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Ein Groschen fürs Licht Kindheit in der Frankfurter Altstadt Erinnerungen von Rolf Schmitz Aufgezeichnet von Markus Dobstadt Laudatio

Ein Groschen fürs Licht

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Die Frankfurter Altstadt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist ein erstaunliches Viertel: Prachtvolle Fachwerkhäuser und schöne Steinfassaden spiegeln den Glanz der großen alten Handelsmetropole wider. Rolf Schmitz, der 1929 geboren wird, kennt die Frankfurter Altstadt wie kein Zweiter. Auch seine Familie leidet unter großer Armut, doch „Klaa Rölfche“, wie ihn alle nennen, weiß sich zu helfen. Der Lausbub wächst heran und erlebt in der Altstadt viele Abenteuer.

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Ein Groschen fürs LichtKindheit in der Frankfurter Altstadt

Erinnerungen von Rolf Schmitz Aufgezeichnet von Markus Dobstadt

Ein bewegendes Lebensbild vor dem Hintergrund eines wichtigen Stücks

Frankfurter Stadtgeschichte

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LaudatioVerlagISBN 978-3-941275-35-5

www.laudatio-verlag.de

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Die Frankfurter Altstadt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist

ein erstaunliches Viertel: Prachtvolle Fachwerkhäuser und schöne Stein-fassaden spiegeln den Glanz der gro-ßen alten Handelsmetropole wider. Doch unter den übrigen Bewohnern ist das Viertel nicht gut angesehen. Die Reichen haben ihm längst den Rücken gekehrt. Zurückgeblieben sind die Armen. „Altstadtbub“ ist ein

Schimpfwort. Rolf Schmitz, der 1929 geboren wird, kennt das Viertel wie kein Zweiter. Auch seine Familie leidet unter gro-ßer Armut, doch „Klaa Rölfche“, wie ihn alle nennen, weiß sich zu helfen. Der Lausbub wächst heran und erlebt in der Altstadt viele Abenteuer. Gefährlich wird es für die Familie während der NS-Diktatur, als die Eltern jüdischen Bürgern zur Flucht verhel-fen. In seinen Erinnerungen führt Rolf Schmitz hautnah durch diese bunte, bedrängte Welt, die schließlich in den Bomben-nächten untergeht. Er schildert auch die Not nach dem Krieg und die neu erwachte Lust der Menschen, wieder einen nor-malen Alltag und auch Liebe zu erleben. Eines Tages trifft Rolf Schmitz am Mainufer die Frau seines Lebens – und macht ihr spontan einen Heiratsantrag ...

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Verlag

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Die Autoren

Rolf Schmitz, Jahrgang 1929, ist im Herzen Frankfurts, der Altstadt, aufgewachsen. Der technische Angestellte hat die Vorkriegszeit, den Untergang der Frankfurter Altstadt im Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbau seiner Heimatstadt haut-nah miterlebt. Bekannt als „Klaa Rölfche“, gilt Rolf Schmitz als eines der letzten Frankfurter Originale und als Kenner der jüngeren Frankfurter Stadtgeschichte. Bis heute wirkt er als Zeitzeuge durch Vorträge, Filmdokumentationen und Stadt-führungen daran mit, die Erinnerungen an einst lebendig zu erhalten.

Der Frankfurter Journalist Markus Dobstadt hat aus diesen Vorträgen und vie-len persönlichen Gesprächen die Erinnerungen und Erzählungen Rolf Schmitz‘ zusammengetragen und in diesem Buch aufgezeichnet. Der 47-Jährige ist für die Frankfurter Rundschau, die Zeitschrift Publik-Forum und den Evangelischen Pressedienst tätig und arbeitet außerdem als Biograf (www.mensch-erzähle.de).

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Ein Groschen fürs Licht

Kindheit in der Frankfurter AltstadtErinnerungen von Rolf Schmitz

Aufgezeichnet von Markus Dobstadt

Ihr privater Buchverlag

LaudatioVerlag

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Rolf Schmitz, Markus Dobstadt; Ein Groschen fürs Licht© 2012 by Laudatio Verlag, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehaltenSatz: Nicolas Vassiliev

Titelbild: Rolf Oeser, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main Umschlaggestaltung ©Nicolas Vassiliev

ISBN 978-3-941275-35-5

Dieses Buch ist all den Menschen in der Frankfurter Altstadt gewidmet, die mir auf vielfältige Weise geholfen haben.

