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GEZEITEN GEOPHYSIK © 2011 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 2/2011 (42) Phys. Unserer Zeit 77 Schrift immer horizontal leserlich bleibt: Es ist also keine Ro- tation, sondern eine Umwälzbewegung (siehe hierzu die animierte Grafik auf Wikipedia, Stichwort Gezeiten). Der Radius dieser Kreisbewegung entspricht drei Vier- teln des Erdradius. Wenn alle Punkte auf der Erde dieselbe Drehung beschreiben, dann unterliegen sie auch alle der- selben Fliehkraft, und diese zeigt immer vom Mond weg. Es sind also Gravitations- und Fliehkräfte für die Gezei- ten verantwortlich. Die Gravitationskräfte auf der dem Mond zugewandten Seite sind wegen des geringeren Ab- stands stärker als die auf der dem Mond abgewandten Sei- te und zeigen immer zum Mond hin (Abbildung 2). Die Fliehkräfte, hervorgerufen durch die Bewegung der Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt,sind überall gleich und zeigen immer vom Mond weg. Die Gezeitenkräfte ergeben sich aus der Resultierenden der beiden Kräfte. Da das Sys- tem symmetrisch um die Achse Erde-Mond ist, sind auch die Kräfte symmetrisch um sie herum verteilt. Somit verleihen die Gezeitenkräfte der Erde die Form eines Rugbyballs, was etwa einem Rotationsellipsoid entspricht. Die Gezeitenkraft ist jedoch je nach geografischer Brei- te verschieden in Richtung und Betrag. An den Polen sind Gravitation und Fliehkraft vom Betrag gleich groß, aber die Richtungen sind verschieden, ja fast entgegengesetzt. Der Ebbe und Flut Eine kurze Geschichte der Gezeiten WOLFGANG G LEBE Ebbe und Flut habe ihre Ursache bekannter- maßen in der Schwerkraftwirkung von Sonne und Mond. Viele Details lassen sich jedoch erst erklären, wenn man topografische und strömungsdynamische Einflüsse berücksich- tigt. DOI: 10.1002/piuz.201101257 H istorisch ist das Phänomen der Gezeiten schon seit mehr als 2000 Jahren bekannt. Bereits die Griechen bemerkten „launenhafte Strömungen“ an bestimmten Meer- engen. Platon glaubte, dass die Phänomene mit Erdoszilla- tionen zusammenhingen. Auch wurden von den Babylo- niern im Roten Meer und am Golf ebenfalls Verbindungen zwischen Mondphasen und Meeresniveau festgestellt. Die ersten wissenschaftlichen Hypothesen stammen von Kepler und Galilei. Ähnlich wie Kopernikus waren sie davon überzeugt, dass die Gezeiten durch die Erdrotation sowie durch die Bewegung der Erde um die Sonne hervor- gerufen würden. Dann kam Isaac Newton mit der Theorie, dass die Gezeiten nicht das Ergebnis von Fliehkräften, son- dern von Gravitationskräften von Sonne und Mond seien. Damit konnte er den 12-Stunden-Rhythmus sowie die Nipp- und Springfluten bei Neu- und Vollmond erklären. Leider beschränkte Newton sich auf ein einfaches sta- tisches Modell und konnte die dynamischen Effekte nicht mitberücksichtigen. Es dauerte daher noch ein Jahrhundert, bis Simon de Laplace die hydrodynamischen Effekte be- trachtete und zu dem richtigen Schluss kam,dass es sich um periodische Wellenbewegungen handelte,die mit Hilfe der Trigonometrie beschrieben werden konnten. Ursache der Gezeitenkraft Nähern wir uns dem Phänomen der Gezeiten erst einmal vom astronomischen Standpunkt aus (Abbildung 1). Erde und Mond rotieren um einen gemeinsamen Schwerpunkt. Dieser liegt innerhalb der Erde, bei rund drei Viertel auf dem Weg zur Oberfläche. Denkt man sich den Schwerpunkt als Rotationsmittelpunkt, so ähnelt die Bewegung der Erde einem Bierdeckel, der zwar im Kreis bewegt wird, sich aber nicht dreht, sondern nur verschoben wird, so dass die Online-Ausgabe unter: wileyonlinelibrary.com An der Bretagne- Küste ist der Tidenhub so groß, dass Schiffe bei Ebbe auf Grund liegen (Foto: W. Glebe).

Eine kurze Geschichte der Gezeiten. Ebbe und Flut

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G E Z E I T E N G EO PH YS I K

© 2011 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 2/2011 (42) Phys. Unserer Zeit 77

Schrift immer horizontal leserlich bleibt: Es ist also keine Ro-tation, sondern eine Umwälzbewegung (siehe hierzu dieanimierte Grafik auf Wikipedia, Stichwort Gezeiten).

Der Radius dieser Kreisbewegung entspricht drei Vier-teln des Erdradius. Wenn alle Punkte auf der Erde dieselbeDrehung beschreiben, dann unterliegen sie auch alle der-selben Fliehkraft, und diese zeigt immer vom Mond weg.

