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Der Schmerz 1•2001 | 69 (sn) Kognitive Verhaltenstherapie als Therapieoption bei chronischen Schmerzen ist seit langem etabliert. Randomisierte kontrollierte Studien zur Evidenzevaluierung der Effektivi- tät psychologischer Therapien sind sehr heterogen. Mit der 1999 in PAIN vorgestellten Metaanalyse sollte über- prüft werden, ob: die kognitive Verhaltenstherapie bei chronischen Schmerzen effektiv ist, bzw. besser als keine Therapie und ob die kognitive Verhaltenstherapie besser als alternative Therapiefor- men ist. Originalliteratur Morley St, Eccleston Ch,Williams A (1999) Systematic review and meta-analysis of randomized control- led trials of cognitive behaviour therapy and be- haviour therapy for chronic pain in adults, exclu- ding headache. Pain 80:1–13 Methodik Bei der vorgestellten Publikation han- delt es sich um eine Metaanalyse rando- misiert kontrollierter Studien zur kogni- tiven Verhaltenstherapie (KVT), Ver- haltenstherapie (VT) sowie zu Biofeed- back (inklusive Entspannungsverfahren; BfB) bei erwachsenen Schmerzpatien- ten unter Ausschluss von Kopfschmerz- patienten. Publikations-/Studiensuche Es wurde in Medline, Psychlit, Embase und Social Science Citation Index (SSCI) nach entsprechenden Studien gesucht, die zwischen 1974 und 1996 in “Review- ed Journals” publiziert worden sind. Es konnten 33 relevante Artikel gefunden werden, von denen 25 in Medline, 24 in Psychlit und je 30 in Embase und SSCI aufgeführt waren. Die 33 Publikationen (30 Studien) waren in 12 Zeitschriften veröffentlicht. Von diesen 30 Studien gingen 25 in die Metaanalyse ein, bei den 5 ausgeschlossenen Artikeln waren die Daten nicht ausreichend. Psychometrie Die Reliabilität der erfassten Studie- nendpunkte wurden mittels Teststabili- tät (Test – Retest), Cronbach’s alpha oder Kappa bestimmt. Die Effektstärken wur- den mit Hedges’s g ermittelt. Bei der Be- rechnung wurden mögliche Verzerrun- gen durch die Stichprobengröße korri- giert. Zusätzlich wurde die Reliabilität der abhängigen Variablen als Korrektur- faktor einbezogen. Es wurde die psycho- metrische Methode Hunter und Schmidt zur Metaanalysenerstellung angewandt. Studienvariablen Erfasste Studienvariablen waren: Schmerzerfahrung, Stimmung/Affekt, kognitives Coping, Schmerzverhalten, Sozialverhalten, biologis che und kör- perliche Fitness, Inanspruchnahme des Gesundheitssystems (z.B. Medikation, Arztkonsultationen). Kontrollgruppen und Analyse Die Mehrzahl der Studien (21 von 25) verglichen mehr als eine Therapieform mit einer Kontrollgruppe, wobei es 2 Ar- ten von Kontrollgruppen gab: die “Waiting list control (WLC)” = keine neue Therapie im Untersu- chungszeitraum, eigene Medikation oder andere Therapieformen nicht auszuschließen, sowie die “Treatment control (TC)” = Pati- enten erhalten eine neue Therapie für den Studienzeitraum. Es wurden 2 Hauptanalysen durchge- führt: KVT,VT, BfB vs. WLC und KVT, VT, BfB vs. TC. Ergebnisse Studiendesign und Patienten Nur in 4 der 25 Studien fanden sich de- zidierte Angaben zur Randomisierungs- methodik, 19 Untersuchungen schienen korrekt randomisiert zu sein, die restli- chen 6 “pseudorandomisiert” (z. B. nach Zeitpunkt). Bei 7 Publikationen existier- ten Ausschluss- und bei 16 Einschluss- kriterien. Bei lediglich 2 Studien wurden die Teilnehmer explizit konsekutiv re- krutiert, für 5 Studien fehlen Angaben zur Selektion, bei den Übrigen 18 wur- den die Teilnehmer nach Verfügbarkeit in die Untersuchung aufgenommen. Insgesamt wurden 1672 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 48 Jahren in die Studien eingeschlossen. Die Schmerzdauer betrug durchschnitt- lich 12 Jahre. Die durchschnittliche An- zahl der Patienten je Studie betrug 67 (18–131), die “Drop-out-Rate” lag bei Für Sie gelesen Schmerz 2001 · 15:69-70 © Springer-Verlag 2001 Effektivität (kognitiver) Verhaltenstherapie bei chronischem Schmerz Eine systematische Übersicht und Metaanalyse ohne Berücksichtigung von Kopfschmerz