Rolf Schmitz

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ALTSTADT-LEBEN

Mit Apfelwein getauftMeine Geschichte beginnt nicht in der Altstadt, sondern auf der anderen Fluss-

seite: in Sachsenhausen, dem Frankfurter Stadtteil südlich des Mains. Denn mein Großvater Karl Schmitz will, dass seine Schwiegertochter im dortigen Privatkran-kenhaus niederkommt. Opa Karl ist ein exzellenter Schneider und in Sachsenhau-sen bekannt. Seinen Stoff kauft er in der Lappegass, wie wir die kleine Straße mit den vielen Tuchläden unweit des Liebfrauenbergs auf der Nordseite des Mains nennen. Dort bekommt man den feinsten Stoff genauso wie getragene Pullover und Schuhe. Später näht er auch für mich Kleidung aus übrig gebliebenen Resten, und so habe ich manchmal Hosen aus feinem englischen Tuch an. Weil Karl die Ärzte vornehm ausstaffieren kann, hat er gute Beziehungen zum Krankenhaus in Sachsenhausen. So kommt es, dass meine Mutter und ich nach der Geburt ein Einzelzimmer bekommen, was etwas ganz Besonderes ist. Bezahlen müssen wir nur den Preis für ein Zimmer der dritten Klasse, in der üblicherweise mehrere Pati-enten gemeinsam liegen, 80 Reichsmark. Für meine Eltern ist aber auch das zu viel, so dass mein Großvater die Rechnung übernimmt. Wer in der dritten Klasse un-terkommt, erhält ganz einfaches Essgeschirr. In der ersten Klasse ist es aus feinstem Porzellan. Betuchte Patienten bekommen auch besseres Essen. Am 20. Juni 1929 komme ich zur Welt. Fünf Tage später werde ich im Krankenhaus getauft. Außer mit Wasser auch mit ein paar Tropfen Apfelwein. Der Opa ist begeistert von mir, dem ersten und einzigen männlichen Nachkommen. Sechs Jahre vorher ist meine Schwester geboren worden.

Nach zehn Tagen fahren meine Mutter und ich nach Hause. Erstmals über-quere ich den Main, der für Frankfurt so wichtig ist, dass die Bewohner einander in die Drippdebächer, die südlich des Flusses Wohnenden, und die Hippdebächer, die nördlich davon zu Hause sind, aufteilen. Nur wenige werden, wie ich, Bürger beider Seiten. Denn die Frankfurter sind sesshaft und in ihren kleinen Vierteln mit fest umrissenen Grenzen verwurzelt. Und wenn nicht der Krieg gewesen wäre,

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wer weiß, ich würde bestimmt noch heute in der Altstadt und nicht in Sachsen-hausen leben. Ich äße beim „Zehnter“, einem bürgerlichen Speiselokal am Rande des Römerbergs, zu Mittag. Auf dem Hühnermarkt würde ich das Stoltzedenkmal mit dem Brunnen betrachten, über den Markt, den früheren Krönungsweg der Kaiser, vom Römerberg zum Dom laufen, und an den Buden der Schirn eine heiße Fleischwurst essen. Ich würde darüber staunen, wie gut das alles inzwischen res-tauriert ist. Und die Touristen beobachten, die Deutschlands größte Fachwerkstadt besuchen.

Welchen Verlust die Zerstörung der Altstadt bedeutet, mit ihren kleinen Tür-men und Erkern, den alten Gebäuden, die Namen trugen wie Rotes Haus, Großer Schnabel, Pesthaus, Goldenes Lämmchen, Haus zum Storch oder Goldenes Un-terhähnchen, das wird mir eigentlich erst Jahrzehnte nach den Bombennächten bewusst, als die Not vorüber ist. Ich beginne sie plötzlich zu vermissen, die alten Plätze wie den Krautmarkt und das Fünffingerplätzchen, das so eng gewesen ist, dass sich die Bewohner von Haus zu Haus über die Gasse hinweg fast die Hand reichen konnten. Während der Kindheit ist dieses Viertel meine Welt. Ich habe ein offenes Herz und bin überall bekannt. Alle nennen mich nur das „klaa Rölfche“.

Ein Zimmer im PalastZuerst wohnen wir in der Saalgasse 29. Das „Haus zum Saal“, das der Stadt

gehört, liegt am Rande des Römerbergs und ist über Jahrhunderte ein Palast be-tuchter Leute gewesen. Die Haustür wird, wie allgemein in der Altstadt üblich, nicht abgeschlossen. Das Treppenhaus dahinter ist noch immer prachtvoll und der größte Raum im Haus. Neben der Treppe ist ein schön geschmiedetes Ge-länder angebracht. Die Zimmer werden inzwischen einzeln preisgünstig für zehn oder 15 Reichsmark im Monat vermietet. Sie haben hohe Decken, sind aber ohne Strom- und ohne Wasseranschluss. Wer Licht haben will, muss Groschen, also Zehnpfennigstücke, oder Chips für acht Pfennige, die in der Kaiserstraße verkauft werden, in einen Gasautomaten werfen. Manchmal kommen Nachbarn zu uns und fragen: „Frau Schmitz, würden Sie uns wohl einen Chip borgen? Bei uns ist gerade das Licht ausgegangen.“ Den Groschen wollen sie nicht hineinwerfen, denn selbst zwei Pfennige sind schon Geld.

