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C.H. GUENTER EIN WOLF KENNT DEN ANDERN VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT

Ein Wolf Kennt Den Anderen

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C.H. GUENTER

EIN WOLFKENNT

DEN ANDERN

VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT

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1.

Sie kannten sich seit sieben oder acht Jahren. Er hatte alles mit ihr gemacht, was man mit einer Frau tun konnte, ohne ihr die Ehe anzutragen. Jetzt stand er vor ihrer Tür wie ein Feind erster Klasse.

Er läutete nicht, denn er wußte, daß sie nicht zu Hause war. Er öffnete das Schloß wie jeder, der keinen Schlüssel hatte, sich aber auf Einbruch verstand.

Das Luxusappartement war etwas kleiner als die Olympiahalle, aber immerhin zweihundert Qua­dratmeter groß. Wenn man auf die Terrasse trat und hinunterschaute, lag einem nicht München, sondern Monte Carlo und das blaue Mittelmeer zu Füßen. Heute war es spiegelglatt wie meist in solchen Sommern, die heißer waren als die in Zentralafrika.

Deshalb ging er schnell wieder hinein in die klimatisierte Wohnhalle, zog die Thermoglaswand zu und wartete.

Er wartete auf Helen Lister. — Sie lebte hier, weil man als Großverdiener im Fürstentum wenig Steuern bezahlte. Sie lebte auch hier, weil an dieser begnadeten Küste die Sonne zweihundert­fünfzig Tage im Jahr ihren schönen Körper bräunte - wenn ihr der Job Zeit dazu ließ. Immerhin war sie inzwischen die erfolgreichste Nachrichtenhändlerin des Westens geworden.

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Nicht, daß sie mit so simplen Dingen wie dem Namen des Mädchens, mit dem der französische Innenmininster gerade seine Frau betrog, handelte, sie verkaufte Sachen, die Geld brachten, Etwa die Pläne des Satelliten-Navigationssystems der neuen amerikanischen Fernrakete oder Fotos von sowje­tischen Super-U-Booten im Trockendock der Kali­ninwerft oder die geheimen Zusatzklauseln zu Geheimparagraphen von Geheimverträgen.

Sie war die Drehscheibe für solche brisanten Geschäfte. Sie kaufte hier ein und verkaufte dort­hin weiter. Aber auf die Dauer konnte das nicht gutgehen.

Er hatte sie immer wieder gewarnt. Ihre Antwort klang ihm noch im Ohr:

„Vorgestern wurde ich schlecht bezahlt und lebte schlecht. Gestern wurde ich besser bezahlt und lebte besser. Heute werde ich gut bezahlt und lebe gut. Weißt du eine Alternative?"

Fragt sich nur, wie lange, hätte seine Antwort gelautet. Doch er war sie schuldig geblieben.

Nun saß er zwischen Marmor und Blattgoldtape­ten in einem weißen Nappaledersofa, das auf einem rosafarbenen chinesischen Seidenteppich stand. Von der Wand herunter grinste ein verzerrtes Picassogesicht.

Der BND-Agent Robert Urban steckte sich eine filterlose Zigarette an und wartete.

Im Handkoffer neben sich hatte er eine Million D-Mark.

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Ein Geräusch, wie es gutgeölte Kugellager von sich gaben, ließ Urban herumfahren.

Die Schiebetür war aufgegangen. Helen Lister kam, die Augen noch verklebt, aus ihrem Schlaf­zimmer. — Wann, zum Teufel, war sie aus Paris zurückgekehrt?

Sie trug nur etwas Hauchdünnes und hatte sich kaum verändert. Noch immer war sie mannequin­schlank, 180 cm lang, rothaarig und von Sommer­sprossen übersät. Im übrigen war sie knallhart.

Gähnend fuhr sie ihn an: „Wie kommst du herein? Früher mochte ich das

vielleicht, heute ist das anders." „Der Geldbriefträger klingelt nicht zweimal",

sagte er. „Grins mich nicht so an." „Du weißt, ich kann nicht anders", erklärte er. „Laß dir diesen verdammten Grinsmuskel end­

lich chirurgisch durchtrennen." „Und hinterher bin ich impotent", witzelte er.

„Sie bringen dich oben in Ordnung, und einen Meter weiter unten geht nichts mehr."

„Idiot!" fauchte sie. Im großen und ganzen war das ein unfreundli­

cher Empfang. Sie holte vom Glastisch eine Glas­karaffe und zwei Gläser. In der Flasche schwappte etwas Braunes.

„Einen Drink?" Da machte er ihr klar, wie ein ordentlich nach

Maß gebauter Geheimagent sich aufzuführen hatte und wie man seiner Meinung nach mit nach Maß gebauten Nachrichtenhändlern fertig wurde.

„Zum Geschäft, Gnädigste." Sie goß ein, trank hastig, schüttete nach. „Auf einmal so dienstlich, Monsieur?"

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Sie lehnte sich zurück, breitete Arme und Beine aus, und ihr Haar fiel über Schultern, von denen die Seide geglitten war. Nur noch ihre beachtli­chen Brüste hielten das zarte Gewebe fest. An den Brustwarzen hatte es sich wie an zwei Haken verfangen. Nun kreuzte sie ihre verflucht langen Beine und sagte:

„Dachte, wir steigen mal wieder zusammen ins Bett."

Er öffnete den Koffer und deutete auf die fein säuberlich gestapelten bankfrischen Hunderter-Pakete.

„Aber erst die Fotokopien." Seufzend ging sie zu einem weißen Lackschrank

mit schwarzen Drachenintarsien, holte einen Umschlag heraus und warf ihn auf den Tisch.

Urban prüfte den Inhalt. Alles in Ordnung. ­Die Entwürfe eines Sofortprogramms der Bonner Regierung für den Fall des Abzugs der Amerikaner mit Mann und Maus, mit Panzern, Raketen und Flugzeugen. Zwar waren sie nur eine Studie, wie sie jede Regierung von Strategiekommissionen aus­arbeiten ließ, aber doch konnte sie wie Sprengstoff wirken.

Ein Trottel von Minister hatte sie einen Augen­blick achtlos auf seinem Schreibtisch zurückgelas­sen. Die Minute hatte irgendeiner Sekretärin genügt, sie durch den Kopierer zu jagen.

„Ich bedanke mich noch einmal herzlichst bei dem Blödmann, der mir zu diesem Geschäft ver­half", spottete Helen Lister.

„Man hat ihn gefeuert", sagte Urban. „Ich bin befugt, noch einmal Hunderttausend draufzulegen, und zwar für den Namen der Person, die die Kopien aus dem Ministerium schmuggelte."

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„Kein Bauer verkauft den Acker vor der Ernte", erwiderte sie.

„Wir finden die undichte Stelle ja doch." „Aber mir verdirbt es jedes Geschäft, wenn sich herumspricht, daß ich nicht nur geheime Pläne, sondern auch die Spione gleich mitverscheuere."

Urban kippte den Koffer aus. Das Geld lag als Haufen auf dem Teppich. Dann legte er die Bonner Papiere in den Koffer und schloß ihn.

„Jetzt einen Bourbon, Mister Dynamit?" Ihr Ton war aggressiv bis höhnisch. Wenn er nicht gewußt hätte, wie das immer

endete, hätte er akzeptiert. „Weder noch", sagte er, äußerlich so gelassen

wie ein Spiegelei auf Spinat. Nicht ganz zehn Minuten später lagen sie anein­

andergepreßt - wie die Schichten einer Schokola­denwaffel - in Helens Rundbett.

„Was glaubst du", flüsterte sie, „warum ich dieses Geschäft einfädelte?"

„Nur, um mich hierherzukriegen", antwortete er. „Wer einen wie dich mal hatte, der wird wähle­

risch." „Jetzt übertreibst du." Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr rotes

Haar durch sein Gesicht wischte wie ein parfü­mierter Staubwedel. Sie seufzte, kratzte, biß, klammerte sich an ihm fest.

„Wenn man ein Jahr auf die Liebe verzichtet hat", keuchte sie, „heißt das nicht, daß man für immer darauf verzichten kann."

Als es dunkel wurde und sie erschöpft schlief, zweifelte Urban an ihrem Erinnerungsvermögen.

Nur ein Jahr, dachte er, wohl kaum. Es muß eine Ewigkeit her sein.

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Das Geschäft war gelaufen. Servus, adieu, auf Wiedersehn.

Helen Lister wurde sicher wütend, wenn er sich lautlos empfahl. Aber sie kühlte rasch ab. Irgendwo würde man sich wieder begegnen.

Urban verließ das Bett und hätte wenig später auch die Wohnung verlassen, wenn am Boden nicht diese Perlenkette mit dem Amulett gelegen hätte.

Das goldene Amulett, oval, mit feinziseliertem Rand, vorne mit einem flachen Rubin darauf, ließ sich öffnen.

Helen war keine Frau, die Locken oder Fotos von Liebhabern mit sich herumtrug, oder gar die Bilder ihrer Eltern. Höchstens eines von ihrem Vater, der sie in dieses Geschäft gebracht hatte, ehe er als Agent des damaligen SSI bei einem Sabotageein­satz in Pakistan von einem explodierenden Muni­tionszug zerfetzt worden war.

Neugierig öffnete Urban das Amulett. Es war leer. - Aber wer solche Verstecke und Aufbe­wahrungsorte liebte, der hatte auch mehrere davon.

Er begann zu suchen. Leise trat er an die Seite des Bettes, von der Helen Lister in den Liebes-Expreß eingestiegen war. Auch ihre Ohr­ringe und die Cartier-Uhr hatte sie abgelegt.

Die dicken Rubinklunkern ließen sich vom Ohr­gehänge abschrauben. Die Bohrung ging tiefer hinein, als das Gewinde lang war. Aber drinnen war nichts als ein wenig Staub, vermischt mit trockenem Haarspray und Seifenschaum. Auch die Uhr stellte eine Spezialausführung dar.

Urban öffnete den hinteren Deckel mit dem

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Daumennagel. Da bewegte Helen sich. Sie tastete nach ihm, fand ihn aber nicht.

Vorsichtig brachte er seine Hand mit ihren suchenden Fingern in Berührung. Ihre Augäpfel bewegten sich unter den Lidern, doch bald gingen ihre Atemzüge wieder gleichmäßig. Sie schlief weiter. Aber sie hatte sich aufgedeckt.

Der Nabel war auch ein bewährtes Versteck. — Im Nabel hatten schon Nazihäuptlinge Zyankali­kapseln verborgen gehabt. - Urban beugte sich über sie. Mehr als ein warmer animalischer Duft mit einem Hauch Opium-Parfüm war nicht zu registrieren. Der Nabel war clean. Ebenso der Ring.

Also nichts im Ring, nichts in der Uhr, nichts im Ohrgehänge. — Demnach hatte sie alles, falls es etwas gab, im Safe. An den kam er nicht ran, ohne sie zu narkotisieren. Und selbst dann war es noch eine Frage, ob er ihn aufbekam. Zweifellos war bei Helen vieles als Container zum Aufbewahren von Geheimmaterial konstruiert. Am Sekretär schraubte Urban die Kugelschreiber auseinander, zerlegte das Feuerzeug, setzte es wieder zusammen. Wahllos suchte er in den Büchern des Regals und den Bildern auf der Kaminkonsole. Er blinzelte sogar in den Rauchfang hinauf. Die Lampen betrachtete er nur von unten, es gab allein zwei Dutzend in der Wohnung.

Plötzlich blieb sein Auge an der Goldtapete haften. Das Muster war ein filigranes Blumenre­lief. — Verdammt, das war es.

Noch einmal öffnete er das Amulett. An der Innenwand wiederholte sich das Relief der Tapete. Er zupfte das ovalgeschnittene, unter den Rand

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geklemmte, vergoldete Papier heraus und fand darunter den Mikrofilm.

Und damit fing das Problem an. Ohne Spezialge­rät waren Mikrofilme weder zu lesen noch zu kopieren. Wenn er den Film mitnahm, dann wußte Helen, daß nur er ihn haben konnte.

Wollte er dahinterkommen, um welche abfoto­grafierten Dokumente es sich handelte, mußte er den Film kopieren — oder kupieren, was bedeu­tete, vorne und am Ende eins oder mehrere der kaum streichholzkopfgroßen Bilder abzu­schneiden.

Helen schlief, aber nicht sehr tief. Sie würde bald aufwachen. Also mußte er sich beeilen.

Professionell, wie es sein Job erforderte, ging er mit dem Film ins Badezimmer. Dort machte er Licht und schnitt mit der scharfen Manikürschere drei Bilder heraus. Das schwarze Bäudsel war fünfzehn Zentimeter lang und enthielt mindestens fünfzig Aufnahmen. Sie würde es nicht gleich merken, und wenn, dann vielleicht in drei Tagen. Drei Tage waren in diesem Geschäft wie drei Jahre im Holzhandel.

Kaum hatte Urban den Film wieder in das Versteck gelegt, das Goldpapier hineingedrückt und das Amulett geschlossen, erwachte Helen endgültig.

Sie dehnte sich wie eine Katze, richtete sich auf und sah ihn drüben in der Halle bei einem Glas Bourbon sitzen.

„Bring mir meinen Bademantel!" rief sie. „Hol ihn dir selbst." „Mich friert." Kein Wunder. Es hatte sich zugezogen. Keine

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Sonne mehr zu sehen, der Himmel war schwarz, Sturm kam auf. Nordweststurm, der von den Seealpen herunterfegte und eiskalt war.

„Ein Risiko, aber es hat sich gelohnt", sagte Urban, nachdem er die Auswertung überflogen hatte. „Es ist echt sensationell. Und was ich immer sage: Man kann keinem trauen. Weder den Russen noch den Amerikanern."

„Und uns", ergänzte der Vizepräsident des BND, seine aristokratische Hand auf die Bonner Doku­mente legend. „Immerhin enthält unser Strategie­papier ein Szenarium, bestehend aus drei Akten. Erster Akt: Abzug der Amerikaner aus Europa. Zweiter Akt: Neutralität der Bundesrepublik. Dritter Akt: Wiedervereinigung."

„ Sommerfestspiel der Phantasie", tat es Urban ab. „Wir mußten eine Million dafür zahlen, um sie

wiederzukriegen", bemerkte der Präsident. „Ich hielt das von Anfang an für um eine Million

überbezahlt. Jede Regierung, jeder Generalstab entwirft solche Papiere tagtäglich dutzendweise. Das gehört dazu, um für alle Situationen vorberei­tet zu sein. Fall X, zweite Schublade oben. Fall Ypsilon letztes Fach unten."

„Bonn bestand darauf, daß wir die Kopien zurückkaufen."

„Auftrag erledigt." Die Hintergründe waren Urban geläufig. „Es geht darum, die undichte Stelle im Ministe­

rium zu finden. Um einen Spion zu fassen, muß man ihm beweisen können, daß er etwas verraten hat. Schwamm drüber."

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„Es ist nicht weiter unsere Sache", erklärte der Präsident. „Jetzt muß der Verfassungsschutz ran. Sie rotieren bereits, wie ich hörte. Nun zu Fall zwei. Die Mikrofilme."

„Es war nur einer." „Der Anfang russisch, das Ende amerikanisch.

Wie ist das möglich?" Urban vermutete, daß die extrem geheimen

Papiere an einem Ort von einer Kamera auf einen Film gebannt worden waren. Der Mikrofilmer hatte mit dem Papier aus Moskau begonnen und mit dem aus Washington aufgehört."

„Wer kann so etwas liefern?" fragte der Präsi­dent.

„Nur Topleute." „Aber Topleute sind in der Regel keine Spione." Urban äußerte, was er darüber dachte. Eine

reine Hypothese zunächst, aber dem Präsidenten gegenüber erlaubte er sich das.

„Das Material lief bei Helen Lister aus dem Osten und aus dem Westen zusammen. Möglicher­weise sind hier Doppelagenten am Werk. Ein fabelhaftes Geschäft. Man stelle sich vor, der eine hat nur Holz, der andere nur Eisenerz, und es gibt nur einen einzigen Umschlagplatz. Der ohne Erz kann kein Eisen schmelzen und der ohne Holz auch nicht. Man tauscht das, was man im Überfluß besitzt, gegen das, was man braucht. Der Händler macht seinen Reibach, und jeder geht zufrieden nach Hause. Setzen Sie nun an die Stelle von Holz und Erz die vorliegenden Dokumente."

„Oder", bemerkte der Vizepräsident, „es steckt eine noch höhere Strategie dahinter. Man spielt dem einzigen auf der Welt gefährlichen Gegner Erstschlagpläne in die Hand, aus denen hervor­

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geht, daß im Falle eines Krieges nichts, aber auch gar nichts übrigbleiben wird. Ergebnis: Moskau wird sich hüten, seine Pläne jemals ablaufen zu lassen."

Urban verstärkte sein Lächeln. „Das wäre die Idee eines Friedensengels. Aber

erstens funktioniert das niemals, und zweitens sind Friedensengel heutzutage nur maskierte Teufel."

„Sie Pessimist." „Das Gegenteil ist richtig", erklärte Urban. „Nur

von ganz unten kann es wieder aufwärts gehen." „Info an die CIA", ordnete der Präsident an. Verdient hatte es der amerikanische Geheim­

dienst zwar nicht. Die Kooperation war meist äußerst mangelhaft.

„Als Ausdruck der Schadenfreude", bewertete Urban es.

„Unter Freunden wird Schadenfreude Mitleid." „Von mir aus", sagte Urban. „Und was uns betrifft", bat der Präsident, „wir

behalten die Sache jedenfalls . . ." „.. . im Auge", ergänzte Urban. Er fuhr nach Hause. Als er sich auszog, um zu

duschen, hatte er noch den Duft von Helen Lister auf der Haut.

2.

Selten hatte im Pentagon eine so kurze Nachricht eine so verheerende Wirkung ausgelöst. Die verschlüsselte Information lautete: NOTFALLPLAN ,LAST THUNDERCLAP' AN KGB VERRATEN.

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Der Chef des Verteidigungsministeriums traf sich sofort mit dem Direktor des Geheimdienstes.

„Thunderclap?" fragte der CIA-Direktor. „Thun­derclap, Moment mal, das ist doch . . ."

Der Minister nickte. „Genau." „Teufel, Teufel!" Der CIA-Chef steckte sich eine

Zigarette an und schwächte ab: „Na ja, nur eine Studie."

Der Minister konnte ihm darin nicht zustimmen. „Eine äußerst ernsthafte Analyse von höchster

Geheimstufe, cosmic, atomal, royal Secret." „Scheiße", ergänzte der bullige CIA-Chef. „Und

wie erfuhren Sie davon?" „Vom Präsidenten des Bundesnachrichtendien­

stes in München." Der CIA-Chef - er wiederholte sich nicht gern ­

sagte nur: „Sch . . ., auch das noch. Und woher haben diese Korinthenkacker das?"

„Einem von ihnen fiel wohl ein Stück Mikrofilm in die Hand."

„Mikrofilm, Mikrofilm-was bedeutet das schon?" „Die Filme führten den Code Thunderclap,

ebenso die Registraturzeichen. Und das bedeutet leider immer etwas."

Der CIA-Chef war nicht nur von Berufs wegen, sondern auch von Natur aus mißtrauisch.

„Wem fiel das wo in die Hände?" „Sie kennen ihn doch: Mister Dynamit, diesen

Sargnagel. Woher er es hat, das fragen Sie ihn am besten selbst. Aber etwas anderes ist weitaus wichtiger, schätze ich."

„Die undichte Stelle", hatte der CIA-Chef es längst erfaßt. Er schloß die Augen und schien nachzudenken.

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„Mit Thunderclap war schon mal etwas." Der Verteidigungsminister erinnerte sich ungern,

gab aber das Stichwort. „Senator Collins." ,,Bei Gott, dieser Bastard." „Er erarbeitete mit dem Verteidigungsausschuß

den Plan Thunderclap, wie man einem Angriff aus dem Osten terrestrisch und weltraummäßig zuvor­kommen muß. Kluger Kopf, dieser Senator Collins, aber leider ein Schwein."

„Er machte zu Hause Notizen und gab sie an die Russen weiter."

Der Pentagonchef winkte ab. „Er versuchte, sie weiterzugeben. Im Augenblick

der Übergabe schlug Ihr Spezialagent zu . " Dem CIA-Direktor war jetzt alles wieder voll

gegenwärtig. „Ja, Gugerman, Exekutivagent James Joe Guger­

man. Er rettete buchstäblich in letzter Sekunde das Vaterland. Der Empfänger, ein sowjetischer Diplomat, wurde vierundzwanzig Stunden später aus den USA gejagt."

„Und der Senator erlitt einen tödlichen Unfall." „Er fuhr auf der Flucht vor Gugerman von einer

Hochbrücke in den Jackson-River. Der Fluß führte gerade eiskaltes Hochwasser. Man zog seine Leiche vierzig Meilen zur Küste hin aus dem Schilf."

„Er hatte die Papiere nicht mehr bei sich", ergänzte der General.

„Die hatte Gugerman ihm in der Sekunde vor der Übergabe entrissen. Gugerman brachte das Material nach Langley."

„Es wurde unter meiner persönlichen Anwesen­heit im Reißwolf des Pentagon zerkleinert und die

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Papierschnitzel wurden anschließend vor Zeugen verbrannt."

Der CIA-Chef drückte seine Zigarette aus. „Und deshalb", bemerkte er, „verstehe ich nicht,

wie die Thunderclap-Papiere auf dem Mikrofilm nach Europa gelangten."

„Das müssen wir klären."„Hauptsache, sie gelangten nicht bis Moskau."Der Pentagonchef nahm einen Schluck von dem

angebotenen Whisky. „Sind Sie sicher?"„Ziemlich", beruhigte der CIA-Direktor ihn.

„Aber wie verließen die Papiere Ihren Safe, Ge­neral?"

Kaum war die Frage ausgesprochen, keimte in dem obersten Mann des amerikanischen Geheim­dienstes ein böser Verdacht.

„Angenommen, alles war nur getürkt", steuerte einer von des CIA-Direktors brillanten jungen Mitarbeitern bei.

„Wie bitte, getürkt?" Der Harvard-Absolvent bewegte sich auf dem­

selben Gleis wie sein oberster Chef, ohne es zu ahnen.

„Unter getürkt", erläuterte der sportliche Jung-akademiker, „verstehe ich eine Vortäuschung. Daß Senator Collins über Thunderclap Notizen anfer­tigte, ist erwiesen. Den Rest könnte Gugerman arrangiert haben. Senator Collins war ein Linksli­beraler, aber ging er auch so weit, daß er unsere Erstschlagpläne in heuchlerischer Weise, angeblich um den Frieden zu wahren, den Russen verriet?

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Das Treffen mit dem russischen Diplomaten könnte von Gugerman eingefädelt worden sein. Senator Collins hatte die Papiere wohl gar nicht bei sich. Die hatte Gugerman sich aus seinem Safe besorgt. Der Senator wurde als Verräter hingestellt und von Gugerman in den Tod getrieben, damit Gugerman als Held dastand. Inzwischen hatte er die Papiere fotografiert und weitergegeben. An wen auch immer, an Moskau oder an einen Nach­richtenhändler. Auf Gugerman fiel zu allerletzt ein Verdacht. Aber ich sage Ihnen, Gugerman ist der wahre Spion."

„Ein Doppelagent", unterbrach der CIA-Chef seinen Vordenker. „Na, fabelhaft! "

„Ich ziehe nur Schlüsse, Sir", tat der junge Mann bescheiden.

Bevor die CIA gegen einen bewährten Agenten wie Gugerman Schritte unternahm, wurde er über­wacht, überprüft bis zur Parodontose, ja, bis zum Fußpilz abgecheckt.

Es gab einige Ungereimtheiten in seinem Leben. Dinge, die bisher nicht beachtet oder einfach übersehen worden waren, bekamen jetzt Gewicht. So etwa sein Geschick, sich meist im Osten einset­zen zu lassen. Der Verdacht, er könnte Doppel­agent sein, verstärkte sich zusehends.

Achtundvierzig Stunden später hatte der CIA-Chef die Beweisführung auf dem Tisch.

Von den Thunderclap-Papieren gab es nur drei Ausführungen. Eine lag im Safe des Verteidigungs­ministers, eine im Safe des Oberbefehlshabers der Streitkräfte und die letzte beim Präsidenten. Alle waren sie nachweislich versiegelt und unberührt.

„Demnach muß Agent Gugerman die undichte Stelle sein", endete der Bericht.

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Der CIA-Direktor rief seine Hauptabteilungslei­ter zusammen. Sie wußten Bescheid oder wurden kurz ins Bild gesetzt.

„Was nun?" fragte der CIA-Chef. „Vorschläge, Gentlemen."

„Gugerman ist ein Risiko", lautete die überein­stimmende Beurteilung.

„Was macht man mit Risiken?" „Ausschalten." „Und wie, bitte?" „Festnahme, Prozeß, Haft." „Dann wird das in der Öffentlichkeit breitgetre­

ten. Wir kennen doch die Hellhörigkeit unserer Medien. Und sie lieben uns nicht."

„Außerdem wird Gugerman bei guter Führung nach ein paar Jahren vorzeitig entlassen."

„Also?" Der CIA-Chef blickte seine Manager der Reihe nach an.

Sie zeigten nicht die nach unten gerichtete Daumenbewegung römischer Imperatoren bei Gla­diatorenkämpfen, aber es gab keinen, der anderer Meinung war oder kniff.

„Danke, Gentlemen", sagte der CIA-Chef. Was jetzt getan werden mußte, hatte er allein zu

verantworten. Er wollte keinen seiner Leute damit belasten.

Er hieß Sapritzky und war der Prototyp des Superagenten aus der Retorte.

Er kam herein wie der Weltmeister im olympi­schen Zehnkampf, obwohl er es nur zum Meister von North Carolina gebracht hatte. Der Schädel eines Mathematik-Professors saß auf dem Anzug

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eines Dressman für Freizeitkleidung. Elastisch auf den Ballen abrollend, durchquerte er den Raum, den nur wenige Geheimagenten während ihrer Laufbahn je zu Gesicht bekamen.

Für Orson Sapritzky war es das zweite Mal, daß ein CIA-Chef ihn empfing. Das erste Mal war er hier gewesen, nachdem die Russen ihn in der Nähe ihres Weltraumbahnhofs Baikonur geschnappt hatten. Nach Monaten der Gefangenschaft konnte er aus dem Lager in Kasachstan fliehen und über China in die Freiheit gelangen.

Der CIA-Direktor, damals noch nicht im Amt, hatte die Personalakte Sapritzkys überflogen.

„Wie es aussieht, Major", stellte er fest, „hat Ihr Erfolg als E-Agent unter dem sibirischen Desaster nicht gelitten."

„Im Gegenteil, Sir", versicherte Sapritzky. „Es war mir eine Lehre fürs Leben. Es war der Rest an praktischer Ausbildung, der mir noch fehlte. Sie verhalf mir zu der Grunderkenntnis, daß die Wut eines Kämpfers nie größer sein darf als seine Intelligenz."

Der CIA-Chef hörte das voller Nachdenklichkeit. „Was hat Sie vor Jahren im sowjetischen Welt­

raumbahnhof so wütend gemacht?" Sapritzky versuchte, es in einen einzigen Satz zu

pressen. „Daß ein Überläufer, einer unserer Top-Inge­

nieure aus Cap Canaveral, den Sowjets eine Welt­raum-Rakete gebaut hatte, die den Russen jenen Vorsprung verschaffte, den sie heute noch haben. Und dies nur, weil die NASA seine Pläne ab­lehnte."

„Okay, das machte Sie wütend. Und wie hätten

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Sie gehandelt, wenn Sie nicht wütend, sondern nur intelligent vorgegangen wären, Major?"

Nun lächelte Sapritzky, was feine Linien zwi­schen seiner Nase und seinem Mund sichtbar werden ließ.

„Ich hätte ihn bei der ersten Begegnung umge­legt, Sir."

„Und warum taten Sie es nicht? Sie sind Exe­kutiv-Agent."

„Ich hatte die Order, Dr. Robertson, wenn mög­lich lebend, in die USA zurückzubringen. Er muß mich erkannt haben, und ich ging dem KGB in eine Falle."

„Eine Erfahrung also", sagte der CIA-Direktor, „ganz speziell für den Auftrag anwendbar, für den ich Sie leider einsetzen muß."

In den letzten Worten lag ein Ausdruck des Bedauerns. Der Agent bemerkte es und zuckte kaum merklich mit den Schultern.

„Order ist Order, Sir." „Es betrifft einen unserer Topleute, den Sie

vielleicht kennen." „Wir sind einige tausend Mann hier, und alle

sind gleich gut, Sir." „Gugerman", ließ der CIA-Direktor es heraus,

„Colonel Gugerman." Die grünbraunen Augen Sapritzkys verengten

sich ein wenig. „Wir kennen uns nur flüchtig. Hatten zusammen

an einem Fall zu tun." Der CIA-Chef senkte die Stimme. „Gugerman muß . . . " Er sprach nicht weiter. Die

Sache hatte Parallelen zu Dr. Robertson, dem Raketenbauer.

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„Nach Headquarters verbracht werden", ver­stand Sapritzky richtig.

„Nur wenn möglich. Wenn es nicht möglich ist, dann . . . "

Der Exekutiv-Agent nickte. „Verstanden, Sir." „Deshalb kommt die Order von mir persönlich",

erklärte der Direktor. „Nur Sie und ich wissen davon. Das heißt, bis auf die Gentlemen, die Gugermans Liquidation mittragen. Aber die sind nicht in Details unterrichtet. Soviel noch zu den Gründen, Major: Lebenswichtige Dokumente gelangten bis ins Ausland. Ein Teil der Spionage­kette ist zweifellos Gugerman."

„Wo finde ich ihn, Sir?" fragte Sapritzky mit sachlicher Professionalität.

Ein Notizzettel mit wenigen hingekritzelten Worten wurde ihm überreicht. Sapritzky las.

„Das ist dicht am Eisernen Vorhang, Sir." „Es kann hüben sein, aber auch drüben." „Wenn ich an einem Ort arbeiten muß, an dem es

lebensgefährlich ist, dann werde ich eben, zum Teufel, an diesem Ort arbeiten, Sir", äußerte Sapritzky. „Ich setze mich sofort in Marsch, Sir. Zunächst London - Wien."

„Wir halten Sie permanent darüber auf dem laufenden, wo Sie den Bastard finden."

