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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik Von MANFRED BUHR (Berlin) Ohne zu übertreiben kann man sagen, daß die bürgerliche philosophische Marx- Kritik der Gegenwart um den Begriff der Entfremdung kreist. Seit der Veröffent lichung der ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx im Jahre 1932 gibt es keinen anderen Begriff aus der Geschichte der Herausbildung des Marxismus, der von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des Marxismus-Leninismus ausgiebiger strapaziert wird. Allein diese Tatsache sollte deutlich machen, daß jede Bemühung um den Begriff der Entfremdung zunächst im Zusammenhang mit der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus in der gegenwärtigen Epoche gesehen werden muß. Dergestalt geht es beim Begriff der Entfremdung nicht, wie oft angenommen wird und wie man auf Grund zahlreicher Bücher von bürgerlichen Autoren annehmen könnte, um eine im engeren Sinne philologisch-historische Frage, etwa um die, inwieweit Marx in den ökonomisch philosophischen Manuskripten noch von Feuerbach oder Hegel abhängig ist oder nicht, sondern primär um eine Frage des ideologischen Klassenkampfes. Den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des Marxismus-Leninismus geht es bei ihrem betonten Rückgriff auf den von Marx vornehmlich in den ökonomisch philosophischen Manuskripten verwendeten Begriff der Entfremdung um die Re vision der revolutionären Grundlehren und Grundprinzipien des wissenschaftlichen Kommunismus, dnsbesondere um die Liquidierung der wissenschaftlichen Theorie von den Klassen, dem Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats - um die Liquidierung der Theorie von der sozialistischen Revolution überhaupt. Die Mittel, deren sie sich dabei bedienen, sind recht einfacher Natur und bei einiger Sachkennt nis auch relativ leicht zu durchschauen. Die mit ihnen erzielten Ergebnisse halten schon einer immanent philologischen Kritik nicht stand. Um so mehr nimmt es wun der, daß es auch Marxisten gibt, die sich an der bürgerlichen und revisionistischen Rede von der Entfremdung orientieren, womit nicht gesagt werden soll, dafj der Marxismus-Leninismus weder das Problem noch den Begriff der Entfremdung kennt. Die einzelnen Elemente l der mit Hilfe des Begriffs der Entfremdung versuchten Revision des Marxismus-Leninismus sind im groben die folgenden: Zwischen den frühen Schriften und Manuskripten von Marx und seinen späteren, gereiftenWerken 1 Bei dem einen Marx-Kritiker steht natürlich das eine, bei einem anderen das andere Ele ment im Vordergrund seiner Interpretation. Die Grundtendenz ihrer Unternehmen wird durch die vermerkten Elemente jedocherfaßt. 806 Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik wird eine - gelegentlich sehE.s_cha.ife - Scheidung^ollzogen2, die in Wirklichkeit nicht" vorhanden ist. Eine fortschreitende Gedankenentwic'Rlu'ng von Marx wird ge leugnet, sein Schaffen seit dem „Kommunistischen Manifest" als Verfall hingestellt. Die »Kritik der politischen Ökonomie", das „Kapital" usw1. werden in diesem Zu sammenhang in einem Vergleich mit den ökonomisch philosophischen Manuskrip ten als gedankenarm, bestenfalls als mehr oder weniger beachtliche Beiträge zur politischen Ökonomie abgetan. Vor allem fehle ihnen der spekulative Zug und die betont humanistische Aussage der frühen Schriften. Zwischen Marx und Engels wird ein Gegensatz konstruiert: Engels wird dabei als Verflacher und Vulgarisator