Natürlich hilft man sich untereinander aus, auch wenn keiner viel hat. Die To-ilette und das Waschbecken benutzen die Mieter aller sechs Wohnungen auf dem Stockwerk gemeinsam. Nachts behelfen wir uns mit Nachttöpfen, die morgens ge-leert werden müssen. Meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich leben in diesem einen Zimmer mit vier Betten und einem Schrank. Auf dem großen

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Kohleofen steht ein Kesselwasserschiff, ein rechteckiger Behälter, der fest in den Ofen eingesetzt und nicht herausnehmbar ist. Wird der Ofen angeheizt, erwärmt sich das Wasser. Obwohl wir keinen eigenen Wasseranschluss haben, werde ich als Baby, trotz meiner heftigen Proteste, täglich in der Zinkwanne gebadet und mit Kernseife abgeschrubbt. Die Windeln aus Stoff werden in einem Topf auf dem Herd sauber gekocht und dann an einer Wäschespinne aus Holz über dem Ofen aufgehängt. Meine Mutter nimmt es mit der Sauberkeit sehr genau. Immer steht in der Küche eine Emailleschüssel mit warmem Wasser zum Händewaschen bereit. Sie säubert sogar mit einer alten Zahnbürste die Ecken in der Wohnung und an den Stufen im Treppenhaus.

Dreckig und speckigAber so machen es nicht alle in der Altstadt. Die Treppenhäuser sind das Aus-

hängeschild. Ist es dort sauber, sind es auch die Bewohner. In einigen Häusern ist anstelle eines Geländers ein dickes Seil gespannt, in manchen wird das jede Woche mit Schmierseife geschrubbt. Andere sind dreckig und speckig. Damit die Toi-letten, die sich meist im Zwischengeschoss befinden, nicht unangenehm riechen,

Das imposante Treppenhaus in der Saalgasse 29 im Jahr 1934. Ganz rechts ist die Tür zum Zimmer der Familie Schmitz zu sehen.

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stellen manche eine Schüssel mit Essig auf. Aus anderen Gebäuden dringt der üble Geruch bis nach draußen. Viele Häuser wirken schon am Eingang schmutzig. Der Kammerjäger verdient in unserem Viertel sehr gut. Auch wir machen in unserer späteren Wohnung im Tuchgaden Bekanntschaft mit kleinen braunen Käfern. Als wir den auf Raten gekauften Gasherd das erste Mal anfeuern, krabbeln die Kaker-laken, durch die Wärme im Raum munter geworden, aus allen Ecken heraus.

Einige Kinder in der Altstadt riechen nach Petroleum. Damit werden die Kopf-läuse vertrieben. Manche Bewohner waschen sich nicht und riechen schon von weitem nach Schweiß, so dass man lieber 20 Meter Abstand hält. Andere wissen sich trotz ihrer Armut gut zu pflegen. Geschickte Frauen schneidern sich die Klei-der von Oma und Opa zurecht und sehen darin attraktiv aus.

Heute, als Erwachsener, stelle ich mir vor, wie meine Mutter mit mir im Kinder-wagen in der Altstadt spazierenging. Während mich das Ruckeln des Wagens auf dem Kopfsteinpflaster in Schlaf versetzt haben muss, ziehen wir an den schönen Gebäuden vorbei. Meine Mutter schiebt mich über den Römerberg und biegt in Richtung Dom ab, in die schmale Gasse Hinter dem Lämmchen, wo Bekannte wohnen. An einem Haus ist dort ein steinernes Jungschaf angebracht. Von seinem Platz in mehreren Metern Höhe blickt es auf uns herab. Früher einmal stand es ebenerdig und gehörte zu einem Brunnen. Als der aber den Verkehr störte, wurde der Brunnen samt Figur kurzerhand an das Haus versetzt. Und noch jemand blickt damals wohlwollend von oben auf uns herunter. Eine Madonna, die an einer Hau-secke befestigt ist. Meine Mutter bleibt öfter mal kurz stehen, hält hier und dort ein Schwätzchen.

Die Menschen in der Altstadt reden viel miteinander. Wenn sie beim Einkaufen warten, tauschen sie sich über Alltagssorgen aus. Sie haben Zeit. Denn es dauert eine Weile, bis im Kolonialwarenladen zum Beispiel ein halbes Pfund Mehl aus einem großen Sack in eine spitze Papiertüte abgefüllt ist, dazu kommen vielleicht noch ein Viertel Pfund Gries oder Reis, Zucker und 50 Gramm Kaffee. Bis alles gewogen, bezahlt und der nächste dran ist, können sich die anderen Kunden un-terhalten.

„Da klopft doch der Herr Meyer wieder mit der Faust in die flache Hand, damit man glauben solle, sie hawwe heut wieder Schnitzel. Dabei habe ich es gestern selbst gesehen, wie die Frau Meyer beim Span in der Fahrgasse für ein paar Pfen-nige billige Pferdewurst als Beigabe für Bratkartoffeln eingekauft hat.“ Solchen Tratsch gibt es. An Sonntagen werden in den Küchen der Altstadt tatsächlich vie-le Schnitzel geklopft. Aber manche können sich das teure Fleisch nicht leisten.

