbeiten gehen, müssen sie sich nicht nur damit abfinden, dass ihnen das Arbeitslosengeld gekürzt wird. Sie müssen auch Sozialabgaben und – ab einer gewissen Grenze – Steuern entrichten. Der Nettozuwachs des Gesamteinkommens bleibt deshalb deutlich hinter dem Bruttozuwachs zurück – das demotiviert. Man könnte zwar das ALG II bei Aufnahme einer Arbeit ungekürzt weiterzahlen. Der Öffentlichkeit wäre das aber kaum vermittelbar, wenn selbst durch-schnittliche Einkommen noch mit ergänzenden Fürsorgeleistungen aufgestockt werden. Außerdem würden auf den Bundeshaushalt neue Milliardenausgaben zurollen. Zudem müssen die Empfänger von Fürsorgeleistungen dann damit rechnen, dass sie zu Einkommenssteuerzahlungen herangezogen werden. Schon im gegenwärtigen System erhält eine Alleinerziehende mit einem Kind und 1.500 Euro Bruttomonatseinkommen 110 Euro ergänzendes ALG II. Sie muss auf der anderen Seite aber 132 Euro Einkommenssteuer entrichten – ein solches System kann nicht effizient sein. 3. Die Systematik des Erwerbsfreibetrags sorgt dafür, dass Teilzeiteinkommen stark bevorzugt werden. Die ersten 100 Euro Bruttoverdienst werden überhaupt nicht durch Abgaben oder Transfer-entzug belastet. Auf einem Einkommen von 200 Euro lasten schon 40 Prozent implizite „Besteue-rung“. (Die ersten 100 Euro darf man komplett behalten, die folgenden zu 20 Prozent – also 20 Eu-ro; 80 Euro bekommt der Staat in Form von eingespartem ALG II. Diese 80 Euro bezogen auf die 200 verdienten machen 40 Prozent aus.) Im weiteren Verlauf – also mit höherem Einkommen – wächst dieser Satz an bis zu einem Höchstsatz von 82 Prozent; er wird bei 1.700 Euro Bruttoein-kommen erreicht.

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Ein Beispiel kann die Relevanz dieses Problems verdeutlichen: Eine Alleinerziehende mit einem Kind und 400 Euro Bruttomonatseinkommen aus einem Minijob verfügt über 1.204 Euro Einkom-men. Mit einer Vollzeiterwerbstätigkeit und 1.700 Euro Bruttoeinkommen sind es nur 150 Euro mehr. Wird ein Stundenlohn von 10 Euro brutto unterstellt, beträgt der Zeitaufwand im Minijob 40 Stunden und in der Vollzeiterwerbstätigkeit 170 Stunden. Die Differenz der Arbeitszeit von 130 Stunden und die Differenz des verfügbaren Einkommens entspricht einer Nettoentlohnung pro Ar-beitsstunde von 1,15 Euro. Mit Vollzeitarbeit die Hilfebedürftigkeit zu beenden, ist vor diesem Hin-tergrund nur wenig attraktiv. In der Folge sind über 60 Prozent der Erwerbstätigen, die ergänzendes ALG II beziehen, lediglich teilzeitbeschäftigt. Alleinerziehende: Arbeit lohnt nicht so recht Verfügbares Einkommen einer Alleinerziehenden mit 1 Kind unter 14 Jahren in Euro pro Monat

bei einem Brutto-erwerbseinkom-men von … Euro

= netto

+ ALG II

+ Kinder-geld

+ Zuschlag nach §24 SGB

II

Insgesamt

0 0 890 154 220 1.264 100 100 890 154 220 1.364 200 200 810 154 220 1.384 300 300 730 154 220 1.404 400 400 650 154 220 1.424 500 424 645 154 220 1.444 600 494 596 154 220 1.464 700 564 546 154 220 1.484 800 634 496 154 220 1.504 900 713 427 154 220 1.514

1.000 792 358 154 220 1.524 1.100 861 299 154 220 1.534 1.200 923 247 154 220 1.544 1.300 983 197 154 220 1.554 1.400 1.038 152 154 220 1.564 1.500 1.089 111 154 220 1.574 1.600 1.141 59 154 220 1.574 1.700 1.195 4 154 220 1.574 1.800 1.250 0 154 0 1.404

Annahme: maximaler befristeter Zuschlag Quelle: IW- Berechnungen

Hintergrund: Demografie und Arbeitslosigkeit Nicht wenige Beobachter des Arbeitsmarktes vertreten die Auffassung, dass sich das Arbeitslosen-problem spätestens dann von selbst erledigen wird, wenn aufgrund der demographischen Entwick-lung die Anzahl verfügbarer Arbeitskräfte stark zurückgeht. Tatsächlich wird das Erwerbsperso-nenpotenzial deutlich sinken, sobald die geburtenstarken Jahrgänge aus den 50er und 60er Jahren in Rente gehen. Im Jahr 2050 wird die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter um rund 10 Millio-nen geschrumpft sein. Auch Zuwanderung und die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung können den Rückgang nicht ausgleichen. Dass dies jedoch nicht automatisch zum Verschwinden der Arbeitslo-sigkeit führen muss, liegt an mehreren Gründen:

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• Mismatch: Schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird die Arbeitslosigkeit dadurch hervorgeru-fen, dass Arbeitslose und offene Stellen nicht zueinander passen. Die Wirtschaft hat einen hohen Bedarf an Fachkräften, aber viele Arbeitslose haben keine Berufsausbildung, eine Berufsausbil-dung, die nicht nachgefragt wird, oder die berufliche Qualifikation wurde durch lange Phasen der Arbeitslosigkeit entwertet. Der Fachkräftemangel hilft den Arbeitslosen in doppelter Hinsicht nicht: Einerseits können sie die offenen Stellen nicht besetzen und andererseits leiden sie darunter, wenn aufgrund fehlender Fachkräfte Aufträge nicht bearbeitet werden, die eigentlich auch für sie Be-schäftigung schaffen können. • Sozialsysteme: Eine der Ursachen von Arbeitslosigkeit besteht in dem Abgabenkeil zwischen Arbeitskosten und Nettolöhnen. Dieser Abgabenkeil wird zu einem großen Teil durch die Beiträge zu umlagefinanzierten sozialen Sicherungssystemen erzeugt. Die demographische Entwicklung sorgt dafür, dass sich der Finanzbedarf dieser Sicherungssysteme erhöht, während die Einnahmeba-sis zurückgeht. Der Abgabenkeil wird also größer werden und verstärkt Arbeitslosigkeit verursa-chen.

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3. Kapitel: Die Politikagenda Was getan wurde Der Arbeitsmarkt hat sich in den Jahren 2006 bis 2008 zwar spürbar und substanziell erholt, das Arbeitslosenproblem ist damit insgesamt jedoch längst nicht gelöst. Zumal die Konjunk-tur einbricht. Mit geeigneten wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen kann Arbeits-losigkeit bekämpft werden. Das haben die vergangenen Jahre gezeigt. Ganz verschwinden wird sie voraussichtlich nie. Sie kann aber auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden. Doch wie sehen solche Rahmenbedingungen aus? Sind nicht in den vergangenen Jahren mit den Hartz-Reformen schon genügend Änderungen und Zumutungen umgesetzt worden? Reicht das nicht aus? Um diese Fragen zu beantworten, ist ein kurzer Rückblick auf die Reformen der vergangenen Jahre nützlich. Die im Jahr 2002 von der Hartz-Kommission erdachten und in Teilen sukzessive umge-setzten Maßnahmen können in fünf wesentliche Reformschritte eingeteilt werden: 1. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wurde ausgebaut. Ich-AG, Personal-Service-Agentur (PSA), Entgeltsicherung und „Kapital für Arbeit“ hießen einige der neuen Instrumente. Das Kernstück des Konzeptes der Hartz-Kommission waren die Personal-Service-Agenturen, die Arbeitslose beschäf-tigen, qualifizieren und anderen Unternehmen überlassen sollten. Durch den „Klebeeffekt“ – so hoffte man – könnten die Arbeitslosen wieder ins Erwerbsleben eingegliedert werden. Nicht weni-ger als 500.000 Arbeitslose sollten in diese Gesellschaften überführt werden, letztlich wurden es aber kaum mehr als 30.000. Das Konzept ähnelte der etablierten Zeitarbeit, was auch eines der Probleme war. Die Personal-Service-Agenturen standen in Konkurrenz zu privaten Zeitarbeitsun-ternehmen, die dank besserer Marktkenntnisse weitaus wettbewerbsstärker sind. Da half nicht ein-mal die massive Subventionierung der PSA durch die Bundesagentur für Arbeit. Ein weiteres Prob-lem bestand darin, dass in der Phase der Einführung der PSA die Arbeitskräftenachfrage in Deutschland sehr schwach war. Im Dezember 2007 waren gerade einmal noch 2.400 Personen in einer PSA beschäftigt.