Es sind also Gravitations- und Fliehkräfte für die Gezei-ten verantwortlich. Die Gravitationskräfte auf der dem

Mond zugewandten Seite sind wegen des geringeren Ab-stands stärker als die auf der dem Mond abgewandten Sei-te und zeigen immer zum Mond hin (Abbildung 2). DieFliehkräfte, hervorgerufen durch die Bewegung der Erdeum den gemeinsamen Schwerpunkt, sind überall gleich undzeigen immer vom Mond weg. Die Gezeitenkräfte ergebensich aus der Resultierenden der beiden Kräfte. Da das Sys-tem symmetrisch um die Achse Erde-Mond ist, sind auch dieKräfte symmetrisch um sie herum verteilt. Somit verleihendie Gezeitenkräfte der Erde die Form eines Rugbyballs,wasetwa einem Rotationsellipsoid entspricht.

Die Gezeitenkraft ist jedoch je nach geografischer Brei-te verschieden in Richtung und Betrag. An den Polen sindGravitation und Fliehkraft vom Betrag gleich groß, aber dieRichtungen sind verschieden, ja fast entgegengesetzt. Der

Ebbe und Flut

Eine kurze Geschichte der Gezeiten WOLFGANG GLEBE

Ebbe und Flut habe ihre Ursache bekannter-maßen in der Schwerkraftwirkung von Sonneund Mond. Viele Details lassen sich jedocherst erklären, wenn man topografische undströmungsdynamische Einflüsse berücksich-tigt.

DOI: 10.1002/piuz.201101257

Historisch ist das Phänomen der Gezeiten schon seitmehr als 2000 Jahren bekannt. Bereits die Griechen

bemerkten „launenhafte Strömungen“ an bestimmten Meer-engen. Platon glaubte, dass die Phänomene mit Erdoszilla-tionen zusammenhingen. Auch wurden von den Babylo-niern im Roten Meer und am Golf ebenfalls Verbindungenzwischen Mondphasen und Meeresniveau festgestellt.

Die ersten wissenschaftlichen Hypothesen stammenvon Kepler und Galilei. Ähnlich wie Kopernikus waren siedavon überzeugt, dass die Gezeiten durch die Erdrotationsowie durch die Bewegung der Erde um die Sonne hervor-gerufen würden. Dann kam Isaac Newton mit der Theorie,dass die Gezeiten nicht das Ergebnis von Fliehkräften, son-dern von Gravitationskräften von Sonne und Mond seien.Damit konnte er den 12-Stunden-Rhythmus sowie die Nipp-und Springfluten bei Neu- und Vollmond erklären.

Leider beschränkte Newton sich auf ein einfaches sta-tisches Modell und konnte die dynamischen Effekte nichtmitberücksichtigen. Es dauerte daher noch ein Jahrhundert,bis Simon de Laplace die hydrodynamischen Effekte be-trachtete und zu dem richtigen Schluss kam,dass es sich umperiodische Wellenbewegungen handelte, die mit Hilfe derTrigonometrie beschrieben werden konnten.

Ursache der Gezeitenkraft Nähern wir uns dem Phänomen der Gezeiten erst einmalvom astronomischen Standpunkt aus (Abbildung 1). Erdeund Mond rotieren um einen gemeinsamen Schwerpunkt.Dieser liegt innerhalb der Erde, bei rund drei Viertel aufdem Weg zur Oberfläche. Denkt man sich den Schwerpunktals Rotationsmittelpunkt, so ähnelt die Bewegung der Erdeeinem Bierdeckel,der zwar im Kreis bewegt wird, sich abernicht dreht, sondern nur verschoben wird, so dass die

Online-Ausgabe unter:wileyonlinelibrary.com

An der Bretagne-Küste ist derTidenhub sogroß, dass Schiffebei Ebbe aufGrund liegen(Foto: W. Glebe).

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Gravitationsvektor ist ganz leicht schräg abwärts geneigt,weil er direkt ins Mondzentrum zeigt. Die Fliehkraft hinge-gen ist parallel zur Verbindungsachse, weil sie immer exaktvom Mond weg zeigt. Daraus folgt, dass die Gezeitenkraftin den Polargebieten sehr klein ist und sogar nach innenwirkt. Unmittelbar am Pol weist sie senkrecht nach unten.

Am Äquator ist das anders. Auf der dem Mond zuge-wandten Seite ist der Abstand zum Mond geringer,daher istdie Gravitation größer als die Fliehkraft, zeigt aber in exaktentgegengesetzte Richtung. Die Resultierende ist daher par-allel zur Achse und zeigt in Richtung Mond. Ihr Betrag istgleich der Differenz aus den beiden Kräften. Der Gezei-tenvektor steht senkrecht auf der Oberfläche.

Auf der dem Mond abgewandten Seite haben wir amÄquator den umgekehrten Fall. Hier ist der Abstand zumMond größer,die Gravitationskraft also kleiner und die Flieh-kraft größer als die Gravitation. Die Resultierende steht wie-der senkrecht auf der Oberfläche,weist aber vom Mond weg.

In allen Bereichen zwischen Pol und Äquator könnenwir die resultierende Gezeitenkraft aufspalten in eine wir-kungsvolle Komponente (waagerecht zur Erdoberfläche)und eine wirkungslose Komponente (senkrecht zur Erd-oberfläche). Nur die wirkungsvolle horizontale Kompo-nente verschiebt die Wassermassen seitlich und ist verant-wortlich für die Gezeiten. Sie ist die Projektion des Vektorsauf die Erdoberfläche.