Als Major Sapritzky - neununddreißig Jahre alt, er hätte die Brust voller Orden gehabt, wenn bei der CIA welche verliehen worden wären — das Büro im obersten Stockwerk des Hauptquartiers in Langley verließ, war der Direktor sicher, den richtigen Mann für den Job eingesetzt zu haben.

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Kaum hatte Helen Lister ihre Wohnung im Para­dise Tower in Monte Carlo verlassen, schon summte das Autotelefon ihres Jaguars.

Erleichtert vernahm sie die Stimme eines Man­nes, auf dessen Rückmeldung sie seit Tagen war­tete.

Der Anruf kam aus London und war nicht ganz so klar wie aus Cannes oder Nizza.

„Hallo, Jack, wie geht es Ihnen?" tat sie entzückt. Sie kannten sich so gut wie Leute, die seit Jahren

Geschäfte miteinander machten. Helen Lister hatte das führende Nachrichtenma­

gazin englischer Sprache stets mit handverlesener Ware beliefert, und man hatte sie anständig bezahlt. So würde es auch diesmal sein, hoffte sie.

„Schlecht geht es mir", antwortete Jack Salazo. „Frau ist krank, Hund entlaufen, Auto in Repara­tur, und jetzt das noch."

„Hat Sie wenigstens mein Material aufgeheitert, Jack?"

„Das ist es ja." Sie verstand. „Ah, Sie wollen den Preis drücken. Unter drei­

ßigtausend Pfund geht leider nichts, Jack. Sonst verkaufe ich exklusiv nach Hamburg, und ihr könnt vielleicht ein wenig nachklappern."

Der Engländer, ohnehin von schweren Sorgen geplagt, äußerte sich kurz und bündig.

„Die Redaktionskonferenz hat das Material ab­gelehnt. "

Helen Lister glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?" „Abgelehnt."

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Helen Lister bewegte den silbergrünen Jaguar in eine Parkbucht, um ungestörter telefonieren zu können.

„Bitte, wie? Abgelehnt? Das ist doch eine Top-Sache. Die neue US-Strategie. Erstschlag-Overkill mit totaler Vernichtung. — Mit allen Einzelheiten, allen Zielen, sogar der Größe der H-Bomben und der Transportmittel. Jack, das ist der Hit des Jahres."

„Der gleiche Knüller wie die Hitlertagebücher, auf die der ,Stern' hereinfiel", entgegnete Salazo.

„Jack, Sie bescheißen mich!" fauchte Helen Lister empört.

„Ich versuche nicht einmal, Sie über den Tisch zu ziehen, Darling", versicherte der Redakteur. „Wir bedauern. Kein Ankauf."

„Und warum, zum Teufel, warum? Die Ware stammt aus erster Quelle."

„Ob Pentagon oder Weißes Haus", tat der Eng­länder es ab. „Eben lief die IPA-Nachricht über den Ticker. Vor zwei Stunden endete eine Presse­konferenz im Pentagon. Demnach sind Erstschlag­pläne mit dem Codenamen Thunderclap eine reine Erfindung mit der Handschrift eines nahöstlichen Geheimdienstes, Die Pläne sollen den USA unter­geschoben werden, um die Abrüstungsverhandlun­gen in Genf zu stören. Schluß der Presse-Erklä­rung. Danke für die Mühe. Aber so was kann jedem passieren. Dann bis zum nächsten Mal, Darling."

Eine Weile saß Helen Lister ziemlich benommen da. Hastig rauchte sie eine Zigarette. Sie war nahe daran zu heulen und die Fahrt nach Paris schon hier, einen Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, zu beenden. Aber sie wäre nicht Helen Lister

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gewesen, wenn nicht noch ein Eisen im Feuer geglüht hätte.

Erst telefonierte sie mit Paris, dann mit einer Redaktion in Hamburg. Von beiden kam die glei­che Absage. Aus Paris charmant ironisch, aus Hamburg so deutlich, daß sie fürchtete, man wolle fortan nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Trotzdem fragte sie den Redakteur nach den Hintergründen.

„Ist es wegen des Dementis aus Washington?" „Nein", wurde ihr geantwortet, „sondern weil es

sich wirklich um echtes Spionagematerial handelt, und das ist uns zu heiß. Die Amerikaner haben nur eine miese Story erfunden, damit die Thunderclap-Bombe entschärft wurde, ehe sie hochging. Es gibt zwei Erklärungen dafür, Helen. Entweder haben noch andere Nachrichtenhändler die Thunderclap-Papiere nach Moskau geliefert, die CIA erfuhr davon und stellte alles als Verleumdung hin . . . oder, tja, oder irgend jemand, ein großer Unbe­kannter, hatte Einblick."

„Klar hatte jemand Einblick, und zwar in den Pentagon-Safe."

„Oder in Ihren Safe, Gnädigste." An eine solche Möglichkeit hatte Helen Lister

noch gar nicht gedacht. Dieser Möglichkeit nach­zugehen war jetzt wichtiger als alles andere.

Das Geschäft mit den Thunderclap-Papieren war tot. Aber wer war schuld daran?

„Ich habe keinen Safe", erklärte sie, „und kein Safe ist auch nicht knackbar."

„Wo immer Sie Ihre Geheimnisse aufbewahren", erwiderte der Mann in Hamburg, „möglicherweise hatte doch jemand Zugang."

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„Danke." Sie hängte auf. Eine Situation, um zu sterben. Aber um zu

sterben, war sie nicht in Stimmung.

In Paris aktivierte Helen Lister den Kontakt zu Gugerman.

Der CIA-Agent belieferte nicht nur sie mit Nachrichten, aber sie wohl in erster Linie, um nebenbei Geld zu machen.

Er hatte am Montparnasse eine kleine Wohnung, die auf den Namen Malmonde gemietet war. Bei der Concierge galt er als Franzose. Seine in Mar­seiile gebürtige Mutter hatte ihm schon als Kind Französisch beigebracht.

Für das Einzelappartement mit Kochnische, Duschbad und Balkon hatte Helen Lister den Schlüssel.

In der Wohnung gab es zwei Plätze, um Contai­ner zu verstecken, und ein besonderes Signalsy­stem.

Ein Papierstreifen, so in den Türfalz geklemmt, daß er beim öffnen herunterfiel, bedeutete: Nach meinem Weggang hat niemand oder hat jemand die Wohnung betreten. — Das Foto von Gugermans Mutter links auf dem Kaminsims gestellt, bedeu­tete: Nachricht im Container I. Das Foto nach rechts gestellt: Nachricht im Container II. Foto in der Mitte hieß: Es ist nichts im Container. Norma­ler Verlauf.

Der feine Pappespan fiel beim öffnen der Ein­gangstür zu Boden. Drinnen stand das gerahmte Foto links. Also öffnete Helen Lister Container I.

Es handelte sich um eine präparierte Glühbirne.

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Ihr Messingblechsockel war dort, wo das Glas anfing, mit goldfarbener Folie umwickelt.

Sie prüfte, ob die Birne Licht gab, schraubte sie aus der Fassung der Leselampe wieder heraus und zog den Folienstreifen ab. An ihm haftete ein zusammengefaltetes Zigarettenpapier, auf dem die Sätze standen: „War am Siebzehnten hier. Einsatz in den Karpaten. Radaranlagen. Anruf vor Zwi­schenlandung. J.H.G."

Etwas ausführlicher bedeutete das, daß der CIA-Agent seine Reise von den USA zum Eisernen Vorhang in Paris unterbrochen hatte. Er war unterwegs, um Lage, Technik und die Anzahl neuer tschechischer Radaranlagen zu erkunden. Sein Rückflug würde ihn über Paris führen. Vorher würde er anrufen. Vermutlich um zu erfahren, was die Thunderclap-Papiere gebracht hatten. — Sie würde ihn enttäuschen müssen.

Helen Lister spülte die Nachricht durchs WC und verzichtete darauf, als sie ging, den Pappspan wieder in den Türspalt zu schieben.

Von ihrem Pariser Büro aus rief sie einen ande­ren Top-secret-Lieferanten an. Er hatte mehrere Adressen. Doch weder seine Nummer in New York noch die in Moskau gab Antwort.

Noch fand sie das nicht beunruhigend. Diese Burschen waren ständig unterwegs.

Nach einem Glas Champagner ging sie ins Foto­labor, einen Raum ohne Fenster, der nur durch eine Tapetentür zu erreichen war. Dort spannte sie den Mikrofilm mit den amerikanischen und den sowjetischen Dokumenten in den Projektor. Mikro­filme wurden erst durch eine extrem starke Ver­größerung lesbar.

Aber darum ging es ihr heute nicht. Sie über­

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prüfte den Film auf Klebestellen und die Schnitt­kanten am Anfang und am Ende. — Der Film hatte keine Klebestelle.

Aus der Mitte war also nichts genommen wor­den. Die Schnittkanten jedoch waren nicht gerade, sondern leicht gekrümmt. Es waren sanfte Kurven, wie gebogene Nagelhautscheren sie hinterließen.

Helen Listers eigene Nagelhautschere in Monte Carlo hatte an der falschen Stelle des Necessaires gelegen. Ihre Putzhilfe rührte das kostbare Besteck nicht mehr an, seit sie die Diamantfeile an einem halbtrockenen Nagellack ruiniert hatte und zurechtgewiesen worden war. — Solange sie den Mikrofilm im Haus hatte, war niemand außer Robert Urban bei ihr gewesen. — Wie er den Film gefunden hatte und wie er es geschafft hatte, sich ein paar Bilder davon abzuknipsen, das war unklar, aber auch nicht mehr wichtig.

Er ist und bleibt ein Hundesohn, dachte sie. Und Hundesöhne brauchen die Peitsche, sonst gehen sie eines Tages auf ihre eigenen Herren los.

Über Freunde, die wiederum Ganoven als Freunde hatten, traf sie eine Verabredung.

Helen Lister fand den Mann in einem Bistro nahe dem ehemaligen Hallenviertel.

Er hatte ein rundes Liliputanergesicht mit klei­nen Goldzähnen. Schaute man nur flüchtig hin, hielt man ihn nur für verschmitzt, betrachtete man ihn genauer, wirkte er verschlagen.

„Ich bin Jean." „Keine Namen", zischte sie und wollte die Sache

beschleunigen, ehe ein Gast auf die Idee kam,

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darüber nachzudenken, was eine so schöne Frau wohl von einem so häßlichen Knilch wollte. „Was kannst du?"

„Alles. Und ich lerne schnell. Wie ein Tier." „Womit arbeitest du?" Er hatte Hände zum Fürchten, klobig und seh­

nig. Er zog an den Fingergliedern und ließ sie knacken.

„Damit." Dann öffnete er das Sakko. Im Gürtel steckte ein Messer. „Und damit."

„Ist das alles?" „Hat bisher immer genügt, Madame." „Nehmen Sie lieber noch eine Waffe mit." „Wohin?" „Nach Deutschland." „Da habe ich schon am Kiez gearbeitet. In

Hamburg." „Es geht nach München." „Mir egal. Was gibt es zu tun?" „Einem einen Denkzettel verpassen." „'ne Abreibung oder etwas, das er nie vergißt?" „Letzteres", erklärte sie. „Und wenn er dabei draufgeht?" „Auch kein Verlust. Doch das wird er nicht. ­

Die Sache ist nicht ungefährlich für Sie." Der kleine Muskelprotz mit den Goldzähnen

nickte und trank seinen Rouge. „Honorar?" „Wie üblich, plus Spesen." „Was halten Sie für üblich?" „Was man mir nannte." „Das Doppelte, Madame. In diesem Job gibt es

eine hohe Inflation." Sie handelte ihn auf das Anderthalbfache herun­

ter. Dreißigtausend Francs plus Flug, Hotel und

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Autokosten. Und pro Tag noch einmal sechshun­dert extra.

Er griff in die Tasche, holte Notizblock und Bleistift heraus.

„Name und Adresse bitte aufschreiben, Ma­dame."

Sie tat es. „Und eine kurze Charakteristik." Er sprach es

Scharakterischtik aus. Sie lieferte ihm das Gewünschte. Wie ein Killer sah er nicht aus, aber gerade die

Harmlosen hatten es bekanntlich faustdick hinter den Ohren.

Sie zahlte die Hälfte an. „Eine gute Arbeit", betonte sie. Der Kleine schüttelte den Kopf. „Madame", sagte er. „Ich bin alt und mußte von

Kind an arbeiten. Aber eine gute Arbeit habe ich noch nie gefunden."

Sie machte, daß sie wegkam. Es war das erste, das letzte und einzige Mal, daß Helen Lister den Killer gesehen und gesprochen hatte.

Paris war noch immer kalt, verregnet und win­dig, aber mit einemmal fand sie die Stadt schön. Sie dachte an Urban und an Jean, den Killer. Sie stellte sich Urbans Gesicht und Jeans Hände vor. Mit ihren beinharten Kanten würden sie Herrn Mister Dynamit, dem Scheißkerl, den Strom ab­knipsen.

Der Gedanke daran machte sie fröhlich. Sie fuhr in ein Luxusrestaurant, aß wenig und

trank viel. Zu Hause trank sie weiter, bis sie genug hatte. Dann zog sie sich aus und ging zu Bett.

Im Dunkeln packte sie dann das große Elend. Sie fing zu heulen an. Darüber schlief sie ein. Als sie

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gegen 2.00 Uhr erwachte, war ihr schlecht. Sie stand auf, wankte ins Badezimmer und kotzte ins Bidet.

4.

Der sowjetische Verteidigungsminister erfuhr es in seiner Datscha auf der Krim, nachdem der Funk­spruch entschlüsselt worden war.

Und schon war die ganze Erholung beim Teufel. Der Generalsekretär der KPdSU persönlich hatte den unermüdlichen Marschall zu einem Urlaub abkommandiert. Und nun das, ausgerechnet beim Abendessen.

Der Salm, der Truthahn und wer weiß was, konnte einem hochkommen. Angeekelt schob der Minister die Funkkladde seinem Adjutanten zu.

Der las und zog die buschigen Brauen zusammen. „Scheiße", sagte er. Kräftige Worte waren unter

den alten Soldaten nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht.

„ Der Retrow-Plan", knurrte der feiste, auf Schreibtischposten fett gewordene Minister. Doch mit einemmal zeigte er sein georgisches Grinsen. „Hoffentlich der entmannte."

„Es gibt einen präparierten Retrow-Plan?" staunte der Adjutant. „Davon weiß ich nichts."

„Von dem, Oberst", sagte der Minister und schlug ihm auf die Schulter, „von dem, was Sie nicht wissen, können Sie sich das Bolschoiballett kaufen."

Trotzdem wurde das späte Dinner abgebrochen. Die hohen Genossen zogen sich ins Rauchzimmer der alten Zarenvilla zurück, zu Havannas, von

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Fidel persönlich gestiftet, und Brandy, aus Krim­wein destilliert. Also das Feinste vom Feinsten.

„Der Retrow-Plan", monologisierte der Minister, „ist ein Erstschlagkonzept, ähnlich dem amerika­nischen Thunderclap-Papier. Aber...", er hob seinen gelben Raucherzeigefinger, „es gibt ihn in zwei Ausführungen. In der gültigen und in der für die CIA gemünzten."

Den meisten Anwesenden war das eine Nummer zu hoch.

„Um Retrow dem US-Geheimdienst zuzuspie­len", faßte einer zusammen.

„Kapiert, Genosse." „Und auf welchem Kanal sollte das laufen?" „Auf Kanal S." „S wie Sahnetorte?" „Oder wie Spaghetti?" „S wie Sapritzky", eröffnete der Minister ihnen.

„Viel mehr weiß auch ich nicht. Der KGB hat das eingefädelt. Nun muß er es auch wieder ausfädeln. Denn wie mir scheint, ist das Material falsche Wege gegangen."

„Noch fehlt der Beweis, Genosse Marschall." „Richtig", bestätigte der Minister. „Die Frage

lautet: Handelt es sich bei dem ins Ausland gelangten Plan um das Original oder um das Präparat?"

„Wie sollen wir das je erfahren, Genosse Mar­schall?"

Der Marschall war Verteidigungsminister der UdSSR geworden, weil er alles ein wenig besser wußte und konnte als die anderen.

„Indem wir versuchen, das Material an uns zu bringen."

„Und wie, bitte?"

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„Mit Rubelchen, mit Goldrubelchen, mein Lieber."

Noch in derselben Nacht sprach der Minister mit dem Chef des KGB. Die nächsten Schritte wurden eingeleitet.

Über den Chefredakteur einer schwedischen TV-Station, den niemand für einen Agenten des Kreml hielt, ließen die Russen die auf dem westlichen Nachrichtenmarkt vagabundierenden Geheimpa­piere erwerben.

Zwar bekamen sie nur die Kopie einer Kopie, aber sie war trotzdem ihr Geld wert.

Achtundvierzig Stunden später stand fest, daß es sich um die für den amerikanischen Geheimdienst präparierten Pläne handelte.

Leider stand damit auch fest, wer sie der Nach­richtenhändlerin Helen Lister verkauft hatte.

„Also doch Sapritzky, diese Sau", schimpfte der KGB-Chef. „Und ich habe ihm vertraut wie mei­nem leiblichen Sohn."

„Sapritzky war und ist Doppelagent. Die muß man mit Handschuhen anfassen."

Der KGB-Chef winkte ab. „Wir haben ihn im Lager Kasachstan umgedreht,

mit allen uns bekannten physischen und psychi­schen Tricks. Wir haben ihm im Westen ein Konto eingerichtet, haben ihm eine Datscha geschenkt, ihn zum Oberst befördert und ihm eine Pension zugesagt. Und was tut er? Er hurt herum und verscherbelt die für das Pentagon bestimmten Pläne an eine dubiose Nachrichtenhändlerin. Er

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kriegt den Rachen nicht voll, wie alle westlich infizierten Geheimdienstler."

„Das war zu erwarten, Genosse Marschall." „Aber die Sowjetunion betrügt man nicht unge­

straft." „Wo kämen wir da hin", sagte der KGB-Chef. „Dann ginge das überall los. Es würde bei den V-

Leuten in der BRD, bei der NATO, in den USA, in Südamerika, in Ostasien einreißen. Man muß dem vorbeugen. Wehret den Anfängen. Ich werde ein Exempel statuieren."

„Sapritzky hatte auch seine Verdienste. Seit seinem Aufenthalt im Lager Kasachstan lieferte er uns manchen. . . "

Der KGB-Chef winkte ab. „Das muß alles erst überprüft werden. Wer

einmal lügt, der lügt auch zweimal." „Bis der Brunnen leer ist", kommentierte sein

Stellvertreter. Alles wartete auf die Entscheidung des Geheim­

dienstchefs. Der verschwand, um zu telefonieren. In diesem

Land trug nie ein einzelner Funktionär, und war er noch so mächtig, allein die Verantwortung.

Als der KGB-General zurückkam, wußte jeder, was er dachte, auch wenn man seinen Gesichtsaus­druck nicht klar deuten konnte.

„Sapritzky muß sterben", sagte er. Nach den Gepflogenheiten in der Union war die

Entscheidung auf Kremlebene gefallen. Jetzt fragte sich nur, wer die Liquidation

Sapritzkys zu übernehmen hatte. Der KGB-Chef ließ sich eine Liste vorlegen. Sie

enthielt die Namen von neun bewährten Exekutiv-Agenten. Er ging sie durch, als würde er sie alle

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kennen, verließ sich aber wie stets auf seine Intuition.

„Neun Arschlöcher. Ich kenne keinen wirklich fähigen Mann. Keiner von ihnen wird mit Sapritzky fertig. Es muß ein Mann sein, der Erfahrung im Westen hat. Vielleicht wird mir bald einer serviert. Oder sollen hier Köpfe rollen?"

Vermutlich hatte der KGB-Chef längst den Mann seiner Wahl gefunden, doch wie stets ver­schwieg er seine wahre Meinung. Eine Eigenschaft, die nötig war, um stetig nach oben zu klettern.

Der Mann, den der KGB-Chef für fähig hielt, Sapritzky zu liquidieren, hieß Oleg Onegin.

Er war Doppelagent. Derzeit erledigte er in den tschechischen Karpaten einen Auftrag der CIA.

Sein Agentenname im Westen lautete James Joe Gugerman.

5.

Fröhlich wie ein Fisch zur Paarungszeit beendete der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, den Quak in seiner Lieblingsbar, um nach München zurückzu­fahren.

Er dachte an nichts Schlimmes. Weder an unkeusche Mädchen noch an sinnliche Mütter und schon gar nicht an sein Bankkonto. — Doch da stand es wieder, dieses Dreieck, einssechzig hoch, siebzig breit, nach unten schräg zulaufendes schie­res Muskelfleisch.

Kein Zweifel, der Bursche wollte etwas von ihm.

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Schon am Nachmittag im Starnberger Segelha­fen, als Urban das alte Starboot aufgetakelt hatte, lehnte er am Steg und fraß ihn mit seinen runden Schweinsaugen.

Dann war Urban hinausgesegelt, einmal quer über den See, immer den Nordwest im Rücken. Das Zurückkreuzen dauerte etwas länger, aber der alte Star ließ sich hoch an den Wind knüppeln.

Beim vorletzten Schlag von Possenhofen nach Berg hinüber war ein Motorboot dicht an der Yacht vorbeigerauscht. Im Heck stand der Bursche mit dem Liliputanerkopf. — Irrtum ausgeschlossen.

Später, als Urban, den Packsack auf dem Rük­ken, zu seinem BMW geschlendert war, hatte der Kerl im Schatten der Bäume gestanden. Und jetzt, als Urban die Bar verließ, lehnte er an der Laterne.

Urban ging auf ihn zu. Er würde es locker nehmen. — Da war der Kleine abgezischt. Wie ein Wassertropfen auf der heißen Herdplatte.

Urban steckte sich eine MC an, überquerte die Straße und schaute in seinen BMW, ehe er einstieg. Hinten lag sein Burberrys und der Pepita-Trenker für Regentage.

Bis zur Autobahneinfahrt waren es wenige hun­dert Meter. Nur die Steigung hinauf und einord­nen. Er behielt im Auge, was sich hinter ihm bewegte.

Es gab alle möglichen Sorten Scheinwerfer. Die von Lieferwagen, von Sportwagen und von Perso­nenwagen, breit und tief, schmaler und höher angeordnete, stechend blauweiße, vergilbte, schmutzige oder welche mit matten Reflektoren. Und noch die von einäugigen Motorrädern.

Urban fuhr so, wie es der Verkehr erlaubte, etwa um hundertdreißig. Dadurch änderte sich an der

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Lichtergalerie hinter ihm wenig. Aber plötzlich spürte er doch eine gewisse Unruhe.

Er sah zwei gelbe Lichter aufkommen. Ein Franzose. — Aber schon war er wieder verschwun­den. Vielleicht hinter einem Lkw.

Auf die Stadt zu wurde der Verkehr dichter. Ampeln, kleine Staus. In Schwabing ging es zu wie immer. Egal ob man um drei Uhr, um dreizehn Uhr oder um dreiundzwanzig Uhr hineinfuhr.

Urban bog nicht wie gewohnt hinter dem Sieges­tor von der Leopoldstraße ab, sondern nahm einen Umweg. Er fuhr um diesen und jenen Block und schlüpfte dann geradezu in seine Tiefgarage. Tor auf, Tor zu, die Rampe runter, und er stand auf seinem Stellplatz.

Der Ferrari des Schauspielers, der unter ihm wohnte, war noch nicht eingetrudelt. Nur der feiste Mercedes 500 des Anwalts stand da. Dezent schwarzblau.

Urban stieg aus, sperrte ab und machte neun Schritte auf den Lift zu.

Das Licht ging aus. Urban fand seinen Weg auch im Dunkeln. Da hörte er ein Geräusch, als würden Gummiabsätze auf Blech quietschen.

Er druckte den rotglimmenden Schalter an der Säule. Das Licht flammte auf und warf den Schatten eines riesigen King-Kong gegen Wand und Decke.

Urban fuhr herum. Auf dem Dach des Juristenmercedes stand einer

wie ein Gorilla im Käfig. Er hatte die Arme

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ausgestreckt, sich aufgepumpt, federte sich ab und sprang auf Urban herunter.

Urban konnte sich, blitzschnell reagierend, so wegdrehen, daß er der Hauptwucht des Aufpralls entging. Trotzdem trafen ihn noch gut und gern fünfzig Kilo aus zwei Meter Höhe.

Der Affe hatte ein Messer zwischen den Zähnen klemmen und verließ sich offenbar auf das Überra­schungsmoment und auf seine Kraft.

Er erwischte Urban ungezielt an der linken Schulter. Kaum stand er fest am Boden, da holte er aus. Seine Hand war wie ein Teller aus Eisen. Diskusartig schleuderte er sie ab und traf den Gegner so, daß bei dem alles zusammenzubrechen schien.

Urban kam es vor, als wäre zwischen seinem Kopf und dem Rumpf nur noch ein zwirndünner Strang in Funktion. Dazu spürte er ein dumpfes Gefühl von innen heraus, wie es sich einstellte, wenn man von vorneherein wußte, daß eine Sache schlecht ausging.

Zeit, um das herumgeschleuderte Gehirn in die richtige Position zu bringen, blieb ihm kaum. Der Gorilla war ungeheuer schnell. Er setzte mit dem anderen Diskus nach und trat Urban dann noch ins Kreuz.

Urban krachte gegen den Mercedes. Irgend etwas an seinem Sakko riß. Er geriet in Wut. — Ver­dammter Scheißkerl. Was will er, dieser Bastard?

Urban fühlte, wie sein Körper automatisch das Richtige tat. Seine Muskeln verhärteten sich zu einem Panzer, seine Faust ballte sich. Noch einmal mußte er einen tief von unten hergeholten Schwin­ger des Muskelpakets kassieren, dann war er bereit für eine Offensive. — Aber wohin?

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Der Gegner war verschwunden. Licht aus. Daß es dem Rundkopf nur auf die paar Treffer

angekommen sein sollte, glaubte Urban nicht. Er schaute sich um und lauschte.

Diesmal drückte er den Lichtschalter an der Lifttür. Das Relais schnappte. - Der Gorilla stand links davon, schweratmend, das Messer in der bis zu den Knien reichenden Hand.

In der Sekunde, als er angriff, wich Urban zur Seite. Der Rammstoß ging ins Leere.

Der Killer bremste ihn zwar ab, aber Urbans Schuhspitze traf sein Kinn. Das brachte seine Balance in Unordnung. Er mußte sie erst wieder finden. Aber da hatte er Urbans Handkante schon im Nacken. Das brachte seine Balance noch mehr durcheinander. Und so weiter. Schlag links, Schlag rechts. Er wurde zum Perpendikel. Ein Treffer am Kinn, einer im Genick. Als er sich reckte und sein Hals frei war, hämmerte Urban ihm einen Hun­dertzehnprozenter zwischen Ohr und Schlüssel­bein.

Es war noch nicht genug, fürchtete Urban, denn der Kleine grinste, als lächelte er nur darüber. Doch das Grinsen wurde zur Grimasse und blieb stehen, als wäre es in Gips geschnitten. - In feuchten, grauen Gips.

Im trüben Licht veränderte sich seine Haut. Er versuchte noch einen letzten Wirbel von Rundum­schlägen, aber alle ungezielt. Verzweifelt drosch seine Faust gegen die Lifttür, daß es durch den Keller gongte.

Nun lehnte er stöhnend an der Wand, wurde langsam kleiner und kleiner, bis er auf seinen eigenen Fersen dasaß wie ein Mexikaner bei der Mittagssiesta.

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Urban packte ihn an der Krawatte und zog ihn hoch.

„Franzose?" „Oui." „Paris?" „Oui." „Gibt es etwas, das du mir ausrichten solltest?" „Non." Urban schlug ansatzlos zu. Die Lippen des

Killers schwollen an. Er blutete aus dem Mund­winkel.

„Mach den Schnabel auf, bevor ich ärgerlich werde, mon ami."

Der andere schüttelte den Kopf und kassierte ergeben die nächsten drei Aufforderungen.

Bevor er ihn so zusammenschlug, daß er bewußt­los war, packte Urban ihn und nahm ihn mit hinauf in sein Penthouse. Dort ließ er ihn auf die Marmorfliesen in der Wohnhalle fallen. Von Stein war Blut leichter zu entfernen als vom Teppich. Sorgsam fesselte er ihn mit seiner eigenen Leder­krawatte. Dann ließ er ihn erst einmal liegen, ließ ihn den Schmerz genießen und gab ihm Zeit zum Nachdenken.

Es wirkte immer bedrohlich, wenn man am Boden lag und der Gegner breitbeinig über einem stand. Urban kannte das. Er süffelte seinen Bourbon und sagte:

„Eine Antwort oder die Polizei?" „Lachhaft. Weswegen?" keuchte der Franzose. „Wegen Körperverletzung." „Wer hat eigentlich wen zusammengeschlagen?"

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Urban leerte sein Glas. „Mir wird man glauben. Und Leute wie du

werden immer gesucht." „In Deutschland kennt mich keiner." Urban zog einen Hocker heran. So war er dem

Franzosen naher. Er suchte seine Taschen ab und fand einen Paß.

„Jean de Luz", las er ab. „Los, Jean, ich kann dich hier auf Eis legen lassen, oder ich werde dafür sorgen, daß du auch drüben nicht so schnell aus dem Kühlschrank kommst."

Er fand einen mittleren Geldbetrag, viertausend Francs, zwei deutsche Hunderter, Kleingeld und Autoschlüssel.

„Du hast mich beobachtet, obwohl du meine Adresse kanntest. Du warst schon einmal da, sonst hättest du nicht vor mir die Garage erreicht. Wer hat dich auf mich angesetzt?"

Der Ganove schien abzuwägen. Aber er brauchte zu lange.

Urban hob das Messer hoch. „Mit deinen Fingerabdrücken", sagte er, faßte

hinten in den Hosengürtel des Gnoms und zog ein doppelläufiges weitkalibriges Ding von Derringer heraus. „So kommt eins zum anderen."

„Ich sollte dir nur 'ne Abreibung verpassen, Mann."

„Wer wollte das?" Der Ganove gab seinen Arbeitgeber nicht preis. Im Arbeitszimmer kramte Urban im Schmetter­

lingsalbum und kam mit mehreren Fotos wieder. Er zeigte dem Ganoven Jean diverse Damen. Mal im Tennisdreß, mal im Bikini, mal ganz ohne. Unterschiedliche Typen, Haarfarben, Gesichts­schnitte, Figuren.

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Urban, hatte einen Verdacht und fing mit dem Foto einer ehemaligen Schönheitskönigin von Nie­derbayern an.