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Sie kaufen sich stattdessen Pferdewurst. Und beim Eier-Ebel in der Schnurgasse greifen sie für das Rührei statt nach normalen lieber nach den preiswerten Knick-Eiern. Der Eier-Ebel ist ein großer Laden, der nur Eier verkauft. Beim Einpacken in Zeitungspapier gehen aber manche kaputt. Das sind die Knick-Eier. Sie kosten nur einen Pfennig pro Stück, zwei Pfennige weniger als die unbeschädigten.

Häuser mit GesichternMeine Mutter schiebt den Kinderwagen weiter zum Hühnermarkt. Ein herrli-

cher Platz, auf dem schon lange keine Hühner mehr verkauft werden. Inzwischen steht dort das Denkmal des Dichters Friedrich Stoltze. Unterhalb seiner Büste plätschert Wasser aus einem Brunnen. Um ihn herum stehen viele prächtige Ge-bäude; auf einigen sind wunderbare Gemälde zu sehen. Mich interessieren später als Kind besonders die farbenfrohen Figuren an den Fassaden, sie lachen oder wei-nen und manche gucken so böse, dass sie mir Angst machen.

Über den Markt kommen wir zur prachtvollen Goldenen Waage in der Nähe des Doms. Auf einem steinernen Erdgeschoss ruht ein wunderschöner Fachwerk-bau mit einem steilen Dach. Ein Arm mit einer goldenen Waage in der Hand ragt aus einer Wand heraus. Auf dem Dach liegt ein Belvederchen, ein kleiner Dachgar-ten mit Laube, wie es viele in der Altstadt gibt. Das Belvederchen ist ein lauschiges Plätzchen, wo Erwachsene gerne verweilen und den schönen Blick auf die Dächer der Altstadt genießen. Die Goldene Waage gehört zum Historischen Museum. Es wird darin gezeigt, wie ein reiches Bürgerhaus des frühen 18. Jahrhunderts ausge-sehen hat. 1943 werde ich Augenzeuge, wie alle Möbel aus dem Haus getragen, auseinander genommen und in Kisten verpackt mit dem Fuhrwerk abtransportiert werden. In einem Thüringer Bergwerk werden sie vor den Bombenangriffen in Si-cherheit gebracht. Ich bin nicht gerne in dem Museum. Für meine Kinderbeine sind die Stufen der Sandsteintreppe viel zu hoch.

Kadett im KindergartenAls ich drei Jahre alt bin, melden mich meine Eltern erst in einem städtischen

Kindergarten in der Stoltzestraße an. Doch nach einer Woche sagt die Leiterin der Einrichtung zu ihnen: „Ihr Sohn ist hier fehl am Platz.“ Den Kindergarten besu-chen die schlimmsten Rabauken, ohne Manieren und noch dazu schmutzig. Die Leiterin empfiehlt meinen Eltern, beim katholischen Kindergarten Sankt Vincenz in der Dominikanergasse vorzusprechen. Sie meint es gut mit mir und möchte mich fördern. Nun ist Frankfurt zwar mehrheitlich evangelisch, aber die Katholi-ken haben die besten Kindergärten und Schulen, sagen meine Eltern. Sie melden

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mich bei Sankt Vincenz an. Ich weiß noch nicht, was mir dort bevorsteht, und freue mich.

Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass ein evangelisches Kind einen katholischen Kindergarten besucht. Ist das der Grund dafür, dass ich erst eine Prüfung über mich ergehen lassen muss? Die Ordensschwestern fragen mich, wie ich heiße und wo ich wohne, dann soll ich Holzklötze zusammensetzen und an einer Bildtafel die Mär-chenfiguren benennen. Kein Problem, kann ich. Und so nehmen mich die katholi-schen Frauen als einziges nichtkatholisches Kind für 1,65 Reichsmark, die immer freitags von den Eltern zu zahlen sind, in ihr Regiment auf. Ich hüte mich, zu sagen, dass ich sonntags den evangelischen Kindergottesdienst in der Paulskirche besuche. Umgekehrt verrate ich dort niemandem, dass ich jeden Morgen in einen katholi-schen Kindergarten gehe. Zwischen beiden Konfessionen verlaufen in der Stadt tiefe Gräben. Später beschimpft mich einmal ein katholischer Junge in der Schule, als er sieht, dass ich für den evangelischen Religionsunterricht eingeteilt werde, er wusste, dass ich im Kindergarten Sankt Vincenz war. „Religionsverräter“, zischt er mir zu.

Wir werden im Kindergarten erzogen wie Kadetten. Ordnung und Gehor-sam sind für die Franziskanerinnen das Wichtigste. Die Kinder sitzen verteilt

Die Goldene Waage im Jahr 1935, mit dem Blick in den Alten Markt.