Marxscher Ideen ausgegeben. Ganz auf dieser Linie liegt es dann, wenn auf die für die Gedankenentwicklung von Marx folgenreiche frühe Schrift von Engels „Um risse zu einer Kritik der Nationalökonomie" ebensowenig reflektiert wird wie auf die Tatsache, dafj die „Deutsche Ideologie" von Marx und Engels gemeinsam ver faßt wurde, obwohl Marx auf die Bedeutung beider Schriften für das Fortschreiten seiner Ideen zum wissenschaftlichen Kommunismus energisch hingewiesen hat. Im folgenden wird dann von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des Marxismus-Leninismus der Schluß gezogen, daß eine Umwertung des Marxschen Schaffens notwendig sei. Die Interpretation des Marxismus dürfe nicht beim „Ma nifest der Kommunistischen Partei" und beim „Kapital", sondern müsse bei den öko nomisch-philosophischen Manuskripten ansetzen. Von diesen her müsse der Marxis mus interpretiert werden. Daß damit keine bloße Umwertung, sondern eine Abwer tung der Lehre von Marx beabsichtigt ist und dabei auch herauskommt, versteht sich gleichsam von selbst.3 Schon der Ausgangspunkt der angestrebten Analysen der verschiedenen Marx- Kritiker unterstreicht das Gesagte. Erich Thier leitet seine Schrift „Das Menschenbild des jungen Marx" mit dem SatzeinT„Der junge Marx ist die Entdeckung unserer Zeit." 4 Den Schluß seiner Studie bildet dann die Feststellung, daß Marx' „Anthro pologie völlig entwickelbar ist ohne daß des Wertgesetzes und seiner Proble matik gedacht" zu werden brauche, und daß dieser Tatbestand die Frage „nach dem Verhältnis des späten Marx zum jungen Marx" aufwerfe.5 In der gleichen Richtung formuliert Robert Tucker in seinem Buch „Karl Marx - die Entwicklung seines 2 Dem steht nicht entgegen, daß eine Reihe von Marx-Kritikern die Einheit der Lehre von Marx betonen. Die entscheidende Frage ist, worin die Einheit der Lehre von Marx ge sehen und wodurch sie begründet wird: objn einer fortschreitenden Gedankenentwick lung, die in der Erkenntnis von der'weftnistorischen Rolle des Proletariats zunächst kulminiert, auf die alles weitere Bemühen von Marx dann bezogen ist, deren immer tiefere und allseitigere Begründung er fernerhin anstrebt und ausführt, °feräber m einer in allen Schriften und Werken durchgehaltenen Entfrerndungsproblematik vom Standpunkt der ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus. Da letzteres in der Regel auch von jenen Marx-Kritikern, die die Einheit der Lehre von Marx betonen, gesucht und nachzuweisen versucht wird, impliziert der Gang ihrer Untersuchung auf diese oder jene Weise eine Scheidung zwischen dem frühen Marx und dem späten Marx. 3 Übrigens ist ein solches Vorgehen ein beliebtes Verfahren der bürgerlichen Philosophie geschichtsschreibung. Es wird nicht nur im Hinblick auf Marx angewendet, sondern etwa auch gegenüber der Philosophie Hegels. Von der Mehrzahl der gegenwärtigen bürgerlichen Hegel-Interpreten wird die Hegeische Philosophie von den sog. theolo gischen Jugendschriften her gesehen bzw. auf diese zurückbezogen. 4 E. Thier: Das Menschenbild des jungen Marx. Göttingen 1957. S. 3 5 Ebenda: S. 71 807 Propriety of the Erich Fromm Document Center. For personal use only. Citation or publication of material prohibited without express written permission of the copyright holder. Eigentum des Erich Fromm Dokumentationszentrums. Nutzung nur für persönliche Zwecke. Veröffentlichungen – auch von Teilen – bedürfen der schriftlichen Erlaubnis des Rechteinhabers. Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