Der Killer schaute weg. Urban zwang ihn, hinzu­sehen. Stets schüttelte Jean den Kopf. Urban merkte sich aber den Augenausdruck. Beim drit­ten, vierten und fünften Foto war er anders als beim zweiten. Da hatte sich der Blick verengt. Die Pupille war erst unruhig gewesen, dann zu künstli­cher Starre gezwungen worden.

Wie bei einem Lügendetektortest wiederholte Urban die Prozedur. Bei dem Mädchen im Badean­zug mit dem feuerroten Haar und den kalten grünen Augen war Jeans Kopfschütteln eine Lüge.

„Merci", sagte Urban. „Bedaure." „Es ist die Rothaarige. Helen Lister." „In diesem Job geht alles namenlos, Monsieur." Urban beschrieb sie. Der Kleine sagte nicht ja und nicht nein. Er

zerrte an seiner Fessel. In der Krawatte riß etwas. Urban bezweifelte nicht mehr, daß Helen den

Ganoven geschickt hatte, um ihm einen Denkzettel zu verpassen. Also hatte sie etwas an den Filmen bemerkt. — Das bedeutete, daß er jetzt vorsichtig sein mußte. Mit Frauen und Rache war das immer so eine Sache. Entweder verziehen sie einem von einer Sekunde zur anderen, oder sie verfolgten einen bis zum bitteren Ende.

„Ich muß mal", stöhnte der Franzose. „Mach in die Hosen." „Eh bien, auf Ihre Verantwortung. - Und was

dann?" „Ich habe dich, nicht umgekehrt, du Scheißkerl."

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„Soll das so bleiben bis ans Ende unserer Tage?" „Helen Lister?" fragte Urban. Endlich nickte der Ganove. Bevor Urban ihm die Fesselung löste, sagte er: „Wenn dich einer fragt, ich liege im Kranken­

haus am Tropf. Ob ich jemals wieder hochkomme, ist fraglich. Du hast vier Stunden Zeit, die Bundes­republik zu verlassen. Vier Stunden."

Die Fessel war ab. Urban gab ihm den Paß, das Geld und die

Autoschlüssel zurück. „Und jetzt hau ab." „Wo ist dein Klo?" „Hundesöhne pinkeln wie Hunde", sagte Urban.

„Such dir einen Eckstein."

6.

Der CIA-Agent Orson Sapritzky wählte Wien als Basislager. Nicht, daß er den Himalaja bestieg — die Gipfel der Karpaten waren bestenfalls zwei­tausend Meter hoch —, aber man mußte über die Grenze in die CSSR hinein, also in Warschauer-Pakt-Gebiet. Und das war gefährlicher als ein Trip von Nepal nach Pamir. — Auch für ihn, wenn er seine Rolle perfekt spielen wollte.

Zweimal traf er sich mit dem Mann der CIA in der österreichischen Hauptstadt. Dabei ging es speziell um Landkarten.

„Hat man Ihnen nichts mitgegeben, Captain?" fragte der Wiener CIA-Resident erstaunt.

Sapritzky winkte ab. „Nur Karten aus der Zeit, als wir in Österreich

noch Besatzungsmacht spielten."

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„Diese Karten sind nach alten Generalstabskar­ten angefertigt und werden ständig auf den neue­sten Stand gebracht."

„Richtig", räumte Sapritzky ein. „Es sind Karten aus der k.u.k.-Monarchie, und sie befinden sich auf dem Stand von anno achtzehnhundert."

„Wozu brauchen Sie die Karten?" wollte der Resident wissen.

„Schon mal was von top-secret gehört, Sir?" Daraufhin zeigte der Resident der CIA sich

zugänglicher. „Ich kann ja in Langley reklamieren." „Bis dahin ist Winter." „Apropos Winter", erwähnte der Amerikaner an

der Donau. „Sie wollen doch in die Karpaten. Dort soll es einen Wettersturz geben."

„Jetzt, im Sommer?" „Jetzt, am Ende des Sommers", verbesserte der

Schreibtischstratege. „Im September kommt das häufig vor."

„Nach meinen Handbüchern liegt in den Karpa­ten nicht einmal auf der Hohen Tatra ewiger Schnee."

„Es handelt sich um Neuschnee, Captain." „Shit!" Sapritzky fluchte. „Dann muß ich meine

Ausrüstung ergänzen. Wo kriegt man hier wat­tierte Bergsteigerklamotten, einen brauchbaren Schlafsack oder Biwaksack, wie es zünftig heißt, einen Kocher und Kraftnahrung?"

Der Mann der CIA in Wien nannte ihm zwei Adressen. Aber die Sache mit den Karten ließ ihn nicht los.

„Wie kommen Sie darauf, Captain, daß die vorhandenen Karten überholt seien?"

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„Ich habe mir Wanderkarten des Grenzgebietes besorgt und sie verglichen."

„Na ja, dann." Sapritzky bekam seinen Kaffee. Er schlürfte ihn,

denn er war heiß. „Da werfen sie im Pentagon Hunderte von

Millionen Dollar raus für Satelliten und Satelliten­fotos, aus denen man Landkarten herstellen kann, und das Ergebnis ist mieser als die Karten, die hier in einem Buchladen hundert Schillinge kosten,"

„Aber sie zeigen keine sowjetischen Radarstatio­nen, Panzerdepots und Raketenstellungen", wandte der Resident ein.

„Das bißchen Radarkram machen wir mit links." „Okay, wenn Sie es mit links machen, warum

schickt die Zentrale dann erst Colonel Gugerman los und Sie hinterher?"

Fast hätte der Resident ihn gehabt. Aber einem Sapritzky fiel immer etwas Passendes ein.

„Gugerman soll sich in Schwulitäten befinden." „Gugerman?" „Warum nicht? Mit Halskratzen geht man zu

Bett, und mit Diphtherie wacht man am Morgen auf. Und erledige mal einer den Job mit vierzig Fieber."

„Da ist man schnell tot", pflichtete der Resident ihm bei.

„Von wo meldete sich Gugerman zuletzt?" „Gehe ich richtig in der Annahme", fragte der

neugierige Resident, „daß es sich mehr um eine Rettungsaktion für Gugerman handelt als um etwas anderes?"

Rettungsaktion, dachte Sapritzky, trifft den Nagel auf den Kopf.

Er brach auf, um seine Ausrüstung zu ergänzen.

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„Sie rufen an, wenn Sie seine aktuelle Position haben,"

„Ich rufe an, sobald Langley mich anruft", versprach der Resident, den Sapritzky für einen der üblichen administrativen Armleuchter hielt.

Die langfristige Vorhersage behielt recht. Auf seiner Fahrt von Wien auf der E-7 nach Drasenho­fen zur Grenze veränderte das Wetter sich.

Zunächst regnete es nur. Doch wie es weiter oben aussah, das verhüllte eine niedrige Wolken­decke. In den Wäldern hingen Nebelschwaden wie Spinnweben in den Tannen.

Vom letzten Telefon in Österreich aus rief Cap­tain Sapritzky die aktuellen Daten ab.

„Gugerman ist in Göding", meldete der CIA-Resident.

Der Agent hatte die Karte im Kopf. „Am Fuß der kleinen weißen Karpaten also." „Er besteigt den Myava." „Wann?" „Heute." „Ist das schon Sperrgebiet?" „Nur ganz oben." „Gibt es Hütten dort?" „Mehrere." „Von wann ist seine Positionsangabe?" „Letzte Nacht, zweiundzwanzig Uhr." „Wann erfolgt die nächste?" „Heute, zweiundzwanzig Uhr, morgen, zweiund­

zwanzig Uhr, übermorgen, zweiundzwanzig Uhr." „Er hat Funk dabei?"

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„Das Siebenundachtziger Agentengerät. C/Q-Optomex."

„Welche Frequenz?" Sapritzky bekam zwei Wellenlängen genannt.

Agenten hatten aus Gründen der Sicherheit stets mehrere Frequenzen verfügbar.

„Kommt er wieder nach Göding zurück?" „Wenn es klappt, wählt er für den Abstieg die

Ostroute." „Nach Pistyan?" „Über Pistyan", wurde bestätigt. Sapritzky überlegte, wie er es an Gugermans

Stelle gemacht hätte. Er hätte die eine Route angegeben und die andere genommen.

„Danke." Sapritzky hängte auf und präparierte sich für

einen reibungslosen Grenzübergang als Tourist. Er war jetzt Österreicher, hatte einen öster­

reichischen Paß und über ein Reisebüro das Hotel gebucht. Wenn die Grenzer ihn fragten, was er vorhabe, würde er erwidern, daß er wandern, in den Karpaten bergsteigen und in den sauberen Quellbächen ein bißchen fischen wollte.

Das hatte er alles vorbereitet und gut drauf. Was er brauchte, um Gugerman zu finden und zu liquidieren, war perfekt versteckt.

Er machte diesen Job ja nicht, weil er ihm gegen den Strich ging. Überhaupt nahm er das alles auf sich, weil er mitten im Leben nicht Rost ansetzen wollte. Außerdem machte kein anderer Job ihm wirklich Spaß, und wie immer, ging es auch um Geld.

Er bestieg seinen Mietwagen, überquerte zwei Stunden später bei Mikulov die Grenze und schätzte,

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daß er von Gugerman nicht weiter als fünfzig Kilometer entfernt war, egal wo er sich zu dieser Stunde aufhielt, dieser Satansbraten.

In der Nacht waren die Regentropfen dicker geworden. Als Sapritzky auf den Balkon des Hotel­zimmers trat, machten die Weißen Karpaten ihrem Namen alle Ehre. Ihre Gipfel sahen aus wie ein Guglhupf auf grünem Papier. In der Mitte braun, oben gezuckert.

Nach dem Frühstück wanderte Sapritzky los. Der Wirt gab ihm eine Flasche Pflaumenschnaps mit, für alle Fälle, falls es noch kälter wurde, denn kalt war es schon.

Kaum daß er ein Stück marschiert war, kam er in Neuschnee. Touristen begegneten ihm.

„Lawinengefahr!" rief einer von ihnen. „Passen Sie auf. Besonders an den Westhängen."

Immer wieder holte Sapritzky die Karten heraus und kontrollierte seine Route. Als er an jenem Punkt stand, von dem aus die drei Hütten jeweils in einer Stunde zu schaffen waren, entschied er sich für die, die er an Gugermans Stelle gewählt hätte. Sie lag dicht am Sperrgebiet der neuen Radaranlage.

Der Schnee wurde tiefer, das Gehen mühsamer. Es war später Mittag, als er hinkam.

Keine Spuren zu sehen, absolut nichts. Deshalb traversierte er auf der Höhenlinie 1600 zur Hütte des tschechischen Alpenvereins hinüber. Sie war fast ein Hotel.

Er schlenderte durch die Speise- und Aufent­haltsräume. Keiner der zwei Dutzend Touristen

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glich dem Bild jenes Mannes, das er sich einge­prägt hatte.

Es wurde schon dunkel, als er den beschwerli­chen Weg über die steilen schneeglatten Geröllfel­der zur dritten Hütte nahm.

Aus dem Tal wallte Nebel auf. Und dann fing es wieder an zu schneien. Der Wind war eisig.

Sapritzky spürte den Luftdruck und hörte ein wasserfallähnliches Rauschen. Eine Lawine war abgegangen.

Nach zwei Stunden — es war schon Nacht — fürchtete er, sich verirrt zu haben. Er fluchte.

Verdammt, ein Mann wie er, der sich durch Steppen, Savannen, Urwälder und Wüsten geschlagen hatte, sollte in so einem lachhaften Gebirge die Orientierung . . .

Da sah er die Hütte, vielmehr ein schwarzes Viereck, das nicht ins makellose Weiß paßte. Dem­nach die Ostseite der Hütte.

Mit der Vorsicht eines Rocky-Mountain-India­ners näherte Sapritzky sich der letzten der drei in Frage kommenden Unterkünfte.

Wenn er Pech hatte, war Gugerman längst anderswo. Wenn er Glück hatte, saß Gugerman am Öfen und schlief unter der Wirkung des Alkohols, den er gegen Kälte in sich hineingeschüttet hatte.

Captain Sapritzky verließ sich nie auf sein Glück. Und was er antraf, war wie immer halb gut und halb schlecht.

Er entdeckte die Ausrüstung eines Mannes, der die Absicht hatte, sich für einige Tage hier aufzu­halten. Aber der Mann selbst war abwesend.

Doch jeder Wolf brauchte seine Höhle. Und ein Wolf kannte den anderen.

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Sapritzky räumte erst einmal alles Lebensnot­wendige beiseite, dann versteckte er sich und wartete. Stunden vergingen.

Erst hörte er stapfende Schritte, dann das Geräusch, mit dem ein Mann sich den Schnee von den Schuhen trat.

Spätestens jetzt mußte er merken, daß eine Spur zur Hütte lief.

Sapritzky zog die 38er Automatic aus dem Gürtel, lud sie durch und entsicherte.

Die Hüttentür knarrte. Ein Schwall eisiger Luft trieb nasse Flocken bis zu Sapritzkys Versteck hinter dem Schrank.

Gugerman war schwer. Auch der Mann im Dunkeln der Hütte hatte den bärenhaften Schritt eines Übergewichtigen. Er blieb stehen und schnüf­felte, so als würde er etwas Fremdes riechen. Aber in der Hütte stank es hauptsächlich nach Holzimprä­gnierungsmittel und dem kalten Ruß der Feuerstelle. — Der Unsichtbare knipste sein Feuerzeug an.

Im Licht der Gasflamme erkannte sein Jäger ihn. Er erinnerte sich an die Fotos. Kein Zweifel, er hatte sein Opfer vor sich.

Gugerman ließ die Gasflamme ausgehen, sie erneut aufflackern und zündete damit das Heu und die Holzspäne im Kamin an. Er war aus Bruchstei­nen gemauert und führte vom Boden der Hütte hinauf durch das Dach. In Brusthöhe hatte er ein fenstergroßes viereckiges Loch, waagerecht geteilt von einem eisernen Gitter, auf das man eine Pfanne oder einen Topf stellen konnte.

Das Feuer begann zu qualmen. Es lag am Wind.

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Er kam von der falschen Seite über das Dach und übte Druck statt Sog aus.

Gugerman fluchte. Noch immer hatte er Sapritzky den Rücken zugedreht. - Das war der Augenblick des Exekutivagenten.

Sapritzky trat aus seinem Versteck, die Waffe beidhändig auf Gugerman gerichtet.

„Hände hoch, Sir!" Gugerman stand wie gelähmt da. „Zeig dein Gesicht, Colonel. Ich töte keinen

Mann von hinten, nicht einmal einen Verräter." Gugerman drehte sich um. Aber nicht langsam,

sondern blitzschnell, und er hatte ebenfalls eine CIA-Dienstwaffe in der Hand.

Sapritzky war zu überrascht, als daß er reagiert hätte. So standen sie sich, beide in Combatstellung, gegenüber. Abstand ungefähr drei Meter. Jeder hielt den Lauf der Waffe auf die Brust des anderen gerichtet.

„Kaliber achtunddreißig, Parabellum", sagte Gugerman. „Absolut tödlich."

Sie blickten sich in die Augen. Jeder wartete darauf, daß der andere es tun würde, um es dann selbst, oder noch besser vor ihm zu tun. — Aber auf die Zehntelsekunde kam es nicht an. Ehe die Kugel dem andren ins Herz fuhr und ihn umbrachte, war der Getroffene noch in der Lage, ebenfalls durch­zuziehen.

„Dann tu's doch", sagte Sapritzky. Dabei schien ihm, als würde ein Lächeln um

Gugermans Mundwinkel zucken. Oder war es nur ein Reflex des Feuers.

„Absolut tödlich für uns beide", wiederholte der Colonel.

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Mehrere Herzschläge vergingen. Bei keinem von ihnen wurde der Befehl zu töten zur Tat.

„Gugerman", vergewisserte der Captain sich. „Du bist doch Gugerman?"

„Sapritzky", fragte der Colonel, „was suchst du hier?"

„Dich." „Per Order?" „Per Order Headquarters Langley", erklärte der

Captain. „Und du?" „Per Order Moskau KGB-Hauptquartier." Sapritzky konnte es nicht glauben. Es reimte

sich nicht. Nicht einmal Herz auf Schmerz reimte sich hier.

„Ich wußte, wo ich dich finde, Gugerman." „Und ich weiß es seit heute mittag, daß du mich

suchst, Sapritzky, ich habe dich gesehen." Selbst für Leute ihres Gewerbes begann es

undurchsichtig zu werden. Andere hätten mit Kopfschütteln reagiert, bei ihnen hatte es den Anschein, als würden sie die Waffen um eine Spur senken.

In jedem schien ein böser Verdacht zu dämmern. „Und warum?" fragte Gugerman. „Wegen Verrats. — Und du?" „Ich muß dich wegen des gleichen Deliktes

liquidieren." Sie begannen zusammenzuzählen. Die CIA hatte Gugerman enttarnt und Sapritzky

hinter ihm hergeschickt, um ihn auszuschalten. Und Moskau hatte Sapritzkys private Geschäfte enthüllt und Gugerman beauftragt, Sapritzky zu toten, wo immer er ihn bekam.

„Diese Hurensöhne", keuchte Gugerman. „Sie erfuhren, daß du aufgebrochen bist, um mich zu

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liquidieren, und sagten mir kein Wort davon. Sie erteilten mir nur den Befehl, dich zu erledigen."

„In der Hoffnung, keiner bliebe am Leben." „Das ist die Macht des Apparates über seine

Figuren", bemerkte der Colonel bitter. „Aber nicht jeder Schachzug bringt eine Figur

zu Fall." Als erster legte Gugerman die Waffe auf den

Tisch. „Tu, was du willst", sagte er. „Leg mich um,

oder laß es sein. Ich habe die Schnauze voll. Von allem und von jedem. Du bist weniger als ein Ball beim Billard, du bist das Stück getrockneter Hun­descheiße, das zufällig von einer Schuhspitze getroffen und beiseitegeschleudert wird."

„Nennen wir es mangelhafte Koordination unter Geheimagenten", meinte Sapritzky ironisch.

„Wie denn, wenn keiner vom anderen weiß, zu welcher Seite er gehört?"

„Oder zu welchen zwei Seiten." Auch der Captain hatte den Smith & Wesson in

den Hosenbund geschoben. Er zog den Hocker unter dem Tisch hervor und und setzte sich.

Gugerman suchte seinen Rucksack und fand ihn nicht.

„Dein Zeug ist in der Holzlege." Gugerman ging hinaus und brachte eine Flasche

Wodka mit. Sie tranken. „Warum", fragte Sapritzky und stellte damit die

entscheidende Frage, „wurde ich zum Abschuß freigegeben?"

Gugerman rollte die Schultern, als hätte er sie verrenkt.

„Du kennst den Retrow-Report?"

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„Klar, ich jagte ihn angeblich einem sowjeti­schen Marschall ab und brachte ihn nach Wa­shington."

„Er tauchte aber auf dem freien Nachrichten­markt auf", berichtete Gugerman. „Der KGB kaufte ein Exemplar. Sie stellten fest, daß es denselben Fehler enthielt, den sie einbauten, um das Pentagon hinters Licht zu führen. Da nur einer diese gezinkten Karten hatte, mußtest du es gewe­sen sein, der ein privates Geschäft damit machte. Das ist der Grund, warum du sterben solltest, Sapritzky. Und jetzt erzähl mir, warum sie mich zum Tode verurteilten."

Sapritzky konnte nur wiedergeben, was er gehört und sich zusammengereimt hatte.

„Du hast Senator Collins angeblich die Thunder­clap-Notizen abgenommen. Sie wurden vernichtet. Die Originale liegen numeriert in den Safes des Pentagon, des Oberkommandos und im Weißen Haus. Trotzdem wurden sie auf dem Pariser Nach­richtenmarkt angeboten. Nur einer kann sie foto­grafiert und weiterverkauft haben: Colonel James Joe Gugerman. Daß du direkt für Moskau arbei­test, das haben sie vermutlich noch gar nicht mitgekriegt."

Beider Gedanken kreisten jetzt um ein und denselben Punkt.

„Und die Quelle ist?" fragte Gugerman. „Du kennst sie so gut wie ich." „Helen Lister?" „Wer sonst?" Sapritzky lachte leise, aber anhaltend. „Dieses Satansweib mißachtete die Anweisung,

die Dokumente erst dann auf den Markt zu brin­gen, wenn ich grünes Licht signalisiere."

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Gugerman hob die Hand und ließ sie fallen. „Ich fürchte, Helen Lister hat die Papiere nicht

angeboten. Man hat die Mikrofilme bei ihr gefun­den und kopiert."

„Auch dann ist sie schuld." „Dann war sie zumindest unvorsichtig und

dumm." „Wer kann das gemacht haben?" Sie diskutierten herum und kamen zu dem

Ergebnis, daß Helen Lister viele Freunde hatte. Sowohl hüben wie drüben. Politiker, Militärs, Diplomaten und Agenten, die sich durch den Verkauf von Nachrichten ein Zubrot verdienten. Davon gab es Dutzende auf allen Seiten.

„Woher kam die Information, daß Thunderclap verraten wurde?" fragte Gugerman präzise.

„Vom BND München." „Mister Dynamit", erklärte Gugerman so über­

zeugt, als wäre er dabeigewesen, „ist ein besonders guter Freund von Helen. Ich habe sie oft vor ihm gewarnt. Eines Tages, sagte ich zu ihr . . . "

„Eines Tages, das war letzte Woche", warf Sapritzky ein.

„Und nun?" fragte Gugerman. „Erst mal einen Happen essen", schlug Sapritzky

vor.

„Töten für andere", philosophierte Sapritzky, „ist das eine, sterben für andere ist das zweite."

„Wir werden sterben", nahm Gugerman den Gedanken auf, „aber höchstens für uns selbst."

„Anders überlebst du nicht. Sie haben zu viele und zu gute Jäger."

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Sie überlegten noch, wie sie es tun würden. Aber eines wußten sie schon: Nach ihrem Tode würden sie jenen Teil des Lebens nachholen, der ihnen entgangen war.

„Zwei Dinge sind wichtig, nur zwei", sagte Sapritzky.

„Welche zwei?" „Geld und Genugtuung." „Schätze, wir sind beide nicht ganz mittellos." „Aber auch nicht reich." „Aus dem, was wir wissen, läßt sich eine Menge

Kohle machen." „Genießen kann ich sie erst dann, wenn ich es

ihnen heimgezahlt habe, diesen mächtigen, unper­sönlichen Apparaten, denen du ausgeliefert bist, die mit dir machen, was sie wollen."

„Uns wird etwas einfallen", sagte der Colonel. Sie leerten die Flasche, ließen das Feuer ausge­

hen und rollten ihre Schlafsäcke in die Alkoven. Der schwere Gugerman schlief unten.

Obwohl es unentwegt schneite und kalt war, hatten sie ein Fenster halb geöffnet. Im ersten Grau des Morgens hörte Sapritzky Stimmen. Er rüttelte Gugerman wach.

Gugerman hatte die Waffe im Schlafsack auf die Tür gerichtet. Sapritzky sprang in die Hose, schob die Waffe in den Gürtel und zog den Pullover über.

Die Stimmen waren jetzt zu erkennen. Zwei Männer sprachen Deutsch mit Dialekt.

Offenbar stellten sie fest, daß die Hütte belegt war. Sie klopften an, traten ein und stellten sich als zwei Schweizer Ärzte aus Winterthur vor. Beide sprachen recht gut Englisch.

„Wir wollten über die Weißen Karpaten ins Waagtal nach Trentschin und von dort mit dem

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Bus zurück nach Göding, wo unser Auto steht. Wir mußten leider umkehren, kein Durchkommen mehr."

„Ja, der Wettersturz kam ganz unerwartet", stimmte Sapritzky ihnen zu. „Er hat auch uns überrascht."

„Und es hört nicht auf." „Soll noch schlechter werden", äußerte der

andere Arzt. „Wir hörten es im Radio in der Hradisch-Hütte."

„Sind noch viele Leute oben?" erkundigte sich Gugerman.

„Nein, wir sind die letzten. Wir raten Ihnen ebenfalls zum baldigen Abstieg. Leichter Locker­schnee, das bedeutet Lawinengefahr."

„Ein paar Schneebretter können schon runter­kommen", schloß der andere Arzt nicht aus. „Nachts gefriert die Oberfläche, am Tag schneit es weiter. Das fordert Lawinenabgänge."

Gugerman fragte, ob sie zusammen absteigen könnten. Doch die Schweizer hatten es eilig. Sie wollten nicht warten. Sie hatten die Nase voll. Alles war danebengegangen. Sie wollten nach Hause.

„Wenn wir eine Tasse Kaffee haben können", sagten sie, „dann sind wir gleich wieder weg."

„Und heute abend daheim", ergänzte der andere Arzt.

Beide waren gut aufgelegt und offenbar erfah­rene Bergsteiger.

Bis der Kaffee fertig war und sie ihn getrunken hatten, vergingen ungefähr fünfzehn Minuten. Dann verließen sie die Hütte.

Nach zwanzig Metern waren ihre Gestalten im Schneegestöber schon nicht mehr zu erkennen.

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Gugerman blieb stehen. „Was ist das?" Das zischende Rauschen kam von dem Nord­

hang, dessen Flanken sie passieren mußten. „Ein Düsenjäger", meinte Sapritzky unsicher. „Bei dem Wetter?" „Was eine F-achtzehn kann, kann eine MiG­

neunundzwanzig auch." Sie gingen weiter. Es war fast Mittag und kaum

heller als vor drei Stunden. Noch immer folgten sie der stark verwehten

Spur ins Tal und querten jetzt den steilen Hang in Richtung auf den Wald. - Doch plötzlich führte sie nicht mehr weiter. Es war, als hätte man Schnee aus hundert Muldenkippern darüber gekippt. Der Schnee türmte sich meterhoch über der Spur. Oben war er grieselig, aber sehr hart.

„Verdammt!" fluchte Gugerman. „Kein Düsenjäger, sondern eine Lawine war das

gewesen." Sapritzky trat mit den Stiefeln gegen den

Schnee. Er staute sich auf wie ein im Fließen erstarrter hochwasserführender weißer Strom.

„Fest wie Beton." „Und die Spur?" Sapritzky versuchte, den Dunst zu durchdringen. „Hört hier auf." „Dann liegen sie darunter." Ohne lange zu reden, fingen sie sofort an zu

suchen. Sie stießen ihre Bergstöcke dort in die Lawine,

wo die zwei Schweizer ungefähr liegen mußten. Aber erst weiter unten und gut eine Stunde später spürten sie Widerstand.

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Mit den Händen und einem Blechteller begannen sie zu graben.

Der verdichtete Schnee mußte wie Lehm heraus­gestochen werden. Die beiden Männer lagen auf etwa 120 Zentimeter Tiefe. Sie waren beide erstickt.

„Ich wollte sie wirklich retten", sagte Sapritzky und durchsuchte die Toten.

„Jetzt retten sie uns", sagte Sapritzky und durchsuchte die Toten.

Sie nahmen ihnen die Pässe ab und steckten ihnen die eigenen amerikanischen zu. So sorgten sie dafür, daß man die Schweizer Ärzte zunächst einmal für Joe Gugerman und Orson Sapritzky hielt.

Nachdem sie auch die Autoschlüssel getauscht hatten, gruben sie die Leichen wieder ein. Weiteres Spurenlöschen erübrigte sich, denn es schneite wieder heftiger.

In Göding, das sie am späten Nachmittag erreich­ten, suchten sie den Wagen, der zu dem Schlüssel paßte.

Am Schlüssel hing ein Mercedes-Anhänger. Dem­nach würde es sich um einen Mercedes mit Schwei­zer Kennzeichen aus Winterthur handeln.

Sie fanden den großen 350 SE vor einem Hotel im Schnee.

Sie holten Schaufeln, gruben ihn aus und fuhren Richtung Grenze, die sie um 19.25 Uhr in Mikulov überquerten.

In Wien war es warm und trocken. Gegen Morgen in München frisch und sonnig. Sie fuhren weiter, allerdings nicht in die Schweiz.

Erfahrungsgemäß tauchte man am besten in Italien in einer der Großstädte unter.

Während der Fahrt hatten sie genug Zeit, ihre

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Pläne zu entwerfen, das Für und Wider dieses und jenes Schrittes zu analysieren.

„Hätte man die Tschechen nicht besser über den Lawinenabgang informiert?"

„Wozu? Sie hätten erst einmal ein Protokoll angefertigt."

„Aber wir hätten es schriftlich gehabt, daß die zwei Amerikaner tot sind."

„Und die Beamten hätten sich an unsere Gesich­ter erinnert."

„Okay, die Tschechen erfahren es so oder so. Sie werden suchen und unsere Leichen finden."

„Sieht ganz gut aus", meinte Gugerman. „Es sieht nicht mehr ganz so schlecht aus",

räumte Sapritzky ein, „wie vorgestern abend."

7.

London war in diesem Spätsommer eine häßliche Stadt. Entweder war es warm und feucht oder kalt und feucht.

Sogar das Zeitungsgeschäft litt darunter. Gedruckt in dem ölig heißen Mief, den die Rota­tionsmaschinen verbreiteten, wurden die Blätter im Regen schwer und matschig.

In diesen Tagen ging der Straßenverkauf deut­lich zurück.

Daran änderte auch die ADN-Nachricht nichts. Sie lieferte lediglich Schlagzeilen wie: Schneekata­strophe in den Karpaten - Touristen von Lawine verschüttet — Winterdrama im Sommer oder Eis­hölle am Myava.

Der zuständige Redakteur beim Herald brütete über einem besseren Aufmacher.

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„Man muß", sagte er, „eine kernige Formulie­rung finden. Vielleicht: Am Meer liegen die Urlau­ber in der Sonne, in den Bergen sterben sie den Lawinentod."

„Gute Idee." „Aber bitte nur über drei Spalten." „Das ist die Kunst." „Fett", erweiterte der Redakteur seine Forde­

rung, „dreispaltig, maximal acht Silben." Sie bastelten daran herum. Schließlich gaben sie

auf. Es brachte nichts. „Schwimmen in der Adria und sterben in den

Karpaten. Es läßt sich einfach nicht zusammen­bringen."

„Laß uns einen heben", schlug der Redakteur vor.

„Ware schön gewesen, Schneesturm unter Pal­men oder so."

„Geht nicht. Die Karpaten sind vom Mittelmeer vierhundert Kilometer entfernt."