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auf mehrere Tische und basteln. Zuerst die Anfänger, dann die etwas Fortge-schrittenen und so weiter. Ich, der Kleinste und Jüngste, stelle mich geschickt an und rücke schon bald einen Tisch weiter. Im Kindergarten lassen uns die ver-wöhnten reichen Kinder spüren, wie gut es ihnen geht. Manche werden mor-gens mit dem Auto gebracht - ausstaffiert mit Kettchen und Armbanduhren, die Jungen im Anzug mit Krawatte. Oft lästern sie über das Mittagessen, wenn es geliefert wird. Sie essen es nie, weil sie schon vorher wieder abgeholt werden. Wir Altstadtkinder sind dagegen froh, überhaupt etwas zu essen zu bekom-men. Denn oft gehe ich mit halbleerem Bauch in den Kindergarten. Mein Vater tunkt morgens für mich ein Stück Brot in den Malzkaffee, streut etwas Zucker drauf und gibt es mir. Fertig. Auf meinem Brot, das ich mitbekomme, ist Mar-melade oder Schmalz. Während die reichen Kinder, die morgens mit dem Auto gebracht werden, auf ihr Schinkenbrot zeigen und abfällig über unser Frühstück sagen: „Das ess ich doch nicht.“

Blüten im WinterwaldDie Kinder, deren Eltern den Kindergarten mit Geld und Lebensmitteln un-

terstützen, fassen die Schwestern mit Samthandschuhen an. Uns andere dagegen lassen sie ihren Zorn spüren und sind mit Strafen schnell zur Hand. Nicht selten werden wir mit der Kordel vom Ordensgewand geschlagen. Und häufig muss ich wegen irgendeines kleinen Vergehens stundenlang an der Wand stehen. Ich zähle dann aus Langeweile, wie oft sich das Tapetenmuster wiederholt.

Eines Tages aber wendet sich das Blatt. Es ist die Vorweihnachtszeit im Jahr 1934. Der Kindergarten bereitet sich auf die große Weihnachtsfeier vor. Die Kin-der sollen ein Gedicht aufsagen. Aber die Kinder der Reichen können nicht ein einziges. Ich stehe mal wieder an der Wand und bekomme die Bemühungen der Schwestern mit. Da drehe ich mich um und sage in rasantem Tempo das Gedicht „Christkind im Walde“ von Ernst von Wildenbruch (1845-1909) auf:

Christkind kam in den WinterwaldDer Schnee war weiß, der Schnee war kaltDoch als das heil’ge Kind erschien, fings an, im Winterwald zu blühnChristkindlein trat zum ApfelbaumErweckt ihn aus dem WintertraumSchenk Äpfel süß,Schenk Äpfel zart,Schenk Äpfel mir von aller Art

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Der Apfelbaum, er rüttelt sich,Der Apfelbaum, er schüttelt sichDa regnet’s Äpfel ringsumherChristkindleins Taschen wurden schwer

Die süßen Früchte alle nahm’sUnd so zu den Menschen kam’sNun, holde Mäulchen, kommt, verzehrt,Was Euch Christkindlein hat beschert

Die Schwestern schauen mich mit offenem Mund an. Als sie sich wieder gefasst haben, holt eine von ihnen die strenge Oberin. „Kannst du das nochmal langsam aufsagen?“, fragt die mich. Ich fange wieder von vorne an. „Und kannst du auch Weihnachtslieder?“ Ich nicke und singe „O Tannenbaum“ und „Leise rieselt der Schnee“. Mit meinen Eltern und Tanten habe ich zu Hause viel gesungen. Auch durch meine ältere Schwester habe ich einiges gelernt. Und so kommt es, dass ich bei der Weihnachtsfeier im Jahr 1934 als einziger vorsingen und ein Gedicht aufsa-gen darf. Eigentlich ist dafür die Tochter eines Geschäftsmannes vorgesehen. Doch bei den Proben behält sie den Text nicht ± und so bekomme ich meine erste Rolle.

Erster AuftrittIch fiebere dem Auftritt entgegen, und endlich ist der letzte Samstag vor Heilig

Abend gekommen. Im großen Saal steht ein Weihnachtsbaum, die Schwestern ha-ben Klappstühle aufgestellt und Namensschilder für die Besucher daraufgelegt. In der ersten Reihe sitzen die Gönner und Geldgeber des Kindergartens. Dahinter die kleinen Geschäftsleute und Händler sowie die selbstständigen Handwerker. Hinter ihnen die anderen Familien, die meisten von ihnen sind arbeitslos. Meine Eltern finden ihren Platz in der zweitletzten Reihe. Ich stehe auf der Bühne, mein Auftritt beginnt. Ich singe „O Tannenbaum“ und nach der Ansprache der Oberin „Leise rieselt der Schnee“. Ein älterer Mann begleitet mich auf dem Klavier. Er erzählt mir später, dass seine Rente zu klein sei, um davon zu leben. So spiele er abends regelmäßig in Kneipen. Für mich hat sich der Nachmittag gelohnt, seither lassen mich die Schwestern in Ruhe. Ich stehe kaum noch an der Wand. In der Zeitung erscheint ein Bericht von der Weihnachtsfeier. Auf dem Bild bin ich zu sehen, der Reporter schreibt: „Er ist so gut, er wird bestimmt einmal Schauspieler.“