Das zweite Kernelement des Konzeptes der Hartz-Kommission war die Ich-AG. Wenn als Indikator lediglich die Zahl der geförderten Arbeitslosen herangezogen wird, war sie durchaus erfolgreich. Auf ihrem Höhepunkt im Februar 2005 wurden 236.000 Selbständige gefördert. Der Erfolg lag un-ter anderem darin begründet, dass Arbeitslose sehr leicht Geld erhalten konnten. Insbesondere Emp-fänger von Arbeitslosengeld I, die nach Auslaufen ihres Anspruchs aufgrund mangelnder Bedürf-tigkeit kein Anspruch auf nachfolgendes Arbeitslosengeld II hatten, sicherten sich mit der Ich-AG noch einmal drei Jahre lang Leistungen vom Amt. Später wurden die Voraussetzungen für die För-derung verschärft und die Zahl der Ich-AGs sank. Im Jahr 2006 wurde das Instrument schließlich faktisch abgeschafft, indem es mit dem „Überbrückungsgeld“ zum „Gründungszuschuss“ zusam-mengelegt wurde. Zum Jahresende 2007 wurden aber noch immer rund 80.000 Altfälle gefördert. Die wissenschaftlichen Begleituntersuchungen bestätigten der Ich-AG Ende 2006 durchaus positive Eingliederungseffekte. Freilich kam die Erkenntnis zu diesem Zeitpunkt zu spät, da die Politik das Instrument bereits abgeschafft hatte. Alles in Allem konnten die neuen Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik die Arbeitslosigkeit nicht in nennenswertem Umfang verringern. Das war allerdings auch kaum zu erwarten. Seit Jahr-zehnten verausgabt die Bundesagentur für Arbeit Milliardensummen für Weiterbildung, ABM und Ähnliches. Einen messbaren, dauerhaften Effekt auf die Arbeitslosigkeit hatte dies nie.

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Ich-AG und PSA: Höhepunkt längst überschritten Geförderte Personen

Ich-AG Personal-Service-Agentur Jan. 03 1.401 Feb 03 4.766 Mrz. 03 11.089 Apr 03 20.229 Mai. 03 28.913 Jun 03 37.662 2.340 Jul. 03 46.611 6.103 Aug 03 56.189 14.738 Sep. 03 66.864 21.347 Okt 03 77.215 25.403 Nov. 03 86.183 28.405 Dez 03 92.674 30.614 Jan. 04 106.477 31.708 Feb 04 115.592 32.702 Mrz. 04 124.807 26.917 Apr 04 134.326 26.618 Mai. 04 143.244 25.917 Jun 04 150.481 25.661 Jul. 04 157.887 25.840 Aug 04 164.876 26.652 Sep. 04 175.863 26.946 Okt 04 185.475 27.592 Nov. 04 196.199 27.813 Dez 04 214.727 27.497 Jan. 05 234.093 22.213 Feb 05 235.530 20.802 Mrz. 05 235.352 19.208 Apr 05 234.638 17.786 Mai. 05 234.276 14.027 Jun. 05 233.569 11.015 Jul. 05 233.442 10.033 Aug. 05 232.895 8.746 Sept. 05 232.817 6.667 Okt. 05 232.298 6.560 Nov. 05 232.084 6.897 Dez. 05 232.219 7.164 Jan. 06 226.622 6.424 Feb. 06 225.554 6.497 März 06 223.515 6.220 April 06 220.704 6.194 Mai 06 217.448 6.096 Juni 06 217.440 6.058 Juli 06 219.503 5.890 Aug. 06 212.191 5.656 Sept. 06 202.566 5.470 Okt. 06 192.717 5.368

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Nov. 06 184.354 5.402 Dez. 06 176.436 5.344 Jan. 07 161.082 4.443 Feb 07 155.705 4.448 Mrz. 07 149.190 4.399 Apr 07 139.848 4.278 Mai. 07 132.666 4.123 Jun 07 125.559 3.778 Jul. 07 116.442 3.634 Aug 07 112.176 3.307 Sep. 07 104.970 2.894 Okt 07 96.710 2.436 Nov. 07 89.896 2.439 Dez 07 80.455 2.435

jeweils Bestand Quelle: Bundesagentur für Arbeit

2. Der Umbau der Bundesagentur für Arbeit hat am Ende immerhin dazu geführt, dass der Haus-halt der BA saniert werden konnte. Denn die interne Reorganisation und die Neuausrichtung der ak-tiven Arbeitsmarktpolitik haben bewirkt, dass die Ausgaben für Programme deutlich sanken. Seit dem Jahr 2000 wurden die Ausgaben halbiert. Erreicht werden konnte dies zunächst dadurch, dass ineffektive Maßnahmen nicht weiter gefördert wurden. Statt langfristiger, teurer Umschulungen konzentrierte man sich z.B. mehr auf kurzfristige Trainingsmaßnahmen, die deutlich weniger kos-tenintensiv sind. Der konjunkturelle Aufschwung tat ein übriges. Die Zahl der Arbeitslosen sank, was geringere Ausgaben für das Arbeitslosengeld mit sich brachte. Im Ergebnis wurde der Haushalt der Bundesagentur soweit entlastet, dass der Beitragssatz spürbar gesenkt werden konnte. Damit wurde ein eigenständiger Beitrag zur Erhöhung der Beschäftigung und somit zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit geleistet, der positiver sein dürfte als die Effekte teurer Maßnahmen der Beschäfti-gungsförderung. Aktive Arbeitsmarktpolitik: Ausgaben halbiert in Millionen Euro

2000 20.819 2001 21.931 2002 22.143 2003 20.896 2004 18.721 2005 13.576 2006 11.120 2007 10.423

Ursprungsdaten: Bundesagentur für Arbeit

3. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wurde liberalisiert. In der Folge expandierte die Zeitar-beit. Die Betriebe ordern, wenn es die Auftragslage zulässt, jetzt schneller Personal. Ohne dieses In-strument wäre die Zahl der Beschäftigten sicher nicht so schnell gestiegen – denn aufgrund des ri-giden Kündigungsschutzes überlegen es sich die Firmen zweimal, ob sie einen regulären Mitarbei-ter einstellen, den sie in der Flaute nicht mehr so leicht kündigen können.

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4. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere wurde gekürzt. Was dazu beigetragen hat, dass sich die Betroffenen etwas intensiver um eine neue Stelle gekümmert haben. Jetzt wurde das Gesetz allerdings wieder geändert und die Bezugsdauer wieder verlängert. Den Älteren tut man da-mit letztlich keinen Gefallen; die Suche nach einem neuen Job wird verzögert, das Know-how der Arbeitslosen veraltet zusehends, was die Vermittelbarkeit erschwert. 5. Die Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurde zusammengelegt. Dadurch kam es in erster Linie bei den ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfängern zu finanziellen Einbußen. Die Arbeitslosenhilfe war, da ihre Höhe sich am letzten Nettoeinkommen orientierte, oftmals höher als das Arbeitslosengeld II. Zwar wurden Einkommen, z.B. der Lohn des Partners, auch in der Arbeitslosenhilfe angerechnet. Doch diese Anrechnung war durch Freibeträge viel wirkungsloser als das im Arbeitslosengeld II der Fall ist. Das führte zu der absurden Situation, dass Haushalte mit einem Nettoeinkommen von mo-natlich 3.000 Euro unter bestimmten Umständen noch Anspruch auf ergänzende, steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen hatten. Verlierer der Hartz-IV-Reform waren mithin Bezieher von Arbeitslosenhilfe, die vor ihrer Arbeits-losigkeit ein hohes Einkommen und/oder einen Partner mit gutem Verdienst hatten. In diesen Fällen kann indes kaum von einer unbilligen Härte ausgegangen werden. Schließlich soll eine Fürsorge-leistung nur denjenigen zugute kommen, die die Hilfe der Gesellschaft brauchen, weil sie sich nicht selbst helfen können. Bei 3.000 Euro Haushaltsnettoeinkommen kann aber von Hilfsbedürftigkeit keine Rede sein. Ebenso wenig darf der Steuerzahler herangezogen werden, um den Lebensstandard von Langzeitarbeitslosen bis zum Rentenalter zu finanzieren. Wer Fürsorgeleistungen erhält, sollte bekommen, was er zum Leben und zur gesellschaftlichen Teilhabe benötigt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bekamen 10 Prozent der Arbeitslosenhilfeempfänger – bedingt durch die Gesetzesänderung – kein Geld mehr vom Staat, 40 Prozent der ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger konnten ihr Einkommen mit der Hartz-Reform dagegen steigern. Das war z.B. dann der Fall, wenn zuvor die Arbeitslosenhilfe nicht das Existenz-minimum abdeckte, die Betroffenen aber auch keinen Antrag auf ergänzende Sozialhilfe gestellt hatten. Etwa 50 Prozent der Arbeitslosenhilfeempfänger mussten sich mit weniger Geld zufrieden geben. Überwiegend verbessern konnten sich dagegen die vormaligen Empfänger von Sozialhilfe. Der Re-gelsatz eines Alleinstehenden erhöhte sich von 296 Euro auf 347 Euro im Monat. Eine Alleinerzie-hende mit einem Kind kann – außer den Miet- und Heizkosten – über 680 Euro statt wie früher über 607 Euro verfügen, und eine Familie mit zwei Kindern verbesserte sich von 888 auf 1.041 Euro. Gestrichen wurden im Gegenzug allerdings diverse „Einmalbedarfe“ (z.B. ein neuer Wintermantel), die nunmehr durch den Regelsatz finanziert werden müssen. Einige einmalige Zahlungen werden jedoch auch weiterhin zusätzlich gewährt (Erstausstattung der Wohnung, Kosten für mehrtägige Klassenfahrten). Durch die Pauschalierung der Leistungen konnte es somit im Einzelfall zu einer Verschlechterung kommen, im Normalfall hat sich aber das Einkommen erhöht. Dazu kommt, dass das ALG II anders als die Sozialhilfe keine Unterhaltspflichten enger Angehöriger nach sich zieht.