„Grade mal eine halbe Stunde für einen Jet." „Aber wer hat schon einen?" Sie verließen das Gebäude des Herald in der

Fleet Street und überquerten sie mit hochgeklapp­ten Sakkokrägen. Als sie sich in das dampfende Gewühl des Pub drängten, wischten sie sich erst einmal die Nässe aus den Gesichtern.

Der Redakteur, eine hier gut bekannte Figur, hob vier Finger. Das bedeutete: zwei Ale und zwei Scotches.

Kaum hatten sie sich zum Tresen durchge­kämpft, ging das Telefon. Der Barkeeper hob ab und reichte den Hörer an der Ringelschnur an den Herald-Redakteur weiter.

„Für Sie, Winston."

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„Bin gar nicht da." „Ihr Adlatus. Er macht es dringend." Der Pub wimmelte von Reportern und Journali­

sten. Allein am Gesichtsausdruck eines Menschen konnten sie erkennen, um was es ging. Darin waren sie begabt wie Taubstumme.

„Sag ihm, ich komme!" rief Winston. Der Redakteur und sein Begleiter tranken ihre

Biere, kippten die Scotches hinterher, ließen wie immer anschreiben und wühlten sich wieder ins Freie.

„Wenn ich arbeite, dann arbeite ich", schnaubte der Redakteur, „und wenn ich trinke, dann trinke ich. Verdammt noch mal! Scheißberuf! "

„Journalisten haben eben kein Rückgrat." „Aber eine Leber", sagte der Redakteur. „Und

was für eine Leber."

Anfangs schien es sich nicht zu lohnen. Der Anonymus rief wieder an, vielmehr eine

Anonyma. Eine Frau also. Sie hatte einen französi­schen Akzent.

„Kennen Sie", fragte sie, „die Namen der Lawi­nenopfer in den Karpaten?"

„Mais oui, Madame." Der Redakteur nahm sein ganzes Schulfranzösisch zusammen. „Es handelt sich um einen gewissen Orson Sapritzky aus Phila­delphia und einen James Joe Gugerman aus Bo­ston."

„Richtig", bestätigte sie. „Aber was wissen Sie noch über sie?"

„Wenig, Madame."

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„Dann will ich Ihnen folgendes mitteilen: Guger­man ist Colonel, Sapritzky Captain."

„Wo? Bei der Heilsarmee, Madame?" „Wenn Sie die US-Army als eine Armee des

Heils bezeichnen wollen, dann sind Sie offenbar ein Traumtänzer, Sir", lautete die Antwort.

Der Redakteur war einer von der schnellen Truppe. Zwei US-Offiziere starben auf einer Berg­tour im tschechischen Grenzgebiet. — Daß sie die Karpaten kennenlernen wollten, schien ihm mit der Mentalität der Amerikaner unvereinbar. Die Karpaten, ein Witz von Gebirge, waren so interes­sant wie der Kuß einer leiblichen Schwester.

Der Anruf begann den Redakteur zu fesseln. Die Französin fragte: „Haben Sie Fotos?" „Die üblichen." „Sie meinen die Fotos der Lawinenleichen?" „Sie wurden von einem Amateur geknipst." „Ist Ihnen bekannt", lieferte die Anruferin den

nächsten Knüller, „daß die Toten Kopfschüsse auf wiesen?"

„Wie bitte?" „Kopfschüsse, wie Kopf und Schüsse. Jeder

einen." „Ist das erwiesen?" „Und noch einiges mehr", behauptete die Unbe­

kannte von der Seine. „Sapritzky und Gugerman sind Geheimagenten."

„Tätig für welche Seite?" „Für die USA." Der Redakteur brauchte jetzt eine Pause. „Madame", begann er. „Da nicht anzunehmen

ist, daß die Gentlemen sich gegenseitig umbrach­

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ten, liegt hier vielleicht nahe . . . handelte es sich möglicherweise um eine Aktion des KGB?"

„Das überlasse ich gern Ihrem Scharfsinn, oder besser Ihrer Phantasie."

„Und warum beehren Sie ausgerechnet mich mit dieser Ente?"

„Weil bei anderen Blättern bereits Redaktions­schluß ist."

„Und das soll ich Ihnen abnehmen, Madame?" „Ihre Entscheidung, Sir. Machen Sie, was Sie

wollen." „Woher beziehen Sie diese Information, bitte?" „Woher kriegen Sie die Ihren?" entgegnete sie

heftig. „Von Leuten wie Ihnen, Madame." Der Redakteur, gewohnt zu fragen, fragte nach

ihrem Namen und ihrer Adresse. Er fürchtete, daß er sie nicht bekommen würde, und das Ergebnis war, daß aufgelegt wurde.

Sofort rief er in die Zentrale. „Woher kam der Anruf?" „Bin ich das Fernamt der britischen Post?"

lautete die patzige Auskunft. Beim Herald wurde in letzter Minute die Titel­

seite geändert. Die Drohung der Premierminister in vor dem Unterhaus, eine Art Pflichteinsatz von Arbeitslosen zur Säuberung der in Dreck und Abfall verkommenden Städte durchzuführen, flog zugunsten einer neuen Schlagzeile heraus: Rätsel­hafter Tod von CIA-Agenten unter tschechischer Schneelawine.

Die Abendausgabe war bis Mitternacht verkauft.

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Es war wie in der Nachkriegszeit. Ohne Beziehun­gen wurde man nicht satt.

Zu stillen war diesmal nicht der Hunger, sondern die Neugier.

Der BND-Agent Robert Urban erfuhr von der Herald-Schlagzeile und rief in London an.

Mit Hilfe eines Kollegen von MI-6 bekam er den Namen des Herald-Redakteurs. Der Journalist zeigte sich kooperativ.

„Wenn Sie mir erklären", sagte der Engländer, „wer Sie sind, um was es geht und warum es um dies und jenes geht, erhalten Sie von mir jede gewünschte Auskunft. - Im Rahmen meiner Mög­lichkeiten, versteht sich."

Das war mehr verlangt, als alle Hosen runterzu­lassen.

„Leider ist der Rahmen meiner Möglichkeiten sehr eng", bedauerte Urban. „Ich bin Mitarbeiter einer westdeutschen Behörde, die ähnliche Funk­tionen ausübt wie jener britische Dienst, der Lord Babington untersteht. Nach unseren Ermittlungen wird der illegale Fluß von geheimen Informationen in Europa an einer bestimmten Stelle zusammen­gefaßt und neu verteilt. Um diese Stelle geht es. — Sie könnte es gewesen sein, die Ihnen die Detailin­formationen über die Lawinenopfer in den Karpa­ten zuspielte."

„Aus welchem Grund sollte sie das tun?" wandte der Redakteur ein.

„Daran arbeiten wir noch. Aber wenn sich unser Verdacht erhärtet, sind wir ein gutes Stück weiter."

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„Welcher Verdacht, bitte, Sir?" Der Engländer war höflich, aber auch hartnäckig.

Urban weihte ihn so weit ein, wie ihm das zulässig schien.

„Der Verdacht, die Quelle könnte eine Frau gewesen sein."

„Ihre Annahme ist zutreffend, Sir." „Französin?" „Mit großer Wahrscheinlichkeit, Sir." „Mit einer unpersönlichen, kühlen, ein wenig

schneidenden Stimme?" „Die Stimme einer geschäftstüchtigen, ungefähr

dreißigjährigen Blondine", vermutete der Englän­der in Londons Fleet Street.

„Danke." Doch der Redakteur stellte noch eine Frage. „Sind Sie nun ein Stück weiter, Sir?" „Wir sehen den Graben, sind aber noch nicht

darüber weg", äußerte Urban. „Aber Sie setzen an zum Sprung." „Möglich, daß wir im Dreck landen", wich

Urban aus. Er hätte das Gespräch jetzt gerne beendet. „Ich weiß, was Ihnen mißfällt", bemerkte der

Redakteur. „Vermutlich dasselbe, was auch uns mißfiel. - Angeblich wiesen die beiden Lawinen­opfer tödliche Kopfschüsse auf. Wer brachte sie ihnen bei? Sie sich selbst? Lösten etwa die Schüsse die Lawine aus oder brachte ein Dritter die beiden um? - Wie aber konnte er dann der Lawine entkommen? — Oder gibt es diese Einschüsse gar nicht? Will man hier nur ein Drama vortäuschen?"

„Vielleicht", erwiderte Urban, „gibt es nicht nur die Einschüsse, sondern auch einige andere Tatsa­chen gar nicht."

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„Wie darf ich das verstehen, Sir?" „Wenn ich es verstanden habe, rufe ich Sie an",

versprach Urban. „Noch einmal: Thank you." Urban legte auf. Diese Helen Lister. Sie war ein verdammt

schlaues Frauenzimmer. Sogar oberschlau. Aber Schläue konnte man auch übertreiben.

Diesmal war die Sache einfach. Urban ging im Branchenadreßbuch die Liste der

Bestattungsunternehmer durch und sprach mit demjenigen, der auf diskrete Weise den Transport von Leichen aller Art in sämtliche Länder der Erde zu übernehmen versprach. Sowohl per Bahn, Auto, Schiff als auch Flugzeug. In Särgen, nach Wunsch aus Hartholz, Aluminium, Bronze, verschraubt, vernietet, verlötet, verschweißt. Mit Sichtfenster oder ohne, wurmfest, schußfest, druckfest bis auf zehn Meter Tiefe und dreihundert Meter Höhe.

„Oder klimatisiert", ergänzte der Unternehmer sein Angebot.

„Es geht um eine Auskunft", sagte Urban. „Sie sind doch Experte."

„Vierzig Jahre persönliche Berufserfahrung, mein Herr. In Händen der Familie ist unser Unter­nehmen seit dem letzten Jahrhundert. Man kann behaupten, daß wir unseren größten Erfahrungs­schatz in den beiden Weltkriegen sammelten."

„Wie verfährt man mit Lawinenopfern?" erkun­digte Urban sich.

„Wie mit anderen Leichen auch." „Man sargt sie also erst mal ein." „Nach Vorlage eines Totenscheins, polizeilicher,

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gerichtlicher oder staatsanwaltlicher Freigabe. Dies besonders bei Unfällen, Selbstmord und Mord."

„Wie sind die Bestattungsfristen?" „Normal drei Tage." „Und unter anormalen Bedingungen?" bohrte

Urban. „Kann die Frist verlängert oder verkürzt wer­

den. In heißen Ländern zum Beispiel. In den Tropen gibt es Vorschriften, wonach Leichen bin­nen vierundzwanzig Stunden zu verbrennen oder zu bestatten sind. - Übrigens, muß ich annehmen, daß Sie von der Zeitung sind, mein Herr?"

„Mein Name ist Urban." „Kripo?" „BND." Der Unternehmer hatte davon gehört. „Und Sie legen mich nicht irgendwie als ver­

kappter Reporter aufs Kreuz?" „Sie können zurückrufen. Ich gebe Ihnen meine

Nummer." „Zu umständlich." Der Inhaber der Firma Sil­

berkreuz drängte jetzt: „Würden Sie sich bitte kurz fassen. Oder noch besser, rufen Sie mich heute abend noch mal an."

Urban hätte die Antwort gern jetzt und sofort gehabt.

„Wie lauten die Vorschriften im Ostblock?" „In der DDR ähnlich wie bei uns." „Und in der Tscheche!?" Der Unternehmer hatte offenbar mitgedacht und

ein gutes Kurzzeitgedächtnis. „Es geht um Lawinenopfer?" fragte er. „Im grenznahen Karpatengebiet." „Inländer oder Ausländer?"

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„Amerikaner." „Man wird die Angehörigen verständigen." „Wenn es aber keine gibt?" „Dann das nächste Konsulat." „Braucht man Dokumente, um über die Leiche

zu verfügen?" „In der Theorie ja, in der Praxis kaum. Die

Behörden drüben möchten Ausländer gern schnell loswerden. Oft genügt ein Anruf. Manchmal schickte ich einfach meinen Wagen rüber und ließ den Sarg abholen. An der Grenze genügt der Totenschein. Es gab nie Probleme."

„Gibt es drüben Vorschriften, die Leichen an Ort und Stelle zu begraben?"

„Nur im Seuchenfall, wenn ich genau unterrich­tet bin, bei Katastrophen oder wenn eine Identifi­zierung nicht mehr möglich ist."

Urban hatte eine letzte Bitte. „Wo kann ich erfahren, was mit den Leichen von

zwei Männern geschah, die vor wenigen Tagen in den Karpaten einer Lawine zum Opfer fielen?"

„Bei mir können Sie das erfahren", bot der Unternehmer an. „Gegen Gebühr."

„Sie haben also Verbindungen?" „Gegen Gebühr", wiederholte der Eigentümer

der Bestattungsfirma Silberkreuz.

Es handelte sich um zwei Särge. Eiche hell, verschraubt.

Ein Wiener Bestattungsunternehmer hatte die toten Amerikaner in der CSSR eingesargt und nach Salzburg transportiert. Dort lagen sie im Kühl­raum seiner Filiale.

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Von Urban befragt, erklärte der Geschäftsführer folgendes:

„Die Särge gehen weiter, sobald die Verfügungs­berechtigten Versandorder erteilt haben."

„Und wer ist verfügungberechtigt?" Der Geschäftsführer grinste. „Wer die Rechnung bezahlt." „Angenommen, niemand zahlt, und niemand

erteilt die Versandorder, werden die Leichen dann verschrottet?"

„Ganz so ist es nicht. Sie dachten an Hundefut­terfabriken und so. Nein, das sind Gerüchte. Ein Teil der Kosten dürfte bereits übernommen worden sein, sonst träten wir gar nicht erst in Aktion. Wie ich horte, sollen die Toten in die USA überführt werden. Deshalb brachte man sie auch nach Salz­burg. Wir haben hier günstigere Luftfrachtmög­lichkeiten."

Urban war abgebrüht genug, um zu akzeptieren, daß auch Menschen irgendwann nichts anderes als biologische Abfallprodukte darstellten. Doch nun kam er zum Kernpunkt.

„Haben Sie die Leichen gesehen?" „Nicht mit eigenen Augen." „Mit wessen Augen dann, bitte?" „Der Kollege, der sie in Göding in die mitgeführ­

ten Särge umbettete, hat sie gesehen." „Stellte er Kopfschüsse fest?" „Das hatte man wohl nur kolportiert. Auch auf

den Totenscheinen steht nichts davon. Nur einfach: Tod durch Ersticken oder Erfrieren unter Schnee­druck."

„Man kann Einschußöffnungen wegschminken." „Sie können einen Mann zur Frau umschminken.

Mit Schminke machen Sie einen Jungen alt und

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Page 69: Ein Wolf Kennt Den Anderen

einen Alten jung. Mit Make-up geht alles, Aber da drüben sind sie noch nicht so weit wie in Holly­wood. Und warum sollten die Behörden der CSSR

„Eben, warum sollten sie?" Urban wurde nachdenklich. Mit Schminke kann

man alles machen, hatte der Bestattungsunterneh­mer gesagt.

„Ist es möglich, die Särge zu öffnen?" „Das schon, aber nur für die Hinterbliebenen für

einen letzten Blick." Urban versuchte, ihn festzunageln. „Die Hinterbliebenen sind die Verfügungsbe­

rechtigten." „So ist es." „Und verfügungsberechtigt ist, wer die angefal­

lenen Kosten bis zum heutigen Tage bezahlt." „Richtig." „Ich zahle", sagte Urban, „also bin ich verfü­

gungsberechtigt. Bitte lassen Sie die Särge öffnen." „Die Kasse ist im Parterre", sagte der Geschäfts­

führer.

Hinter verschlossenen Kühlraumtüren, allein mit den Särgen, bekam Urban fünf Minuten.

Leider hatte er weder von Sapritzky noch von Gugerman ein aktuelles Foto erhalten können. Aber es gab bestimmte Merkmale.

Ein Exekutivagent hatte selten die Hände eines Klavierspielers. Er mochte Brillen tragen, Haftlin­sen oder einen Hörapparat, aber immer hatte er Hände zum Zuschlagen. Meist mit harttrainierten Kanten.

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Der Tote im ersten Sarg hatte die Hände eines Schneiders. Schlanke Finger, lange Nägel, die Kanten weich wie Babyfüße. Das ließ sich trotz der Schwarzfärbung als Folge der Erfrierung noch deutlich erkennen. — Er war weder Sapritzky noch Gugerman.

Der andere kam auch nicht in Frage. Sein rechtes Bein war zu kurz. Zum Ausgleich trug er einen Bergstiefel mit erhöhter Sohle. Einen gehbe­hinderten, hinkenden Agenten hätte CIA aus vie­lerlei Gründen nie eingesetzt. - Erstens wegen der mangelnden Beweglichkeit, zweitens weil ein hin­kender Mann stets auffiel.

Wenn für einen Agenten etwas lebenserhaltend war, dann seine Unauffälligkeit.

Urban suchte nach weiteren Beweisen für seinen Verdacht. Schließlich fand er einen am Arm des Gehbehinderten, etwa eine Handbreit oberhalb der Stelle, wo man die Uhr trug. Trotz der Hautverfär­bung war eine Tätowierung erkennbar.

Urban betrachtete sie lange und kam zu dem Ergebnis, daß es sich um einen Äskulapstab, umge­ben von den Worten Tod dem Tode handelte.

Tod dem Tode war auf deutsch geschrieben. Es gab in der Schweiz einen exklusiven Club von Medizinern, der sich TdT nannte. Seine Mitglieder hatten sich der Bekämpfung des Todes verschrie­ben, egal wo und in welcher Form er auftauchte. Als Ärzte bekämpften sie wohl vorwiegend Krank­heiten.

Urban betätigte die Klingel. Die Isoliertür wurde von außen geöffnet.

„Erledigt", sagte er. „Zufrieden?" fragte der Geschäftsführer.

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„Nein", antwortete Urban. „Aber das betrifft nicht Ihren Service."

Während der Rückfahrt nach München auf der belebten Autobahn wurde Urban einiges klar.

Die Toten waren nicht Sapritzky und Gugerman, Sie wiesen auch keine Kopfschüsse auf. Helen Lister hatte das nur hinzugelogen, um die Story abenteuerlicher zu gestalten. Zumindest einer der Toten war Arzt und TdT-Mitglied. Vielleicht Schweizer. Er würde das über Interpol weitermel­den lassen. - Nicht heute, nicht morgen, aber demnächst.

Sapritzky und Gugerman lebten also, zogen es aber vor, für tot zu gelten. Wahrscheinlich jobbten sie weiter für Helen Lister.

Er würde diese Erkenntnis auf einem DIN-A4­Bogen zusammenfassen. Kurz, klar, ohne Adjek­tive. Dann sollte der Vize entscheiden, wie es weiterging und ob man die Verbündeten verstän­digte.

Urbans Laune besserte sich. Er nahm einen Schluck Bourbon, steckte sich eine MC an und schob eine Kassette in den Player.

Eins - zwei — drei, und du bist frei, dachte er. Ene — mene — Maus, und du bist raus. Flamencogitarren donnerten aus allen Ecken

seines Coupés wie Granatfeuer.

9.

Der zweidüsige Lear-Jet überquerte auf 12 000 Meter Höhe das Mittelmeer in Richtung Italien.

Er kam aus den USA. Wegen seiner begrenzten Reichweite von nur 3500 Kilometern hatte das

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Geschäftsreiseflugzeug auf den Bermudas und den Azoren zwischengetankt. Es führte das Label eines Elektronikkonzerns auf dem Leitwerk, gehörte aber dem amerikanischen Geheimdienst CIA.

Der einzige Passagier an Bord trug gedecktes Grau. Auf dem Nebensitz lagen zwei Koffer, deren Inhalt mehr wert war als das Flugzeug.

Sie enthielten vier Millionen Dollar in verschie­denen europäischen Währungen, Lire, Franken, D-Mark, Gulden und Pesetas. - Alles große gebrauchte Scheine, nicht durchnumeriert und auch nicht registriert.

Der Geldkurier wußte nicht genau, für welchen Zweck diese Gelder ausgegeben werden sollten, konnte es sich aber vorstellen.

Entscheidend für ihn war die pünktliche Über­gabe in Rom. Was allerdings eine pünktliche Landung voraussetzte.

Doch da gab es wohl keine Probleme. Am Himmel standen ein paar hohe Stratokumuli, es herrschten beste Sichtbedingungen, und die beiden GE-Triebwerke summten so leise wie ein Staub­sauger im Nebenzimmer bei geschlossenen Türen.

Im Begriff sich eine Zigarre anzustecken, wurde der Kurier vom Captain gestört.

„Die Havanna lohnt sich nicht mehr, Sir." „Warum?" „Landung in zehn Minuten." „Schon?" „Wir hatten Schiebewind." „Na fein." Der Kurier schaute auf die Uhr. Wir sind zu früh dran, rechnete er. Ob der

Wagen mit dem Leibwächter schon zur Stelle ist? Für eine Zigarette hätte er noch Zeit gehabt,

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aber er war nun mal kein Zigarettenraucher. Also ließ er es.

Unmerklich begann der Jet seine Reiseflughöhe zu verlassen. Auch kam es dem Kurier so vor, als würden die Drehzahlen der Turbinen gedrosselt. Sie sangen anders.

Er beugte sich zum Bulleye hinüber und sah gerade noch die helle Kante, wo das Meer aufhörte und der Strand begann.

„Der Fluß da unten?" fragte er den Copiloten. „La Marta." „Und das Silberblaue am Horizont, ist das die

Adria?" „Nein, der Lago di Bolsena, Sir." „Und der weiße Doppelstreifen?" „Die Autostrada nach Rom." „Ach, stimmt ja, wir landen nicht direkt in

Rom." „Sie kennen doch die Route, Sir." „Nicht diese", erklärte der Geldkurier. „Außer­

dem war es immer Nacht oder bewölkt." „Bei der Landung kann es ein wenig hoppelig

werden, Sir. Besser Sie gurten sich fest an." „Gehn wir etwa auf einem Grasplatz herunter?" Der Copilot bedauerte. Er konnte nichts daran

ändern. Sie bekamen ihre Anweisungen. Es han­delte sich um einen Privatflugplatz auf einem großen Landgut am Rande der Toskana. Er gehörte entweder der CIA, einem Mitarbeiter oder einem Sympathisanten. Das, was sie zu bringen und abzuholen hatten, eignete sich nicht für Großflug­häfen und deren scharfe Kontrollen.

„Wir nehmen vier Gentlemen mit nach Hause", sagte der Copilot, „und starten sofort wieder."

„Ist ja wie im Krieg."

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„Sind wir nicht stets in einer Art Krieg, Sir?" Wen sie in die USA brachten, konnte der Kurier

sich vorstellen. Gewiß wichtige Leute. Wissen­schaftler, Experten, Flüchtlinge aus dem Osten.

„Okay", sagte der Kurier.„Also bitte fest angurten, Sir."Als sie so tief waren, daß man Einzelheiten von

Ortschaften, Wege, Felder und Wälder ausmachen konnte, fuhr der Pilot die Klappen. Die Maschine legte sich schräg auf die linke Fläche. Nach Beendigung der Anflugkurve wurde sie geradege­stellt und schwankte ein wenig. — Dann ging alles schnell. Ein Hügel, Strommasten, die Wipfel von Bäumen rasten vorbei. Die Triebwerke heulten auf. Bodenberührung. Ein letzter Hüpfer, sattes Aufset­zen, Rumpeln des Fahrwerks, Rütteln, Bocken, Umkehrschub, Ausrollen, Bremsen. Der Jet stand.

Der Copilot öffnete die Rumpftür. Der Kurier nahm seine Koffer.

„Wie kommen Sie nach Hause, Sir?" „Mit Linie", sagte der Kurier.Draußen blendete die tiefstehende Sonne. Und

was für eine schwüle Hitze. Der Schweiß brach einem aus. Man hatte immer die falschen Sachen an. In Washington war es herbstlich kühl gewesen.

Drüben, ungefähr achtzig Meter entfernt, um dem landenden Flugzeug den Weg nicht zu ver­sperren, wartete eine dunkelblaue Lancia-Limou­sine.

Der Fahrer - dunkler Anzug, weißes Hemd, schwarzer Schlips — saß am Lenkrad. Der Leib­wächter - dunkler Anzug, weißes Hemd, schwar­zer Schlips — stand neben dem Wagen. Beide sahen aus wie Sizilianer, schwarzhaarig und braun­häutig.

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Der neben dem Lancia öffnete den Kofferraum­deckel.

„Ich behalte es lieber bei mir", erklärte der Kurier.

„Wie Sie wünschen, Signore." Der Kurier schob seine Geldkoffer in den Fond

und rutschte hinterher. „Sie sind ein neues Team", stellte er verwundert

fest. Meist hatte man ihn mit einem Chevrolet der

CIA-Residentur abgeholt. „Da sind Sie schlauer als wir, Signore." Der Body-guard haute die Tür zu und nahm den

Sitz neben dem Fahrer ein. Der ließ an und rollte auf das Pinienwäldchen zu.

Sie hatten gerade das Wäldchen hinter sich und staubten die Straße von der Hochweide ins Tal hinab, als der Kurier sich zwischen die vorderen Sitze beugte und mit einemmal schrie:

„Ich kenne euch." „Du spinnst, Mann." „Sapritzky und Gugerman." „Mach diesen Blödmann still", sagte der Fahrer. „Ihr seid doch tot. Was macht ihr hier?" Der Kurier versuchte, dem Fahrer in den Arm zu

fallen. Der schüttelte ihn ab. Nun griff er nach dem Zündschlüssel. Der Bei­

fahrer versetzte ihm einen Hieb. Aber der Kurier tobte, als würde er am Spieß braten.

„Hat mich glatt gebissen, das verdammte Arschloch", fluchte der Fahrer.

Er war zu schnell. Weil eine enge Kurve kam,

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mußte er scharf bremsen. Der Kurier warf sich nach links, drückte die Tür auf und rollte hinaus.

Der Lancia schleuderte halb herum. Der Beifah­rer griff in den Fußraum, wo er eine abgesägte Schrotflinte liegen hatte. Damit schoß er durch das offene Fenster auf den fliehenden Kurier.

Auf etwa fünfzehn Meter Entfernung traf er ihn ins Kreuz. Der Kurier, getroffen von Dutzenden von Metallsplittern, warf die Arme hoch, taumelte aber weiter.

Der Beifahrer sprang aus dem Lancia, rannte hinter ihm her und feuerte die nächste Ladung aus dem Zwilling, diesmal auf kürzere Distanz. Die Wucht warf den Kurier vornüber zu Boden.

Der Anzug war durchlöchert, sein Rücken war zerfetzt. Er blutete stark.

„Was jetzt?" fragte Gugerman. „Seine Schuld." „Der Mafiatrick war nicht überzeugend",

befürchtete Gugerman. „Seine Schlauheit bringt ihn um." Gugerman lud Kugelpatronen nach und gab dem

Kurier mit einem Kopfschuß den Rest. Sie schleppten ihn ins Gebüsch am Rande des

Wäldchens und fuhren weiter. Sapritzky saß jetzt hinten und fummelte an den

Buchstabenschlössern der Geldkoffer, bis er sie offen hatte. Dann pfiff er anhaltend.

„Genug?" fragte Gugerman. „Okay." „Was schätzt du?" „So viel wie sie alle drei Monate rüberbringen,

um das Europa-Netz zu finanzieren." „Ob sie uns die Mafiavorstellung abnehmen?" „Was bleibt ihnen anderes übrig?"

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„Aber wie soll die Mafia von dem Geldtransport gewußt haben?"

„Die Mafia weiß alles. Und was sie nicht weiß, das weiß die Camorra."

Gugerman bog von der Nebenstraße auf die Hauptstraße nach Grosetto ab.

„Ob die Piloten die Schüsse hörten?" „Die Triebwerke liefen noch." „Na, und wennschon!" „Die haben andere Sorgen." In einer Ortschaft, die Marciano hieß, wechselten

sie das Fahrzeug. Sie stiegen in einen Fiat um. Am Abend waren sie wieder in Genua. Das Problem, wie sie ihre nächsten Pläne finan­

zierten, war gelöst. Aber neue Probleme taten sich auf. — Die Millionen mußten angelegt werden.

Zunächst deponierten sie die Koffer in einem Bankschließfach.

Was ihnen zugute kam war, daß es sich um Geld zur Finanzierung des V-Mann-Netzes der CIA in Südeuropa handelte. Inoffizielle Gelder also.

Der amerikanische Geheimdienst konnte wenig unternehmen, um die Summe wiederzubeschaffen. Er konnte Experten einfliegen lassen, Schnüffler auf die Spur der Täter setzen, aber er konnte die italienische Polizei nicht in Anspruch nehmen. Und der Mafiatrick, den sie angewandt hatten, machte die Sache zusätzlich kompliziert.

Dadurch gewannen sie die Zeit, die sie benö­tigten.

„Aktion eins", schlug Gugerman vor: „Erwerb

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einer sicheren Immobilie. Haus, Grundstück oder so."

„So weit südlich wie irgend möglich." „Damit wir weit vom Schuß sind, wenn Aktion

zwei beginnt" „Australien?" fragte Sapritzky. „Australien ist schon ein durchorganisierter Po­

lizeistaat." „Neuseeland?" „Die mögen Einwanderer nicht." „Südsee!" „Ja, das ist es." „Oder Ägäis." „Noch besser." „Oder Karibik." „Optimal." „Und was Aktion zwei betrifft, bist du sicher,

daß die Sache funktioniert?" Gugerman nickte. „Bei meinem letzten Besuch in Moskau las ich

die Berechnungen. Erst einmal bin ich sicher, daß jeder sein Fett wegkriegen muß. Zuerst diese Amischweine, dann die Russenschweine. Mit des alten Gugermans einzigem Sohn macht man das nicht. Und was die Sache selbst betrifft, bei meinem Besuch in Moskau flatterten den Verant­wortlichen schon mächtig die Hosen."

„Computer können sich irren." „Aber nicht russische Dorfrechenmaschinen",

sagte der Excolonel. „Ich denke, wir wissen, wie wir es tun werden. Aber erst eine kleine einsame Insel mit Palmen, bitte."

Sie änderten wieder einmal ihr Aussehen. Es war schon Routine.

Gugerman trug einen dunklen leichten Sommer­

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anzug, Schuhe mit dünnen Sohlen und flachen Absätzen. Das ließ ihn weniger massig erscheinen. Außerdem war der Kinnbart, den er sich wachsen ließ, schon lange über das Dreitage-Stadium hin­aus und streckte sein Gesicht. Eine Metallrand­brille vollendete die Tarnung.