An den Polen und am Äquator ist die wirkungsvolle Ge-zeitenkomponente null, dazwischen muss also irgendwoein Maximum liegen,bei dem der Gezeitenvektor exakt ho-rizontal liegt. Dieses befindet sich bei 45° Breite. Weitersüdlich zeigt der Vektor immer weiter nach außen, weiternördlich zeigt er mehr und mehr nach innen. Die spekta-kulärsten Gezeiteneffekte treten deshalb in einem etwa 15Grad breiten Gürtel um 45° auf. Wäre die Erde vollständigmit Wasser bedeckt, so würden die Gezeiten in diesem Mo-dell in diesen Breiten eine Höhenvariation von etwa 50 Zen-timetern hervorrufen,was im Fall der offenen Ozeane auchdurchaus realistisch ist.

Zeitabhängige Effekte: Spring- und NippflutDas bisherige Modell einer kugelförmigen, vollständig mitWasser bedeckten Erde erklärt natürlich noch nicht diewirklich auftretenden Gezeiteneffekte. Hierzu müssen wirweitere orts- und zeitabhängige Effekte berücksichtigen.

Die ortsabhängigen Effekte sind einfach zu verstehen:Jeder Küstenort hat seine geografischen Eigentümlichkei-ten. Die zeitabhängigen Schwankungen hängen von vielenFaktoren ab, insbesondere von der Stellung des Mondes re-lativ zur Sonne, von der Neigung der Erdachse zum Leit-strahl der Sonne, von der Neigung der Rotationsachse zurUmlaufebene des Mondes sowie von Korrekturtermen, diesich daraus ergeben, dass sich weder Erde noch Mond aufKreisbahnen bewegen, sondern auf Ellipsen.

Betrachten wir einmal einen bestimmten Ort, zum Bei-spiel Brest an der französischen Bretagneküste. Die Datender französischen Seefahrtsbehörde SHOM zeigen periodi-sche Schwankungen mit unterschiedlicher Amplitude (Ab-bildung 3). Es gab zwei Maxima und zwei Minima im Sep-tember 2009. Zwei bis drei Tage nach Voll- oder Neumonderreichte der Tidenhub seine Extremwerte. Diese Maximawerden Springflut und die Minima Nippflut genannt. Wasist ihre Ursache?

Bei dem Umlauf des Mondes um die Erde ändert sichständig der Winkel zur Sonne. Dadurch entstehen die Mond-phasen. Um die Wirkung auf die Flutberge zu verdeutlichen,wurden diese in Abbildung 4 stark überhöht gezeichnet.Bei Voll- und Neumond sind die Gezeiten besonders aus-geprägt sind,weil sich hier die Gravitation von Sonne (grobgestrichelt) und Mond (fein punktiert) addieren. Damit kannman auch erklären, warum sich in den Zwischenphasen(rechtwinklige Stellung) die Gezeiteneffekte gegenseitigschwächen.

Der Mond ist zwar wesentlich kleiner als die Sonne,dafür steht er aber der Erde viel näher. Aus dem Newton-schen Gravitationsgesetz und den Daten für die Massen undAbstände von Sonne und Mond zur Erde findet man, dassdie Gravitation der Sonne rund 200-mal stärker ist als die

M

M

A B B . 1 D R E H B E W EG U N G

Drehbewegung der Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt.

M

FliehkraftSchwerpunktssystem

Gravitationskraft

ResultierendeGezeitenkraft

A B B . 2 K R Ä F T E

Die an verschiedenen Punkten der Erde wirkenden Kräfte .

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des Mondes. Aber das Gravitationsfeld des Mondes weist amOrt der Erde einen größeren Gradienten auf als das derSonne, wie man mit folgender Rechnung leicht herausfin-det.

Die Gravitationskraft F zwischen zwei Körpern mit denMassen m1 und m2 ändert sich bei leichten Entfernungs-änderungen umgekehrt mit der dritten Potenz des AbstandsR (Ableitung des Gravitationsgesetzes nach R): dF/dr = –2G·m1·m2·r/R3. Das heißt für Mond (Index M) und Sonne(Index S):

Dividiert man die zweite Gleichung durch die erste, so er-hält man:

Mit den astronomischen Werten ergibt sich: dFM/dFS =5,84·107·3,7·10–8 = 2,16. Der genauere,heute allgemein ak-zeptierte Wert beträgt 2,17. Die Gezeitenwirkung des Mon-des ist also 2,17-mal größer als die der Sonne.

Wie wir in Abbildung 3 auch sehen können, liegen dieMaxima und Minima nicht exakt bei Voll- und Neumond,sondern sind um wenige Tage nach hinten verschoben. Dieshat ihre Ursache in der Trägheit des Wassers. So braucht dieFlutwelle, die sich im Südatlantik formt, eine Weile, bis siein den Norden vorgedrungen ist. Rechnet man mit einer Ge-schwindigkeit einer Welle von 200 m/s, so legt diese am Tagrund 17 000 km zurück. Die Welle schwappt also vom Süd-atlantik in den Norden und benötigt, bis sie dort ange-kommen ist,etwa einen Tag. Vorausgesetzt, sie hat eine Mee-restiefe von drei bis vier Kilometern zur Verfügung. Kommtsie jedoch in seichtere Gewässer (Nordsee, Ärmelkanal), sowird sie abgebremst. Zusätzlich wird sie durch Landmassenund unterschiedliche Küstenformen verschieden stark ge-

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3 3.

bremst und reflektiert, so dass man von durchschnittlichzwei Tagen Verspätung ausgehen kann, bevor sie an derfranzösischen Westküste ankommt.