Von MANFRED BUHR (Berlin)

Ohne zu übertreiben kann man sagen, daß die bürgerliche philosophische Marx-Kritik der Gegenwart um den Begriff der Entfremdung kreist. Seit der Veröffentlichung der ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx im Jahre 1932 gibtes keinen anderen Begriff aus der Geschichte der Herausbildung des Marxismus,der von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des Marxismus-Leninismusausgiebiger strapaziert wird. Allein diese Tatsache sollte deutlich machen, daß jedeBemühung um den Begriff der Entfremdung zunächst im Zusammenhang mit derweltweiten Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus in dergegenwärtigen Epoche gesehen werden muß. Dergestalt geht es beim Begriff derEntfremdung nicht, wie oft angenommen wird und wie man auf Grund zahlreicherBücher von bürgerlichen Autoren annehmen könnte, um eine im engeren Sinnephilologisch-historische Frage, etwa um die, inwieweit Marx in den ökonomischphilosophischen Manuskripten noch von Feuerbach oder Hegel abhängig ist odernicht, sondern primär um eine Frage des ideologischen Klassenkampfes.

Den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des Marxismus-Leninismus gehtes bei ihrem betonten Rückgriff auf den von Marx vornehmlich in den ökonomischphilosophischen Manuskripten verwendeten Begriff der Entfremdung um die Revision der revolutionären Grundlehren und Grundprinzipien des wissenschaftlichenKommunismus, dnsbesondere um die Liquidierung der wissenschaftlichen Theorievon den Klassen, dem Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats - um dieLiquidierung der Theorie von der sozialistischen Revolution überhaupt. Die Mittel,deren sie sich dabei bedienen, sind recht einfacher Natur und bei einiger Sachkenntnis auch relativ leicht zu durchschauen. Die mit ihnen erzielten Ergebnisse haltenschon einer immanent philologischen Kritik nicht stand. Um so mehr nimmt es wunder, daß es auch Marxisten gibt, die sich an der bürgerlichen und revisionistischenRede von der Entfremdung orientieren, womit nicht gesagt werden soll, dafj derMarxismus-Leninismus weder das Problem noch den Begriff der Entfremdung kennt.

Die einzelnen Elemente l der mit Hilfe des Begriffs der Entfremdung versuchtenRevision des Marxismus-Leninismus sind im groben die folgenden: Zwischen denfrühen Schriften und Manuskripten von Marx und seinen späteren, gereiftenWerken

1 Bei dem einen Marx-Kritiker steht natürlich das eine, bei einem anderen das andere Element im Vordergrund seiner Interpretation. Die Grundtendenz ihrer Unternehmen wirddurch die vermerkten Elemente jedocherfaßt.

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

wird eine - gelegentlich sehE.s_cha.ife - Scheidung^ollzogen2, die in Wirklichkeitnicht"vorhanden ist. Eine fortschreitende Gedankenentwic'Rlu'ng von Marx wird geleugnet, sein Schaffen seit dem „Kommunistischen Manifest" als Verfall hingestellt.Die »Kritik der politischen Ökonomie", das „Kapital" usw1. werden in diesem Zusammenhang in einem Vergleich mit den ökonomisch philosophischen Manuskripten als gedankenarm, bestenfalls als mehr oder weniger beachtliche Beiträge zurpolitischen Ökonomie abgetan. Vor allem fehle ihnen der spekulative Zug und diebetont humanistische Aussage der frühen Schriften. Zwischen Marx und Engelswird ein Gegensatz konstruiert: Engels wird dabei als Verflacher und VulgarisatorMarxscher Ideen ausgegeben. Ganz auf dieser Linie liegt es dann, wenn auf die fürdie Gedankenentwicklung von Marx folgenreiche frühe Schrift von Engels „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" ebensowenig reflektiert wird wie aufdie Tatsache, dafj die „Deutsche Ideologie" von Marx und Engels gemeinsam verfaßt wurde, obwohl Marx auf die Bedeutung beider Schriften für das Fortschreitenseiner Ideen zum wissenschaftlichen Kommunismus energisch hingewiesen hat.

Im folgenden wird dann von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern desMarxismus-Leninismus der Schluß gezogen, daß eine Umwertung des MarxschenSchaffens notwendig sei. Die Interpretation des Marxismus dürfe nicht beim „Manifest der Kommunistischen Partei" und beim „Kapital", sondern müsse bei den ökonomisch-philosophischen Manuskripten ansetzen. Von diesen her müsse der Marxismus interpretiert werden. Daß damit keine bloße Umwertung, sondern eine Abwertung der Lehre von Marx beabsichtigt ist und dabei auch herauskommt, verstehtsich gleichsam von selbst.3