Sapritzky ging einen anderen Weg. Blondgetön­tes Haar, an beiden Seiten kurz und hoch hinauf­geschnitten, T-Shirt, Jeans und Cowboylatschen machten aus ihm einen Zwanzigjährigen. Dazu trug er noch ein buntes Stirnband. Man konnte sie für Vater und Sohn halten.

Unter Verwendung von Pässen, die ihnen stets in ausreichender Menge zur Verfügung gestanden hatten und die sie auch zu präparieren verstanden, legten sie die Dollarmillionen in zwei Haufen an. Über den einen hatte Gugerman, über den anderen Sapritzky die Verfügungsgewalt.

Während Gugerman Konten bei der Niederlas­sung der Manhattan Chase in Mailand und einer deutschen Bank eröffnete, verwahrte Sapritzky einen Teil seiner rund zwei Millionen in einem Bankschließfach.

„Den Rest leg' ich in der Schweiz in Zürich an", entschied er.

„Schlechte Rendite", sagte Gugerman, „hohe Kapitalertragssteuern."

„Es liegt ja nicht ewig dort." Sapritzky beschloß dann aber, das Geld nach

Monte Carlo zu schaffen. Sie hatten ohnehin vor, an die Riviera zu fahren. Es gab noch Geschäfte mit Helen Lister abzuwickeln.

In diesen Tagen bekamen sie das Angebot eines internationalen Immobilienhändlers, das ihnen sehr zusagte. Im Vergleich zu anderen Objekten

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erhielt es die höchste Punktzahl im Katalog ihrer Forderungen.

Sie hatten eine genaue Beschreibung vorliegen. Fotos und eine Videokassette.

„Es liegt im Süden", schwärmte Gugerman, „nicht zu weit entfernt und hat milde Winter."

„Und heiße Sommer." „Aber immer weht eine frische Brise. Obwohl

einsam gelegen, ist der nächste Flugplatz doch in wenigen Stunden erreichbar."

„Und es gibt keine Nachbarn", bemerkte sein Partner.

„Eigene Quellen." „Aber kein Strom." „Dafür gibt es auch kein Telefon. Den Strom

machen wir uns mit einer Windmühle oder mit einem Dieselaggregat. Es soll auch Höhlen dort geben. Das spart uns den Bau eines atomsicheren Bunkers."

„Und von Kühlräumen. Vorratshaltung wird wichtig sein."

„Ja, ein ganzes Schiff voller Vorräte." Sie redeten lange darüber und waren sich im

klaren, daß es recht langweilig werden konnte, wenn erst einmal die Herbststürme losbrachen. Aber sie würden viele Kisten Whisky mitnehmen, Schallplatten und tausend Videofilme.

„Und Damen", ergänzte Sapritzky, „lassen wir einfliegen. Für Money und gute Behandlung fin­dest du immer was für eine Saison."

„Ein Glück, daß wir nicht arm und krank sind", meinte Gugerman. „Jetzt nur noch den Tritt in den Hintern von Iwan und Uncle Sam, und meiner Seele wachsen Flügel."

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„Das Gedichteschreiben", riet Sapritzky ihm, „heb dir für später auf."

Mit Vorsicht und Energie leiteten sie alles in die Wege.

10.

Den amerikanischen Geheimdienst CIA erwischte es in diesen Wochen Schlag auf Schlag.

Erst war es die Erkenntnis, daß ein Topagent die Thunderclap-Papiere entwendet hatte, dann die noch schlimmere Meldung, daß der Mann, den sie losgeschickt hatten, um den Verräter zu liquidie­ren, sich mit ihm zusammengetan hatte.

„Gugerman und Sapritzky", sagte der CIA-Chef kopfschüttelnd, „Sapritzky und Gugerman. Man kann es drehen wie man will, es ist eine Kata­strophe."

„Falls die BND-Meldung den Tatsachen ent­spricht."

Man hatte sie längst überprüft und war ihr nachgegangen. Sie stammte aus dem Hauptquar­tier des deutschen Bundesnachrichtendienstes in Pullach und dort von einem Mann, den der CIA-Chef persönlich kannte und dem er hohes Ver­trauen entgegenbrachte.

„Gerade weil er nicht mein Freund ist", gestand der CIA-Chef, „und weil der Agent, der den Sachverhalt ermittelte, einen Ruf wie Donnerhall genießt, bin ich davon überzeugt."

„Möglicherweise liegt auch ein gewisses Maß von Schadenfreude vor, Sir."

Der bullige CIA-Direktor hob sein flächiges

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Gesicht, das von einem hammerartigen Kinn Kon­tur bekam.

„Merken Sie sich eines, Mister Shnider", belehrte er seinen Abteilungsleiter. „Ein gerüttel­tes Maß von Schadenfreude liegt immer vor, wenn den anderen ein Geschäft in die Binsen geht. Sapritzky und Gugerman hatten Gründe, ihr Ableben vorzutäuschen. Für mich bedeutet das, daß sie sich zusammentun. Warum Sapritzky umstieg, können wir nur vermuten", der CIA-Chef verbesserte sich, „vielmehr befürchten. Möglicher­weise haben wir hier den Pflug zum Gärtner ernannt, und auch Sapritzky ist Doppelagent. Wem in diesem verdammten Laden kann man überhaupt noch trauen? Ihnen, Shnider, oder mir etwa? Verflucht noch mal, nein. Jetzt hocken die beiden Typen beisammen und brüten wer weiß was aus. Sie verfügen über ein ungeheures Detail­wissen."

Selbst nach stundenlangen Konferenzen sah man keinen Weg, um die beiden Verräter zu kriegen. Man wußte ungefähr, was sie zusam­mengeführt hatte, aber nicht, ob sie etwas planten.

Mitten hinein in diese böse Situation platzte die Nachricht vom Überfall auf den Geldkurier in Italien.

„Vier Millionen Dollar in Devisen", stöhnte einer. „O Gott!"

„Als ob es eine Rolle spielte, wieviel es ist", polterte der CIA-Direktor. „Entscheidend ist, daß es geschehen konnte. Wer wußte davon? Wer steckt dahinter?"

„Die Mafia, heißt es."

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„Heißt es, heißt es", brauste der CIA-Boß auf. „Heißt es heißt gar nichts."

„Das Auto war ein Lancia, angeblich mit siziliani­schen Kennzeichen. Aus Palermo. Die Täter sahen, soweit sich die Lear-Jet-Besatzung erinnert, wie Süditaliener aus. Dunkelhaarig, schwarze Anzüge und so weiter. Und dann der Tote. Sie fanden den Kurier durchsiebt von grobem Lupara-Schrot."

„Eine Lupara ist eine Schrotflinte mit abgesäg­tem Lauf, fast wie eine Pistole zu handhaben", erklärte ein anderer.

„Ich weiß, was eine Lupara ist", warf der CIA-Chef ein. „Die Waffe der Mafia und der Camorra. Vermutlich wurde sie in Neapel erfunden. — Wei­ter, Gentlemen, weiter! Was sagt die italienische Polizei?"

„Den Geldtransfer mußten wir aus naheliegen­den Gründen verschweigen. Die Italiener stellten auch keine Fragen, was der Kurier am Tatort zu suchen hatte. Für sie ist er ein toter Amerikaner, ermordet von der Mafia. Alles sieht aus wie ein Sühnemord. Der Rest ist Omertà - Schweigen."

„Bitte, Gentlemen", wünschte der CIA-Chef, „verwenden Sie nicht diese Ausdrücke wie Mafia, Camorra, Lupara, Omertà. Sagen Sie es auf gut amerikanisch, und sagen Sie mir vor allem, wie die Mafia von dem Geldtransfer erfahren konnte. Steckt da vielleicht etwas anderes dahinter?"

Keiner sprach es aus, doch alle dachten es, bis der CIA-Direktor es nicht länger halten konnte.

„Und wenn es der Erstschlag der neugegründe­ten Firma Sapritzky & Gugerman gewesen ist?"

„Das wäre eine verfluchte Sache. So schnell möchte ich mal reagieren. Gestern noch tot, heute schon ein Millionenraub."

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„Aber damit hätten sie Betriebskapital. Und nicht zu knapp."

Der CIA-Direktor beschloß, seinen Kollegen in München anzurufen.

In der Woche darauf trafen der CIA-Direktor und der Vizepräsident des BND sich auf einer NATO-Tagung in Brüssel.

Der Amerikaner konnte es kaum erwarten, den deutschen Kollegen zu sprechen. Er zog ihn in einen Nebenraum und kam sofort zur Sache.

„Und?" fragte er, als gäbe es kein anderes Thema. Der BND-Präsident hatte es immer gern der

Reihe nach. So antwortete er auch. „Die zwei Toten aus dem Karpaten-Gebirge sind

Schweizer Ärzte. Ein Chirurg und ein Anästhesist. Beide arbeiteten am Krankenhaus in Winterthur."

„Sie wurden also identifiziert?" „Unser Agent fand eine Tätowierung, einen

Äskulapstab mit dem Slogan Tod dem Tode, das Clubzeichen eines in der Schweiz beheimateten Ärzteclubs. - Wir gaben das an Interpol weiter. Als dann die Schweizer Vermißtenmeldungen vorlagen, forderte man die Fingerabdrücke der Leichen an und fügte so die Enden der Kette zusammen. Ihre Sorgen­kinder Sapritzky und Gugerman leben. Möglicher­weise war Sapritzky zum sowjetischen Geheimdienst KGB übergewechselt und sollte wegen Mißbrauchs der Retrow-Pläne liquidiert werden."

„Von Gugerman." „Es klingt wie eine schlecht erfundene Story.

Zwei Verräter werden von den Verratenen aufein­andergehetzt, um sich gegenseitig auszuschalten."

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Die Konsequenz daraus war Sache der CIA. Zumindest dachte der BND-Vize zu dieser Stunde noch so.

„Und der Geldraub bei Rom?" kam der Amerika­ner zu dem für ihn aktuellsten Punkt.

Der Deutsche goß aus der Thermoskanne Kaffee ein. Dann bot er eine von seinen flachen ägypti­schen Nil-Zigaretten aus der blauen Packung an.

„Unser Mann ging der Sache nach." Der Amerikaner zeigte sich teil informiert. „Ihr bester Mann? - Mister Dynamit?" „Er nennt sich nicht so, und wir nennen auch ihn

nicht so." „Und das Ergebnis?" Der Deutsche rauchte aus und rührte den Zucker

in der Tasse um. „Urban setzte sich mit Leuten aus der Mafia­

szene in Verbindung. Er hat da irgendeinen Paten­onkel bei dieser Bande. Vito Catanese heißt er, oder so ähnlich."

„Ja, den gibt es. Ist mir dem Namen nach bekannt. Älterer Bursche, aber einer der Mächtig­sten."

„ Catanese war Urban wohl einen Dienst schuldig."

„Ergebnis?" drängte der Amerikaner noch einmal.

„Es ist völlig und hundertprozentig auszuschlie­ßen", antwortete der Deutsche, jedem einzelnen Wort Gewicht gebend, „daß die Mafia auch nur das geringste mit dem Geldraub zu tun hat. Vito Catanese betonte ausdrücklich, daß nichts, was die Mafia in Europa unternimmt, sich gegen die CIA richten wird. Nicht zuletzt den Amerikanern ver­dankt die Mafia ihre Wiederauferstehung nach

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dem Krieg in Sizilien. Außerdem soll es zwischen der CIA und der Cosa Nostra in den USA Abma­chungen geben. Störst du mich nicht, störe ich dich nicht."

„Es gibt", räumte der CIA-Kollege ein, „in der Tat gegenseitige Interessen. Die Cosa-Nostra-Leute sind gute Amerikaner und treue Bürger. Sie mögen mit Rauschgift handeln, aber sie sind, so merkwürdig es klingt, im Vergleich zur südameri­kanischen Kokain- und Heroinconnection das klei­nere Übel. Denn sie sind kalkulierbar. Die Cosa Nostra steckt ihre Gewinne aus Drogen in legale Gschäfte. Die Südamerikaner hingegen stecken ihre Gewinne aus dem Drogenhandel in nicht kontrollierbare Geschäfte, nämlich in Revolutio­nen, Terrorismus und Kriege. Das ist die Alterna­tive."

„. . . des Teufels", ergänzte der BND-Chef, war aber zu erfahren, als daß ihm diese Eröffnung einen Schauer über den Rücken gejagt hätte.

„Wenn nicht die Mafia, dann stecken Sapritzky und Gugerman dahinter", sagte der Amerikaner. „Kein Zweifel."

„Das macht sie besonders gefährlich." „In der Tat, ein armer und kranker Gangster ist

mir lieber als ein reicher und gesunder." „Dann müssen Sie die Augen und Ohren aufma­

chen und weit offenhalten", riet der Deutsche. Der Amerikaner schüttelte den Kopf und be­

merkte: „Nicht nur ich, mein Freund. Wir alle." Aufgrund eines geheimen Beschlusses der

Geheimdienstchefs wurde der Fall Sapritzky/ Gugerman auf NATO-Ebene gehoben und bekam den Code Top-secret-NATO-important,

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Die Suche nach den beiden Ex-Agenten erhielt Vorrang.

Der Fall wurde einem Mann übergeben, der eingearbeitet war und dem man eine Entschärfung der tickenden Bombe zutraute.

In dieser Nacht rief der BND-Vize Robert Urban in München an.

„Sie müssen übernehmen", endete der Vize seine kurze Vorrede.

„Ein Gehirnschlag wäre mir lieber", gestand Urban. „Da weiß man, wie es ausgeht."

11.

Helen Lister erkannte ihre Besucher in der Sicht­sprechanlage zunächst nicht. Erst als Gugerman unhöflich fragte, ob sie inzwischen taub oder blind geworden sei, drückte sie den elektrohydraulischen Türöffner.

Oben vor ihrer Dachterrassenwohnung mußten die Gentlemen sich einer ähnlichen Prozedur unterziehen. Erst dann sperrte sie die Sicherheits­schlösser der stählernen Eingangstür auf.

„Wie Pat und Patachon!" rief sie. „Wenn einen schon Freunde nicht erkennen",

sagte Sapritzky, „haben es Feinde besonders schwer."

Er ließ sich in einen der weißen Saffianlederses­sel sinken und legte die Cowboystiefel auf den Glastisch.

„Nun seid ihr ja zusammen", stellte Helen fest. „Red kein Blech", erwiderte Gugerman vor­

wurfsvoll. „War auch höchste Zeit. Deine Schuld ist es, daß jahrelang keiner vom anderen wußte."

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„Moskau und Washington wollten es offenbar so."

Eine Afrikanerin brachte Drinks und ver­schwand wieder.

„Schlechte Laune?" fragte die Nachrichtenhänd­lerin, die trotz äußerer Kälte und Glätte ein Gespür für Situationen hatte.

„Laß uns die Differenzen ausräumen", schlug Gugerman vor. „Dann sind wir wieder die alten."

„Gerne", ging sie darauf ein. „Ich bekomme zwanzig Prozent von mindestens vier Millionen Dollar plus Spesen. Macht eine Million. In bar, bitte."

Die Exagenten blickten sich an. Eine Pause entstand, weil jeder dem anderen den Vortritt ließ.

„Wofür?" fragte Gugerman erstaunt. Helen Lister zählte auf. „Für meine Pressearbeit in London. Ferner für

meine Pressearbeit, die den Geldraub in Richtung Mafia laufen ließ. Dazu mein Tip, es der Mafia in die Schuhe zu schieben. Keiner weiß, daß ihr am Leben seid. Keiner glaubt, daß eine andere Täter­gruppe als die Mafia in Frage kommt. Überhaupt brachte ich euch auf die Idee. Ist das nun eine Million Dollar wert?"

„Durchaus", räumte Sapritzky ein.„Dann bezahlt auch."„Werden wir nicht", erklärte Gugerman.„Na schön. Und wo liegt der Haken?"Helen Lister blieb äußerlich noch konziliant,

während sie innerlich zu einem Eisberg gefror, was bei anderen Menschen dem Zustand von kochender Wut entsprach.

„Der Haken ist. ..", setzte Sapritzky an. Gugerman machte weiter:

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„Es war der falsche Kurier. Er brachte kein Geld, nur Geheimakten."

Helen Lister zeigte deutliche Verblüffung. „Ihr seid unverschämte Lügner, Bastarde.

Kanaillen seid ihr", brach es plötzlich aus ihr heraus.

„Akten", beharrte Sapritzky, „kein Geld." Sie stand auf, ging zu einem weißen chinesischen

Schrank, eine wundervolle Lackarbeit mit Dra­chenintarsien aus Gold und Perlmutt, öffnete ihn, nahm eine dünne Akte heraus und warf sie Guger­man vor die Füße.

„Lies, wenn du je lesen gelernt hast, du Scheiß­kerl."

Da Gugerman unbewegt sitzen blieb, nahm Sapritzky den Schnellhefter, öffnete ihn und über­flog die Seiten.

Es handelte sich um Kopien von geheimen Funk­fernschreiben, die von Washington nach Brüssel gegangen waren, den Raub von vier Millionen Dollar in Devisen nördlich von Rom betreffend.

„NATO-secret", äußerte Sapritzky grinsend und legte die Akte weg. „Ein Bluff natürlich. Eine Fälschung."

„Warum sollten sie bluffen? Etwa euch zuliebe?" Die Unterhaltung wurde zur Debatte, die

Debatte zum Streit. Schließlich trieb die scharfsin­nige Helen Lister ihre ehemaligen Nachrichtenlie­feranten so in die Enge, daß Sapritzky nichts mehr zu seiner Rettung einfiel. Doch Gugerman kon­terte:

„Du schuldest uns ebenfalls eine Million Dollar. Eine Million minus eine Million macht null Dollar."

„Wofür?"

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„Für die Thunderclap-Papiere", erinnerte Gu­german.

„Und für die Retrow-Pläne", ergänzte Sapritzky. „Beides war Spielmaterial", tat sie es ab. „Von

KGB und CIA präpariert, um den Gegner zu täuschen. Sie waren nichts wert. Ich konnte nicht eine Seite davon verkaufen. Im Gegenteil, mein Ruf als sorgfältige Agentur hat enorm gelitten. Und das kostet mehr als eine Million Dollar."

Da stand Sapritzky in Zeitlupe auf, stellte sich breitbeinig hin und ließ einen für seine Verhält­nisse langen Satz los.

„Hör zu, du Nutte. Du hast dir das Material von deinem Beschäler klauen lassen. Nicht einen Cent kriegst du von uns. Im Gegenteil, wir brauchen gewisse Informationen von dir. Danach erst sind wir quitt. Entweder du lieferst uns die Informa­tionen . . . "

„Oder?" fragte sie freundlich wie eine Kobra. Gugerman lächelte so dezent, wie er konnte. „Informationen, wer derzeit der mächtigste ara­

bische Terroristenführer ist. Sei es von PLO oder AMAL, von der Bruderschaft des heiligen Krieges, von Roter Halbmond oder wem auch immer. Ich will den Namen."

Sie war nur noch kerzengerade gestreckte Arro­ganz.

„Und", fragte sie, „wenn ich euch nicht be­diene?"

„Du wirst schon", prophezeite Sapritzky, so als hätte er sehr überzeugende Argumente.

„Werde ich nicht", zischte sie frostig. „Dann", Gugerman lächelte nicht mehr, „legen

wir dich um."

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„So mir nichts dir nichts, ihr Schlappschwänze", höhnte Helen Lister.

Sapritzky blickte Gugerman an. „Schlappschwänze hat sie gesagt", wiederholte

er fast ungläubig.

Gugerman schüttete Whisky in einen Tumbler. Während Sapritzky Helen Lister von hinten würgte und überwältigte, gab Gugerman Schlaf­tabletten in den Drink. Sie hatten ungefähr die Wirkung von K.o.-Tropfen.

Inzwischen hatte Sapritzky die eiskalte Lady mit einem Seidenschal gefesselt. Gewaltsam flößten sie ihr den Schlummercocktail ein und beobachteten die Reaktion.

Das Mittel wirkte so schnell wie der ungebrem­ste Aufwärtshaken eines Boxers gegen das Glas­kinn seines Gegners.

Nach zwei Minuten war sie weg. „Wo ist das Dienstmädchen?" fragte Gugerman. Sie suchten sie überall. Aber es ging bereits auf

22.00 Uhr. Die Algerierin hatte sich schon nach Hause begeben.

Nun standen sie vor dem Sofa, auf dem Helen Lister lag.

„Jetzt oder später?" „Es ist nie zu früh", meinte Gugerman. „Und wie?" „Messer, Schnur oder Kugel." „Es soll wie Selbstmord aussehen." „Pulsadern." „Eine zu große Schweinerei." „Was dann?"

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„Plastiktüte." Während Sapritzky eine Plastiktüte suchte,

benutzte Gugerman das Telefon. „Willst du die Sternwarte anrufen?" „Nicht von hier aus." „Wen dann?" „Du weißt schon." Er rief einen Mann an, der gleich nebenan in

Cannes wohnte und als der cleverste Immobilien­makler der Riviera galt.

„Ihr Objekt Nummer zwei-eins-vier", erwähnte Gugerman, „gefällt uns. Ich denke, wir schlagen zu."

Erst sagte der andere etwas, dann wieder Gu­german.

„Einverstanden, Monsieur Calderon. In einer Stunde. In Jacquelines Bistro. Verstanden. Aber am Preis muß noch was zu machen sein. Eine Insel ohne Telefon, ohne Strom, so nahe an der Grenze zweier verfeindeter Staaten, die kauft nicht jeden Tag einer."

Der Angerufene äußerte sich entgegenkommend. Zufrieden legte Gugerman auf.

Sapritzky kam aus der Küche. Die Plastiktüte war reichlich groß. Es würde also länger dauern als bei einer kleineren Tüte. Aber ihr Objekt schlief fest.

Sie hoben Helen Lister an, stülpten die Tüte über ihren Kopf und banden sie unterhalb ihres Kinns am Hals mit einer Vorhangkordel luftdicht zu.

„Calderon erwartet uns in Cannes", übermittelte Gugerman seinem Partner. „Scheint hinzuhauen. Vollinhaltlich."

Wenig später verließen sie die Wohnung im zwölften Stock des Paradise Tower in Monte Carlo.

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Helen Lister wußte, wie trinkfest amerikanische Agenten waren. Um mithalten zu können, hatte sie vorher eine halbe Tasse Olivenöl zu sich genom­men. Dies mit gewissem Ekel, aber auch mit der Gewißheit, daß es Magen und Darm für Alkohol weniger aufnahmefähig machte. Aus diesem Grund hatte das Schlafmittel kaum gewirkt.

Das Olivenöl, original erste Kaltpressung, extra Virgine, übte noch andere Wirkungen aus.

Helen Lister wälzte sich in Bauchkrämpfen herum. Dabei gelang es ihr, die Plastiktüte so weit zu verschieben, bis sie ein bißchen Sauerstoff bekam.

Sie rollte sich vom Sofa zum Boden, rollte weiter, brachte die nach hinten gefesselten Hände an die scharfe Glaskante des Tischfußes und begann zu reiben.

Es dauerte ziemlich lange. Bis die Kändelung der Seidenschnur anriß, zeigten ihre Handgelenke Brandblasen. Doch als der Rand erst einmal durch­gescheuert war, ließ die Seide sich Faden für Faden zerreißen.

Nach Mitternacht war sie frei. Sie ging ins Badezimmer, steckte ihren Zeigefin­

ger tief in den Hals und übergab sich. Dann wankte sie in die Küche und machte sich einen Mokka.

Sie trank die ganze Kanne leer. Der Kaffee wütete in ihrem Kreislauf, aber er machte sie klar und fit.

Alles, was sie gehört hatte, die Gespräche der Agenten und Gugermans Telefonat, notierte sie sich.

So viel stand fest: Die Agenten suchten ein Refu­

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gium, einen Ort also, an den sie sich zurückziehen konnten. Sie planten aber auch den großen Rache­schlag. Wozu sonst der Kontakt mit den arabischen Terroristenführern?

Wenn beide je erfuhren, daß sie überlebt hatte, würde man sie als Mitwisserin killen. - Also durften sie es nie erfahren, oder erst, wenn sie nicht mehr in der Lage sein würden, sie zu töten.

Davor schützte einen normalerweise die Polizei. Dorthin konnte sie aber nicht gehen. Aber es gab noch einen anderen Weg. Wenn es darauf ankam, war Robert Urban der

kälteste Mann der Welt, aber sie hatte ihm etwas zu bieten. Damit würde sie ihn herumkriegen. — Hoffte sie.

Sie riß die Fenstertüren auf. Südwind ließ die Brandung rauschen. Ein Wind, der einen umbrin­gen konnte.

Dann wählte sie eine Nummer in München. Den Anschluß von Robert Urban. Sie wählte immer wieder und ohne Pause, bekam jedoch keine Ver­bindung. Aber sie gab nicht auf.

Eines wußte sie: Amateure redeten mit jedem, Profis nur mit Profis. Sie waren beide Profis. Sie haßten sich, und sie liebten sich. Vermutlich haß­ten sie sich mehr, als sie sich liebten. Aber sie waren und blieben immer Profis.

12.

Der Großcomputer war auf Lageanalysen speziali­siert und stand in den Kellerräumen des neuen KGB-Hauptquartiers am Südrand von Moskau.

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Mit hohem Aufwand an Devisen war das Termi­nal eingerichtet worden. Es unterschied sich kaum von den entsprechenden Anlagen im Westen von vor zehn Jahren.

Auf den Maschinen fand man die Logos von Weitürmen wie Siemens, IBM, Bull und Gary.

Seit drei Tagen fuhren die Techniker ein beson­deres Programm. Sie suchten sämtliche Daten heraus, die zwei bekannte Agenten in den letzten fünf Jahren geliefert hatten.

Da es sich um sogenannte Doppelagenten han­delte, die langfristig in westliche Geheimdienste eingeschleust worden waren, gestaltete sich die Suche schwierig. Eine objektive Beurteilung der Ereignisse schien nahezu unmöglich.

Deshalb war man im EDV-Zentrum des sowjeti­schen Geheimdienstes froh, als das Material abge­holt und ins alte Hauptquartier, in die Dzerz­hinsky-Straße, gebracht wurde.

Die Magnetbänder, die Ausdrucke, die Kopien von Fotos, Filmen und Videoaufzeichnungen füll­ten zusammen mit den übrigen Dokumenten den Kofferraum einer Wolga-Limousine.

Dieses gesamte Material wurde im alten Haupt­quartier einer nochmaligen Sichtung unterzogen. Der Experte, der wußte, um was es ging, schied noch einmal die Spreu vom Weizen. Bevor er das eingereichte Datenmaterial der KGB-Führung vor­legte, wurde es bis zum Extrakt eingedickt.

„Das sind die paar Sachen von wirklichem Wert", entschied ein Oberst in Zivil. „Jetzt ist es zur Vorführung beim General geeignet."

„Wann?" fragte der Sachbearbeiter. Der Oberst schaute auf die Uhr.

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„Sobald er im Haus ist. Spätestens vierzehn Uhr."

Die Vorführung fand im kleinen Lageraum statt. Er war wie ein elegantes Kino für nicht mehr als ein Dutzend Zuschauer ausgestattet.

Um die Leinwand gruppiert standen mehrere Clubsessel. Neben jedem stand ein Tischchen mit Lampe und Telefon. Die Vorführkabine hinter der schalldichten Mauer verfügte über moderne Wie­dergabegeräte für Bild und Ton. Filmprojektoren für die Formate von 8mm bis 35mm, Videoabtaster in Ampex-Studioqualität und einen Video-Farb­projektor. Die Platten-, Tonband- und Diskplayer füllten die linke Seite der Kabine aus.

Wie immer kam der General zu spät. Als er saß, sagte er:

„Von mir aus. Lassen Sie abfahren." Mit gedämpfter Stimme kommentierte der

Genosse Sachbearbeiter, was auf der Leinwand gezeigt wurde.

„Es geht um den Datenzu- und abfluß, soweit es die Agenten Sapritzky und Gugerman betrifft."

„Weiß Bescheid", schnarrte der General. „Wir haben alles Unwichtige herausgeschnitten." „Und was halten Sie für unwichtig?" erkundigte

sich der General spitz. „Etwa Manöverberichte der NATO aus dem Jahr

zweiundachtzig. Oder das von uns frisierte Mate­rial über die Flottenmanöver in der Sibirischen See im vorletzten Winter."

„Als uns die Ärsche abfroren", kommentierte der General. „Und was ist wichtig, bitte?"

„Alles im Zusammenhang mit der Möglichkeit, uns zu schaden", antwortete der Oberst. „Wie etwa folgendes:"

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Auf der Leinwand erschien das Bild eines U-Bootes in Größe eines Kreuzers. Es war die 30 000­Tonnen-Klasse.

„Das überließen wir Gugerman. Natürlich retu­schiert."

„Was lieferte er dafür?" „Unter anderem Zeichnungen über die Unter­

wasserform von U-Booten der Washington-Klasse."

Ein Film lief an. Er zeigte ein riesenhaftes Flugzeug auf dem

Rollfeld. Die Menschen daneben waren so klein wie ein abgebrochenes Streichholz neben dem Stamm eines Baumes.

Es handelte sich um den sowjetischen Super­transporter Antonow 225.

„Aufgenommen vor einem Jahr bei seinem ersten Flug", lautete der Kommentar. „Fluggewicht sie­benhundert Tonnen, dreihundert Tonnen mehr als der US-Großraumtransporter C-5 Galaxy. Sechs Lotarew-Turbinen. Länge achtzig Meter. Nutzlast entspricht dem Inhalt von zwanzig Güterwagen. Reichweite fünftausend Kilometer bei achthun­dertfünfzig km/h. Fähig zum Transport der neuen Buran-Raumfähre."

Der General wurde unruhig. „Und das hat man Gugerman mit nach drüben

gegeben?" „Nein. Sapritzky. Alles entsprechend entschärft

natürlich. Es sollte gigantisch wirken, einen kolos­salen Eindruck vermitteln, aber keine Einzelheiten erkennen lassen. Die Amerikaner hat es regelrecht von den Stühlen gehauen."

„Behauptete Sapritzky", spottete der General. Ein anderer Film in Amateurqualität, auf

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Super 8 mit Tele aufgenommen - also ziemlich unscharf -, lief an.