Erweitern wir unsere Betrachtung und schauen wir aufdie Höhe von Spring- und Nippflut nicht nur im Laufe ei-nes Monats, sondern eines ganzen Jahres, dann stellen wirfest, dass diese sich ebenfalls langfristig verändern (Abbil-dung 5). Die halbmonatlichen Springfluten (rote Punkte),die am Anfang des Jahres dominant gegenüber den anderenSpringfluten sind (gelbe Punkte), werden ab April kleinerals diese. Dieser Trend kehrt sich im Oktober wieder um.Es gibt ausgeprägte Maxima der Springfluten im Febru-ar/März und August/September, wohingegen es ausgepräg-te Minima der Nippfluten ebenfalls im Februar/März undAugust/September gibt. Auch die Minima der Nippflutenkehren sich in ihrer Dominanz zweimal pro Jahr um. Ursa-che hierfür ist die Neigung der raumfesten Erdrotations-

Brest - September 2009

4

4,5

5

5,5

6

6,5

7

7,5

8

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Tid

enh

ub

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Vollmond Erstes Viertel

Neumond

Letztes Viertel

A B B . 3 T I D E N H U B S C H WA N KU N G E N

Monatliche Schwankungen des Tidenhubs bei verschiedenenMondständen.

Sonne

Springflut bei Voll – und Neumond

M

Sonne

Nippflut bei zunehmender Mondphase

A B B . 4 M O N DS T E L LU N G E N

Stellung des Mondes bei Voll-, Neu- und Halbmond.

0

20

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Mai

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Brest - 2009

Ko

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A B B . 5 S PR I N G - U N D N I PP F LU T

Koeffizienten von Spring- und Nippflut über das ganze Jahrverteilt.

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achse gegenüber der Umlaufbahnebene um die Sonne um23,5° (Abbildung 6).

Dadurch ergeben sich vier ausgezeichnete Punkte: ZuSommeranfang (21. Juni) ist der Nordpol permanent zurSonne hin geneigt (Mitternachtssonne im nordischen Som-mer), im Winter ist das Gegenteil der Fall. Zu Frühjahrs- undHerbstanfang steht der Leitstrahl exakt senkrecht auf der Ro-tationsachse. Daher sind zu diesen Zeitpunkten die Spring-und Nippfluten maximal beziehungsweise minimal. Die Ge-zeitenkräfte von Sonne und Mond stehen beide in dersel-ben Ebene und addieren sich. Warum ist aber bei Vollmonddie Flut stärker als bei Neumond?

Der Hauptfaktor ist die Variation der Entfernung zwi-schen Mond und Erde. Der Mond beschreibt auf seiner Bahnnämlich eine Ellipse. Folglich sind im erdnahen Punkt dieGezeitenkräfte stärker. Der erdnahe Punkt ist 356 000 kmentfernt und der erdferne Punkt 407 000 km (14 % mehr).Da sich die Gezeitenkräfte mit der dritten Potenz des Ab-stands ändern, vergrößert sich auch die Kraft auf die Was-serteilchen der Ozeane um den Faktor (1,14)3 = 1,48, ent-sprechend 48 %.

Eine weitere Frage ist, warum kein exakter 6-Stunden-Rhythmus existiert. Weil die Erdoberfläche sozusagen un-ter den Flutbergen und Ebbetälern hindurch rotiert,bewegtsich der Flutberg ständig um die Erde. Nach dem zuvor be-schriebenen Rugbyball-Modell müsste also, wenn es keineKontinente gäbe,eine Gezeitenperiode exakt zwölf Stundendauern. Tatsächlich beträgt der Abstand durchschnittlich12,8 Stunden. Eine Periode dauert also ungefähr 25,6 Stun-den. Genau besehen, steigt die Verzögerung alle 14 Tagedeutlich an. Es treten Minima mit 35 und Maxima mit über80 Minuten auf. Das hat mehrere Ursachen.

Zum einen wandert der Mond in 27,3 Tagen einmal umdie Erde,entsprechend 13,2° pro Tag. Das sind bezogen auf360° Erdrotation 3,66 %, was bei einem 24-Stunden-Tag 53Minuten entspricht. Deshalb treten Ebbe und Flut jeweilsrund 26 Minuten später auf als die vorige. Zum anderengibt es zwei weitere Effekte, die nicht innerhalb eines Jah-reszyklus auftreten und im Vergleich zu den bisher be-schriebenen Effekten relativ schwach sind. Dennoch sindsie über lange Zeiträume betrachtet bemerkenswert.