Effektivität (kognitiver) Verhaltenstherapie bei chronischem Schmerz

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Der Schmerz 1•2001 | 69

(sn) Kognitive Verhaltenstherapie alsTherapieoption bei chronischenSchmerzen ist seit langem etabliert.Randomisierte kontrollierte Studienzur Evidenzevaluierung der Effektivi-tät psychologischer Therapien sindsehr heterogen. Mit der 1999 in PAINvorgestellten Metaanalyse sollte über-prüft werden, ob:◗ die kognitive Verhaltenstherapie

bei chronischen Schmerzen effektivist, bzw. besser als keine Therapieund ob

◗ die kognitive Verhaltenstherapiebesser als alternative Therapiefor-men ist.

Originalliteratur

Morley St, Eccleston Ch,Williams A (1999) Systematic

review and meta-analysis of randomized control-

led trials of cognitive behaviour therapy and be-

haviour therapy for chronic pain in adults, exclu-

ding headache. Pain 80:1–13

Methodik

Bei der vorgestellten Publikation han-delt es sich um eine Metaanalyse rando-misiert kontrollierter Studien zur kogni-tiven Verhaltenstherapie (KVT), Ver-haltenstherapie (VT) sowie zu Biofeed-back (inklusive Entspannungsverfahren;BfB) bei erwachsenen Schmerzpatien-ten unter Ausschluss von Kopfschmerz-patienten.

Publikations-/Studiensuche

Es wurde in Medline, Psychlit, Embaseund Social Science Citation Index (SSCI)nach entsprechenden Studien gesucht,die zwischen 1974 und 1996 in “Review-ed Journals” publiziert worden sind. Eskonnten 33 relevante Artikel gefundenwerden, von denen 25 in Medline, 24 inPsychlit und je 30 in Embase und SSCIaufgeführt waren. Die 33 Publikationen(30 Studien) waren in 12 Zeitschriftenveröffentlicht. Von diesen 30 Studiengingen 25 in die Metaanalyse ein,bei den5 ausgeschlossenen Artikeln waren dieDaten nicht ausreichend.

Psychometrie

Die Reliabilität der erfassten Studie-nendpunkte wurden mittels Teststabili-tät (Test – Retest), Cronbach’s alpha oderKappa bestimmt. Die Effektstärken wur-den mit Hedges’s g ermittelt. Bei der Be-rechnung wurden mögliche Verzerrun-gen durch die Stichprobengröße korri-giert. Zusätzlich wurde die Reliabilitätder abhängigen Variablen als Korrektur-faktor einbezogen. Es wurde die psycho-metrische Methode Hunter und Schmidtzur Metaanalysenerstellung angewandt.

Studienvariablen

Erfasste Studienvariablen waren:Schmerzerfahrung, Stimmung/Affekt,kognitives Coping, Schmerzverhalten,Sozialverhalten, biologis che und kör-perliche Fitness, Inanspruchnahme desGesundheitssystems (z.B. Medikation,Arztkonsultationen).

Kontrollgruppen und Analyse

Die Mehrzahl der Studien (21 von 25)verglichen mehr als eine Therapieformmit einer Kontrollgruppe, wobei es 2 Ar-ten von Kontrollgruppen gab:◗ die “Waiting list control (WLC)” =

keine neue Therapie im Untersu-chungszeitraum, eigene Medikationoder andere Therapieformen nichtauszuschließen, sowie

◗ die “Treatment control (TC)” = Pati-enten erhalten eine neue Therapiefür den Studienzeitraum.

Es wurden 2 Hauptanalysen durchge-führt: KVT, VT, BfB vs. WLC und KVT,VT, BfB vs. TC.