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Hartz IV: Gewinner und Verlierer Verfügbares Einkommen vor und nach der Hartz-IV-Reform in Euro pro Monat

Alleinstehende Arbeitslosengeld II 2005 561 Sozialhilfe 2004 512 Arbeitslosenhilfe 2004 (1) 530 Arbeitslosenhilfe 2004 (2) 1.060 Alleinerziehende, 1 Kind unter 7 Jahren Arbeitslosengeld II 2005 1.044 Sozialhilfe 2004 975 Arbeitslosenhilfe 2004 (1) 724 Arbeitslosenhilfe 2004 (2) 1.294 Verheiratete, 2 Kinder unter 7 Jahren Arbeitslosengeld II 2005 1.523 Sozialhilfe 2004 1.376 Arbeitslosenhilfe 2004 (1) 878 Arbeitslosenhilfe 2004 (2) 1.448 Verheiratete, 2 Kinder unter 7 Jahren, 1 Partner verdient 400 Euro netto

Arbeitslosengeld II 2005 1.651 Sozialhilfe 2004 1.574 Arbeitslosenhilfe 2004 (1) 1.278 Arbeitslosenhilfe 2004 (2) 1.848 Verheiratete, 2 Kinder unter 7 Jahren, 1 Partner verdient 2.000 Euro netto

Arbeitslosengeld II 2005 2.308 Sozialhilfe 2004 2.308 Arbeitslosenhilfe 2004 (1) 2.308 Arbeitslosenhilfe 2004 (2) 2.643

Unterkunftskosten vor und nach der Reform: Alleinstehende 216 Euro, Alleinerziehende 368 Euro, Familie 488 Euro; (1) ehemaliges Nettoeinkommen 1.000 Euro (2) ehemaliges Nettoeinkommen 2.000 Euro Quelle: IW-Berechnungen

Zum Teil haben die umgesetzten Reformen positive Wirkungen entfalten können. In der Retrospek-tive gab es aber nur eine Reform, die spürbar und eindeutig zu einer Verringerung der staatlichen Leistungen im Falle von Arbeitslosigkeit geführt hat, nämlich die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere. Die Hartz IV-Reform mag im Einzelfall zu Härten geführt haben, ei-ne systematische Verschlechterung gegenüber dem Status quo ante ist aber nicht erkennbar. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, wenn ausgerechnet der einzige wirkliche Einschnitt nach nur einem Jahr wieder rückgängig gemacht worden ist.

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Was unterlassen werden sollte Nicht weniger wichtig als eine Agenda für noch ausstehende, notwendige Arbeitsmarktrefor-men ist eine Agenda von Maßnahmen, die unterbleiben sollten bzw. in die falsche Richtung gehen. Seit dem Jahr 2007 werden verstärkt Initiativen diskutiert, die am Ende den Menschen wieder ein Stück Selbstverantwortung nehmen. Verlängerte Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I. Mit Wirkung zum Januar 2008 hat die Bun-desregierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von maximal 18 auf bis zu 24 Monate erhöht. Damit wurde die Kürzung, die erst 2006 wirksam geworden war, zwar nicht vollständig, aber im-merhin zu einem erheblichen Teil rückgängig gemacht. Und das, obwohl die Zahl der Arbeitslosen-geldempfänger und der älteren Arbeitslosen stark zurückgegangen ist – die Reform also gewirkt hat. Die erneute Verlängerung wird den Anreiz erhöhen, einen gleitenden Übergang von der Arbeitslo-sigkeit in die Rente anzustreben. Der Anreiz, sich eine neue Beschäftigung zu suchen und dafür ge-gebenenfalls auch Konzessionen einzugehen, wird geschwächt. Damit wird der Langzeitarbeitslo-sigkeit und der Arbeitslosigkeit Älterer Vorschub geleistet. Einführung von Mindestlöhnen. Besonders kontrovers wird die Einführung von Mindestlöhnen diskutiert. Während die Gewerkschaften und Teile der Bundesregierung einen allgemeinen gesetzli-chen Mindestlohn fordern, werden parallel branchenspezifische Mindestlöhne für allgemeinver-bindlich erklärt, um so schon einmal Nägel mit Köpfen zu machen. Dabei werden betriebswirt-schaftliche Grundwahrheiten einfach ignoriert: Grundsätzlich kann ein Arbeitgeber einem Arbeit-nehmer höchstens soviel Lohn zahlen, dass die Arbeitskosten – die neben dem Lohn noch die Ar-beitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, Unfallversicherungsbeiträge und anderes mehr umfassen – nicht höher als der Ertrag sind, den der Arbeitnehmer mit seiner Arbeit für das Unternehmen er-wirtschaftet. Dieser Grundsatz leuchtet unmittelbar ein: Wenn ein Arbeitnehmer mehr kostet als er einbringt, ist der Arbeitsplatz unwirtschaftlich. Jeder verantwortlich handelnde Unternehmer ist ge-zwungen, den Arbeitsplatz abzubauen, wenn er nicht den Bestand des Unternehmens und damit weitere Arbeitsplätze gefährden will. Auch das Argument, nur so könne man dafür sorgen, dass die Leute nicht ausgebeutet werden, zieht nicht. Wenn nämlich einem Arbeitnehmer viel weniger gezahlt wird als er einbringt, haben andere Unternehmen einen Anreiz, ihn ebenfalls zu beschäftigen. Dafür müssen sie aber beim Lohn etwas drauflegen. Somit steigt der Lohn, bis er den Ertrag der damit erkauften Arbeitsleistung erreicht. Für den Mindestlohn heißt das: Wenn der Arbeitnehmer nicht das erwirtschaften kann, was aus dem Mindestlohn an Arbeitskosten resultiert, wird er seinen Arbeitsplatz verlieren. Wie viel ein Arbeit-nehmer erwirtschaftet, hängt wiederum von seiner Qualifikation ab. Je niedriger die Qualifikation ist, desto geringer ist der Ertrag und desto höher ist auch die Gefahr, dass die Arbeitskosten damit nicht finanziert werden können. Der Mindestlohn gefährdet somit in erster Linie die Arbeitsplätze der Geringqualifizierten – ausgerechnet jene Gruppe, die es aufgrund von Globalisierung und tech-nischen Fortschritt auf dem Arbeitsmarkt ohnehin schon schwer hat. Gegen diese Logik wenden die Befürworter des Mindestlohns vor allem zwei Argumente ein: 1. Der Mindestlohn schade nicht, da er durch Preissteigerungen für die betroffenen Güter und Dienstleistungen aufgefangen werden könne. Die höheren Preise führen nicht zu einem Rückgang der Nachfrage, da z.B. in Bereichen wie dem Friseurgewerbe billigere ausländische Konkurrenz nicht befürchtet werden muss. Bei persönlichen Dienstleistungen ist es in der Tat kaum vorstellbar, dass jemand zum Haare schneiden von Aachen nach Stettin fährt. Allenfalls Leute in Grenznähe werden ins Nachbarland