Wie wir gesehen haben, sind die Springfluten bei Tag-und Nachtgleiche besonders extrem. Jedoch gibt es auch

hier Schwankungen. In einem Rhythmus von etwa 4,4 Jah-ren sind sie besonders stark. Der Grund liegt darin, dasssich die Mondbahn mit einer Periode von 8,85 Jahren ent-gegen dem Uhrzeigersinn dreht. Da sowohl Neumond alsauch Vollmond für Springfluten verantwortlich sind, tretendiese zweimal pro Periode auf, also alle 4,4 Jahre.

Ein weiterer Rhythmus mit größerer Periode geht aufdie Präzession der Mondbahn gegen die Erdbahn zurück.Die Mondbahn ist im Mittel 5° gegen die Erdbahn geneigt.Diese Neigung variiert aber zwischen –5° und +5° in einemRhythmus von 18,6 Jahren. Die Neigung der Mondbahnschwankt damit relativ zum Leitstrahl der Sonne nicht nurim Jahresrhythmus zwischen –23,5° und +23,5°, sondernauch noch um die Präzessionsschwankung.

Je flacher der Mondorbit geneigt ist, desto stärker wirktdie resultierende Gezeitenkraft von Sonne und Mond beiVollmond und Neumond. Der Tidenhub fällt deshalb imWinter in den Jahren, in denen die Schwankung 28° be-trägt, geringer aus, als im Winter in den Jahren, in denen sienur 18° beträgt.

Ortsabhängige EffekteDie Ursache der Gezeiten ist eine astronomische, die Re-aktion der Meere hingegen eine topografische. Eine Flut-welle wird zum Beispiel an den Küsten der Kontinente re-flektiert. Sie schwappt wieder zurück in den Ozean undüberlagert sich mit der nächsten Welle. Der gesamte Atlan-tik ist somit übersät mit Flutwellen, die von verschiedenenKüsten hin und her reflektiert wurden und sich überlagern(interferieren). Wie äußert sich das in Nordeuropa?

Im europäischen Atlantik sind die Gezeiten gerade ander deutschen und holländischen Nordsee, dem Ärmelka-nal, der französischen Atlantikküste und in der Bucht vonBristol besonders ausgeprägt. Die Nordsee ist ein relativkleines Meer mit nur einer offenen Seite nach Norden undeinem schmalen Zugang nach Südwesten. Daher können inder Nordsee keine direkten Flutwellen entstehen. Die Ge-zeiten sind hier das Ergebnis der atlantischen Tiden, wozwei Flutwellen miteinander interferieren: die Flutwelle,diedurch den Ärmelkanal hindurchgeht und bei Holland in dieNordsee trifft, sowie die Flutwelle, die nördlich von Schott-land nach Osten hin abgelenkt wird und deren „Schwanz“von Norden her in die Nordsee eindringt. Die resultieren-de Welle trifft auf die westfriesischen Inseln, dringt weiternach Osten vor, in die Flüsse Weser und Elbe hinein,und be-wegt sich anschließend nach Norden in Richtung Däne-mark. Sie zeigt jedoch gegenüber anderen europäischen Or-ten nur relativ geringe Tidenhübe.

Ein starker Effekt der Gezeiten zeigt sich im Ärmelka-nal, zwischen Brest und Plymouth im Westen und zwischenCalais und Dover im Osten (Abbildung 7). Bei den hier an-gegebenen Werten handelt es sich um die ortsabhängige,aber zeitunabhängige Höheneinheit U. Sie ist historisch be-gründet und wird von der französischen SeefahrtsbehördeSHOM herausgegeben (siehe „Internet“ auf S. 83). Gleich-zeitig definiert sie den zeitabhängigen Gezeitenkoeffizien-

Sonne

Neumond

Vollmond

Nordpol

Südpol 21. März 23. September M

M

21. Juni 21. Dezember

A B B . 6 J A H R E S Z E I T E N

Seitenansicht auf die Erdumlaufbahn zu den verschiedenenJahreszeiten.

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ten C. Damit kann man den Tidenhub in einen rein zeitab-hängigen Anteil C (Gezeitenkoeffizient) und einen ortsab-hängigen Anteil U (Höheneinheit) aufspalten. Der TidenhubT ergibt sich dann aus: T = 2·U·C (T in Zentimetern). InDeutschland ist dieses Koeffizientensystem nicht üblich, da-her sind in den Gezeitenkalendern auch nur Mittelwerteüber die Tidenhübe zu finden. Man erkennt in Abbildung 7,dass in der Bucht des Mont St. Michel die Höheneinheitendramatisch ansteigen. Bei einem Koeffizienten C = 100 wirddie Flut in dieser Bucht 6·2·100 = 12 m hoch. Durch das ex-trem flache Wattenmeer kommt die Flut oft nicht nur inForm einer Welle, sondern der Wasserstand steigt langsamauch „von unten“ durch das Watt an, ohne dass eine richti-ge Welle erkennbar ist. Aber warum treten die vergleichs-weise hohen Unterschiede ausgerechnet im Ärmelkanal auf?

Wichtig für die geografischen Auswirkungen der Wellenist die Tatsache, dass die Fortbewegungsgeschwindigkeitvon Wasserwellen proportional mit der Quadratwurzel derTiefe ansteigt. Die Bucht von Biskaya ist nicht nur nachzwei Seiten hin offen, sondern auch sehr tief. Tiefes Wasserermöglicht schnelle Wellenbewegungen, und die weitge-hende Offenheit bewirkt,dass Ebbe und Flut einfach an derKüste stranden und teilweise wieder zurück in den Ozeanreflektiert werden. Das führt zu einer Faustregel: Je tieferdas Meer, desto weniger stark ausgeprägt die Gezeiten.