Schon der Ausgangspunkt der angestrebten Analysen der verschiedenen Marx-Kritiker unterstreicht das Gesagte. Erich Thier leitet seine Schrift „Das Menschenbilddes jungen Marx" mit dem Satz einT„Der junge Marx ist die Entdeckung unsererZeit." 4 Den Schluß seiner Studie bildet dann die Feststellung, daß Marx' „Anthropologie völlig entwickelbar ist ohne daß des Wertgesetzes und seiner Problematik gedacht" zu werden brauche, und daß dieser Tatbestand die Frage „nach demVerhältnis des späten Marx zum jungen Marx" aufwerfe.5 In der gleichen Richtungformuliert Robert Tucker in seinem Buch „Karl Marx - die Entwicklung seines

2 Dem steht nicht entgegen, daß eine Reihe von Marx-Kritikern die Einheit der Lehre vonMarx betonen. Die entscheidende Frage ist, worin die Einheit der Lehre von Marx gesehen und wodurch sie begründet wird: objn einer fortschreitenden Gedankenentwicklung, die in der Erkenntnis von der'weftnistorischen Rolle des Proletariats zunächstkulminiert, auf die alles weitere Bemühen von Marx dann bezogen ist, deren immertiefere und allseitigere Begründung er fernerhin anstrebt und ausführt, °feräber meiner in allen Schriften und Werken durchgehaltenen Entfrerndungsproblematik vomStandpunkt der ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus. Da letzteres in der Regelauch von jenen Marx-Kritikern, die die Einheit der Lehre von Marx betonen, gesuchtund nachzuweisen versucht wird, impliziert der Gang ihrer Untersuchung auf dieseoder jene Weise eine Scheidung zwischen dem frühen Marx und dem späten Marx.

3 Übrigens ist ein solches Vorgehen ein beliebtes Verfahren der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung. Es wird nicht nur im Hinblick auf Marx angewendet, sondernetwa auch gegenüber der Philosophie Hegels. Von der Mehrzahl der gegenwärtigenbürgerlichen Hegel-Interpreten wird die Hegeische Philosophie von den sog. theologischen Jugendschriften her gesehen bzw. auf diese zurückbezogen.

4 E. Thier: Das Menschenbild des jungen Marx. Göttingen 1957. S. 35 Ebenda: S. 71

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

Manfred Buhr

Denkens von der Philosophie zum Mythos": „Die Entdeckung dieses ersten Marx-schen Systems 6hat neuen Auffassungen vom Marxismus Auftrieb gegeben, die sichschon seit geraumer Zeit besonders im Westen unabhängig voneinander entwickelten. Zumindest kann man sagen, daß sich die allgemeine Vorstellung von Marx im20. Jahrhundert gewandelt hat." Und Tucker fährt fort: „Das neue Bild zeigtihn (Marx - M. B.) nichtals Analytiker der Gesellschaft, der er sein wollte, sonderneher als einen Moralisten oder als so etwas wie einen religiösen Denker. Die alteAnsicht, daß der /wissenschaftliche Sozialismus' ein wissenschaftliches System sei,macht mehr und mehr derMeinung Platz, daß es im Kern einethisches undreligiösesGedankensystem ist." 7Die letzten beiden Sätze sind entscheidend. Thier wollte einenMarx ohne Wertgesetz und natürlich - darauf kommt es an - ohne Mehrwertlehre.Tucker möchte den Analytiker der bürgerlichen Gesellschaft Marx durch einen Moralisten - wir müssen hinzufügen: einen unverbindlichen, keine Forderungen stellenden Moralisten Marx, der „so etwas wie ein religiöser Denker" ist - ersetzt wissen.