Und ich erhalte noch eine überraschende Anerkennung für meinen Auftritt. Der größte Gönner des Kindergartens, der in der ersten Reihe sitzt, kommt an-schließend auf mich zu. Er ist ein dicker Mann mit einer goldenen Uhrkette an

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seiner Weste. „Das hast du gut gemacht“, sagt er und gibt mir die Hand. Es ist der Vater des Mädchens, das eigentlich bei der Weihnachtsfeier hätte vortragen sollen. Kurz darauf höre ich, wie ihn seine Frau beschimpft: „Wie kannst du das machen, das ist ein Altstadtbub!“

Dann bekommt meine Mutter noch einen Zettel von der Besitzerin eines Schuhladens in der Innenstadt zugesteckt, und darauf steht: „Ein paar Winter-schuhe für das klaa Rölfche“. Eine noble Geste und angesichts unserer Armut für uns ein großes Geschenk. Ein paar Tage später gehen wir in den Laden. Die Besit-zerin, eine kräftig gebaute Dame, hat offenbar einen Narren an mir gefressen: „Frau Schmitz, suchen Sie sich die besten Winterschuhe aus, und gucken Sie nicht nach dem Preis“, sagt sie zur Begrüßung. Ich finde welche. Sie passen wunderbar. Sonst kaufen mir meine Eltern immer Schuhe, die viel zu groß sind für mich: „Da wächst du nei“, heißt es dann immer. Und damit ich nicht herausrutsche, ziehe ich stets ein Paar Strümpfe und ein paar Socken übereinander an. Die Socken werden dann bei höheren Schuhen über den oberen Rand gestülpt.

Als ich in dem Laden Winterschuhe ausgesucht habe, meint die Besitzerin des Ladens: „Und ein paar Schlappen braucht er auch noch.“ Also bekomme ich auch noch warme Hausschuhe. Und das alles für meinen kleinen Auftritt. Reich be-schenkt gehen wir nach Hause.

EngelscheAm Wochenende besuche ich den Kindergottesdienst in der evangelischen

Paulskirche. Allerdings finde ich es unbequem, dort zu sitzen. Die Bänke sind für uns Kinder viel zu hoch. Also lege ich mich bei meinem ersten Gottesdienst auf die Bank, schaue nach oben und entdecke die großen Marmorstatuen der vier Evan-gelisten, die auf der Brüstung der Empore vor der Orgel stehen. Ich zeige auf sie und sage ganz laut in den Gottesdienst hinein: „Wer sind denn die Figuren dort oben?“ Jetzt schauen alle auf mich, und dann kommt von überall her: „Psst, Pssst; Psst.“ Die Predigt beginnt. Aber sie ist so schrecklich langweilig. Da entdecke ich noch etwas. „Warum sind da oben so viel Engelsche?“, rufe ich. Wieder „Psst, Pssst, Psst.“ Ich meine einen bandartigen, gemalten Streifen mit Engeln. Auf dem Heim-weg bekomme ich von meinem Vater das zweite Wort zum Sonntag zu hören und entgehe nur knapp der Prügelstrafe.

Die Altstadt ist ein Paradies für Kinder. Wir spielen jeden Tag draußen. Schon Dreijährige sind ohne Eltern auf den Gassen, die für Autos viel zu eng sind. Die Kutscher der Fuhrwerke geben auf sie Acht. Das Geklapper der Pferdehufe ist

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außerdem schon von weitem zu hören. Ältere Altstadtbewohner nehmen sich öfter ein Kissen, legen es auf das Fensterbrett, stützen darauf die Arme und schauen uns beim Spielen zu. Sie haben ja sonst nicht viel zu tun. Wir lassen einen Kreisel, den so genannten Dobsch, drehen. Mit einem Stock, an dem eine kurze Schnur mit einem Knoten am Ende befestigt ist, schlagen wir ihn und treiben ihn so an. Zu unserer Freude springt er manchmal von Pflasterstein zu Pflasterstein, nur wenn er zwischen die Steine gerät, kippt er um. Wir malen Kästchen auf den Boden und hüpfen von einem Feld zum anderen. Wir spielen mit Klickern, das sind farbige Murmeln aus Ton. In der Schule ist Völkerball angesagt, dabei muss man sich mit einem Ball gegenseitig abwerfen. Oder wir spielen Fußball im Ostpark, ich stelle mich ins Tor. Wenn wir auf unserer Gasse sind, kommt im Laufe des Nachmittags immer jemand herunter zu uns mit einem Tablett in der Hand und bringt uns etwas zu essen: Reste vom Geburtstagskuchen, Bonbons, Schokolade, Brote mit selbstgekochter Marmelade, ein Handtuch zum Mund abputzen liegt meist auch dabei. Umgekehrt helfen wir oft den Älteren und tragen im Winter die Kohle vom Keller in die Wohnung. So halten wir in der Altstadt zusammen.