Deswegen sieht es im Ärmelkanal ganz anders aus. Dortist das Wasser mit einer durchschnittlichen Tiefe von nurrund 100 m sehr seicht . Der Küstenverlauf ist dazu extremunregelmäßig. Die Flutwelle, die vom Atlantik her kommt,dringt gewissermaßen in eine „Bucht“ zwischen Cornwallund der Bretagne ein,die an ihrer Öffnung nur 150 km breitist. Das gesamte Wasser muss sich also durch diese Veren-gung zwängen und wird folglich in die Höhe aufgetürmt(Kontinuitätsgleichung). Die Verengung ist zudem extremasymmetrisch. Die englische Südküste kann zwar noch alshalbwegs linear angesehen werden, aber die Halbinsel derNormandie bei Cherbourg bildet eine starke Bremse. Sie

wirkt wie ein rechtwinklig ausgestrecktes Hindernis mittenim „Fluss“,eine Art Flaschenhals. An dieser Stelle ist der Ka-nal nur noch 90 km breit. Das Wasser trifft fast frontal aufdie Westküste der Normandie auf. Ein Teil wird nach Südenin die Bucht des Mont St. Michel abgeleitet, wo sich danndie hohen Flutwellen auftürmen.

Der nördliche Teil gelangt hinter das erste Hindernis anLe Havre vorbei nach Osten. Dort bekommt die Flut an derBaie de la Somme noch mal einen kleinen „Schubs“,der dieGezeiten ansteigen lässt,bevor der Flaschenhals kommt unddie Welle sich bei Calais und Dover durch eine nur 30 kmbreite Wasserstraße hindurch bewegen muss. Danach in-terferiert die Welle mit der von Schottland kommenden Flut-welle und bildet eigenartige Phänomene, die weiter untennoch erläutert werden. Das führt zu einer zweiten Faustre-gel: Je mehr sich das Meer durch „Flaschenhälse“ hin-durcharbeiten muss, desto stärker ausgeprägt die Gezeiten.Und noch etwas kann man festhalten: An den Landzungensind die Gezeiten deutlich weniger stark ausgeprägt als tiefin Buchten.

Der Ort mit dem zweithöchsten Tidenhub der Welt(nach eigenen Angaben) liegt in der Bucht bei Cardiff undBristol. Dort beträgt eine ganz normale Flut schon zehn Me-ter. Auch hier bewirkt das Prinzip Falschenhals, dass die-selbe Welle, die durch den Ärmelkanal geschleust wird, imBristol Channel in eine Sackgasse gerät. Die mit Abstandhöchsten Tidenhübe werden jedoch in Kanada erreicht,zwischen New Brunswick und Nova Scotia liegt die FundyBay. Sie ist etwa 200 km lang,100 km breit und verengt sichzunehmend. Hier werden jeden Tag 100 Milliarden TonnenWasser bewegt, und es treten Fluthöhen von 14 bis 20 mauf.

Man sieht, dass die Flutwelle von Brest bis nach Calaisrund acht Stunden benötigt,was eine Geschwindigkeit von60 km/h bedeutet. Brest liegt jedoch sechs Längengradevon Calais entfernt, was rund 24 Minuten entspricht. Wennder Mond Punkt 8 Uhr über Calais steht, wird er 24 Minu-ten später über Brest stehen. Dort ist aber die Flutwelleschon acht Stunden früher vorbeigekommen. Das scheintzunächst widersprüchlich zu sein.

Der jeweilige Mondstand hat also mit der aktuellen,vonihm erzeugten Flutwelle zumindest zeitlich nichts zu tun.Eine zeitliche Zuordnung der Mondposition mit der Höheder Flut kann nicht gegeben werden. Diese Zeitverschie-bung ist weitgehend konstant, jedoch von Hafen zu Hafenunterschiedlich. Der Grund liegt darin, dass die Gezeiten-phänomene nicht immer synchron zu den astronomischenErscheinungen auftreten. Der „Flutberg“ entsteht im Süd-atlantik und breitet sich dann nach Norden aus. An die fran-zösische Atlantikküste, die ja nach Westen hin offen ist,dringt die Flut daher überall fast gleichzeitig vor.

Vor dem Ärmelkanal ist die Lage aber ganz anders (Ab-bildung 8): Ein Teil dringt in den Kanal ein, und ein ande-rer Teil wandert an Irland und England entlang weiter nachNorden. Die lange Dauer von acht Stunden erklärt sich mitder verringerten Wellengeschwindigkeit in dem seichten

Plymouth

Höheneinheiten

Brest St. Malo

Concarneau Mt. St. Michel

Granville

Le HavreHonfleur

Baie de la Somme

Calais

4,5

2,5

33,5 4 4,5 5 5,5

6

3

21,5

3

3,5

4 4,5

A B B . 7 Ä R M E L K A N A L

Höheneinheiten im Ärmelkanal. Die angegebenen Wertemüssen mit dem doppelten Gezeitenkoeffizienten multipli-ziert werden, um den Tidenhub in Metern zu erhalten.