Wir haben es hier überhaupt mit einer Grundtendenz der bürgerlichen Marx-Kritik der letzten Jahrzehnte zu tun: dem Bestreben, Marx'wissenschaftliches Werk undpolitisches Vermächtnis, die beide eine untrennbare Einheit bilden, voneinander zulösen, seine Lehre so umzuinterpretieren, daß sie in Gegensatz zur Arbeiterklasseals realer geschichtlicher Bewegung und zum Sozialismus als realer geschichtlicherMacht der gegenwärtigen Epoche gerät. Tucker spricht diese Absicht auch offenaus. Er schreibt: „Bei dem Begriff .Marxismus' denken viele heute einfach an diekommunistische Ideologie, ein doktrinäres Gebäude, das nur zum Teil aus den Ideenvon Karl Marx abgeleitet ist, zu dem sich aber die Mitglieder aller kommunistischenParteien bekennen.Wennauf den folgenden Seitenvon Marxismus gesprochen wird,so wird darunter etwas anderes verstanden werden. Wir verstehen hier unter Marxismus die Gedanken von Marx. Unser Gegenstand ist der Marxismus von Marxselbst", vor allem seine „erste Fassung" (die ökonomisch-philosophischen Manuskripte - M. B.), „die sich sehr von dem ausgebildeten Marxschen Systemzu unterscheiden scheint, dem Marx und sein Mitarbeiter Friedrich Engels den Titel .Materialistische Geschichtsauffassung' oder auch «Wissenschaftlicher Sozialismus' gegeben haben." 8

Die Belege könnten beliebig angereichert werden. Die Anführung von Thier undTucker mag vorerst genügen, um das einleitend Bemerkte offenkundig werden zulassen. Auf einen Nenner gebracht, laufen die Bemühungen der bürgerlichen Marx-Kritiker darauf hinaus, Marx gleichsam vom Parteigeist zu reinigen, ihn zu entpolitisieren, ihn aus der Dynamik des Klassenkampfes in die windstille Atmosphärebürgerlicher philologischer Auslegungskunst zu versetzen, um ihn um so besser auseinem Theoretiker der Arbeiterklasse zu einem Gelehrten bürgerlicher Observanzdes 19. Jh.machen zukönnen - oder ihn, wie es auch genannt worden ist, vorihrembürgerlichen Publikum „zu rehabilitieren".9

6 Gemeint sind die ökonomisch-philosophischen Manuskripte, die Tucker bezeichnenderweise mit „ursprünglichem Marxismus" benennt.

7R. Tucker: Karl Marx - Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zumMythos. München 1963. S. 2

8 Ebenda: S. 1 f.

9 M. Rubel: Karl Marx - Essai de biographie intellectuelle. Paris 1957. p. 14

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Die von Thier und Tucker entwickelten Gedanken sind nicht neu. Bereits 1932 warfHendrik de Man in einer Besprechung der eben veröffentlichten ökonomisch-philosophischen Manuskripte, die er - nicht zufällig - mit der Überschrift „Der neuentdeckte Marx" versah, das Problem der zwei Phasen der Marxschen Gedankenentwicklung auf. Er führte aus: „Anfang dieses Jahres ist ein bis jetzt unbekanntes Werkvon Marx veröffentlicht worden, das für die richtige Beurteilung des Entwicklungsganges und des Sinnes der Marxschen Lehren von entscheidender Bedeutung ist...Es offenbart nämlich viel deutlicher als irgendein anderes Werk von Marx dieethisch-humanistischen Motive, die hinter seiner sozialistischen Gesinnung und hinter den Werturteilen seines ganzen wissenschaftlichen Lebenswerkes stehen.10 Eshandelt sich dabei freilich zunächst nur um eine Phase in der Entwicklung des Marxschen Denkens; es bleibt also eine offeneFrage,..ob rna&diese ,h^ujajnistische[ Phaseals später überwündrae~Yörstüfe oder als bleibenden Bestandteil dgr MarxschenLehrebettach^Tloll. Die'FrägT selbst aber läflt '!dch"ffimn«eW,ffiefir'umgehen?.'.:entWecje^geSorTclieser humanistische Marx zum Marxismus, und dann muß sowohlder Marxismus von Kautsky wie der Marxismus von Bucharin gründlich umrevidiertwerden; oder er gehört nicht dazu, und dann gibt es einen humanistischen Marxismus, auf den man sich gegen den materialistischen Marxismus berufen kann." ll