Wir Altstadt-Jungen klettern gerne. Kein Baum ist uns zu hoch. Entsprechend oft verletzen wir uns. Nicht selten sind meine Beine über und über mit Pflastern bedeckt. Auch die Brunnen sind vor uns nicht sicher. Dass es etliche davon in der Altstadt gibt, ist für uns ein Glück, wir kühlen uns mit dem Wasser im Sommer ab. Die Brunnen sind für uns aber noch aus einem anderen Grund gut. Wir können dort kleine Stücke Kernseife verstecken und uns waschen. Warum? Ganz einfach. Wenn wir Kinder spielen, werden wir meist ganz schön dreckig. Aber so können wir nicht vor unsere strengen Eltern treten. Wir gehen also zuerst zu einem der Brunnen mit einem großen Schwengel, um damit Wasser zu pumpen. So werden wir wieder sauber. Wenn wir durstig sind, trinken wir auch das Wasser.

Die Fuhrleute nutzen es für die Pferde. Vor allem die Brauereien beliefern mit imposanten Fuhrwerken die Kneipen. Bevor der Kutscher die Bierfässer ablädt, gibt er den Pferden erst etwas Hafer in einem Lederbeutel, den er dem Pferd um-hängt. Später bekommt es Wasser im Eimer. Und nicht nur die Brauereien nutzen die Pferde, um ihre Waren in die Altstadt zu liefern. Die Milchläden bekommen die Milch ebenfalls in großen Kannen per Pferdewagen geliefert. Der Lieferant legt beim Abladen ein Lederkissen auf den Boden und lässt die große Kanne da-rauf fallen, bevor sie ins Haus transportiert wird. Per Fahrrad wird die Milch an-schließend ausgefahren, in einem Gestell am Lenker stehen die Flaschen. Wie die Milchlieferanten mit den Kannen, verfahren die Bierkutscher mit ihren Fässern, auch sie plumpsen vom Wagen zuerst auf ein Lederkissen und werden weggerollt. Viele weitere Lieferanten beliefern ebenfalls mit Pferdewagen ihre Kunden, und

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auch die Althändler, die Eisenwaren abholen, nutzen sie. Manche Leute ziehen herum, sammeln die Pferdeäpfel von der Gasse und werfen sie in ihren Garten, damit das Gemüse im nächsten Jahr besser wächst. Auch die Post wird lange Zeit mit Pferdewagen zur Sammelstation gebracht. In der Kannengießergasse steht der Hainerhof, dort war früher die Poststation, wo die Pferde gewechselt wurden.

Nördlich vom Dom liegt der Domplatz. Ein belebter Fleck mit einem katho-lischen Laden, wo es Rosenkränze, Kerzen, Liederbücher und andere kirchliche Utensilien zu kaufen gibt, einem Uhrengeschäft, und der Gaststätte Luthereck, die einem meiner Onkel gehört. Nicht weit davon entfernt verläuft die Fahrgasse, eine viel befahrene Nord-Süd-Verbindung. Sie ist durch die Alte Brücke mit der südlichen Mainseite verbunden. An Stelle der heutigen Kurt-Schumacher-Straße stehen zu dieser Zeit Häuser. Links und rechts an der Fahrgasse befinden sich Lä-den und Lokale. Eine Drogerie, ein Textilgeschäft gibt es, eine Bäckerei und einen Laden, der Waagen verkauft. Auch einen italienischen Eissalon, einen Zigaretten-laden und einen großen Buchverleih, wo man sich für wenige Pfennige Bücher borgen kann. Fuhrwerke und einige wenige Autos fahren in beide Richtungen. Verkehr gibt es sonst nur wenig in der Altstadt. Für Autos sind die Gassen viel zu schmal. Nur Pferdewagen rollen in gemächlichem Tempo hindurch.

Magste Zucker?In unserem Viertel fühlen wir uns bei aller Armut wohl. Kommt mir auf der

Gasse eine Nachbarin entgegen, bleibt sie stehen und fragt: „Ei Rölfche, na wie geht es denn? Komm doch mit, ich habe noch Kuchen zu Hause. Und Äppel.“ Oder jemand lädt mich zum Zwetschekuche ein. „Magste Zucker? Nimm so viel, wie du willst“, heißt es dann. Und ich genieße es. Wir tragen alten Damen Einkäu-fe nach Hause und werden dafür mit Süßigkeiten und Obst belohnt. Überall steht in der Küche Malzkaffee auf dem Herd, so genannter Kathreinerkaffee, den gibt es in einer blauen Packung. Richtiger Bohnenkaffee ist teuer und wird nur in kleinen Mengen von 50 Gramm gekauft. Mehr kann sich keiner leisten.