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ausweichen. Übersehen wird bei dieser Argumentation aber, dass es außer der Fahrt ins Ausland durchaus andere Reaktionen auf Preissteigerungen geben kann. So erscheint plausibel, dass Dienst-leistungen schlicht weniger in Anspruch genommen werden. Statt alle vier Wochen geht man eben nur noch alle sechs Wochen zum Friseur. In der Folge hat dieser weniger Arbeit und es wird Be-schäftigung abgebaut. Kaum von der Hand zu weisen ist auch die Vermutung, dass sich ein Teil der vom Mindestlohn betroffenen Dienstleistung in die Schattenwirtschaft verlagert. Wer schwarzarbei-tet, braucht sich um gesetzliche Mindestlöhne keine Gedanken zu machen und ist damit wettbe-werbsfähiger als die regulär arbeitenden Kollegen. Letztlich besteht die Möglichkeit, die teurer ge-wordene menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Zwar ist nicht jede Dienstleistung der Automation zugänglich, doch auch hier macht der technische Fortschritt nicht vor deutschen Min-destlohngesetzen halt. 2. Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen – so ist zu hören –, dass der Mindestlohn keine negativen Beschäftigungseffekte habe. Im Vereinigten Königreich – das immer als Musterbeispiel dienen muss – wäre trotz des im Jahr 1999 eingeführten Lohnminimums der Arbeitsmarkt sogar ge-räumt. Wer genau hinschaut, erkennt aber auch sofort, warum auf der Insel trotz Mindestlohn keine Jobs verloren gehen. Zum einen gibt es Ausnahmeregelungen für Jugendliche – so wird der volle Satz erst mit 22 Jahren fällig. Zum anderen bleiben die Mindestlöhne in fast allen Branchen unter den ohnehin auf dem Markt gezahlten Löhnen: Der Mindestlohn gilt in Großbritannien trotz Erhö-hungen von 3,60 auf 5,52 Pfund pro Stunde nicht einmal für 2 Prozent der Erwerbstätigen. Wenn die Mindestlöhne jedoch deutlich über den Marktlöhnen liegen und der Arbeitsmarkt nicht leerge-fegt ist, geht der Schuss nach hinten los. Dies illustriert das Beispiel Frankreich. Dort bleiben nicht zuletzt die vielen jungen Migranten vom Arbeitsmarkt ausgesperrt, weil sie ihre Löhne nicht erwirt-schaften. In der Folge ist in Frankreich die Jugendarbeitslosigkeit mit 18 Prozent doppelt so hoch wie in Deutschland. Auch wissenschaftliche Untersuchungen über die Beschäftigungswirkung von Mindestlöhnen för-dern in dieser Frage keine eindeutigen Erkenntnisse zu Tage. Das ist auch schwierig. Denn ein Mindestlohn ist immer nur ein Mosaikstein im ganzen institutionellen Bild einer Volkswirtschaft. Ein „Rosinenpicken“ ist daher nicht hilfreich. Es ist unsinnig, den britischen Mindestlohn zum Vor-bild zu nehmen, auf der anderen Seite aber die Grundzüge des britischen Sozialsystems rundheraus abzulehnen. Das niedrigere Arbeitslosengeld etwa „motiviert“ dort viele, sich schnell wieder eine Stelle zu suchen. Nicht nur beim Beweis der Beschäftigungsunschädlichkeit kommen die Protagonisten von Mindest-löhnen ins Schwimmen. Auch auf die Frage, wie hoch er sein soll, gibt es verschiedene Antworten. Man müsse davon leben können, heißt es immer wieder. Doch was bedeutet das genau? Interpretiert man das Existenzminimum als den Bedarf, der im Sozialgesetzbuch festgelegt ist, dann muss ein Alleinstehender bei durchschnittlichen Unterkunftskosten über 563 Euro im Monat verfügen kön-nen. Um dieses Nettoeinkommen mit einer Erwerbstätigkeit zu verdienen, reicht ein Bruttostunden-lohn von 4,10 Euro bei Vollzeit. Arbeitet der Alleinstehende nur in Teilzeit, müsste der Bruttolohn 6,50 Euro in der Stunde betragen. Setzt man das Existenzminimum nicht beim Bedarf an, sondern beim Einkommen, bei dem kein Anspruch mehr auf ergänzendes Arbeitslosengeld II besteht, erhöht sich der benötigte Bruttolohn auf 6,50 Euro bis 10,20 Euro. Für Familien ergeben sich noch höhere Beträge. Um Bedürftigkeit zu vermeiden, müsste der Mindestlohn – je nach Definition der Bedürftigkeit, je nach Arbeitszeit und je nach Haushaltsgröße – 4,10 Euro bis 14,60 Euro betragen. Das heißt: Es lässt sich überhaupt kein einheitlicher Lohn festlegen, mit dem Bedürftigkeit vermieden werden könnte, da diese maßgeblich auch von Arbeitszeit, Haushaltsgröße und anderen Einkommensquel-len abhängig ist.

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Der Mindestlohn ist somit als Instrument der Sozialpolitik völlig ungeeignet, mit seiner Hilfe kön-nen individuelle Notlagen nicht zielgenau behoben werden. Selbst bei einem Mindestlohn von 8 Eu-ro pro Stunde wären Familien noch auf ergänzende Transfers angewiesen. Es muss also ohnehin immer noch ein System der Mindesteinkommenssicherung im Hintergrund bleiben. Daher ist es ef-fizienter, die Sicherung des Mindesteinkommens von vorneherein in diesem steuerfinanzierten Sys-tem zu verankern. Das Arbeitslosengeld II löst diese Aufgabe bereits jetzt, indem geringe Er-werbseinkommen aufgestockt werden. Auch der Blick ins Ausland belegt, dass der Mindestlohn Armut nicht vermeidet – selbst im hoch-gelobten Großbritannien. Im Gegenteil: In England, Schottland, Wales und Nordirland gelten im-merhin 30 Prozent der Bürger als arm, weil sie ein Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Pro-Kopf-Einkommens haben. In Deutschland und Österreich dagegen, die auf flächende-ckende Mindestlöhne verzichten, sind längst nicht so viele Menschen arm – lediglich 25 Prozent. Und so muss letztlich auch in den Mindestlohnländern der Staat durch Transfers dafür sorgen, dass am Ende mehr Menschen anständig leben können. In England gelten nach Auszahlung von Sozial-hilfe etc. noch 19 Prozent der Bürger als arm, in Frankreich 13 Prozent und in den Niederlanden 10 Prozent. (In Deutschland sinkt die Armutsquote so auf 13 Prozent.) Hartz IV: Kein Maßstab für einen Mindestlohn Um ein dem ALG II entsprechendes Einkommen zu erzielen, müssten Arbeitnehmer je nach Familienstand und Ar-beitszeit folgende Bruttostundenlöhne erhalten, in Euro

bei Vollzeit (39 Stunden/Woche)

bei Teilzeit (25 Stunden/Woche)

Alleinstehende ALG-II-Basisleistungen (Regelsatz plus Miete)

4,10 6,50

Keinerlei Anspruch auf er-gänzendes ALG II

6,50 10,20

Alleinerziehende, 1 Kind unter 7 Jahren ALG-II-Basisleistungen (Regelsatz plus Miete)

6,80 10,60

Keinerlei Anspruch auf er-gänzendes ALG II

8,90 14,00

Verheiratet, 2 Kinder unter 7 Jahren ALG-II-Basisleistungen (Regelsatz plus Miete)

9,30 14,60

Keinerlei Anspruch auf er-gänzendes ALG II

9,30 14,60

Verheiratet, 2 Kinder unter 7 Jahren, ein Partner verdient 400 Euro pro Monat ALG-II-Basisleistungen (Regelsatz plus Miete)