Ergebnisse

Studiendesign und Patienten

Nur in 4 der 25 Studien fanden sich de-zidierte Angaben zur Randomisierungs-methodik, 19 Untersuchungen schienenkorrekt randomisiert zu sein, die restli-chen 6 “pseudorandomisiert”(z. B. nachZeitpunkt). Bei 7 Publikationen existier-ten Ausschluss- und bei 16 Einschluss-kriterien. Bei lediglich 2 Studien wurdendie Teilnehmer explizit konsekutiv re-krutiert, für 5 Studien fehlen Angabenzur Selektion, bei den Übrigen 18 wur-den die Teilnehmer nach Verfügbarkeitin die Untersuchung aufgenommen.

Insgesamt wurden 1672 Patientenmit einem Durchschnittsalter von 48Jahren in die Studien eingeschlossen.Die Schmerzdauer betrug durchschnitt-lich 12 Jahre. Die durchschnittliche An-zahl der Patienten je Studie betrug 67(18–131), die “Drop-out-Rate” lag bei

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Effektivität (kognitiver) Verhaltenstherapie bei chronischem SchmerzEine systematische Übersicht und Metaanalyse ohne Berücksichtigung vonKopfschmerz

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14%. Die meisten Patienten hattenRückenschmerzen (36%), rheumatoideArthritis (20%) und diverse Schmerzen(16%). Seltener (je 8%) waren Osteoar-thritis, Hüftschmerzen, Fibromyalgieoder unspezifizierte Schmerzen.

Therapieformen und Studien-endpunkte

Die Therapie wurde in 76% als Grup-penbehandlung und 20% als Kombinati-on von Gruppen- und Einzeltherapiedurchgeführt, in 4% der Studien fehltediese Spezifizierung. Der durchschnitt-liche Therapiezeitraum betrug 6,7 Wo-chen (3–10) mit einer medianen Thera-piestundenzahl von 16 (6–90). Bei 60%der Untersuchungen wurde die Therapiedurch speziell geschulte oder in Verhal-tenstherapie bei Schmerzpatienten er-fahrene Therapeuten durchgeführt.Ganz oder teilweise nach Manualenwurde bei 52% der Behandlungen vor-gegangen.

In den 25 Studien wurden 221 Er-gebnisvariablen (durchschnittlich 9) er-fasst. Selbsteinschätzungen der Patien-ten dominierten (77%) vor neutralenBeobachtern (11%) und anderen exter-nen Einschätzungen.

Effektivität

FüralleuntersuchtenBereiche(Schmerz,Stimmung, Kognitionen und Verhalten)war die Therapie-Bedingung (KVT, VT,BfB) der Warteliste überlegen. Kogniti-ve Verhaltenstherapie allein ist bei allenMessungen (Ausnahme Schmerzverhal-ten) effektiver als WLC. Für die BereicheSchmerzerleben, positives Coping undSchmerzverhalten zeigte sich auch imVergleich zu alternativen Behandlungen(TC) die Überlegenheit kognitiver Ver-haltenstherapie (KVT).

Kommentar

Den zwei Hauptproblemen von Meta-analysen, der unklaren Qualität der Stu-dien (“garbage in garbage out”) undgroßen Variablität der Messungen (“Äp-fel und Birnen”), begegnen die Autorenzum einen durch eine sorgfältige Aus-wahl und KodierungderStudieninVer-bindungmit2zusätzlichenKorrekturenihrerAnalysen (Stichprobengröße, Relia-bilität der verwendeten Verfahren), waszu einer konservativen Schätzung der Ef-

fektstärken führt. Zum anderen wurdensowohl für die Interventionen als auchfür die Ergebnisvariablen plausible Me-thoden der Datenreduktion gewählt: Mitden Behandlungsgruppen Biofeedbackund Entspannung (BfB),“klassische Ver-haltenstherapie”(VT; primär operantePrinzipien mit dem Therapieziel Verhal-tensänderung) sowiekognitiveVerhal-tenstherapie(KVT; der Focus liegt auf derBeeinflussung kognitiver Aktivitäten,um Veränderungen im Verhalten, Den-ken und Fühlen zu erreichen) ist das üb-liche Methodenspektrum erfasst undnachvollziehbar klassifiziert. Die Füllevon Ergebnisvariablen (N = 221) wurde– ausgehend von inhaltlichen Überle-gungen und den Vorgaben der Studien –in 8 globale Messbereiche plausibelgruppiert: Schmerzerleben, 2 Aspektevon Stimmung, 2 Aspekte von Coping,klassisches Schmerzverhalten, Aktivitätund soziale Rollenfunktion.