Jedes Haus in der Altstadt hat einen eigenen Namen, und keins sieht aus wie das andere. Die Häuser unterscheiden sich durch Bau und Farbe, manche Fassa-den sind mit Figuren, Sprüchen, Blumen oder Wappen bemalt. Und die Häuser werden vielfältig genutzt. Auf ein Wohnhaus folgen eine Schreinerei, ein Fri-seur, ein Milchgeschäft und dann vielleicht eine Schlosserei. Ständig wird in der Altstadt umgebaut. Kommt man einmal in ein Haus und befindet sich dort eine uralte, ausgetretene Holztreppe, kann sie bis zum nächsten Besuch durch eine Steintreppe ersetzt worden sein. Oder umgekehrt. Die oft kunstvoll geschmie-

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deten Eisengeländer bleiben erhalten. In einigen Treppenhäusern hängen große Gemälde. Manche Gebäude haben große Tore, durch die ein Drückwagen ± ein Karren mit zwei großen hölzernen Rädern, einer Ladefläche und zwei Holmen zum Schieben oder Ziehen ± passt, dahinter befindet sich ein schöner Hinterhof. Wenn man mittags dort hineinkommt, dann kann es sein, dass die Werkstatttüren offen stehen, aber niemand da ist, weil die Belegschaft gerade zu Tisch ist. Dann liegt dort vielleicht ein großer Hund im Hof, ein Schäferhund oder eine Dogge, und döst vor sich hin. In der Altstadt laufen viele Hunde frei herum. Wenn mein Vater mit mir spazierengeht, kommt oft einer von hinten zu mir ran und leckt an meiner Hand. Die Tiere sind in der Regel gut gepflegt. Manche bekommen bes-seres Essen als ihre Besitzer.

BlumenviertelAußer Hunden leben auch viele Vögel in der Altstadt. Manche Käfige stehen an

den Fenstern zur Gasse, und Kanarienvögel trällern zur Straße hinaus. Nicht weni-ge Bewohner halten sich einen Papagei. Und gehen mit dem Vogel auf der Schulter draußen spazieren, der Papagei plappert währenddessen unanständige Wörter vor sich hin, zum Vergnügen der Passanten. Jungen halten sich öfter Frösche zu Hause im Glas.

Die Altstadt ist im Sommer deutlich bunter als im Winter. In der warmen Zeit wird sie zum Blumenviertel. Denn an fast jedem Haus sind Kästen angebracht und darin wachsen in erster Linie Geranien. Tausende in der ganzen Altstadt. So kommt auch in die trübsten Gassen etwas Schmuck. Im Winter werden die Blu-men im Keller geschützt gelagert. Wenn es Frühjahr wird, werden sie wieder nach draußen gestellt. Sprießen die ersten Blüten, kehrt die Farbe in die Gassen zurück, dann wissen wir, jetzt ist der Winter endgültig vorbei.

Besonders zur Mittagszeit duftet die Altstadt. Denn es ist genau zu riechen, in welchem Haus gerade was gebraten und gekocht wird. In den engen Gassen fehlt es an Durchzug. Und wenn einer mal etwas Besonderes auf den Tisch bringt, weiß es gleich die ganze Gasse. Wer dann von seinem Wildbraten nichts an die Nachbarschaft abgibt, der wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Umgekehrt hilft man sich oft. Wer zwei Brote aufgetrieben hat, geht im Haus herum und gibt Stücke ab. Nicht selten kommen Nachbarn und fragen: „Frau Schmitz, mein Bub kommt aus der Schule, ich hab nichts im Haus, können Sie mir grad aushelfen?“ Dann gibt meine Mutter Nudeln, Reis, Gries oder eingemachtes Obst ab. Oder auch Tabak. Meine Eltern rauchen beide. Den Tabak kaufen sie in einem Tabak-laden in der Fahrgasse, gegenüber der Mehlwaage. 50 Gramm Feinschnitt kosten

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Erinnerungen von Rolf Schmitz Aufgezeichnet von Markus Dobstadt

Ein bewegendes Lebensbild vor dem Hintergrund eines wichtigen Stücks

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Die Frankfurter Altstadt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist

ein erstaunliches Viertel: Prachtvolle Fachwerkhäuser und schöne Stein-fassaden spiegeln den Glanz der gro-ßen alten Handelsmetropole wider. Doch unter den übrigen Bewohnern ist das Viertel nicht gut angesehen. Die Reichen haben ihm längst den Rücken gekehrt. Zurückgeblieben sind die Armen. „Altstadtbub“ ist ein

Schimpfwort. Rolf Schmitz, der 1929 geboren wird, kennt das Viertel wie kein Zweiter. Auch seine Familie leidet unter gro-ßer Armut, doch „Klaa Rölfche“, wie ihn alle nennen, weiß sich zu helfen. Der Lausbub wächst heran und erlebt in der Altstadt viele Abenteuer. Gefährlich wird es für die Familie während der NS-Diktatur, als die Eltern jüdischen Bürgern zur Flucht verhel-fen. In seinen Erinnerungen führt Rolf Schmitz hautnah durch diese bunte, bedrängte Welt, die schließlich in den Bomben-nächten untergeht. Er schildert auch die Not nach dem Krieg und die neu erwachte Lust der Menschen, wieder einen nor-malen Alltag und auch Liebe zu erleben. Eines Tages trifft Rolf Schmitz am Mainufer die Frau seines Lebens – und macht ihr spontan einen Heiratsantrag ...

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