6,20 9,70

Keinerlei Anspruch auf er-gänzendes ALG II

6,40 10,00

Quelle: IW-Berechnungen

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Ausweitung sozialer Transferleistungen. Mit der Erhöhung der Milchpreise Mitte des Jahres 2007, spätestens aber mit der Verteuerung der Energiepreise wurde verstärkt der Vorschlag disku-tiert, die Regelsätze beim Arbeitslosengeld II zu erhöhen. Wohlfahrtsverbände und Linkspartei for-dern eine Anhebung von gegenwärtig 351 Euro auf über 400 Euro. Dabei hat der Gesetzgeber die Anpassung der Sätze klar geregelt: Alle fünf Jahre wird anhand der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe der Konsum der unteren Einkommensschichten ermittelt. Ausgehend von dieser Kon-sumstruktur wird der Regelsatz berechnet. In der Zwischenzeit wird das ALG II parallel zu den Renten erhöht. Die wiederum folgen – mit Abstrichen – der Lohnentwicklung. Damit ist sicherge-stellt, dass sich die Transfereinkommen nicht deutlich schneller erhöhen als die Löhne. Wenn dies – z.B. durch die Anhebung der Regelsätze auf 400 Euro – so wäre, dann würden noch mehr ALG-II-Bezieher sagen, „nee, der Job rechnet sich für mich nicht“. Der Anspruchslohn, also der Lohn, den Arbeitslose verlangen, um wieder erwerbstätig zu werden, würde damit steigen. Da aber die Pro-duktivität der Arbeitnehmer unverändert bliebe, würden Arbeitslose seltener eine Stelle bekommen. Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung. Arbeitsmarktpolitik in Form von öffentlich ge-förderter Beschäftigung ist bei der Regierung ein beliebtes Instrument. Dies ist wenig überraschend, da durch solche Maßnahmen die registrierten Arbeitslosenzahlen unmittelbar gesenkt werden. Ins-besondere im Vorfeld von Wahlen kann das gewollt sein. Eine Lösung für das Arbeitslosigkeits-problem ist die faktische Übernahme in den Staatsdienst natürlich nicht. Im Gegenteil, wissen-schaftliche Begleitstudien bescheinigen diesen Maßnahmen sogar negative Effekte: Durch die Teil-nahme an ABM & Co. werden die Arbeitslosen davon abgehalten, sich einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu suchen. Vor diesem Hintergrund wurden die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von der Bundesagentur für Arbeit in den vergangenen Jahren völlig zu Recht zurückgefahren. Insofern kommen nur politische Gründe für die Entscheidung der Bundesregierung in Frage, das untaugliche Mittel im Gewande neuer Programme („Kommunal-Kombi“, „Beschäftigungszuschuss“) wiederzu-beleben. Auch die geförderte Beschäftigung für Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Rahmen von 1-Euro-Jobs wird nicht so gehandhabt, dass sich positive Eingliederungseffekte ergeben können. Die 1-Euro-Jobs haben durchaus eine Berechtigung. Mit ihnen kann man testen, ob jemand überhaupt arbeiten will. Doch für diese Rolle müssten sie an jene Arbeitslosen vergeben werden, deren Arbeitsbereit-schaft von den Fallmanagern der Arbeitsagenturen in Zweifel gezogen werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: 1-Euro-Jobs machen in der Regel die Hilfeempfänger, die sich darauf beworben haben. Deren Arbeitsbereitschaft steht aber gar nicht in Frage. Im Einzelfall können die 1-Euro-Jobs auch dazu dienen, den Arbeitslosen verloren gegangene soziale Kompetenzen wiederzugeben. Aber auch in diesem Fall müssen die Fallmanager individuell entscheiden, ob dieses Instrument ge-eignet ist.

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ABM & Co.: Auf dem Rückzug Zahl der Teilnehmer

ABM

Strukturanpas-sungsmaßnah-

men

1-Euro-Jobs

Beschäftigung schaf-fende Infrastruktur-

maßnahen 1991 281.750 1992 464.175 1993 279.922 22.486 1994 252.725 87.680 1995 273.189 108.561 1996 261.529 92.518 1997 209.397 88.486 1998 216.223 57.172 1999 230.626 59.180 2000 216.090 61.511 2001 176.664 57.659 2002 132.778 58.898 620 2003 95.802 45.962 1.607 2004 85.169 30.487 1.842 2005 47.782 13.115 201.207 965 2006 43.720 6.099 293.114 590 2007 40.504 1.956 321.626 684

Jahresdurchschnitt aus 12 Monatswerten Ursprungsdaten: Bundesagentur für Arbeit

Re-Regulierung der Zeitarbeit. Der rasante Zuwachs der Zeitarbeit veranlasst Gewerkschaften und Teile der Bundesregierung, einer stärkeren Regulierung das Wort zu reden. Grundidee ist, ei-nerseits einen Mindestlohn zu vereinbaren, andererseits aber auch den „equal-pay“-Grundsatz für alle Zeitarbeitnehmer verbindlich festzulegen. Danach müssen die ausleihenden Betriebe den Zeit-arbeitern denselben Lohn zahlen wie ihren Stammbelegschaften – obwohl die gemieteten Kräfte längst nicht so produktiv sein können wie die fest eingestellten Kräfte. Die besondere Regulierung der Zeitarbeit ist auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil sie per se nicht prekärer ist als Beschäfti-gung in anderen Branchen. So gelten für die Zeitarbeit die gleichen Regeln des Teilzeit- und Befris-tungsgesetzes wie für alle Unternehmen. Verkettete befristete Verträge, die an Überlassungsaufträ-ge geknüpft sind, sind demnach nicht möglich. Auch bei der Kündigung von Mitarbeitern müssen die gleichen gesetzlichen Vorgaben beachtet werden. Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Noch in einem frühen Stadium der Dis-kussion befindet sich die Konzeption eines Grundeinkommens bzw. Bürgergeldes, das ohne jegli-che Bedingung als soziale Grundsicherung an jeden Einwohner gezahlt werden soll. Vorgeschlagen wurden eine ganze Reihe verschiedener Modelle, darunter vom Drogerieunternehmer Götz Werner, von der Landesregierung Thüringen und vom Hamburgischen Weltwirtschafts-Institut. Danach soll jeder Bürger eine bestimmte Summe im Monat erhalten, die einen Großteil der Ansprüche an Sozi-alleistungen abdeckt. So könnte das Grundeinkommen Arbeitslosengeld, Rente, Bafög, die Sozial-hilfe und Anderes ersetzen. Die Höhe des Grundeinkommens liegt den Vorschlägen zufolge bei 600 bis 800 Euro im Monat für Erwachsene, für Kinder entsprechend weniger. Etwas anders ist das Grundeinkommens-Modell der Grünen konzipiert. Hier ist das Grundeinkommen geringer (420 Eu-ro), ersetzt aber nicht die bestehenden Sozialleistungen, sondern kommt obendrauf.

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Gemeinsam ist den Vorschlägen, dass ihre Umsetzung enorme Summen kostet. Selbst der Vor-schlag der Grünen würde noch mit 400 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Am teuersten wäre die Vision von Götz Werner, der am Ende bis zu 1.500 Euro monatlich zahlen möchte. Die Kosten ei-nes solchen Programms würden zwei Drittel des gesamten Inlandsprodukts ausmachen. Auch die Streichung anderer bestehender Sozialleistungen kann die Kosten nicht annähernd kompensieren. Dazu kommt, dass etwa im Falle der Renten bereits rechtlich unangreifbare Ansprüche entstanden sind, die noch in Jahrzehnten auf jeden Fall bedient werden müssen. Finanzierbar wäre die Idee mithin nur mit extremen Steuererhöhungen. Götz Werner etwa möchte die Konsumsteuern erhöhen. Doch diese müssten, um das Grundeinkommen zu finanzieren, in aberwitzige Höhen steigen. Deutschland würde zu einem Land der Schmuggler, das seinen Bedarf zum größten Teil im dann wesentlich niedriger besteuerten Ausland deckt. Die Grünen schlagen eine Finanzierung durch hö-here Einkommenssteuern vor. Belastet werden sollen aber ausschließlich höhere Einkommen. Da zur Finanzierung des Grundeinkommens das Aufkommen aus der Einkommenssteuer mehr als ver-doppelt werden müsste, würden höhere Einkommen drastische Steuererhöhungen verkraften müs-sen. Der Anreiz, viel zu leisten und viel zu verdienen, würde damit im Keim erstickt – was auch für weniger Leistungsfähige nicht ohne Folgen bleibt. Völlig unsicher ist im Ergebnis, wie die Beschäftigungswirkungen einer solchen Reform ausfallen würden. Es ist durchaus möglich, dass in den unteren Einkommensbereichen ein höherer finanziel-ler Arbeitsanreiz entsteht. Denn alles dazu verdiente Geld schmälert nicht wie heute das ALG II, sondern es kommt „on Top„. Auf der anderen Seite gibt es sicher Menschen, denen Freizeit wichti-ger ist als der Job. Sie könnten es sich künftig leisten, auf Erwerbseinkommen ganz oder teilweise zu verzichten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt es aber bei höheren Einkommen zu negativen Anreizeffekten, denn die höheren Einkommensgruppen sollen ja mit ihren Steuerzahlungen die Grundeinkommen finanzieren. Abgesehen von der mehr als wackeligen Finanzierung stellt sich die Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen überhaupt ein erstrebenswertes Modell ist. Grundsatz der sozialen Marktwirt-schaft ist, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Diejenigen, die diese Verantwortung nicht wahrnehmen können, haben Anspruch auf die solidarische Unterstützung der Gesellschaft – und zwar ohne darauf abzustellen, wer die Schuld an der Notlage trifft. Hilfe erfährt auch der, der selbstverschuldet in Not geraten ist. Die einzige Gegenleistung, die die Gesellschaft einfordert, ist das Bemühen, sich selbst aus der Notlage wieder zu befreien. Damit schützt sich die Gesellschaft vor der Ausbeutung durch jene, die ihre Selbstverantwortung nicht wahrnehmen wollen. Das Grundeinkommen stellt dieses Prinzip auf den Kopf. Geholfen wird jedem, unabhängig davon, ob diese Hilfe gewünscht oder erforderlich ist. Die Selbstverantwortung wird dem Individuum ge-nommen und durch ein staatliches Versorgungsversprechen ersetzt. Mit der Selbstverantwortung geht aber auch Selbstbestimmtheit und die freie Entfaltung der Persönlichkeit verloren. Die Men-schen werden zu Abhängigen des allumfassenden Sozialstaats degradiert.