„Der amerikanische B-1-B-Bomber, Genosse Ge­neral. "

„Der flüsternde Riese, wie man ihn nennt." „Außerdem nicht ortbar. Doppelschallschnell im

Tiefflug." So ging es weiter. Gugermans Bericht über den amerikanischen

Abrams-Panzer mit Turbinenantrieb wurde erwähnt. Doch der war auch schon ein alter Hut gegen den T-88.

Gegen Ende kam mehr Material von Sapritzky. Unter anderem ein geheimer Film über amerikani­sche Weltraumsatelliten.

„Sowohl im Kosmos kreisende", flüsterte der Oberst zum General hinübergebeugt, „als auch die im Bau befindlichen und die geplanten."

„Sapritzky ist offenbar Satelliten-Experte." „Er lieferte den Amerikanern im Gegenzug

Material über unsere Kosmos-Serie-1176." „Kosmos ist fünfzehn Jahre alt und überholt." „Man gab ihm auch entschärftes Material über

den neuen Kosmos 1867 mit. Die Serie mit dem neuen Energiemeiler Topaz."

„Der auf sechshundert Kilometer Höhe kreist?" „Ja, den." „Mit dem wir jetzt Probleme haben." „Davon ist mir nichts bekannt, Genosse Ge­

neral." „Mit den thermo-elektrischen Generatoren", gab

der präzise informierte KGB-Chef preis, „haut es nicht hin."

Wenig später war die Vorführung beendet. Das

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Licht ging an. Die anwesende KGB-Führungs­spitze steckte die Köpfe zusammen. Die wichtigste Frage des Generals lautete: „Was können diese zwei Leute, von denen man behauptet, sie seien noch am Leben und möglicher­weise ihren früheren Arbeitgebern unfreundlich gesinnt, was können Sapritzky und Gugerman mit ihren Kenntnissen anrichten? Was vermögen sie gegen uns einzusetzen? Womit können sie unsere Sicherheit gefährden?"

„Mit so gut wie nichts", lautete der einhellige Standpunkt. „Was sie kennen, ist Schnee von gestern. Die NATO interessiert nur Schnee, der übermorgen fällt."

„Immerhin", gab der General zu bedenken, „sol­len sie die CIA um mehrere Millionen V-Mann-Dollar erleichtert haben."

„Das würde in unserem System nie passieren, Genosse General." Der General stand auf, zog die Litewka glatt. „Hoffen wir es, Genossen, hoffen wir es. Und weil wissen besser ist als glauben, werden wir verflucht aufpassen. Rechnen Sie bis zu dem Zeitpunkt, an dem die beiden aus dem Verkehr gezogen sind, noch mit jeder nur denkbaren Schweinerei. Ich verlasse mich auf Sie, Genossen. Danke und gute Weiterarbeit."

Der General marschierte, begleitet von seinem Adjutanten, hinaus. Im Lift fluchte er: „Wo, verdammt, halten sich die beiden auf?" „Daran arbeiten auch die westlichen Dienste." „Zum Teufel, die Erde ist doch nur rund." „Vielleicht liegt es daran, Genosse General", bemerkte der junge Gardemajor.

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Im NATO-Hauptquartier Brüssel arbeitete ein Computer mit dem gleichen Programm wie der beim KGB. Auch das Thema der Konferenzen ähnelte dem der Sitzungen in Moskau.

Es ging darum, was Sapritzky und Gugerman wissen konnten, was davon Spielmaterial und was heiß war. Womit konnten sie der Sicherheit des westlichen Bündnisses schaden?

Gleichzeitig begann in Europa und Übersee die Suche nach den Doppelagenten. Sogar Polizeiorga­nisationen wie der Yard, die Sûreté, die spanische BIS, das Bundeskriminalamt, FBI und Interpol wurden eingeschaltet.

Dies, obwohl die Fachleute von vorneherein abwinkten.

Sapritzky und Gugerman galten als Experten von hohen Graden. Sie kannten alle Fahndungsge­wohnheiten und wußten, daß sich weltweit gesuchte Personen meist nur durch Zufall im Netz fingen.

Selbst diesen Zufall würden sie möglichst auszu­schalten versuchen.

Außer den offiziell arbeitenden Polizeiorganisa­tionen gab es noch die Under-cover-Agenten und den V-Mann-Bereich.

Diese Leute, meist Ganoven, Kleinkriminelle, Spitzel oder eingeschleuste Polizisten, die im Untergrund lebten, hatten überallhin Verbindun­gen. Sie hockten in Cafes, Bars und Nachtclubs, sie standen an den Straßenecken, hielten Augen und Ohren offen. Sie waren die wirksamsten Fühler am Puls der Unterwelt. Ohne sie ging nichts, gegen sie ebenfalls nichts.

Rasch sprach es sich bei den Zuträgern zwischen

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Oslo und Rio, von Kalifornien bis in die hintere Türkei herum: Für sachdienliche Hinweise, den Verbleib von zwei Männern betreffend, wurden hohe Belohnungen ausgelobt. Beträge von zehntau­send Dollar aufwärts, ohne die üblichen bürokrati­schen Verfahren.

Aber die Höhe des Kopfgeldes stand im umge­kehrten Verhältnis zu den Ergebnissen.

Einige Male gab es falschen Alarm. Die Szene war trocken wie ein Faß mit offenem Spundloch.

Captain Sapritzky und Colonel Gugerman waren und blieben abgetaucht.

13.

„Friede!" bot Helen Lister mit vorgestreckter Hand.

Urban blieb vorsichtig, als würde eine Klapper­schlange ihm ihre Klappern zum Steicheln hinhal­ten. Vor wenigen Minuten hatte sie angerufen, und schon war sie da. - Das sah verdammt nach Plan aus. Er traute ihr alles zu.

Trotzdem kam sie ihm gehemmt vor, mit merk­würdig zittrigem Zucken um die Mundwinkel.

„Friede!" bot die rothaarige Nachrichtenhändle­rin noch einmal an.

„Komm herein", sagte Urban. Im Entree wiederholte sie ihren Antrag zum

dritten Mal. „Okay", sagte er. „Dann schlag ein." „Was soll das?" „Ein Händedruck ist ein Händedruck."

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„Für dich bedeutet das doch gar nichts. Weniger als für einen Pferdetäuscher."

Sie schaute sich um, schritt durch die runde Diele mit der Lichtkuppel, dann die Stufen hinun­ter zur Wohnhalle.

„Nichts hat sich verändert." „Wir", sagte Urban, „wir schon." Sie blieb stehen, atmete tief den Duft von Holz,

Leder und verschüttetem Whisky ein. „Du meinst dich." „Uns", verbesserte er, „zwischen uns ist vieles

anders." Als sie zum ersten Mal bei ihm gewesen war — es

lag so lange zurück, wie ein menschlicher Körper benötigte, um sich bis in die letzte Zelle hinein auszutauschen, also gut und gern sieben Jahre —, hatte sie gerade angefangen. In einem gebrauchten Käfer war sie durch die Lande gefahren. Ausge­stattet mit dem wenigen, was ihr Vater an Geld hinterlassen hatte, aber dem vielen, was ihr an Körper, Hirn und Charakter vererbt worden war. Jetzt besaß sie drei Autos, eine Luxuswohnung, flog nur erster Klasse und hatte Konten in der Schweiz. — Heute galt Helen Lister als As in dieser Männerbranche. Aber manches erinnerte ihn an damals.

„Eh bien, auch zwischen uns", pflichtete sie ihm bei. „Bis auf zwei Dinge: Wir verstanden uns immer gut im Bett und waren nie fair zueinander."

Ein wenig betroffen fragte er: „Kaffee, Champagner, was Hartes?" „Wie wär's mit mittelhart und aufregend? Mokka

mit Cognac." „Irish coffee."

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„Ist doch out. Nein, starken Kaffee mit einem Schuß Okasa brutal."

Kaffee hatte er immer vorrätig, Cognac auch. Er war nur eine Minute weg und beobachtete,

daß sie sich vom Sofa zum Fenster und von dort wieder zum Sofa bewegt hatte.

„Eigentlich müßte ich dir in die Eier treten, du Kanaille", bemerkte sie.

Urban stand da, links die Kanne, rechts die Tasse, unter dem Arm die Flasche.

„War da nicht was mit Friede und so?" „Friede, obwohl du mir ein Bombengeschäft

vermasselt hast." „Es ist mein Job", erklärte er. „Und ich bin dir

nichts schuldig." Sie lehnte sich zurück und ließ es zu, daß der

weichfließende Rock aus cremefarbenem Material hoch über ihr Knie rutschte.

Urban wußte, wie es von da ab weiterging. Sie trug nie Strumpfhosen, aber auch keine Strapse, sondern Strümpfe, die oben einen raffiniert einge­webten Gummizug mit Spitze hatten. Bei hellen Strümpfen in Weiß, bei dunklen in Schwarz. Grün hätte zwar am besten zu ihrem roten Haar gepaßt, aber grüne Seide sah immer ein wenig verschim­melt aus.

Sie trank, und ihr wurde warm. Sie knöpfte die Bluse auf. Darunter trug sie keine Stütze für irgend etwas.

„Starr mich nicht so an", sagte sie. „Meine Titten halten auch so. Du kennst sie."

Kopfschüttelnd füllte er seinen Bourbonbecher, steckte sich eine MC an, rauchte und schaute der Wolke nach.

„Du bist vielleicht ein Herzchen."

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„Das Herzchen", sagte sie, „hat ein Geschäft für euch."

„Deine Geschäfte kenne ich." „Keine Ahnung hast du Fuzzy." „Welche geklauten Dokumente soll ich dir heute

abkaufen?" Sie bekam wieder dieses zittrige Lächeln. „Was ich habe, ist eine geballte Ladung Asphalt,

gerade richtig zum Auffüllen des riesigen Loches in der Autobahn München-Bonn-Brüssel-Wa­shington."

„Seit wann arbeitest du für den Straßenbau, Helen?"

„Idiot. Ich meine, das Loch, das Sapritzky und Gugerman gerissen haben."

Urban drehte sein Glas in den Fingern. „Sie arbeiten für dich. Seit wann schlachtest du

die Kühe, die dein Joghurt liefern?" „Sie wollten mich umbringen." Helen Lister erzählte die ganze Geschichte. Sie

malte sie nicht besonders aus, schmückte sie aber mit einigen drastischen Pointen.

„Habe mir glatt den Schlüpfer vollgepißt, glaub mir."

Wenn er ihr glaubte, dann mußte es eine heiße Situation gewesen sein. Der Eisberg war nahe am Abschmelzen gewesen. Sie hatte jetzt noch Angst.

„Was kannst du schon bieten, du Satansbraten?" „Infos über S und G." „Die brachten die Augen von zehntausend Fahn­

dern in Ost und West nicht zusammen." „Bin ich etwa irgendein beschissener Geheim­

dienst?" brauste sie auf. „Wo also sind die beiden?" „Ich weiß es."

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„Was haben sie vor?" „Ich ahne es." „Und woher stammt dein Wissen? Sie erzählen es

keinem, und dir erst recht nicht." „Aber sie ließen unbedacht etwas heraus, weil

sie die anwesende Dame für tot hielten. Totes Ohr, tote Augen, toter Mund."

„Kein Interesse", tat er es ab, obwohl derzeit nichts wichtiger war. Aber er hoffte, es auch so zu kriegen. Denn eines stand fest: Sie hatte Angst. Und die brauchte er nur ein wenig zu schüren.

„Sie legen dich um", prophezeite er. „Sie sind Killer."

„Haben sie schon mal versucht." „Wenn sie merken, daß es mißlang, werden sie es

dreimal so sicher erledigen. Sie werden, dir Gift spritzen, dir eine Kugel verpassen und dich dann von einem hohen Felsen ins Meer werfen. Mit Bleigewichten an den Füßen."

Sie hatte mitgezählt. „Das wäre vierfache Sicherheit." „Für sie", bemerkte Urban. „Aber Sicherheit für

dich kann nur einer bieten." Sie lachte hellauf. „Du etwa?" „Denn die anderen fassen dich nicht mit der

Kohlenzange an." „Mag sein." Sie trank hastig und wurde ziemlich still.

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Sie zog sich aus und sprang in den kleinen 4x6­Terrassenpool. Obwohl das Wasser nicht gerade taufrisch war und Blätter und Insekten darin trieben, kühlte es ab.

Als sie genug hatte, kletterte sie aus dem Becken und duschte.

Vom Englischen Garten herüber, durch eine Straßenschneise verstärkt, wehte ein frischer Wind über das Penthouse. Mit einemmal fröstelte sie. Sie bekam Gänsehaut und warf sich in Urbans Arme.

„Bitte wärme mich." „Ich habe Decken." „Nein, keine Decken. Du." „Wie? Mit dem Tauchsieder?" „Du Schwein." Aber sie ließ ihn nicht los, sondern klammerte

sich an ihn, als wäre er der letzte Mann auf Erden. Sie fror nicht nur, sie hatte vor allem Angst. Ganz einfache proletarische Angst. Und das bei einer eiskalten Lady wie Helen Lister.

„Du bist ein Casanova", sagte sie, „ein geiler Bock. Du bist gemein und unfair, aber eins bist du nicht, brutal zu Menschen."

„Und Tieren", ergänzte er. „Auch nicht zu mir." „Zu dir schon, denn du bist ein Roboter." „Nein, nur ein Weib", flüsterte sie, „ein verrück­

tes. Weiß der Satan, wie ich es so lange ohne dich aushallen konnte."

„Noch einmal sieben Jahre ohne mich, und du weißt es."

„Vorher sauge ich dir alles Blut ab und fresse dich auf."

„Gesegnete Mahlzeit, Madame."

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Sie begann an seinem Hemd und am Gürtel zu fingern.

Er bewegte das Kinn nach links. Sie verfolgte die Richtung. Sie führte zum Maisonette des Penthou­ses. Dort oben stand dieses Monstrum von Him­melbett mit Geschichte. Ein Dorfschmied, der in Bayern Revolution gemacht hatte, soll darin geschlafen haben.

„Wie hieß er doch, der Typ?" „Schmied von Kochel." „Was bedeutet Schmied auf französisch?" fragte

sie. „Hammer und Amboß", log er. „Und wer ist was?" „Mal gucken", schlug er vor. Sie gingen nach oben und spielten alle Variatio­

nen des Schmiedehandwerks durch. Es wurde Nachmittag und Abend, dann kam die Nacht. In der Dunkelheit bekam sie es wieder mit der Angst zu tun.

„Ich komme erst zur Ruhe, wenn die beiden gefaßt sind", gestand Helen Lister.

„Dann hilf mir." Mit einemmal war von Geschäft nicht mehr die

Rede. „Ich behauptete", setzte sie an, „ich wüßte

etwas. Es war geblufft, wie immer. Ich weiß nichts. Nur ein paar Verdachtsmomente. G und S suchen ein Refugium. Anscheinend haben sie es ge­funden."

„Refugium welcher Art? Ein Haus in Portugal, eine Burg in der Toskana, eine Insel in den Schären vor Stockholm?"

„Eine Insel möglicherweise im Süden."

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„Verdammter Süden", sagte Urban. „Der Süden ist zehntausend Meilen breit und lang."

„Sie befragten einen Makler in Cannes. Calderon oder so. Und sie wollten den Namen des derzeit führenden arabischen Terroristen haben, egal ob PLO, AMAL oder von der Volksfront zur Befreiung Palästinas. Ich konnte ihnen nicht helfen."

Endlich etwas Konkretes. Hier mußte er ein­haken.

„Und was haben sie vor?" „Kannst du dir vorstellen", fragte sie, „was ein

Mann wie Sapritzky mit einer Sternwarte zu tun hat?"

„Nie und nimmer", gestand Urban. „Aber wenn man bedenkt, daß Männer wie Gestapo-Heydrich die Geige spielte und Himmler Hühner züchtete, daß Hitler malte und Nero Gedichte schrieb . . ."

„. . .und Helen Lister Dynamit liebt", ergänzte sie.

„ . . . dann ist alles möglich", beendete Urban seinen Satz.

In Gedanken war er schon weit weg und über­dachte die nächsten Schritte.

„Du bist so stumm", stellte sie fest. Er hatte nur Kopfschmerzen und suchte seinen

Hausarzt auf. Manchmal war es eben zuviel, so wie heute.

Sein Arzt hieß Pyrin, Vorname Thoma. Er war rund und weiß und wohnte im Badezimmer­schrank. Eine Tablette. Urban drückte eine Tho­mapyrin aus der Folienpackung und warf sie in den Hals.

Wieder bei Helen, fragte er: „Kennst du den Struwwelpeter?" „Den mit den langen Haaren und den langen

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Fingernägeln? Ja, den gibt es auch auf franzö­sisch."„Darin kommt folgende Stelle vor . . ."„Seit wann merkst du dir Gedichte?"„Konrad, sprach die Frau Mama", zitierteUrban, „ich geh' aus, und du bleibst da."„Und wer ist Konrad?" fragte Helen Lister.„Du", sagte Urban.

14.

Pro Monat mußten sie für knapp zwei Quadratkilo­meter Land und einen ehemaligen Bunker, den man mit Farbe zu einem Bungalow umgemalt hatte, 1200 Dollar hinblättern. Aber der Mietver­trag enthielt eine Klausel mit Vorkaufsrecht.

„Er will eine halbe Million dafür. Für dieses verkackte Eiland", motzte Gugerman.

„Aber die Lage", schwärmte Sapritzky, „die Lage ist einfach gut. Genau auf der Grenze zum Niemandsland."

„Niemandswasser", präzisierte Gugerman. Sie hatten den Vertrag in der Stadt perfekt

gemacht, dann einen Kutter gekauft, ein altes, aber robustes Kaiki mit einem Mercedes-Diesel. Den Kutter hatten sie vollgepackt, als wollten sie damit die nächste Eiszeit komfortabel überleben.

Leute wie sie hatten gewisse Ansprüche. Sie verlangten etwas mehr als Schlafsack, Zahnbürste und eine Dose Ölsardinen zum Abendessen.

Die tonnenschwere Survival-Luxusausrüstung war so aufgeteilt, daß ein kräftiger Mann die Kisten an Land karren konnte. Kein Problem stellten auch die Kleinmöbel und die elektronische

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Ausrüstung wie Fernseher, Radio und Funkstation dar. Die ersten zehn Tonnen Dieselöl für Heizung, Kühlung und den Generator wollten sie in faltba­ren Kunststofftanks lagern. Das Umfüllen besorgte eine kleine Motorpumpe.

Das einzige und echte Problem, abgesehen von der Wahrung ihrer Anonymität, war die Stromer­zeugung, Der nötige Dieselgenerator, ein Langläu­fer, der wenigstens zehn KW lieferte, wog ungefähr so viel wie ein mittlerer Personenwagen. Zwar konnte man ihn auf einem Transportschlitten mit Hilfe von hydraulischen Kettenzügen an Land bringen, aber dieses Problem hoben sie sich für den Winter auf. — Vorerst begnügten sie sich mit zwei Honda-Generatoren des stärksten Typs. Jeder lei­stete zwei KW. Der Stundenverbrauch lag lächer­lich niedrig, und tragen konnte die Dinger ein Mann.

Am Nachmittag befand sich alles an Bord. In der Dämmerung verließen sie den Hafen von

Kiparissi. Als sie das Leuchtfeuer auf dem Cap passierten, kam die Dunkelheit herein.

„Kurs Ost", sagte Gugerman. „Immer nahe am siebenunddreißiger Breitengrad

entlang", las Sapritzky die Karte. „Ich konnte noch nie so scharf auf 'ner Visierlinie bleiben, um nach Hause zu kommen."

„Noch ist es nicht unser Zuhause." „Aber bald." Sapritzky hantierte im Ruderhaus mit Zirkel

und Lineal. Vom Kartenrand griff er die Zwanzig-Meilen-Distanz ab und bestimmte mit Zirkel­sprüngen die Entfernung bis zum Ziel.

„Dreizehn mal zwanzig Meilen macht zweihun­dertsechzig. Wir laufen neun Knoten in der

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Stunde. Zweihundertsechzig durch neun macht rund dreißig. Dreißig Stunden. Also übermorgen um Mitternacht. Prost Mahlzeit."

Gugerman blickte über die kaum gekräuselte See.

„Wenn das Wetter so bleibt." Von der Ausbildung her waren sie Piloten, aber

auch im Umgang mit Yachten und Booten einiger­maßen geübt. Zu Kenntnissen in Navigation kam ein wenig Seemannschaft.

Gugerman schnupperte in den Wind.„Das Wetter bleibt."„Das weißt du vom Radio."„Und von meiner Nase."„Dreißig Stunden, ganz schöner Riemen",

bemerkte Sapritzky. „Aber Exklusivität kostet dreierlei: Geld, Geduld und Einfallsreichtum."

„Ich haue mich aufs Ohr!" rief Gugerman. „Ablösung zwei Uhr. Okay?"

Der Mond kam heraus. Noch stand er tief und leuchtete rot. Doch je höher er stieg, desto größer und gelber wurde er.

Sie begegneten kaum Schiffen. Gegen Morgen kam die erste der großen Inseln in Sicht. Sie umfuhren die Gruppe durch eine geringfügige Kursänderung.

Am Mittag hatten sie wieder offenes Meer vor sich. So würde es bleiben, bis zu jener unsichtba­ren Grenze, welche die Hoheitszonen der beiden Mächte trennte.

Und genau dort lag ihre neue Heimat.

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Sie hatten die Ausrüstung an Land geschleppt. Nun säuberten sie den Bungalow, der im letzten Krieg ein Bunker gewesen war, Später hatten hier jahrelang Mitglieder einer Aussteigerkommune gehaust, bis der Eigner der Insel sie entdeckt und verjagt hatte.

Einrichtung, Wohnbarmachung, Installation der Geräte, Übernahme von Kraftstoff in die Falt­tanks, das alles nahm zwei Tage in Anspruch.

„Du kochst nicht übel, Captain." „Und du hast einen gesegneten Appetit, Co­

lonel." „Wenn alles vorbei ist, werden wir uns Weiber

rüberholen. Für dies und das." „Und besonders für jenes", ergänzte Sapritzky.

„Aber nur schöne Frauen." „Schönheit ist auf diesem Teil der Erde wenig

gefragt." „Nun, zum Repräsentieren gibt es wenig Gele­

genheit", stimmte Sapritzky ihm zu. „Morgen haue ich ab. Wird höchste Zeit."

„Wann triffst du ihn?" „Er wartet von übermorgen an jeden Abend in

einer Kneipe in Üskidar." „Wer kam auf Üskidar?" „Er." „Sieh zu, daß es keine Falle ist", riet Gugerman. „Was soll er mir nehmen? Meine Brieftasche? Ein

Mann, der über Millionen verfügt. Lachhaft!" „Vielleicht", äußerte Gugerman, „will er billig

an das kommen, was du im Kopf hast." „Ich hab' noch nichts. Die Fakten mußt du

beschaffen." „Ja, ich werde in die sowjetische Botschaft

einsteigen. Ich weiß auch schon wie. Jeder KGB­

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Offizier — und jede Botschaft hat einen davon — besitzt Material darüber. Zumindest Anweisungen, um die Öffentlichkeit zu beruhigen, falls es zu Protesten kommt. Aber wichtig ist die Berechnung der Sterngucker."

„Ich habe einen Freund, der ist Astronom auf der Elbrus-Station im Kaukasus. Ich rufe ihn an."

„Wenn du durchkommst." „Sie haben vom Westen mehrere Dutzend Lei­

tungen in die UdSSR geschaltet. Neuerdings." Sapritzky packte seine Reisetasche, tat aber nur

hinein, was er brauchte. Gemäß dem Rat von Sven Hedin, des großen Forschungsreisenden, der lau­tete: Nimm nie etwas mit, auf das du verzichten kannst, und nimm nie etwas mit, das unersetzlich ist.

Etwas später kam Gugerman herein. „Die Mücken." „Davon steht nichts im Mietvertrag." „Wir besorgen uns ein Faß DDT. Du fährst also

bis Bodrum mit dem Kutter." „Von dort mit der Bahn oder dem Flugzeug." „Aufpassen bei der Zollkontrolle." „Gibt nichts zu verzollen an Bord", sagte

Sapritzky und war wenig später eingeschlafen.

Nach vier Tagen war der Captain wieder zurück. Gugerman hatte Speck mit Eiern in der Pfanne

gebraten und Brot aus Fertigteig gebacken. Dazu tranken sie starken, geharzten Wein von den Inseln.

„Gibt jede Menge Fische hier", sagte Gugerman.

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„Allein davon kannst du satt werden. Und wie war es in Üskidar?"

Erst fluchte Sapritzky. „Hafez el Kassar war gar nicht da." „Diese verdammten Palästinenser." „Er hat seinen Bruder Kassem geschickt. Kom­

mandant Kassem, zweiter Mann im Generalkom­mando der PFLP."

„Der Bruder ist immer nur der Bruder." „Er hatte Volknachten." „Red schon, ist er interessiert?" „Sie wollen ihr Recht und ihre Freiheit für

Palästina, egal wie. Ob sie dem Gegner nun was aufs Auge geben, ins Hirn oder wer weiß wohin."

„Haben sie Experten, die damit umgehen können?"

„Ja, irakische Techniker oder auch Libyer. Sie kriegen jeden, den sie brauchen. Daran besteht kein Mangel."

„Und bei Geld?" Sapritzky winkte ab. „Erst recht nicht. Die Saudis überweisen jeden

Monat eine Million Dollar. Die Kuwaitis auch. Im Grunde sind alle Erdölbonzen auf ihrer Seite. Plus Ägypten."

„Armes Israel", bemerkte Gugerman. „Fünfhunderttausend Dollar", fuhr Sapritzky

fort, „sind abgemacht." „Wir dachten an eine runde Million." „Das ist ihnen zuviel. Sie rechnen dir das Risiko

beim Abholen vor." „Das Zeug liegt in der Wüste wie auf einem

Teller." „Noch nicht. Leider." „Es wird dort liegen, weil es ein Naturgesetz ist

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und nur Gottvater es verhindern könnte. Es wird dort liegen wegen der Schlampigkeit sowjetischer Ingenieure."

„Noch wissen wir nicht genau, wann und wo." „Was sagt das Observatorium im Kaukasus?" „Ich kam nicht durch." „Dann werde ich es versuchen." „Ja, es ist deine Aufgabe", sagte Sapritzky, „und

die Beschaffung der Pläne, wie sie es demontieren, ohne sich dabei umzubringen."

„Ich fahre morgen", erklärte Gugerman, hatte aber noch Einwände. „Der Preis ist schlecht. Allein ein Kilo so reiner Ware kostet auf dem Markt Hunderttausende. Falls du sie bekommst."

„Sie rechnen die Kosten hoch. Man kann das Zeug nicht einfach mitnehmen und morgen zum Einsatz bringen. Sie müssen noch Millionen rein­buttern, bis es soweit ist."

„Na ja, fünfhunderttausend", sagte Gugerman. „Besser als auf die Hand geschissen. Ich haue mich hin. In wenigen Stunden ist die Nacht um."

Gugerman blieb länger fort als geplant. Als er endlich zurückkam, wurde die Zeit knapp.

Er war in der Hauptstadt jenes Landes gewesen, dessen Küste im Fernglas zu sehen war. Er hatte sie mit Bus, Bahn und Mietwagen erreicht. Dann hatte er das Gelände der Botschaft beobachtet. Vor Jahren war er einmal dort gewesen, um Material über US-Basen in Anatolien abzuliefern.

Jetzt würde man ihn vielleicht hineinlassen, aber gewiß nicht mehr heraus. Klar, daß das Botschafts­personal, zumindest die KGB-Leute, über den Fall

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informiert waren. Also hineingehen und mit den Kollegen Tee trinken, das ging nicht.

Aber dann schaffte er es doch, nämlich als Beifahrer eines Brotlieferanten, den er mit umge­rechnet zweihundert Dollar bestochen hatte.

Der Bäcker lud seine Sesamkringel ab, und Gugerman blieb im Keller und versteckte sich.

In der Nacht, als alles still war, schlich er nach oben zum Büro des KGB-Residenten. Die Sicher­heitsanlagen waren in allen Botschaften gleich, eine zwanzig Jahre alte Konstruktion. Er über­brückte die Sensoren mit Kaugummi, die Schnapp­relais mit einem Streifen Papier.

Die Tür war offen, nur der Safe war zu. Aber er fand den Schlüssel im Blumentopf.

Im Safe lag die Akte, die Sapritzky ihm genannt hatte. Gugerman riß das Blatt, auf das es ankam, heraus. Sie würden den Verlust erst merken, wenn sie gezielt danach suchten. Wahrscheinlich merk­ten sie es nie.

Als er das Botschaftsgebäude durch den Garten verließ, lief er in die Runde eines Wachtpostens. Der Hund schlug an, der Soldat rief: „Stoi! Stoi!" Aber da war er schon über die Mauer und rannte um sein Leben.

Was Gugerman aufgehalten hatte, war das Tele­fongespräch mit der Elbrus-Sternwarte im Nord­kaukasus.

Er versuchte es vom Hotel aus, dann beim Postamt. Immer wieder kam die automatische Ansage: Die Leitungen in die UdSSR sind derzeit gestört.

Da keine Aussicht bestand, daß sich das so bald ändere, fuhr er wieder zur Küste. Dort angelangt,

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versuchte er es im Landpostamt der kleinen Hafen­stadt noch einmal.

Jetzt endlich kam er durch. Der Radioastronom, den Sapritzky kannte, war

nicht da, wurde aber herbeigerufen. Gugerman richtete ihm Grüße von Sapritzky aus.

Offenbar war der Astrophysiker dem Exagenten einen Gefallen schuldig. Auf den Code K-67 ange­sprochen, bestätigte er, was bis jetzt nur wenige wußten. Er nannte Sapritzkys Partner, den er wegen seines flüssigen Russisch ebenfalls für einen Agenten hielt, die Stunde und den Ort.

„Wie genau ist das?" wollte Gugerman wissen. „Plus minus hundert Meilen, plus minus hundert

Minuten. Man weiß nie, wie sich so ein Apparat verhält. Zwar können wir die derzeitigen Positio­nen und die Flugbahn mit Radar und Laser vermessen, aber was wir nicht beeinflussen kön­nen, sind die natürlichen Gegebenheiten auf dem Weg zur Erde. Gott kann immer noch was zwi­schenhalten. Den Daumen, den kleinen Finger oder auch nur den Fingernagel. Aber unsere Berechnun­gen sind so genau wie möglich."