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Gewässer des Ärmelkanals. Wären die Ozeane überall 10 bis20 km tief,dann wären die Wellengeschwindigkeiten höherund Mondstand und Flutwelle in etwa synchron.

Den zeitlichen Verlauf der Flutwelle an der deutschenNordsee zeigt Abbildung 9, wobei Borkum als willkürlicherNullpunkt gewählt wurde. Die Flutwelle wandert langsamnach Osten, kommt etwa eine Stunde später bei Wange-rooge an und dringt dann in den Weser-Meerbusen ein. Cux-haven erreicht sie rund zwei Stunden später, ebenso diesüdliche Westküste von Schleswig-Holstein. Dann wandertsie langsam nach Norden und gelangt nach 2,5 Stunden zuden Nordfriesischen Inseln. Zur deutschen Festlandküstesowie zur Ostküste nach Westerland dauert es dann nocheine halbe Stunde, weil die Inseln die Flutwelle bremsen.Auch in den Flussmündungen dauert es lange, bis derHöchststand erreicht ist. Hamburg bekommt 5,5 Stundenspäter Hochwasser als Borkum, Bremen vier Stunden spä-ter.

Den größten Tidenhub in der Nordsee weisen die Küs-tenorte in der Nähe der Elb- und Wesermündung auf, weilhier die Trichterwirkung einsetzt. Die höchsten Werte um2,5 Meter werden um Bremerhaven, Cuxhaven und Fried-richskoog erreicht.

Interferenz von FlutwellenInteressanterweise gibt es in der Nordsee Punkte, an denenes praktisch gar keinen Tidenhub gibt. Diesen Effekt nenntman Amphidromie (gr. amphi: rundum und dromos: Ver-lauf). Hier bewegen sich die Flutwellen praktisch um dieAmphidromie-Punkte herum (Abbildung 10). Herrscht inOstengland Ebbe, so steigt in der deutschen Bucht die Flut.Die ursprüngliche Flutwelle,die von Schottland von Nordenher in die Nordsee eindringt, breitet sich an der englischenOstküste entlang nach Süden aus. Nördlich der Them-semündung, in East Anglia,bewegt sie sich jedoch nur nochsehr langsam nach Süden, denn dort stößt sie mit der vomKanal auslaufenden Flutwelle zusammen. Als Interferenzef-fekt ergibt sich in der Mitte zwischen Norfolk und Amster-dam eine Amphidromie.

Es gibt insgesamt drei Amphidromie-Punkte in der Nord-see: südlich von Norwegen, auf der Doggerbank 300 kmnordwestlich von Sylt,und am Ausgang des Ärmelkanals. Al-le Punkte auf der roten Linie in Abbildung 10 haben zur glei-chen Zeit Hochwasser. Ähnlich wie in der Elektrostatik dieelektrischen Feldlinien immer senkrecht auf den Äquipo-tentialflächen stehen,so stehen hier die Linen gleicher Flut-zeitpunkte senkrecht auf den Linien gleicher Tidenhübe.

Amphidromie-Punkte sind also eine Folge der Interfe-renz von Flutwellen, die in der Nordsee auf folgende Weiseentstehen: Da die Nordsee zu klein ist,um selbstständig Ge-

1 h 2 h

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Zeitliches Vordringen der Flutwelle in den Ärmelkanal.

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Zeitliches Vordringen der Flutwelle in die Deutsche Bucht(gelbe Zahlenfelder: Minuten).

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Amphidromie in der Nordsee mit den drei Zentren.

Page 7: Eine kurze Geschichte der Gezeiten. Ebbe und Flut

G E Z E I T E N G EO PH YS I K

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zeitenwellen auszubilden,erhält sie ihre Impulse durch denAtlantik. Diese Wellen werden nun an den Küsten reflektiertund interferieren miteinander. Durch die relative Enge unddie fast rechteckige Form der Nordsee, die nur nach Nor-den hin offen ist, können sich hierin stehende Wellen mitSchwingungsbäuchen und Schwingungsknoten ausbilden.

Die Tiden-Frequenz in der Nordsee liegt bei etwas mehrals zwölf Stunden. Damit können wir die Wellenlänge ab-schätzen. Bewegt sich eine Flutwelle im tiefen Wasser von4000 m, dann liegt die Wellengeschwindigkeit bei etwa 200 m/s. Da diese jedoch mit der Wurzel der Meerestiefezunimmt, besitzt sie folglich bei einem Hundertstel der Tie-fe (der gesamte südliche Teil der Nordsee ist kaum tiefer als40 m) nur noch ein Zehntel der Geschwindigkeit, also rund72 km/h. Durch die Periode von zwölf Stunden dividiert,ergibt sich eine Wellenlänge von 864 km. Die Hälfte davonist der Abstand der einzelnen Knoten (halbe Wellenlänge),also grob gesagt 400 bis 450 km.