Was noch getan werden muss Die Konjunktur flaut ab – die Arbeitslosenversicherung muss deshalb wetterfest gemacht werden. Gegen den sich abzeichnenden Arbeitskräftemangel muss mehr in Sachen Zuwande-rung geschehen. Die Finanzen der Arbeitslosenversicherung haben sich in den vergangenen Jahren positiv entwi-ckelt. Dazu beigetragen hat neben den konjunkturell bedingt rückläufigen Ausgaben für Arbeitslo-sengeld auch die Konsolidierung der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik. Seit 2001 konnten auf diesem Gebiet 10 Milliarden Euro eingespart werden. Auf den zweiten Blick ist der Sparerfolg

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jedoch nicht mehr ganz so beeindruckend. Berücksichtigt werden muss nämlich auch, dass die Wiedereingliederungsmaßnahmen für Arbeitslosenhilfeempfänger – jetzt ALG-II-Bezieher – seit dem Jahr 2005 vom Bund finanziert werden. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) muss nur noch für die Arbeitslosengeld-I-Empfänger aufkommen – und diesen die ABM-Stellen bezahlen. Trotzdem sanken die Ausgaben für ABM & Co. zuletzt nicht im gleichen Maße wie die Zahl der Empfänger. Allein im Jahr 2007 stiegen die Pro-Kopf-Ausgaben gegenüber dem Vorjahr um über 25 Prozent auf 9.700 Euro. Das heißt: Die Bundesagentur gibt für das wenig sinnvolle Instrument der Arbeits-beschaffungsmaßnahmen wieder mehr Geld aus. Das heißt aber auch: Die realisierten Einsparungen beruhen vor allem aus der rückläufigen Zahl der Arbeitslosengeldempfänger. Damit die Bundesagentur für die kommende Rezession gerüstet ist, muss die Konsolidierung fort-gesetzt werden. Sonst droht im Abschwung wieder die Spirale aus höheren Beitragssätzen, steigen-den Arbeitskosten und Beschäftigungsverlusten. Die Bundesregierung trägt in dieser Hinsicht große Verantwortung. Sie darf die Konsolidierung nicht gefährden, indem bestehende Leistungen großzü-gig ausgeweitet oder gänzlich neue Leistungen gesetzlich festgeschrieben werden. Zu unterlassen sind auch Versuche, die Finanzreserven der BA in Höhe von rund 18 Milliarden Euro in den Bun-deshaushalt umzuleiten, indem der Arbeitslosenversicherung sozialpolitische Aufgaben zugewiesen werden, die eigentlich aus Steuermitteln zu finanzieren sind. Bundesagentur für Arbeit: Die Finanzen

2005 2006 2007 2008 Beitragssatz in Pro-zent

6,5 6,5 4,2 3,3

Einnahmen in Millio-nen Euro

52.692 55.384 42.838 38.146

darunter: Beiträge 46.989 51.176 32.264 26.375 Ausgaben in Millio-nen Euro

53.089 44.169 36.196 43.115

darunter: Arbeitslo-sengeld

27.019 22.899 16.934 15.905

Saldo -397 11.215 6.642 -4.969 2008: BA-Haushaltsplanung Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Neben der Konsolidierung der Arbeitslosenversicherung muss auch die Zuständigkeit für Arbeitslo-sengeld-II-Empfänger neu geregelt werden. Diese ist von Beginn an durch politische Kompromisse statt durch ökonomische Überlegungen gekennzeichnet. Damit am Ende der Diskussion über das Hartz-IV-Gesetz 2004 überhaupt eine Einigung zwischen Bundestag und Bundesrat stand, verein-barte man eine Tandemlösung: Zuständig wurden sowohl die von der damaligen Bundesregierung favorisierte BA als auch die Kommunen. Beide sollten sich in „Arbeitsgemeinschaften“ zusammen-schließen. Solche Arbeitsgemeinschaften verwalten gegenwärtig in 353 Landkreisen und Städten die Auszahlung von Arbeitslosengeld II und bemühen sich um die Wiedereingliederung der Betrof-fenen in den Arbeitsmarkt. Sie sind für über 4 Millionen und damit den weitaus größten Teil der Leistungsempfänger zuständig. Weitere 69 sogenannte Optionskommunen betreuen Langzeitar-beitslose eigenständig, in 21 Kommunen konnte man sich nicht auf die Bildung einer Arbeitsge-meinschaft einigen. In diesen Fällen werden die Probanten von Arbeitsagenturen und Sozialämtern betreut.

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Sonderlich erfolgreich war das Modell der Arbeitsgemeinschaften nie. Im Gegenteil, die Reibungs-verluste bei der Kooperation beider Behörden waren so gravierend, dass die Arbeitsgemeinschaften bis in das Jahr 2006 hinein gerade einmal die pünktliche Auszahlung der Transferleistungen sicher-stellen konnten. Das „Fördern und Fordern“ kam viel zu kurz. Diese Schwierigkeiten bestehen mit-unter bis heute fort. Da mittlerweile das Bundesverfassungsgericht die Konstruktion auch noch als verfassungswidrig eingestuft hat, muss ohnehin eine neue Lösung gefunden werden. Dabei haben die Reformer einen schwierigen Job vor sich. Sie müssen auf drei Ebenen entscheiden, wer für was zuständig ist. Dabei gibt es für nahezu jede Regelung ein Für und Wider: 1. Festlegung der Regeln. Die Gesetzgebungskompetenz für die soziale Grundsicherung liegt zurzeit beim Bund und – über den Umweg des Bundesrates – bei den Ländern. Der Bund bestimmt, wie hoch das Arbeitslosengeld II ist, welche Freibeträge gelten usw. Diese zentrale Regelung kann sinnvoll sein. Wenn jede Kommune selbst über die Höhe der sozialen Leistungen entscheiden wür-de, könnte es einen „Wettlauf nach unten“ geben, da die Leistungsempfänger tendenziell in die Re-gion mit den höchsten Leistungen ziehen. Weil es in dieser Region dann immer mehr Leistungs-empfänger gibt, muss sie die Leistungen immer weiter senken, bis sie zumindest nicht mehr attrak-tiver ist als in benachbarten Kommunen. Auf der anderen Seite ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass Transferempfänger gezielt über größere Entfernungen in eine bestimmte Kommune mit hohen Sozialleistungen umziehen, zumal ein Orts-wechsel auch immer mit Kosten verbunden ist. Wenn jede Kommune ihre eigenen Regeln hätte, könnte man – gleichsam im Wettbewerb – feststellen, welches System am effizientesten ist. Die Gemeinden könnten voneinander lernen, welche Regelungen sinnvoll sind und welche nicht. Mög-lich ist aber auch, dass die Kommunen Regelungen treffen, die für sie selbst durchaus sinnvoll sind, sich insgesamt für das ganze Bundesgebiet aber nicht als optimal erweisen, z.B. wenn sie versu-chen, die Hilfebedürftigen in ein anderes Sozialleistungssystem abzuschieben. 2. Finanzierung. Gegenwärtig wird das Arbeitslosengeld II zum größeren Teil vom Bund und zum kleineren Teil von den Kommunen finanziert. Eigentlich tragen die Kommunen die Kosten für die Unterkunft, während der Bund den Rest bezahlt. Da aber bei der Entstehung des Hartz-IV-Gesetzes den Kommunen eine Entlastung versprochen wurde, übernimmt der Bund zusätzlich einen Teil der Unterkunftskosten. Dieser betrug zunächst 29,1 Prozent der Ausgaben. Mittlerweile wurde er aber auf 31,2 Prozent erhöht. Absurderweise gilt ausgerechnet in den Ländern mit den geringsten Finanzierungsproblemen, nämlich in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, eine noch höhere Bundesbeteiligung von bis zu 41,2 Prozent. Noch komplizierter wird es dadurch, dass der Bund und die Kommunen keine direkten Finanzbe-ziehungen unterhalten dürfen. Der Bund überweist mithin Geld an die Länder, die es an die Kom-munen weiterleiten sollen. Die Kommunen transferieren das Geld an die Agenturen für Arbeit, die für die Auszahlung der Leistungen zuständig sind. Zusätzlich erhalten die Arbeitsagenturen Finan-zierungsmittel direkt vom Bund. An jeder dieser Schnittstellen gibt es Reibungsverluste. Seit Beginn dieses Jahres wird auch die Arbeitslosenversicherung zur Finanzierung herangezogen. Über den „Eingliederungsbeitrag“ müssen sich die Beitragszahler an zwei Leistungen für Arbeitslo-sengeld-II-Empfänger beteiligen: Sie tragen die Hälfte der Kosten für arbeitsmarktpolitische Maß-nahmen sowie die damit verbundenen Verwaltungskosten. Die Aufwendungen dafür summieren sich voraussichtlich auf 5 Milliarden Euro.