Gugerman hatte sich bedankt. Nachdem er seinem Partner alles übermittelt

hatte, sagte er abschließend: „Das war es dann." „Damit wird es gelingen." „Wirklich?" „Ich bin sicher." „Und wenn", setzte Gugerman vorsichtig an, „es

nicht hinhaut? Wenn das Risiko zu hoch ist und wir dabei draufgehen? Du kennst diese arabischen Terroristen. Man verkauft ihnen was, liefert nicht

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zu ihrer Zufriedenheit, und sie jagen dich bis ans Ende der Welt."

„Es sind studierte Leute", wandte Sapritzky ein. „Sie wissen, um was es geht. Sie wissen um die Schwierigkeiten und daß es sich nicht um einen Schuß aus zehn Meter Entfernung auf eine Ziel­scheibe handelt. Allah schickt es für sie vom Himmel. Ein wunderschön verschnürtes Geschenk­paket mit einem Inhalt, nach dem sie sich seit Jahren sehnen. Sie wissen, daß die Post es bringt. Das ist so sicher wie Tag und Nacht. Nur gibt es noch das Wetter. Es ist mal so, mal anders. Schon ein paar Regentropfen haben Einfluß. — Noch können wir raus."

„Wegen der fünfhunderttausend Dollar tun wir es nicht", sagte Gugerman. „Aber wie willst du jemals gut schlafen, wie willst du jemals in den Spiegel sehen, ohne dich vor deiner Visage zu ekeln? Willst du dich täglich anspucken? Nein, nicht mit mir. Ich lasse mich kaputtmachen, aber nie, niemals, hörst du, auf diese hinterhältige Art wie den letzten Dreck behandeln. Von nie­mandem."

„Okay", sagte Sapritzky. Gugerman hatte gesagt, was er fühlte und

dachte. Jetzt war er müde, als hatte er einen Monat lang Strafarbeit geleistet. „Morgen hauen wir von hier ab."

„Für 'ne Woche." „Ich freu' mich auf die Rückkehr", gestand

Gugerman. „Ist schön, hier zu leben."

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15.

Der Sea-king-Hubschrauber der griechischen Armee war von der NATO-Basis auf der Insel Kos gestartet. Nun flog er tief über dem Wasser an der Kette jener Inseln entlang, welche die Sporaden genannt wurden.

An Bord des Sikorsky-S-61, so lautete seine korrekte Typenbezeichnung, befanden sich neben griechischen Armee- und Marineoffizieren auch Agenten des griechischen Geheimdienstes, ein Mann der CIA und ein deutscher Agent, der die Operation in Gang gesetzt hatte.

„Wir fliegen verdammt dicht an der türkischen Grenze entlang", sagte der Geheimdienstoberst zu Urban. „Unsere lieben Verbündeten mögen das gar nicht."

„Haben Sie den Flug angemeldet?" „Das schon, aber wenn die Türken was in ihr

Radar kriegen, spielen sie gleich den wilden Mann."

Wie ihr, dachte Urban, genauso wie ihr auch. — Es war ein jahrhundertealter Kampf um den Einfluß in der Ägäis, um Grenzen, um Inseln, um öl, um wer weiß was. Sie waren NATO-Partner, die Griechen und die Türken, aber sie umarmten sich und küßten sich so gern wie Bruder und Schwester.

„Sind Sie auch sicher, Oberst Urban?" fragte ein Marine-Offizier.

„Ganz", erklärte Urban. „Diese Insel ist nicht auf allen Karten ver­

zeichnet." „Privatbesitz." „Und praktisch im Niemandsland."

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„Deshalb wurde sie ausgesucht." „Kathos, östlich von Kalolimnos, das gibt's ja

gar nicht. Da hört die Welt auf." „Die hellenische", schränkte Urban ein. „Es gibt

aber noch einen Rest der Welt." „Und die soll dort beginnen?" „Sie haben es sich gut ausgesucht, die beiden." „Falls Sie sich nicht irren." „Ausgeschlossen", sagte Urban, noch guten

Mutes.

Sie hatten den französischen Makler wirklich zur Schnecke gemacht.

Als sie Monsieur Calderon endlich auf der Poli­zeistation in Cannes hatten, war er noch lange nicht aussagebereit gewesen. Er hatte nach seinem Anwalt verlangt.

„Monsieur", hatte der Commissaire gesagt, „gut, Sie kriegen Ihren Anwalt. Aber auch der wird Sie nicht so bald aus der U-Haft herausholen. Nicht mal gegen Kaution."

„Was wirft man mir vor?" schrie der Makler forsch.

„Mitwisserschaft und Unterstützung eines Ter­roranschlages gegen die Sicherheit der NATO."

„Scheiß-NATO!" schimpfte der Immobilienkauf­mann.

„Und gegen die Europäische Gemeinschaft." „Scheiß-EG", fluchte der Makler, „verdammte!" „Was anderes als merde fällt Ihnen wohl nicht

ein?" erwiderte der Commissaire. „Dann sage ich: Unterstützung eines Anschlages gegen die Sicher­

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heit Frankreichs. Und damit kriegen wir Sie am Arsch, mein Guter."

Der Makler, ein gutverdienender cleverer Mann, aber wie die meisten in seinem Gewerbe kein besonders feiner, verstand diese Sprache.

Aber er war wütend. Man hatte ihn beim Diner mit einer Blondine festgenommen.

„Diese Polizeimethoden stinken mir", tobte er. „Das kostet euch eure sturen Beamtenköpfe."

„Vielleicht, Monsieur, aber vorher kostet es noch Ihre Lizenz", wurde ihm entgegnet.

In dem Punkt Geschäfte und deren amtlicher Behinderung war der Makler Calderon empfindlich zu treffen. Wenn man ihm die Lizenz nahm, sei es wegen Unkorrektheit oder ähnlichem, machte ihn das fertig. Und diese Scheißbullen waren imstande dazu.

„Makler", sagte der Commissaire, „sind alle Ganoven. Wenn wir dir etwas nachweisen, bist du reif. Dann kannst du Kippen sammeln gehn, Compris?"

Der Makler hatte noch lange nicht compris. Erst nachdem Urban ihn mit Psychofoltertricks in die Mangel genommen hatte, platzte endlich sein Luft­ballon, und er fiel unsanft auf die Erde zurück.

Er identifizierte die Fotos von Sapritzky und Gugerman.

„Aber sie sehen jetzt anders aus." „Wie?" „Der eine schlanker, der andere jünger." „Und wo sind sie jetzt?" „Keine Ahnung. Die Beurkundung des Vertrages

fand in Athen statt." „Aber Ihre Provision kassierten Sie hier?" „Hätten Sie das etwa nicht?"

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„Und ohne sie zu verbuchen und zu versteuern", ergänzte der Commissaire.

Nun hatten sie ihn. Er war in die Enge getrieben. Sie erhielten von ihm, was sie wollten, nämlich den Ort, an den S und G sich zurückgezogen hatten.

Es handelte sich um eine Insel in der Ägäis in der Nähe der umstrittenen türkisch-griechischen Grenzlinie, die sie jetzt ansteuerten.

„Mehr", sagte Urban zu dem griechischen Offi­zier, „weiß ich nicht. Aber ich bin sicher, daß es stimmt."

Da sie nicht wagten, auf einer Insel in einem Seegebiet, das sowohl die Türkei wie Griechenland als Hoheitszone beanspruchten, zu landen, ging der Sea-king-Hubschrauber auf Kalolimnos herunter. Sie hatten ein Schlauchboot mit Motor dabei. Das bauten sie zusammen und bliesen es auf.

Kathos war nur vier Meilen entfernt und mit bloßem Auge zu erkennen. Urban und der CIA-Offizier machten sich auf den Weg.

Zwei Touristen bei einem Inseltrip. - Vorsichts­halber hatten sie Maschinenpistolen und Bazookas an Bord.

Die Insel war leer wie ein ausgeblasenes Hühnerei. Von Macchie überwucherte Hügel und ein paar

schiefgewachsene Schirmpinien, mehr gab es nicht. - Aber sie fanden Spuren von Menschen.

„Ich bin Abfallspezialist", sagte der Amerikaner und kümmerte sich um die Müllgrube.

Urban nahm sich den Bunker vor. — Noch nie hatte er einen Bunker gesehen, der so geschickt zu

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einem Bungalow umfunktioniert worden war. Der dicke Beton bildete eine natürliche Klimaanlage. Das Mobiliar, die Vorräte, die Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik, alles war neu, die Zei­tungen im Ständer kaum eine Woche alt, die Bücher in den Regalen kaum gelesen.

Aber eines war klar. Die Firma S&G hatte ihre Fluchtburg verlassen, vielleicht auch nur für kurze Zeit. Und die Wahrscheinlichkeit, daß sie einen großen Coup landeten, war gegeben; fragte sich nur wie, wo und wann.

Der Amerikaner kam herein. „Was gefunden, Colonel?" „Fehlanzeige." „Die Abfälle liegen kaum zwei Tage auf dem

Kompost." „Hol's der Teufel!" fluchte Urban. „Wäre zu

schön gewesen, sie hier anzutreffen." „Wann bekamen wir je etwas geschenkt?" Urban stocherte im Kamin herum. Auf halber

Höhe des Feuerlochs befand sich ein gußeisernes Gitter, auf dem man Koteletts grillen konnte. Aber die Asche gab nichts her.

Sie suchten weiter, und bald suchten sie ver­zweifelt. Am Ende blätterte Urban sogar in den Büchern.

Er fand eine Menge von Hemingway, von Dos Passos, von Ruark, von le Carré und über Welt­raumtechnik, aber keine brauchbaren Hinweise.

Nahe daran aufzugeben, schaute er die Magazine durch. Es gab welche in allen Sprachen. Kein Wunder, Topagenten wie S und G beherrschten neben Englisch noch Französisch, Spanisch, Italie­nisch und Russisch.

Als einziges der Hefte klemmte das Timemagazin

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aufgeschlagen im Ständer. Demnach hatte sich einer der beiden Gesuchten mit diesem Artikel befaßt.

Urban überflog ihn und fand am Rand eine vierzehnstellige Ziffer.

Er rief den CIA-Kollegen. „Was hältst du davon?" Der Amerikaner überflog die Seite und bekam

schmale Augen. „Nichts", sagte er. „Oder alles." „Nein, eher nichts." „Nur Zufall?" Mit einemmal änderte der Amerikaner seine

Meinung. „Zufälle in unserem Job gibt es so selten, daß es

sie gar nicht gibt." Urban riß das Blatt aus dem Magazin. Ein Blatt

bedrucktes Papier, eine wahrhaft grandiose Aus­beute.

„Es bringt ja doch nichts", befürchtete der Amerikaner.

Urban war schon wer weiß wo mit seinen Gedanken.

„Vielleicht doch." „Du weißt immer alles, hörst die Hunde schon

bellen, wenn sie noch schlafen." „Ja", sagte Urban, „beinahe."

Eine Luftbrücke brachte sie binnen sechs Stunden nach Brüssel. Dort wurden Urbans Theorien für absurd gehal­

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ten, für überdrehte Phantasie, und verlacht. Die allgemeine Reaktion bestand aus Abwinken.

Doch es war wie nach einem übermäßigen Besäufnis, dem zwangsläufig der Kater folgte. — Die Computeranalysen bekräftigten Urbans Ver­dacht Punkt für Punkt.

Wie jeder, der auf Kampfdistanz ging, hatte Urban seine Verteidigung aufgebaut. Mit einem Packen Beweisen konterte er die hämischen Äuße­rungen der Verbündeten.

„Was Sie für so wichtig halten, sind ein paar Lottozahlen", begann der Norweger.

„Oder vom Russischen Roulett", spottete Urban zurück. „Aber eines müssen Sie mir erklären, Gentlemen: Seit wann befindet sich auf dem fünf­tausendsechshundertdreiunddreißig Meter hohen Elbrus im Kaukasusgebiet ein Spielcasino? Ganz abgesehen davon, daß in der UdSSR Spielcasinos verboten sind."

Das allgemeine Grinsen wurde eine Spur weni­ger arrogant.

„Elbrus, wie kommen Sie auf Elbrus?" „Die Nummer gehört der astronomischen Beob­

achtungsstation dort. Sie ist die mordernste in der Sowjetunion. Sie verfügt über ein Sechs-Meter-Teleskop, Radioteleskope, Weltraumlaser und noch mehr so kleine Schweinereien."

„Ist das bewiesen?" Urban schob ihnen die Kopien der Computeraus­

drucke hin. „Na schön", meinte der Brite. „Aber das andere

ist doch wohl reine Horrormache." Urban holte zu einer Erklärung aus. „Gentlemen", begann er. „Hören Sie mir bitte

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drei Minuten genau zu. Nur einhundertachtzig Sekunden, aufmerksam und ohne Vorbehalte."

Die Gentlemen signalisierten amüsiert ihre Be­reitschaft.

Urban bat, das Licht zu löschen, und legte ein Foto in das Epidiaskop. Diese Projektion war nie so scharf und so klar wie bei einem Dia, es ließen sich aber auch Fotos oder Zeichnungen an die Wand werfen. So wie jetzt.

Das freischwebende utopische Gebilde, walzen­förmig aus Metall mit Antennen vielfach bestückt, erkannte jeder als eine Art Weltraumstation.

Der sowjetische Satellit Kosmos achtzehn-acht­undsechzig", erklärte Urban, „NATO-Code Ror-Sat. Ein mit Radar ausgerüsteter Weltraumspion. Er beobachtet aus siebenhundet Kilometer Höhe rund um den Globus alles, was kreucht, schwimmt oder fleucht. Sei es an Land oder auf See. Gewicht ungefähr zehn Tonnen. — Um die Erde zu beobach­ten und die Beobachtungen in die UdSSR zu senden, braucht so ein Himmelsspäher Energie. Die Überwachungselektronik wird von atomaren Stromerzeugern gespeist. Wir nennen sie der Ein­fachheit halber Atombatterien. Die ersten Kosmos-Modelle kamen mit ungefähr fünfzig Kilo hochan­gereichertem Uran-235 aus. Aber mit der Leistung der ersten Kosmos-Atommeiler konnte man nicht mal Kaffee kochen. Die neue Kosmos-Serie ist mit thermo-elektrischen Generatoren ausgerüstet, die zehn Kilowatt leisten. NATO-Name Topaz."

„Interessant", äußerte einer der Anwesenden. „Aber so ein Geheimnis ist das nun auch wieder nicht."

Urban schob das nächste Blatt Papier in den

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Bildwerfer. Es zeigte die Erde und hoch darüber die Flugbahn eines Kosmos-Spähers.

„Das ist die vorgesehene Flugbahn des neuesten Satelliten. Höhe zwischen siebenhundert und acht­hundert Kilometern etwas nördlich des Äquators verlaufend. Wenn diese Spionagesatelliten das Ende ihrer Einsatzzeit erreicht haben, also das Ende ihrer Funktionstüchtigkeit, dann werden sie durch Raketen in den Weltraum hinausge­schossen

Urban zeigte das dritte und letzte Bild. Es zeigte eine zur Erde hin spiralig veränderte Flugbahn des Kosmos-Satelliten.

„. . . oder enden so wie dieser: Sie fallen herunter und verglühen beim Eintritt in die Erdatmosphäre. Vorgesehen ist so ein Manöver nicht, aber bisher kehrten nahezu zwanzig Prozent aller Nuklearsa­telliten vorschnell zurück."

Jeder der Anwesenden erinnerte sich an solche Zwischenfälle. Vor fünfundzwanzig Jahren war ein amerikanischer Nachrichtensatellit mit hochakti­vem Plutonium an Bord explodiert und hatte eine Strahlenwolke in die Atmosphäre geblasen. Fünf­zehn Jahre später war ein Kosmos zerborsten, war auf die Kanadische Tundra gefallen und hatte Tausende von Quadratkilometern verseucht. Mehr­mals war es den Russen gelungen herabtrudelnde Satelliten, von der Gefährlichkeit einer Atom­bombe, in den Weltraum zu katapultieren.

„Warum", fragte der Spanier, „jagen sie das Ding nicht zu den Sternen? Dort ist Platz genug."

Diese Frage konnte Urban nicht genau beant­worten. Er sagte aber, was er wußte.

„In den nächsten Tagen, noch in dieser Woche, wird Kosmos auf die Erde fallen. Die Atomgenera­

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toren dieser neuen Serie enthalten nahezu eine Vierteltonne Uran in hochangereicherter also atombombenfähiger Form. Das Uran befindet sich in einem Edelstahlbehälter, der beim Aufschlag nicht zerspringt. Aber wer ihn in die Hände kriegt, kann damit die Bombe bauen."

Die drei Minuten waren längst um, doch keiner der Anwesenden behauptete, er hätte keine Zeit.

„Wo wird er aufschlagen?" wollte der Norweger wissen.

„Nur die sowjetischen Beobachtungsstationen sind in der Lage, das präzise zu berechnen."

„Und die schweigen natürlich." „Sie werden es", hoffte Urban, „nicht mehr tun,

wenn sie erfahren, was die Firma Sapritzky und Gugerman vorhat. Diese Gentlemen planen, das Uran an eine terroristische Organisation zu ver­scherbeln. "

Es entstand Unruhe. „Wie wollen Sie das wissen, Oberst Urban?" rief

der Holländer. „Es ist das Ergebnis meines Puzzlespiels." „Mit welchen Terroristen kungeln G und S?" „Vermutlich mit der mächtigen Gruppe um

Hafez und Kassem el Kassar." Einer lachte leise, aber es war so still im Raum,

daß man es hören konnte. Urban schaltete das Epidiaskop ab und machte

wieder Licht. „Das wär's dann, Gentlemen. Ich danke Ihnen,

daß Sie mir Ihr Ohr schenkten." Keiner ging. Alle blieben sitzen und diskutierten

jetzt. Maßnahmen mußten beschlossen werden. ­Aber vorher wurden die ewigen Zweifler aktiv.

„Was soll das Märchen? - Kinderkram! "

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„Alles Unsinn." „Wer faßt dieses Giftzeug schon an?" Daraufhin entwickelte Urban ein Horrorszena­

rium. „Die Feinde Israels", erklärte er, „haben kein

anderes Ziel, als Israel zu vernichten. Sie sind waffenmäßig überlegen, aber sie wagen es nicht, Israel anzugreifen, weil die Israelis bereits über Atombomben verfügen. Das ändert sich jedoch, wenn sie ebenfalls eine Bombe haben. Egal wer, ob Libyen, der Irak, die Syrer, der Iran oder die Saudis. Und mit der Uranladung des Kosmos-Satelliten sind sie in der Lage, die Bombe herzu­stellen. Sehr schnell und relativ mühelos. Wer die Bombe hat, reizt das Spiel höher aus, bis die Stunde gekommen ist, um die Bombe zu werfen. Dann bomben die Israelis zurück. Die Großmächte werden sich einmischen und ein Ultimatum stellen. Aber dafür ist es dann zu spät."

Den Rest überließ Urban gern der Phantasie seiner Kollegen.

Daraufhin bekam Urban die nötige Handlungs­freiheit.

Zunächst mußte der Ort, an dem Kosmos herun­terkam, festgestellt werden. Ferner war zu verhin­dern, daß sein Uranmeiler in die Hände von irgendwelchen arabischen Terroristen gelangte.

Urban konnte auf die rückhaltlose Unterstüt­zung aller NATO-Staaten bauen, aber die Taktik mußte er selbst entwickeln. Und es würde in jedem Fall schwer sein, die Verbündeten zu militärischem Eingreifen zu veranlassen.

Deshalb rief er einen alten Freund in Moskau an.

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Achtzehn Stunden später traf der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, südlich von Brüssel an einem Fluß im Wald nahe der Ortschaft Terhulpen einen KGB-Agenten.

Dieser Mann hatte darauf bestanden, ihm allein und bei Dunkelheit zu begegnen.

Urban wartete schon eine Zigarettenlänge lang im NATO-Dienstwagen, als der Russe aus dem Unterholz trat.

Urban öffnete die Tür rechts. Doch der andere stieg nicht zu.

„Sie sind allein, Commander?" „Wie ausgemacht." „Niemand ist Ihnen gefolgt?" „Das garantiere ich Ihnen." Urban verstand die Vorsicht des KGB-Agenten.

Wenn er erkannt wurde, hatte er wenig Chancen, nicht eingesperrt oder nicht des Landes verwiesen zu werden.

Der Russe sprach besser Französisch als man­cher Belgier. Er stieg jetzt ein, ließ aber die Tür offen.

Aus seiner Manteltasche zog er einen Umschlag länglichen Formats. Er war dick, enthielt also einiges an Papier.

„Das übergebe ich Ihnen im Namen von General Krischnin."

„Ja, ich sprach mit Igor." „Es kostete ihn erhebliche Mühe, das Direkto­

rium und das Politbüro von der Notwendigkeit zu überzeugen."

„Wie, von der Zusammenarbeit in einem Kata­strophenfall?" entrüstete Urban sich. „Ich hätte Krischnin die Freundschaft gekündigt, wenn er uns im Stich gelassen hätte."

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Und die Russen zur Sau gemacht, ergänzte Urban in Gedanken, weltweit und bis zu den Sternen.

Zum Glück war es nicht nötig. Er bekam den Umschlag und wollte ihn

öffnen. „Nicht hier, Oberst Urban", bat ihn der Über­

bringer. „Ich muß wissen, ob ich zufrieden sein

werde." „Sie sind es bestimmt." „Wie kam es nach Brüssel?" „Über Funkfernschreiber. Ich selbst habe alles

entschlüsselt." „Dann wissen Sie auch, was drinsteht." „Genau, Oberst Urban." Urban stellte zur Kontrolle die entscheidende

Frage: „Warum aktivieren Sie nicht die bordeigenen

Raketen und bringen Kosmos auf eine erdferne Umlaufbahn?"

Wie ein Automat antwortete der KGB-Agent: „Wir haben es versucht. Die Raketen zündeten

nicht." „Warum zerstören Sie Kosmos nicht durch die

Selbstsprenganlage?" „Wir haben keinen Funkkontakt mehr mit Acht­

zehn-achtzig." Damit sah alles leider sehr böse aus. „Wann kommt er herunter?" lautete Urbans

nächste Frage. „In etwa", der Russe schaute auf seine Arm­

banduhr, „vierzig Stunden berührt er die irdische Lufthülle."

„Und verglüht."

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„Der Atommeiler ist so geschützt, daß er nicht verglühen kann. Er ist von einer kugelförmigen Schutzschicht aus Keramik und hochfestem Titan­stahl umgeben."

„Wo kommt er herein?" „Ziemlich genau auf siebzehn Grad Nord." „Und der Aufschlagpunkt?" „Mauretanien, die Sahara." „Können Sie das Ding nicht mit Fernraketen

wegputzen? Sie haben doch überall Ihre Flotten­verbände, U-Boote und Luftbasen."

Der Mann des KGB in Brüssel winkte ab. „Leider nicht im westlichen Mittelatlantik. Der

Satellit fliegt erst über den Kapverdischen Inseln so tief, daß Aussicht besteht, ihn mit Fernraketen zu erwischen, in einer Höhe von dreißigtausend Metern also. Aber vor der afrikanischen Westküste, wie gesagt, haben wir keine Einheiten stehen. Und sie sind auch nicht so schnell dorthin zu beordern."

„Dann schießt das Ungeheuer, zum Teufel noch mal, mit euren MiGs ab. Besser es zerplatzt hoch oben als unten auf der Erde."

Der KGB-Agent sprach jetzt sehr offen. „Wir unterhalten lediglich eine Luftbasis in

Eritrea in Äthiopien. Sie ist zu weit entfernt. Die MiGs würden es nicht einmal mit Hilfe von Tank­flugzeugen schaffen."

„Seien Sie doch ehrlich", entgegnete Urban, „Sie haben Angst vor Zwischenfällen."

„Wir achten die Hoheitsgebiete anderer Staa­ten", lautete die Ausrede.

„Nein, Sie haben Angst, die Hosen runterzulas­sen und zu sagen, uns ist ein Satellit außer Kontrolle geraten, er stürzt auf Afrika zu, und es wird eine Riesensauerei geben. Wir müssen dies

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und jenes tun, um das zu verhindern. — Offenbar ist man trotz Perestroika und Glasnost in Moskau noch nicht so ehrlich."

„Bitte verlangen Sie nichts Unmögliches", bat der KGB-Mann. „Ich sage Ihnen, was ich weiß und wie meine Instruktionen lauten."

„Und wie lauten sie?" Nun rückte der Russe, wenn auch zögernd, damit

heraus. „Wie sagt man beim Billard, wenn ein Stoß

danebengegangen ist?" „Es ist Ihr Ball, Sir. - Soll das heißen, daß Sie

nichts dagegen haben, wenn wir etwas versuchen?" „Es ist Ihr Ball, Sir." Mehr äußerte der Agent nicht dazu. Er nickte kurz, tippte mit zwei Fingern militä­

risch an den Hutrand und war wenig später im Dunkeln des Waldes verschwunden.

Warum, dachte Urban, tragen sie eigentlich immer Hüte?

Noch einmal, ehe er Europa verließ, rief Urban bei Helen Lister an. Sie war inzwischen nach Monte Carlo zurückgekehrt.

„Will nur hoffen", sagte sie, „daß du Sapritzky und Gugerman entschärft hast."

„Wir sind dabei", entgegnete Urban. „Wißt ihr denn, wo sie sich herumtreiben?" „In der Nähe der Gebrüder Hafez und Kassem

Kassar." „Und wo sind diese Hurenböcke?" „Das möchte ich von dir wissen, Herzblatt." Natürlich hatte auch sie schon ihre Fühler

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ausgestreckt. Denn wenn es ihre Sicherheit betraf, verließ Helen Lister sich nicht auf einen Mann, den sie zwar liebte, den sie aber für einen Windhund hielt, für einen egozentrischen.

„S und G planen einen Coup", sagte sie, „ein Millionengeschäft mit den Kassar-Brüdern. Ich weiß das, denn ich befasse mich nicht nur mit Nachrichtenhandel, sondern fädle auch andere Sachen ein."

„Waffenhandel zum Beispiel", erwähnte Urban. „Ist nicht verboten und nicht anrüchiger als der

Verkauf von Lebensversicherungen." „Alles Halbseide", sagte Urban. „Du hast die

Kassar-Brüder aber nicht erreicht." „In ihrem schicken Hauptquartier im Libanon

sitzen sie jedenfalls nicht. Du kannst fragen, wen du willst, von überall die gleiche Antwort: Hafez und Kassem el Kassar bereiten eine Aktion vor. Was, wie, wann und wo - keine Ahnung."

„Dann bleib gesund", sagte Urban, „und sauber."

„Wofür?" „Bis wir uns wiedersehen", sagte er, „vielleicht." „Es sind meine Prozente, die ich für so was

kriege." „Zu spät", befürchtete Urban. „Aber daß die

Kassar-Brüder ebenso unauffindbar sind wie Sapritzky und Gugerman, ist der Beweis, daß sie schon warten."

„Auf was?" „Auf ein Geschenk des Himmels", deutete Urban

an. „Jetzt muß ich dafür sorgen, daß es ihre Blütenträume verhagelt."

„Ach, geh zum Teufel, du Wichser!" schrie sie in den Draht. Es folgten noch mehr von ihren feinen

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Ausdrücken, die sogar Kupferleitungen hätten erröten lassen, wenn sie nicht schon rot gewesen wären.

Urban legte auf. Was für ein fabelhaftes Miststück dieses Weib

doch war.

16.

Der Flugzeugträger hatte am Vierzehnten das Mittelmeer verlassen und lief noch immer mit voller Maschinenkraft Kurs Südwest.

Am 15. des Monats passierte er Casablanca, einen Tag später hatte er schon die Kanarischen Inseln weit hinter sich gelassen.

Mit 35 Knoten, also nahezu allem, was seine von atomar erhitztem Dampf angetriebenen Turbinen hergaben, preschte der 90 000 Tonnen schwere Koloß aus Stahl auf den nördlichen Wendekreis zu. - Er überquerte ihn am 17. gegen zwanzig Uhr Ortszeit.

Schlagartig fiel die tropische Nacht herein. Der Himmel war hoch, klar und samtschwarz. Aber keiner an Bord der Nimitz hatte Nerven für die Betrachtung von Naturschönheiten.

Nicht das Phosphorglimmen der See beachteten sie, nicht die rosa geränderten Wolkengebirge, ausgeleuchtet von der längst untergegangenen Sonne.

Auf der Brücke der Nimitz saß in einem Drehstuhl der Kommandant. In seiner Nähe hielten sich der Verbindungsoffizier zum Pentagon, der verantwort­liche CIA-Agent und Robert Urban vom BND auf.

Die Atmosphäre war locker. Dafür sorgten der

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Navy-Kaffee und der Admiral mit seinem See­mannsgarn.

„Ob Sie es glauben oder nicht, Gentlemen", gab er zum besten. „In der Südsee habe ich mal folgendes erlebt . . . "

Der Admiral brachte die Geschichte von den hundert nackten Insulanerinnen, die seinen Zerstö­rer geentert hatten, nicht zu Ende, denn ein Melder erschien und übergab eine Kladde.

Der Admiral öffnete den flachen Blechbehälter, las und zeichnete ab.

Dann gab er die Meldung weiter. „Die Meßstelle der europäischen Raketenbasis in

Französisch-Guyana hat Kosmos geortet. Die Kursangaben sind mit denen der Russen identisch. Höhe etwas niedriger als vorhergesagt. Beim näch­sten Umlauf erfolgt der Eintritt von Kosmos in die Erdatmosphäre."

„Wenn sie niedriger ist als berechnet", meinte Urban, „dann kommt sie früher herunter, und der Landepunkt verschiebt sich nach Westen."

„Eine Meile, einhundert Meilen", sagte der Admiral. „Wer weiß?"

„Der Teufel weiß es", pflichtete Urban ihm bei. Urban beendete seine Sätze nicht mit ,Sir', wie

die Navy-Offiziere und auch sein CIA-Kollege, wenn sie mit dem Admiral sprachen, denn der Admiral war nicht Urbans Vorgesetzter.

„Wie ist Ihr Marinedienstgrad, Commander Urban?" fragte der Admiral.

„Kapitän zur See." „Ohne Chance, je Admiral zu werden, wie?" „Ich bin Reservist." „Aber auch Oberst im Heer." „Und bei der Luftwaffe", ergänzte Urban.