Für jeden einzelnen dieser 8 Mess-bereiche wurden die jeweiligen Effekt-stärken der 3 Behandlungsformen so-wohl einzeln als auch zusammengefasstim Vergleich mit den beiden Kontrollbe-dingungen (Warteliste bzw. Alternativ-behandlung) ermittelt. Das ergab 15 glo-bale und 43 spezifische Effektstärken(einzelne Bedingungen waren nicht be-setzt).

Aufgrund der Vielzahl von Detailin-formationen bieten die beiden zentra-len Tabellen der Arbeit viel Raum fürDiskussion – und Spekulation. So ist dieVersuchung groß, beispielsweise die Va-lidität der Therapieverfahren daran zumessen, ob Veränderung in den verfah-rensspezifischen Zielvariablen (z. B. KVT= Kognitionen,VT = Verhalten) erreichtwurden. Dies ist jedoch nur sehr einge-schränkt möglich, da durch die weit rei-chende Differenzierung gleichzeitig eineReduktion der Stichprobengröße erfolg-te, die in teilweise hohen, aber dannnicht mehr signifikanten Effektstärkenresultiert.

KVT,VT und BFB sind bei jedem ein-zelnen Messbereich effektiver als dieWartelistenkontrolle, der mittlere Effekt(ES) beträgt 0.50.Werden die 3 Metho-den einzeln analysiert, zeigt sich die KVTin allen Bereichen – bis auf Schmerzver-halten – der Bedingung WLC überlegen.Für diesen Teil der Studie lautet die Ker-naussage: Die Wirksamkeit psychologi-scher Schmerztherapie (auf der Basisvon KVT,VT und BfB) ist für alle erfassten

Bereiche gegenüber einer Wartebedin-gung nachgewiesen.

Für den Vergleich mit einer Alterna-tivbehandlung zeigt sich die Überlegen-heit bei der Reduktion von Schmerz,Ver-besserung von Coping und Beeinflus-sung von Schmerzverhalten.

Sind diese Ergebnisse klinisch relevant?

Es handelt sich um “typische” Patientenmit chronischen Schmerzproblemen(Schwerpunkt Rücken) und einer langenSchmerzdauer (12 Jahre). Die Kontrollbe-dingung Warteliste ist definiert als “kei-ne zusätzlichen neuen Behandlungen imeigentlichen Therapiezeitraum”. Nach al-ler klinischen Erfahrung ist allerdingsnicht davon auszugehen, dass unter die-ser Bedingung tatsächlich keine sonsti-ge Behandlung stattfand. Eher ist anzu-nehmen, dass auch hier Medikamenteeingenommen und begonnene Behand-lungen fortgesetzt wurden. Unter derKontrollbedingung Alternativtherapieist dieses explizit beabsichtigt; hier wer-den die psychologischen Therapiever-fahren mit anderen aktiven Behandlun-gen (z.B. übliche Behandlung inSchmerzkliniken, Physiotherapie, eduka-tive Verfahren) verglichen. Auch unterdieser Analysebedingung wird die Über-legenheit verhaltenstherapeutischerVerfahren nachgewiesen.

Noch in anderer Hinsicht ist diesesErgebnis bemerkenswert: Der Mediander Therapiestunden beträgt lediglich16 h, wobei die Gruppenbehandlungdeutlich häufiger als die Einzelbehand-lung genutzt wurde.Verhaltenstherapiekann daher nicht nur effektiv, sondernauch zeitökonomisch eingesetzt werden.

Fazit

Verhaltenstherapie bei chronischemSchmerz ist nachgewiesenermaßen eineeffektive Behandlungsform. Es zeigt sicheine Überlegenheit sowohl gegenüberdem reinen Abwarten als auch gegen-über einer Vielzahl anderer Therapiefor-men.

| Der Schmerz 1•2001 70

Dr. P. NilgesDRK-Schmerz-Zentrum,Auf der Steig 14–16,

55131 Mainz,

E-Mail: [email protected]