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3. Ausführung. Die städtischen Ämter sind nicht unbedingt die schlechtesten Anlaufstellen für Menschen in Not. Sie kennen ihre Pappenheimer und wissen, was zu tun ist, wenn die Aufnahme einer Arbeit an so profanen Dingen scheitert wie einem Kitaplatz für den Nachwuchs. Allerdings sind sie in Sachen Arbeitsvermittlung keine Profis, wie die Erfahrungen aus der Sozialhilfe nahele-gen. Das können die Arbeitsagenturen besser. Vor der Hartz-IV-Reform verantworteten die Kommunen allein die Wiedereingliederung der Sozi-alhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt. Dabei konnten sie in begrenztem Rahmen sogar die Regeln festlegen – z.B. die Anrechnung von Erwerbseinkommen auf den Sozialhilfeanspruch. Zu mehr Be-schäftigung hat dieses Verfahren jedoch nicht geführt. Im Jahr 2005 stellte sich heraus, dass eine sechsstellige Zahl erwerbsfähiger Sozialhilfeempfänger nicht einmal arbeitslos gemeldet war. Die frühere Bundesanstalt für Arbeit muss sich freilich den gleichen Schuh anziehen. Ihr ist es auch nicht in ausreichendem Maße gelungen, Langzeitarbeitslose zu aktivieren und wieder in Lohn und Brot zu bringen – die Betroffenen wurden allzu oft nur verwaltet. Schon dieser kurze Überblick zeigt, dass es einen Königsweg vielleicht nie geben wird, auch wenn vieles für die Zuständigkeit der Kommunen spricht. Die vom Verfassungsgericht angestoßene Neu-ordnung birgt jedoch die Chance, einen Kardinalfehler im bisherigen Beziehungsgeflecht zu besei-tigen. Bislang hieß es nämlich nicht, wer zahlt, schafft an. Sondern: Einer zahlt, und der andere ent-scheidet, was er mit dem Geld macht. Für eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik kommt es aber ge-rade darauf an, die finanzielle und die fachliche Verantwortung in eine Hand zu legen. Nur wenn sich die Folgen der Maßnahmen im eigenen Budget niederschlagen, entsteht ein echtes Eigeninte-resse, Arbeitslosengeld-II-Empfängern einen Job zu beschaffen. Durch die Regel, wonach eine föderale Ebene das Geld einer anderen verausgabt, öffnet man der Verschwendung Tür und Tor. Wenn also die Kommunen künftig die Betreuung der Langzeitarbeits-losen übernehmen sollten, dann müssen sie auch das fiskalische Risiko tragen – und zwar ohne Rückversicherung. Steigende Ausgaben aufgrund steigender Fallzahlen dürfen nicht mehr automa-tisch zu höheren Zuweisungen des Bundes führen. Obwohl die Agenda 2010 gerade einmal ein halbes Dutzend Jahre alt ist und somit auch die Hartz-IV-Reform aufgrund verschiedener Mängel ihre volle Wirksamkeit noch gar nicht entfalten konnte, wird bereits an vielen Stellen über eine Weiterentwicklung oder sogar vollständige Neukonzeption nachgedacht. Ein völlig neues Konzept der sozialen Grundsicherung wäre kurzfristig nicht erforder-lich, wenn die Potenziale des Arbeitslosengeldes II durch Beseitigung der Konstruktionsfehler er-schlossen würden. Dennoch lohnt ein Blick in die etwas weitere Zukunft. Denn das Ei des Columbus ist Hartz IV ge-wiss auch nicht. Eine Neugestaltung der sozialen Grundsicherung kann verschiedene Ansätze ver-folgen, muss aber zwingend folgende Bedingungen erfüllen: • Das Existenzminimum muss garantiert werden. • Transferempfänger müssen einen Anreiz haben, eine ihrer Arbeitsleistung entsprechende, also produktivitätsorientiert entlohnte Beschäftigung aufzunehmen. • Arbeitgeber müssen die Möglichkeit haben, Arbeitnehmer mit geringer Produktivität zu be-schäftigen und entsprechend zu entlohnen.

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• Berufliches Engagement, etwa in Form längerer Arbeitszeit oder Weiterbildung, muss sich in einem höheren verfügbaren Einkommen niederschlagen. • Transfer- und Steuersystem müssen so verzahnt werden, dass staatliche Transfers am Ende nicht wieder besteuert werden. Der Vorschlag des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zur Weiterentwicklung der sozialen Grundsicherung in Richtung einer negativen Einkommenssteuer erfüllt diese Bedingungen. Ähnlich wie beim Arbeitslosengeld II werden zu niedrige Erwerbseinkommen in diesem Fall vom Finanz-amt aufgestockt. Man könnte dabei die Regelungen – Freibeträge etc. – von Hartz IV übernehmen. Das führt direkt zu der Frage, warum braucht es dann überhaupt ein neues Verfahren, wenn die Be-dingungen und das Ergebnis – die Aufstockungsbeträge – gleich bleiben? Die Antwort ist einfach: Weil dadurch unnötige Bürokratie vermieden wird. Gegenwärtig überschneiden sich Transferleis-tungen und Steuerlast auf mehreren Ebenen. Dies führt zu der absurden Situation, dass Haushalte einerseits ALG II erhalten, auf der anderen Seite aber Einkommenssteuer zahlen müssen.

Das vom IW Köln vorgeschlagene integrierte Konzept könnte folgende Grundzüge tragen :

− Bezieher niedriger Einkommen (Mini-Jobber) werden von der Sozialversicherungspflicht nicht länger befreit. Der Staat kommt für die Beiträge dann im Rahmen der Steuergutschrift auf. − Das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe werden abgeschafft. Dafür erhalten Haushalte, deren Einkommen unterhalb der Grenze liegt, ab der Einkommenssteuer zu zahlen ist, eine Steuergut-schrift (Zuschuss). Diese umfasst pauschal alle Leistungen, d.h. Unterkunftskosten werden anders als heute nicht gesondert von den Kommunen übernommen. Damit entfällt auch die leidige Diskus-sion, welcher Wohnraum als angemessen gilt. − Die Höhe der Steuergutschrift wird mit steigendem Einkommen linear abgeschmolzen. Der Zu-schuss entfällt, sobald Einkommenssteuer zu zahlen ist. Die Höhe der Steuergutschrift wird im Rahmen der Steuererklärung ermittelt, das Finanzamt kann aber einen monatlichen Abschlag zah-len. − Der Bedarf für Kinder wird nicht mehr dem Haushaltsbedarf hinzugerechnet, sondern aus-schließlich über das Kindergeld abgedeckt. Ebenso entfallen Mehrbedarfszuschläge für Alleinerziehende. Für diese wie auch für große Famili-en ist es heute lukrativer, ihren Scheck von der Arbeitsagentur zu beziehen, statt mit Arbeit den Le-bensunterhalt selbst zu verdienen. Denn beim ALG II sind die Transferleistungen für Kinder erheb-lich höher als das Kindergeld. Der neue Kombilohn wird in vielen Fällen dazu führen, dass Arbeitslose es sich zweimal überlegen, eine angebotene Stelle auszuschlagen. Die Sozialleistungen sind in diesem Modell entsprechend niedriger – die Lücke zum Nettolohn wird größer. Insbesondere Alleinerziehende müssten mit we-niger Geld auskommen, wenn sie statt eines Vollzeitjobs eine Teilzeitstelle bevorzugen. Der Ein-wand, Alleinerziehende könnten nicht den ganzen Tag arbeiten, weil sie sich um ihr Kind kümmern müssten, ließe sich durch eine neue Regelung ähnlich wie in den USA entkräften: Die Arbeitsagen-tur muss Müttern oder Vätern den Doppelpack anbieten: Kita-Platz plus Vollzeitjob. Der Staat muss jedoch nicht nur Arbeitslose und Bezieher niedriger Einkommen unter seine Fittiche nehmen. Auch für die Arbeitsplatzanbieter, für die Unternehmen, muss er die Weichen richtig stel-