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„Pilot?" „Ich bemühe mich jährlich, meine Flugstunden

zusammenzukriegen." „Was fliegen Sie, Urban?" „Was", fragte Urban seinerseits, „gibt es außer

Adlern und kleinen Moskitos noch im Luftraum?" „Also alles, von Transportern bis zu Jagdma­

schinen?" „Und Hubschrauber", fügte Urban hinzu. Das Deck der Nimitz wurde nach Plan für eine

F-18 und einen Langstrecken-Sikorsky klarge­macht. Dies aber nur für den Notfall. Vorgesehen war, den Satelliten über dem Atlantik und weit draußen mit einer U-Boot-Trident zu empfangen. Die Spezial-Fernrakete brauchte nicht umgerüstet zu werden. Es reichte, wenn die Druckwelle ihres atomaren Kopfes Kosmos zerfetzte. Möglicher­weise in einer Höhe, die über neunzig Kilometer lag.

Kurz vor Mitternacht wurde es spannend. Das Radar der Nimitz hatte den Satelliten aufge­

faßt. Es gab seine Position an das Washington-U-Boot weiter, das im Mittelmeer bei 18 Grad Nordbreite auf Position lag.

Daß es sich um den Abschuß einer Trident-Rakete mit A-Kopf handelte, war immerhin eine Novität. Aber im NATO-Hauptquartier hatte man sich dazu entschlossen, und das Pentagon und der US-Präsident hatten ihr Okay dazu gegeben.

Die einlaufende Datenmenge wurde immer dich­ter und sofort zu dem U-Boot gefunkt.

Wenige Minuten bevor Kosmos in Position kam und das U-Boot schußbereit war, wurde der Betrieb hektisch.

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Der Admiral sprach mit dem U-Boot-Comman­der über UKW.

„In achtzig Sekunden öffnet sich das Abschuß­fenster", sagte er. „Viel Glück, Commander!"

Die Sekunden wurden heruntergezählt. Letzte Telemetrieangaben und Korrekturen liefen hin und her. Der Sprengkopf der Trident wurde scharfge­macht, der Silo vorgeflutet, die tresordicke Luke des Silos an Deck des U-Bootes öffnete sich.

Als die Rakete bereit war, herrschte Stille. Nur einer zählte:

„Zehn . . . acht. . ." Die Stoppuhren liefen. „Fünf . . . drei. . . " „Gott mit dir", sagte der Admiral. „. . . eins - zero und Abschuß!" Mit Preßluft wurde die zehn Meter lange Rakete

ausgestoßen, ehe sie dann mit Eigenantrieb, auf ihrem Abgasstrahl reitend, die Reise in den Welt­raum fortsetzte.

Irgendwo draußen im Atlantik sprangen jetzt die Düsen der Trident an. Gleich darauf erfolgte die Meldung von U-412:

Rakete ausgestoßen. Triebwerke gezündet. Tri­dent hat abgehoben. Kursdaten okay. Alle Systeme okay.

Nun warteten sie. In drei Minuten mußte die Rakete die etwa

hundertfünfzig Kilometer entfernte Position von Kosmos erreicht haben und dann ihre Arbeit tun.

Urban konnte nicht unbedingt behaupten, daß es spannendere Kriminalfilme gab.

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Als gegen 0.20 Uhr feststand, daß die Rakete Kosmos erreicht hatte und explodiert war, der Satellit aber unbeirrt weiterflog wie ein ungebrem­ster Nachtexpreß, gab es lange Gesichter.

„Operation mißglückt", sagte Urban. „Patient lebt."

Die Beobachtungssatelliten der NASA rund um die Erde meldeten den Weiterflug von Kosmos. ­Jetzt blieb ihnen noch etwa eine Stunde Zeit. So lange brauchte der abstürzende Satellit für seinen letzten Umlauf, ehe er in die Schlußphase geriet, die Luftschicht ihn bremste und ihn zum Absturz zwang.

Als Notbremse Nummer zwei war der Start einer F-18 vorgesehen. Sie sollte in Maximalhöhe Kos­mos wie ein feindliches Flugzeug abschießen. Bes­ser, so hatte man berechnet, Kosmos verbreitete seinen Dreck in der Stratosphäre als auf die Erde. Am besten, er wäre in den Atlantik gestürzt. Auf viertausend Meter Tiefe richtete er am wenigsten Unheil an. Aber das war wohl mit keinem Mittel zu schaffen.

Das modernste Kampfflugzeug der Welt, wie die F-18 genannt wurde, besetzt mit dem erfahrensten Piloten der Navy-Air-Force, wie Urban hoffte, wurde aus dem Hangardeck an Oberdeck geliftet. Ein Traktor zog sie an den Katapulthaken.

Sie hatte das Beste, was es an Abfangraketen gab, die bewährte Sidewinder, unter den Flügeln.

Die Uhren liefen. Kosmos war im Westen wieder aufgekreuzt.

Kurs wie berechnet, Höhe zu gering. Er tauchte schon ein und begann, in der Reibung zu glühen.

Die Triebwerke der F-18-Horney wurden ange­lassen. Letzte Instruktionen an die Besatzung.

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Haube zu. Startleistungen auf die Triebwerke. Sie heulten orkanstark.

Das Dampfkatapult schleuderte den zweidüsigen Kampfjet hinaus wie die Zwille einen Stein. Der Pilot legte die F-18 schräg auf Westkurs, während er steil in den Himmel zog.

Von der Brücke der Nimitz aus verfolgten sie das Kampfflugzeug mit den Gläsern.

„Für mich ist es immer wieder ein Wunder, wie das Ding steigt", sagte der Admiral. „Es jagt einem kalte Schauer über den Rücken."

„Dreihundert Meter Steigung in der Sekunde", sagte der CIA-Agent. „Doppelschallschnell auf vierzigtausend Fuß Höhe."

Präzise auf dem Leitstrahl donnerte die F-18 dem noch nicht sichtbaren Objekt entgegen. Beide rasten sie aufeinander zu. Der Kosmos-Reaktor vom Himmel zur Erde, der Jet von der Erde hinauf.

Inzwischen hatte eine komplizierte Rechnerei begonnen, die nur der Cray-Computer mit einer Milliarde Recheneinheiten pro Sekunde bewältigen konnte. Zu ermitteln war aus dreidimensionaler Position und Annäherungsgeschwindigkeit von Flugzeug und Ziel jener Moment, zu dem die Abfangraketen gezündet werden mußten. Die Zeit­schneise betrug ungefähr eine Zehntelsekunde. Und in dieser Zehntelsekunde mußten die Side­winder gestartet sein.

„Er hat vier Luft-Luft-Raketen an den Flügel­spitzen und am Rumpf", erwähnte der Feuerleitof­fizier. „Wenn eine davon den Satelliten von unten erwischt, dann . . . "

„Was dann?" fragte der Admiral, denn nie zuvor war so etwas bewiesen worden. Das Objekt konnte seine Marschrichtung ändern, konnte nach oben

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oder unten ausscheren wie ein harter Ball, der gegen eine Mauer schlug. Es konnte irgendwohin abspringen, aber auch Pingpong spielen.

„Was", fragte Urban, „gaben die Russen über die Festigkeit bekannt?"

„Wenig. Die Hülle besteht aus zwei zusammen­geschweißten Titangußstücken."

„Wie geschweißt?" „Vermutlich durch Sprengschweißung." Das bedeutete unter Zuhilfenahme von explosi­

ver Energie und nicht von Schweißbrennern. Die Stimme des zweiten Mannes in der F-18, des

Waffen- und Navigationsoffiziers, war zu hören. Er bestätigte die Kurskorrekturen und sprach mit dem Piloten, der vor ihm saß. Aber was davon herunterkam, war überdeckt wie vom Rauschen eines Wasserfalls.

Der Radarmonitor auf der Brücke zeigte jetzt zwei Punkte. Einen am Bildschirm oben links, den anderen unten rechts. Sie näherten sich einander.

Der Feuerleitoffizier erklärte: „Wenn zwischen den Punkten noch eine Dau­

menbreite Abstand ist, entspricht das in der Natur einer Distanz von etwa zwanzig Meilen. Dann feuert er alle vier Raketen ab."

„Und zieht, hoffe ich, zu einem Turn hoch", bemerkte Urban.

„Nach dem Turn geht er mit einer halben Rolle in Normallage. Dann voller Nachbrennerschub. Man weiß ja nicht, wie es mit radioaktiver Strah­lung aussieht."

Die Radarbeobachter hatten jetzt beide Objekte unter Kontrolle. Die Piloten meldeten, daß auch sie das Objekt auf dem Zielradar hätten. Die Automa­tik wurde aktiviert.

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„Noch zehn Sekunden", sagte einer. Der Admiral biß auf seiner kalten Pfeife herum. „Der Satellit ist glühend wie ein Triebwerk, die

Sidewinder haben Infrarotsuchköpfe. Sie steuern den heißesten erkennbaren Punkt an. Außerdem reiten sie auf dem Leitstrahl. Es kann nichts schiefgehen."

Dann wieder Stille. Einer sagte leise: „Abschuß! Alle vier. Sie fliegen." Auf dem Brückenradarschirm sah man die Rake­

ten nicht. Sie waren zu klein. Man sah aber, wie der Jet hochgerissen wurde und in einer Art Rückwärtssalto den Heimflug antrat.

Die Raketen erreichten ihre Maximalgeschwin­digkeit binnen einer Sekunde und brauchten von der F-18 bis zum Satelliten ungefähr achtund­zwanzig Sekunden.

Noch während sie flogen, ließ der Kommandant der Nimitz seinen Träger gegen den Wind drehen, um dem landenden Jet beste Bedingungen zu gewähren.

Der Seegang betrug etwa Starke drei. Dünung rollte aus der Weite des Atlantiks heran. Aber das riesige Schiff nahm sie kaum wahr. Da mußten schon Grundseen von Häuserblockhöhe antanzen, um den Träger zu beeindrucken.

Und dann war die Zeit um. „Zehn Sekunden", zählte Urban kehlig, „elf —

zwölf." Alle starrten auf den grünen Radarschirm. Drei­

mal hatte es dicht bei Kosmos geblitzt. Aber nachdem die Blitze verschwunden waren, flog das Objekt weiter, als würde es unangreifbar sein und aus einer anderen Welt kommen.

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„Negativ", fluchte der Admiral. „Shit! " „Das war unsere letzte Chance." „Die vorletzte", äußerte Urban. „Ein As haben

wir noch im Ärmel." „Oder es ist der Schwarze Peter", bemerkte sein

Kollege. Was sie als letzte Chance bezeichneten, wurde im

Hangardeck einsatzklar gemacht. Sie warteten nur noch die Landung der F-18 ab.

Der Jet kam gut herein und setzte auf dem taghell beleuchteten Deck auf. Sein Fanghaken fing sich in dem quer über Deck gespannten Bremsseil. Nickend kam er zum Stehen.

Lässig wie Experten, die alles getan hatten, was in ihrer Macht stand und die nur deshalb Verlierer waren, weil der Sieger über die bessere Technik verfügte, kletterten die Piloten aus dem Cockpit.

Etwas ungelenk in ihren orangefarbenen Druck­anzügen wirkend, marschierten sie zur Meldung beim Fly-Offizier.

Ihre F-18, der stumpf gewordene Hammer, ver­schwand auf der Liftplattform unter Deck. Und auf einer anderen Plattform fuhr die letzte Chance nach oben.

Ein Chinook-Hubschrauber. Zwei Rotoren, einer vorn oben, einer hinten oben. Zwei Triebwerke, zusammen tausend PS.

Er war randvoll mit Treibstoff. Damit kam er tausend Kilometer weit. Aber das würde niemals reichen. Allen war klar, daß er damit nicht bis zur Sahara und wieder zurück kam.

Binnen vier Minuten hatten Urban und sein CIA-Kollege die Kampfoveralls übergezogen. Sie waren sandfarben wie der Chinook. Die beste Tarnung für Wüstenoperationen.

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Urban ging die Checkliste durch, ob sich alles an Bord befand, was sie brauchten. Kran, Kranseil, Tragfähigkeit zwei Tonnen, der Greifer. Dann die Waffen, MG, automatische Bordkanonen, Luftmi­nen, Sprengstoff, Notproviant.

Der CIA-Kollege holte den letzten Wetterbericht ein.

Der Wind hatte aufgefrischt. Die beiden Männer stemmten sich gegen ihn auf den Hubschrauber zu.

Es war noch nicht Tag und nicht mehr Nacht, als der Boeing Chinook 234 startete und von der Nimitz senkrecht abhob.

„Wir sind das letzte Aufgebot", sagte der Ameri­kaner. „Auf so etwas war ich nie erpicht."

Urban schaute auf die Rolex. Es war soweit. „Jetzt dürfte er gelandet sein." „Eine Blackbird hat das Landegebiet unter Kon­

trolle", erklärte der Amerikaner. „Wir kriegen die Koordinaten durch. Auf den Meter genau."

„Hoffentlich", sagte Urban.

17.

Zwischen dem Höhenaufklärer und der Wüste herrschten ungünstige Bedingungen.

Die schwarze SR-71 war auf Mildenhall-Base gestartet. Nach viertausend Kilometern Flug und zweimaligem Betanken in der Luft hatte sie ihr Operationsgebiet angesteuert. Nun lag zwischen Himmel und Erde eine gelbe Schicht, als hätte sich Sand mit dem Dunst vermischt. Aber angesichts der Flughöhe spielte das nur eine untergeordnete Rolle.

Gemäß dem Sternpeiler hatte der Systemoffizier

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das Küstengebiet erreicht. Von nun an verließen sie sich auf die eigene Radaranlage.

Pünktlich, inklusive der errechneten vierund­zwanzig Sekunden Verspätung, tauchte das Objekt auf. Es dauerte nicht lange, dann war es auch im Seitenradar zu erfassen.

Der SR-71-Pilot flog jetzt hands on, also ohne Automatik. Er ging so tief runter, wie die Höhen­triebwerke es erlaubten, und zog einen 45-Kilome­ter-Kreis um das gelandete Objekt.

Der Systemoffizier las die Position von einem Display und verglich sie mit der im Bordcomputer eingespeicherten Karte. Der Kosmos-Reaktor lag und strahlte auf 18 Grad 22 Nord und 06 Grad 17 Ost. Der SAR berechnete die Lage auf eine Viertel­meile genau und funkte sie dann durch.

„Mauretanische Wüste. Trazargebirge. Süd­flanke. Leeres, unbewohntes Gebiet."

Die Nimitz bestätigte. Schon im Begriff abzudrehen, machte der

Systemoffizier der SR-71 noch eine Entdeckung. „Korrigiere: Leeres, unbewohntes Gebiet",

änderte er seine Meldung. „Aus Osten nähert sich Kolonne dem Absturzort des Objektes. Entfernung sechzig Meilen. Mehrere Fahrzeuge."

Die Blackbird verabschiedete sich und ging auf 80 000 Fuß und Mach-3. In dieser Höhe raste der Aufklärer quer über Afrika hinweg und erreichte seinen nächsten Auftankpunkt Aden in weniger als einer Stunde.

Inzwischen wurden die Daten an Bord der Nimitz ausgewertet. Drei Punkte waren für die zu treffenden Maßnahmen von Bedeutung: Der Ort, wo der Satellit heruntergegangen war, wie lange die fremde Wagenkolonne brauchen würde, um

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Kosmos zu bergen, und wie lange die zwei Agenten im Hubschrauber dazu benötigten.

Die Rechnung, belastet mit mehreren Unbekann­ten, sah am Ende so aus:

„Unser Hubschrauber benötigt für die fünfhun­dert Kilometer insgesamt zwei Stunden", meldete der Lageoffizier, „jetzt noch siebzig Minuten. Die Fahrzeugkolonne...", der Lageoffizier räusperte sich, „. . . wir nehmen an, daß wir wissen, um wen es sich handelt, hat schwieriges Terrain zu über­winden. Wenn sie optimal ausgerüstet ist, verfügt sie über geländegängige Fahrzeuge, gepanzert und bewaffnet, und mindestens einen mehrachsigen Lastwagen oder Half-Tank."

„Klar, sie müssen den Reaktor ja abtransportie­ren", wandte der Operationsoffizier ein.

„Geschätzte Marschleistung der Kolonne fünf­undzwanzig Meilen pro Stunde."

„Dann können sie ungefähr zur selben Zeit. . . " „Das schon", meinte der Lageoffizier. „Sie kön­

nen gemeinsam mit unserem Hubschrauber dort eintreffen. Aber ihre Geigerzähler werden wie verrückt ticken. - Auch arabische Terroristen sind nicht ohne Vernunft. Sie pfeifen zwar auf ihr Leben, aber an einer Verseuchung jämmerlich zugrunde zu gehen, ist nicht im Sinne Allahs. Also werden sie überlegen, wie das Ding zu bergen ist."

„Gewiß haben sie Schutzanzüge dabei, wie unsere Männer auch."

Die Lage wurde unverblümt an den Hubschrau­ber gefunkt.

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Urban und der Amerikaner zogen die aluminisier­ten Strahlenschutzanzüge über ihre Overalls und setzten die Helme auf.

Sie sahen aus wie Tiefseetaucher. Zwar würden sie dem Meiler nicht näher kommen als auf dreißig Meter, aber noch war das Maß der Strahlung unbekannt.

Der Copilot berechnete laufend die Entfernung zum Objekt und wie lange sie brauchten, um hinzukommen. Die Wüste unter ihnen war jetzt ockerfarben mit grauen ins Weiß übergehenden Streifen.

„Und um dieses lausige Stück Erde kämpfen sie wie die Verrückten."

„Besser ein Stück von der Hölle als gar nichts, denken die Polisarios sich", erklärte Urban.

„Das Gelbe ist Sand, aber das Weiße?" „Phosphat." „Baut man es ab?" „Hier ist der Prozentsatz zu gering. Der Abbau

findet in der Küstenregion statt. Aber die meisten Gruben sind erschöpft. Bis auf den Küstenstreifen gibt es kein Phosphat mehr. Nur ein paar Gruben arbeiten noch. Und der Tagebau, soweit das mög­lich ist."

Der Hubschrauber stieg, denn auch das Land unter ihnen stieg an. Erst wurde es hügelig, dann traten Felsformationen zutage, schrundig wie zer­bröselnde Knochen.

Der Hubschrauber nahm den kürzesten Weg zu dem Objekt, die gerade Linie also. Ob es in einer Senke lag, in einem Tal, auf einem Plateau oder in einer Schlucht, das hatten die Blackbird-Leute nicht ermitteln können.

Der Copilot am Radar wurde mit einemmal

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unruhig. Er sah etwas und wollte es gerade mel­den. — Im selben Moment wurden sie beschossen.

„Verdammt, das war nicht Kosmos", fluchte er. Sie überflogen den Kolonnenwurm, bestehend

aus einem halben Dutzend Fahrzeugen. Er wand sich durch wadiförmige Täler und schoß, was das Zeug hielt. — Aber meist zu kurz.

Einige Male jedoch mußte der Hubschrauber Treffer einstecken. Dicht neben Urban wurde ein Loch ins Alublech gestanzt. Die nächste Kugel schlug an einem Spanten quer.

Der Pilot hatte sofort abgedreht. Jetzt ballerten sie hinter ihnen her und schienen besser zu treffen. Aber die Rotoren sangen weiter auf unveränderter Frequenz.

„Ein paar Kratzer", stellte der Copilot fest, „nichts von Bedeutung."

Jetzt wußten sie, wo die Kolonne war, und daß sie lange vor ihr bei dem Satelliten-Meiler sein würden. — Wenn es glattging, wenn alles klappte, hatten sie ihn am Haken, noch ehe die anderen ihn auch nur sichteten.

Der schwere Boeing-234 hüpfte über Bergrücken und wellige Kalkformationen. Urban hatte die Kopfhörer des Geigerzählers aufgesetzt.

„Gleich muß er auftauchen! " rief der Pilot. Der Mann am Kran, angeschnallt in der Lade­

luke stehend, sah es als erster. — Eine breite Spur verlief im kiesigen Sand. Geschwärzt, als wäre ein brennender Benzintanker nur langsam zum Stehen gekommen. Der Sand hatte offenbar die Schwärze abgeschmirgelt.

Das war er, der Atommeiler des Kosmos-Satel­liten.

Der Hubschrauber näherte sich ihm und blieb

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über ihm in der Luft stehen. Der Geigerzähler in Urbans Ohr hämmerte wie Freddy Brocksieper am Schlagzeug.

Sie schwenkten den Kranarm aus. Er rastete ein. Der vierzangige Greifer baumelte am Stahlseil.

Der Pilot blieb im Schwebeflug auf dreißig Meter Höhe.

Der Windenführer stand auf Position und drückte die Hovertrim-Taste, einen kleinen Steuer­knüppel. Letzte Positionsänderung. Feinkorrektur. Der Windenmotor sprang an. Das Seil lief ab.

Unten schlug der Greifer an die Kugel. Daneben. - Neuer Anlauf. - Baumeln. Wieder kein Treffer. — Hochziehen. Erneutes Absenken.

Endlich, beim fünften Mal, faßten die Greifer und schlössen sich um die Kugel. Durchmesser zwei Meter, schätzte Urban,

Der Windenführer wollte den Reaktor heraufho­len. Aber sein Kran schaffte es nicht. Die Motor­kupplung rutschte durch und begann zu stinken.

„Scheiße! Was jetzt? Es ist zu schwer." „Was hebt Ihre Winde?" „Zwei Tonnen Nutzlast." „Er ist leichter, aber er hat sich offenbar ange­

schweißt." Sie konnten versuchen, ihn mit dem Hubschrau­

ber loszureißen, indem sie das Seil arretierten. Der Windenführer verständigte sich mit dem

Copiloten. Dann sah Urban, wie er die Kappvorrichtung,

eine Kartuschenladung, die das Seil notfalls durchtrennte, schärfte. Der Hubschrauber wirbelte jetzt so viel Sand auf, daß die Wolke jede Sicht nahm und er schnell wegmußte.

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„Raus hier!" hörte Urban den Piloten rufen. „Ohne Sandfilter verrecken uns die Turbinen."

Sie zerrten mit aller Kraft an dem Meiler und brachten ihn endlich aus seiner Lage.

Urban schaute nach unten und gab Zeichen, daß sie ihn hatten. Aber er entdeckte noch etwas anderes. Er sah etwas rieseln, wie Öliges Wasser rann es aus dem Hubschrauber zur Erde.

Der feine Strahl spritzte auf den baumelnden Kosmos und verdampfte auf seiner heißen Ober­fläche.

Es stank nach Kerosin. Sie verloren Treibstoff. Auch das noch. - Demnach hatte die Terrori­

stenkolonne einen der Tanks erwischt. Die Tanks waren zwar selbstdichtend, aber so

hundertprozentig arbeitete das Verfahren nun auch wieder nicht.

Der Chinook stieg. Die Rotoren arbeiteten in Startleistung. Die Lycoming-Turbinen heulten, daß einem die Trommelfelle vibrierten. — Aber sie gewannen Höhe und umflogen das Gebirge in einer weiten Kurve zur Küste hin.

Es sah aus, als liege das Schlimmste hinter ihnen.

„Aber wir verlieren Sprit", meldete Urban nach vorn.

„Verdammt, ja. Drei Viertel sind schon raus."

*

Sie berechneten, daß sie mit dem Treibstoffrest nicht bis zur Nimitz kamen. Außerdem war die Frage, was mit dem strahlenden Meiler geschehen sollte, noch nicht geklärt. Da die Tanks unaufhörlich weiter leerrannen,

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fiel die Entscheidung leicht. — Sie mußten vorher landen.

Mit dem Meiler am Haken war das lebensgefähr­lich. Also mußten sie ihn vorher loswerden.

Das Meer erreichten sie nicht mehr. Und an Land würden die von S und G geführten Palästi­nenser sie einholen.

Der Amerikaner blickte Urban an wie einer, der an fürchterlichen Zahnschmerzen litt.

„Was jetzt, mein deutscher Freund?" Sie waren keine Freunde und würden es nie

werden. Aber davon machte Urban weder Vor­schläge noch Entscheidungen abhängig.

„Weg mit dem Ding", riet er. „Aber wohin? In irgendein Tal, einen Brunnen,

eine Oase? Dort finden sie es." „Die Phosphatgruben", sagte Urban. „In einen

der aufgelassenen Schächte." Er wandte sich an die Piloten. „Wie weit kommen wir noch, ehe wir trockene

Tanks haben?" „Zeihundertfünfzig Meilen höchstens." Urban kletterte ins Cockpit und studierte die

Karten. Die Phosphatgruben waren nicht einge­zeichnet, aber er war einmal dort gewesen. Sie lagen in einer Linie parallel zur Küste. Gar nicht zu verfehlen. Aber nur die im Norden arbeiteten noch.

Es ging auf Mittag. Es wurde heiß. Der Wind von See her wirbelte den feinen Sandstaub hoch wie einen Schleier. Die Sicht wurde miserabel.

In Küstennähe, als der Treibstoff nur noch in Gallonen zu messen war, bekamen sie die verroste­ten Fördertürme ins Radar. - Sie flogen darauf zu.

Das erste Werk hatte im Tagebau gearbeitet,

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kam also nicht in Frage. Das nächste war zerstört worden. Beim dritten hatte man wohl erst vor kurzem die Förderung eingestellt. Vom Förderturm liefen die Stahlseile für die Aufzugskörbe schräg durch ein Wellblechdach. Der Schacht führte im Inneren der Halle in die Tiefe.

Was jetzt? — Sie hatten noch für fünfzehn Minuten Treibstoff.

Urban schlug vor, Kosmos wie eine Abbruch­birne zu verwenden.

Der Pilot verstand, was Urban wollte. Und indem er Schwung holte, ließ er den Kosmos-Meiler gegen die Halle pendeln. Die Kugel sauste vor und zurück und krachte gegen das Gebäude. Endlich gab das Dach nach, die Bleche flogen weg.

Urban glaubte, den Schachteingang zu sehen. „Da runter!" schrie er. „Wenn Sie es irgendwie

schaffen." „Wie tief ist er?" „Tausend Meter, so Gott will." Es war so leicht, wie eine dicke Schnur in ein

feines Nadelöhr zu fädeln. Aber einmal hatte der Windenführer den Mut und löste die Kappvorrich­tung aus.

Das Seil sirrte weg, die Kugel fiel. Ungenau postiert, steckte sie halb im Schacht und saß dort fest.

„Eingeklemmt", sagte der Amerikaner, ehe noch die Staubwolke verwehte. „Aus!"

Doch als die Sicht klar wurde, erkannte Urban, daß sie gewonnen hatten. Die Kugel war weg. Die Erde hatte sie geschluckt.

„Und jetzt die Sprengmittel drauf. Alles, was wir an Bord haben, rein und den Schacht runter, damit er zusammenstürzt, mit einem Pfropfen aus Schutt

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von der Sohle bis obenhin. Da kommt keiner mehr ran."

Die Hubschrauberleute warfen alles ab, was sie hatten. Die Minen, mit denen sie verseuchtes Gelände um den Meiler gesichert hätten, die Semtex-Sprengsätze, die Handgranaten. Es machte wumm-wumm-terrääng. Am Ende schossen sie noch die Gurte der Bordkanonen leer. Alles in den Schacht hinein. Und dann die Detonation, als würde unten ein Vulkan ausbrechen. - Im Schacht hatten alle Sprengstoffe gezündet.

Der Amerikaner machte Fotos wie von jeder Phase des Einsatzes. Dann flogen sie weiter zur Küste hin.

Auf der Nimitz wußte man von dem Malheur mit dem Tank und bereitete eine Rettungsaktion vor.

Irgendwann sollte ein Helikopter mit Dichtungs­material und Sprit kommen. Notfalls sollten sie den Chinook sprengen und losmarschieren.

Nahe Fodor, schon an der Grenze zum Senegal, war es aus. Die Tankanzeige stand auf Null. Alle Reststandlampen brannten. Sie mußten landen.

Nun standen sie in der Hitze von fünfundvierzig Grad und warteten.

„Das war gute Arbeit", sagte der Amerikaner. „Es ging." „Sie sind ein eisenharter Typ, Urban." „Ich hab' mir vor Angst fast in die Hose

gemacht", gestand er. Der Amerikaner hatte offenbar eine andere Mei­

nung über ihn. „Es heißt, Sie seien arrogant und präpotent. Ich

nehme alles zurück. Nur eines steht fest: Sie wissen immer alles besser."

„Ja", sagte Urban, „aber nur beinahe."

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Noch ehe die Rettungsaktion der Nimitz lief, wurde der Hubschrauber von einer Armeepa­trouille entdeckt. Die Soldaten waren äußerst freundlich. Sie hatten gehört, was geschehen war.

Der Oberst, der sie anführte, nannte die sechs Männer im Hubschrauber seine Freunde und Abfallbeseitiger von höchsten Qualitäten. Er über­bringe ihnen den Gruß des Präsidenten seines Landes, sagte er. — Von Verletzung der Hoheits­rechte oder unerlaubtem Eindringen in das Terri­torium Mauretaniens war nicht die Rede.

Da der Oberst so freundlich war, nützte Urban die Situation, denn der Weg über die Nimitz schien ihm zu umständlich.

Der Colonel war hocherfreut, einem Agenten, der auch am Arsch der Welt, wie er diese Gegend nannte, kein Unbekannter war, einen Dienst erweisen zu dürfen.

Der nächste internationale Flugplatz war Dakar. Ein Jeep brachte Urban zur Grenze, wo er mit einem uralten Dodge mit ein paar uralten senega­lesischen Bauern mit uralten gerupften Hennen im Korb irgendwann nach Dakar gelangte.

Am Airport herrschte Generalstreik. Tausende von Senegal-Negern und Touristen

warteten auf eine Flugverbindung nach Europa. Hauptsächlich Schwarze, die hier von umgerechnet zehn D-Pfennigen pro Tag ohne Arbeit und ohne Chance vegetieren mußten.

Den Touristen ging es etwas besser. Meist waren es Rucksackreisende, Billigflieger. Irgendwo in Europa übten sie eine einfache Tätigkeit aus,

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fegten Straßen, brieten Buletten, zogen in einer Automobilfabrik die linke Schraube an der Hinter­achse eines Kleinwagens fest.

Urbans Name wurde mehrmals aufgerufen, Zwei Stewardessen suchten ihn. Doch er blieb in Dek­kung.

Er genoß die Anonymität in der Masse der Unterprivilegierten regelrecht. Geduldig wartend, ordnete er sich in die Schlange ein.

Die Zeiten hatten sich geändert. Bald würde nichts mehr so sein wie früher. — Und hier fing es an damit.

E N D E

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