Ein Zeitraum von zwölf Stunden reicht durchaus für ei-ne offene Bucht wie die Nordsee, damit sich stehende Wel-len ausbilden. Die ankommende Wellenfront im Nordenwird nach rund sechs Stunden an der belgisch-niederlän-disch-deutschen Küste reflektiert und läuft wieder nachNorden zurück, wo sie auf eine neue Wellenfront trifft. Mitdieser überlagert sie sich zu einer stehenden Welle, die ir-gendwo in der Mitte ihre Knotenlinie hat. Durch die Sei-tenreflexion an Dänemarks und Englands Küsten entstehenweitere Knotenlinien. Alle Knotenlinien vereinigen sich zueinem Punkt, dem Amphidromie-Punkt. Dieser liegt nichtgenau in der Mitte, sondern etwas weiter östlich. Durch diegeringe Wassertiefe wird die ankommende Welle stark ab-gebremst, und die Coriolis-Kraft lenkt sie leicht nach Ostenhin ab. Daher sind an der britischen Ostküste die Tidenhü-be auch höher als in Dänemark,weil der Abstand zu den Am-phidromie-Punkten größer ist und sich demzufolge höhereAmplituden ausbilden können.

Amphidromien gibt es nicht nur in der Nordsee, son-dern sie sind ein weltweites Phänomen. Durch die Unre-gelmäßigkeiten der Küstenverläufe und der Meerestiefentreten Reflexionen und Interferenzen in den Ozeanen auf,die dazu führen, dass sich alle paar 1000 km diese Wirbel-punkte bilden, um die die Flutwellen herum kreisen. Zu-weilen können diese Punkte auch auf dem Land existieren.Madagaskar ist ein Beispiel dafür, wie sich die Gezeiten-wellen um die Insel herumbewegen.

Ungewöhnliche GezeitenfrequenzenLaplace erkannte als Erster, dass die Gezeiten nicht nur eindynamisches Phänomen sind, sondern sich auch als zykli-sche Bewegungen betrachten lassen. Betrachtet man Ebbeund Flut vereinfacht als Sinuswellen, so lassen sie sich alsÜberlagerung von Einzelwellen mit verschiedener Frequenzund Amplitude darstellen, die sich zu einer Flutwelle an ei-nem bestimmten Ort aufsummieren.

In Europa sind die Gezeiten mit halbtägiger Periode diewichtigsten. Das schließt aber nicht aus, dass es woandersGezeiten mit anderen Perioden gibt. So gibt es Wellen mitgroßer Amplitude bei einer Frequenz von zwölf Stundenund kleiner Amplitude bei sechs Stunden. Hier treten alsopro Tag nur eine Ebbe und eine Flut auf. Ein Beispiel hier-für ist der Ort Do Son in Vietnam. Diese Art von Gezeiten-frequenz ist ziemlich selten. Man beobachtet sie vornehm-lich im Pazifik, in Sibirien, Alaska und Südostasien.

Es gibt sogar gemischt-periodische Gezeiten, deren Fre-quenz sich ändert. Diese Gezeiten schwanken zwischen ei-nem halbtägigen und einem ganztägigen Rhythmus. Wel-che Frequenz gerade vorherrschend ist, richtet sich nachder Mondstellung. Ein Beispiel hierfür ist Qui Nhon in Vi-etnam. Dort beobachtet man, je nach Mondstellung, halb-tägige, danach ganztägige Gezeiten.

ZusammenfassungEbbe und Flut haben auf der Erde ihre Ursache in der Gravi-tation von Sonne und Mond. Diese zeitabhängigen Effektehängen von der Stellung des Mondes relativ zur Sonne, derNeigung der Erdachse zur Sonnen- und Mondbahn sowie zahl-reichen anderen Parametern ab. Diese zeitabhängigen Effek-te wirken periodisch. Hinzu kommt die von geografischen Ge-gebenheiten abhängende „Reaktion“ der Ozeane auf die Ge-zeitenkraft. Hierbei spielen auch Interferenzen von Flutwelleneine Rolle.

Stichworte Gezeiten, Ebbe, Flut, Springflut, Nippflut, Interferenz vonFlutwellen, Amphidromie-Punkt.

Literatur [1] Gezeitenkalender 2009, Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrogra-

phie (BSH), Hamburg und Rostock 2008.[2] Gezeitenkalender, Le Petit Indicateur des Marées 2009, Les editions

Or-Carbon, Brest 2009. [3] O. Guérin, Tout savoir sur les marées, Editions Ouest France, Rennes 2004.

Der AutorWolfgang Glebe studierte Physik und promoviertean der Universität Heidelberg. Seit 25 Jahren ist erals internationaler Projektmanager in der Industrietätig, davon 15 Jahre in Frankreich. Die Liebe zumAtlantik und den Gezeiten brachte ihn auf die Ideeeines Buches.

AnschriftDr. Wolfgang Glebe, 30 rue de la victoire, F-67205 Oberhausbergen, [email protected]

Aktuell zum Thema

Ebbe und Flut. Das Naturphäno-men der Gezeiteneinfach erklärt, W. Glebe, 127 S.,40 Fotos, 92Zeichnungen,Delius Klasing2010, brosch. 14,– b. ISBN-10: 3-768-83193-0.

I N T E R N E T |Französische Gezeitentabellen des Service Hydrologique etOcéanographique de la Marinewww.shom.fr

Deutsche Gezeitentabellen des Bundesamts für Seeschifffahrtund Hydrographie (BSH)www.bsh.de