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len. Bedingt durch die demografische Entwicklung wird der Fachkräftemangel zunehmen. Gefragt ist daher ein modernes Zuwanderungsrecht. Die Zuwanderungsdiskussion in Deutschland wird al-lerdings nach wie vor überwiegend unter dem Aspekt der Integrationsprobleme der hier lebenden Migranten geführt. Zuwanderung wird im Allgemeinen nicht als Teil einer umfassenden Wachs-tumsstrategie begriffen, sondern als Bedrohung. Eine gezielte Zuwanderung unter ökonomischen Gesichtspunkten fand daher seit der Verfügung des Anwerbestopps in den 70er Jahren nicht statt. Nichtsdestotrotz gab es weiter Zuwanderung, z.B. durch Familiennachzug, Asylsuchende oder Aus-siedler. Gemeinsam ist diesen Einreisewegen, dass die Migranten nicht nach arbeitsmarktökonomi-schen Kriterien ausgewählt waren. Die Folge war, dass viele Geringqualifizierte zuwanderten, die nunmehr nur schwer einen Arbeitsplatz finden. Dabei ist Zuwanderung eigentlich wirtschaftlich vorteilhaft für das Aufnahmeland. Mehr Arbeits-kräfte erwirtschaften auch mehr Einkommen. Ob auch die einheimischen Arbeitnehmer etwas da-von haben, hängt allerdings von der Qualifikation der Zuwanderer ab. Voraussetzung ist, dass die Zuwanderer „komplementäre“ Qualifikationen zu den Einheimischen haben, d.h., die Fähigkeiten müssen sich ergänzen. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass dies insbesondere bei Hoch-qualifizierten der Fall ist, denn gering qualifizierte Arbeitslose gibt es hierzulande bereits in großer Zahl. Daraus folgt als Auftrag an eine moderne Zuwanderungspolitik, dass sie die Migration so zu steuern hat, dass möglichst Hochqualifizierte ins Land kommen, während die Zuwanderung Ge-ringqualifizierter auf nicht-ökonomische Kriterien – z.B. politische Verfolgung im Ausland – be-grenzt werden sollte. Dadurch würde gesichert, dass die Zuwanderung zum größtmöglichen wirt-schaftlichen Vorteil für das Aufnahmelandes führt. Das deutsche Zuwanderungsrecht kann diese Anforderung nicht erfüllen. Denn das seit dem Jahr 2004 geltende Aufenthaltsgesetz (AufenthG) setzt dem Zuzug aus dem Nicht-EU-Ausland enge Grenzen: − Ausländischen Studenten kann nach erfolgreichem Abschluss des Studiums erlaubt werden, sich zur Arbeitssuche bis zu ein Jahr lang in Deutschland aufzuhalten. Vorausgesetzt, die Bundesagentur für Arbeit stimmt zu. Das OK kann erteilt werden, wenn sich durch die Beschäftigung des Auslän-ders keine nachteiligen Auswirkungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt ergeben und Inländer oder gleichgestellte Ausländer für die Stelle nicht zur Verfügung stehen. − Ausländern kann zur betrieblichen Aus- und Weiterbildung eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Voraussetzung ist auch hier die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit. − Das Aufenthaltsgesetz räumt zwar ein, dass Ausländer – unabhängig von der Qualifikation – be-fristet eingestellt werden können. In der Praxis wird das jedoch durch unpraktikable Vorgaben fast unmöglich gemacht. Die Bundesagentur darf den Arbeitsvertrag nur dann genehmigen, wenn er sich an den Erfordernissen des Wirtschaftsstandorts Deutschland und insbesondere an dem Erfordernis orientiert, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Im Zweifelsfall sorgt ein solcher Gummipa-ragraph dafür, dass der BA-Sachbearbeiter den Antrag ablehnt. − Hochqualifizierte können eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhalten. Voraussetzung ist wiederum die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit sowie in der Regel der Ausländerbehörde des jeweiligen Bundeslandes. Das AufenthG konkretisiert, wer als Hochqualifizierter gelten kann: Wissenschaftler mit besonderen fachlichen Kenntnissen; Lehrpersonen oder wissenschaftliche Mit-arbeiter in herausgehobener Funktion sowie Spezialisten und leitende Angestellte mit besonderer Berufserfahrung und einem Gehalt vom Doppelten der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung (rund 85.000 Euro pro Jahr).

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− Wissenschaftler können eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn sie an einer anerkannten For-schungseinrichtung beschäftigt werden. Das Wort „anerkannt“ hat es in sich. Denn damit ist wie-derum Bürokratie verbunden. Außerdem wird die Einrichtung nur dann anerkannt, wenn sie sich verpflichtet, die Kosten für die Heimreise des Wissenschaftlers zu übernehmen, sofern dieser zah-lungsunfähig sein sollte. Lediglich öffentlich finanzierte Einrichtungen müssen diese Bedingung nicht erfüllen. Ob die Regelung daher wirklich die Zuwanderung für Hochqualifizierte erleichtert, ist mehr als fraglich. − Ausländischen Selbstständigen kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein überge-ordnetes wirtschaftliches Interesse an ihrer Tätigkeit besteht, positive Auswirkungen auf die Wirt-schaft zu erwarten sind und die Finanzierung gesichert ist. Das wirtschaftliche Interesse und positi-ve Auswirkungen werden als gegeben angenommen, wenn ein Einwanderer mindestens 500.000 Euro investiert und fünf Arbeitsplätze schafft. Für die Beurteilung des wirtschaftlichen Interesses werden „fachkundige Körperschaften“, Gewerbebehörden, Berufsvertretungen und weitere Behör-den angehört – Bürokratie ohne Ende . Im Ergebnis eröffnen alle diese Bestimmungen der BA enorme Entscheidungsspielräume. Da ihre Zustimmung in nahezu allen Fällen notwendig für eine Beschäftigungsgenehmigung ist, erhält sie – über die Beurteilung des Einzelfalls hinaus – de facto die Entscheidungsgewalt über erhebliche Tei-le der Zuwanderungspolitik. Nicht weniger problematisch ist, dass berufsständische Vertretungen über die Zuwanderung entscheiden sollen. Sie könnten versucht sein, die Zuwanderung von Fach-kräften zu verhindern, weil es die Stellung der eigenen einheimischen Klientel schwächt. Die Ab-schottung des deutschen Arbeitsmarkts wird allenfalls bewirken, dass selbst erwünschte Zuwande-rung – zum Beispiel die vorübergehende Abordnung ausländischer Arbeitnehmer internationaler Unternehmen an ihre Betriebe in Deutschland – unnötig durch bürokratische Hemmnisse erschwert oder schlimmstenfalls gänzlich unterbunden wird. Dabei wäre alles so einfach: Man lasse die Unternehmen entscheiden, ob jemand für die Vakanz geeignet ist oder nicht. Auch die qualifizierten Zuwanderer selbst werden durch undurchsichtige behördliche Entscheidun-gen abgeschreckt, entsprechend negativ wird ihre Entscheidung ausfallen, nach Deutschland zu kommen. Das Aufnahmeland, das attraktive Bedingungen für qualifizierte Arbeitnehmer bieten kann, wird dagegen die produktivsten Migranten bekommen. Rechtssicherheit und nachvollziehbare Entscheidungswege über den Aufenthaltsstatus sind keine hinreichenden, vermutlich aber notwen-dige Bedingungen dafür. Durch das restriktive Zuwanderungsrecht vergibt Deutschland nicht nur eine Chance, es beschwört auch eine Gefahr herauf. In Ermangelung anderer Ressourcen basiert un-ser Wohlstand in hohem Maße auf den Kenntnissen und Fähigkeiten der Erwerbstätigen – dem Humankapital. Daher erscheint es nicht sinnvoll, den Zustrom von Humankapital aus dem Ausland zu unterbinden. Zumal die deutsche Bevölkerung schrumpft. Zuwanderung ist zwar keine Patentlö-sung für das demografische Problem, sie kann dessen Folgen aber lindern. Die Zuwanderungspoli-tik der Regierung aber hat dafür gesorgt, dass in den vergangenen Jahren der „Sterbeüberschuss“ zunehmend nicht mehr durch Zuwanderung kompensiert werden konnte.

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Zuwanderung gleicht Bevölkerungsschwund nicht mehr aus

Wanderungssaldo (Zuzüge abzüglich

Fortzüge)

Sterbeüberschuss (Sterbefälle abzüg-

lich Geburten)

Saldo

1997 93.664 48.216 45.448 1998 47.098 67.348 - 20.250 1999 201.975 75.586 126.389 2000 167.120 71.798 95.322 2001 272.723 94.066 178.657 2002 219.288 122.436 96.852 2003 142.645 147.225 - 4.580 2004 82.542 112.649 - 30.107 2005 78.953 144.432 - 65.479 2006 22.787 148.960 - 126.173 2007 43.912 142.293 - 98.381

Quelle: Statistisches Bundesamt

Eine geeignete Alternative zum geltenden Zuwanderungsrecht wäre ein Punktesystem, wie es auch schon andere Länder anwenden. Darin werden Kriterien festgelegt, die eine schnelle Eingliederung des Zuwanderers und einen hohen Ertrag aus seiner Erwerbstätigkeit auch für die Einheimischen wahrscheinlich erscheinen lassen. Solche Kriterien sein können z.B. das Alter, die Berufsausbil-dung oder Sprachkenntnisse. Für die Erfüllung eines Kriteriums werden Punkte vergeben. Diejeni-gen Zuwanderungswilligen mit der höchsten Punktzahl erhalten eine unbefristete und nicht einge-schränkte Niederlassungserlaubnis. Dabei verliert die Politik ihre Einflussmöglichkeiten nicht, sie kann auch weiterhin die Zuwanderung mit Kontingenten begrenzen. Die Zuwanderungswilligen können dagegen nachvollziehen, anhand welcher Kriterien über ihren Aufenthaltsstatus entschieden wird.

Ansprechpartner: Holger Schäfer, Tel. 030 278 77-124