In einer zweiten, ebenfalls 1932 erschienenen Besprechung der ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Herbert Marcuse wird Analoges festgestellt. Marcuse:„Die Veröffentlichung der ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx...muß zu einem entscheidenden Ereignis in der Geschichte der Marx-Forschung werden. Diese Manuskripte könnten die Diskussion über den Ursprung und den ursprünglichen Sinn des Historischen Materialismus, ja der ganzenTheorie des .wissenschaftlichen Sozialismus', auf einen neuen Boden stellen ... und es könnte notwendigwerden, die geläufige Interpretation der späteren Ausarbeitung der Kritik (der politischen Ökonomie - M. B.) im Hinblick auf die Ursprünge zu revidieren, als daßumgekehrt die ursprüngliche Gestalt der Kritik von der späteren Stufe aus zurecht-interpretiert wird." 12

Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

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Kf?Sf^eisanMQenTrnre" Feststellungen waren ein klalHSmuliertes Programm zurRevisiatTdeT^Mlr'xismus. Sie wurden denn auch als solches verstanden und von denbürgerlichen und revisionistischen Marx-Kritikern, bei allen Unterschieden, die in

10 Als wenn das humanistische Anliegen von Marx und der humanistische Sinn seinesWerkes und seines Wirkens von den Marxisten-Leninisten je bestritten worden wäre.

11 H. de Man: Der neuentdeckte Marx: In: Der Kampf. 1932. S. 22412 H. Marcuse: Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus. In: Die

Gesellschaft. 1932. Bd. 2. S. 136

13 Marcuse hat später, 1941, vor einer Überbewertung der Marxschen Frühschriften gewarnt: „Die Marxschen Frühschriften sind... in jeder Hinsicht bloß vorläufige Stufenzu seiner reifen Theorie, Stufen, deren Bedeutung nicht überbetont werden sollte" (Vernunft und Revolution. Neuwied/Rhein 1962. S.260 - die englische Originalausgabeerschien 1941), ohne dabei jedoch die Entfremdungsproblematik auf ihren annehmbaren Sinn zurückzuführen.

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

Manfred Buhr

Einzelheiten zwischen ihnen bestehen mögen, bis auf den heutigen Tag befolgt, ohnedaß sie den Thesen von de Man und Marcuse grundsätzlich etwas Neues hinzugefügt hätten.14

Bereits 1945 diktierte dann Hans Barth ohne nähere Begründung, daß „die philosophisch-anthropologische Grundlegung" des wissenschaftlichen Kommunismus mitdem „Kommunistischen Manifest" abbreche 15, was nichts anderes bedeutet, als daßMarx nach 1848 seinen einstigen humanistischen Ideen und Anliegen untreu geworden sei und daß - in der Folge - die gesellschaftlich-praktische Bewegung des Sozialismus, die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei, ihre wissenschaftliche Orientierung im Klassenkampf vom falschen Marx hergeholt und ebendeshalb mit Marx selber eigentlich nichts zu tun hätte. Der Kampf mit Marx gegenden Marxismus wurde so auf die Tagesordnung gesetzt.

Noch offener spricht Siegf£Jfid-Lj»dshut im Vorwort der nach dem zweiten Weltkrieg in Westdeutschland neiTaufgelegten Ausgabe der Frühschriften von Marx dieseAbsicht aus. Mit der Veröffentlichung der ökonomisch-philosophischen Manuskripte,schreibt Landshut, hat „das Verständnis von Marx eine ganz neue Bedeutung erhalten. .. Die gesamte Marx-Auffassung, wie sie sich durch die Vermittlung vonEngels, Kautsky, Bernstein, Luxemburg und schließlich Lenin befestigt hatte undsowohl für die Marxisten wie die Anti-Marxisten gleichermaßen maßgebend geworden war, rückte jetzt unter einen völlig veränderten Aspekt. Der vollständigere Überblick über die Gedankenarbeit von Marx bis zu seinem 30. Lebensjahr machte deutlich sichtbar, in welche Beschränkung und ,materialistische' Dürftigkeit der ganzeReichtum der Marxschen Gedankenwelt durch die bisherigen Ausleger gebrachtworden war." 16

Was Landshut noch mit einem Schein von Objektivität vorzutragen bemüht war,das allerdings plauderte Ruth-Eva Schulz 1957 (!) unverblümt aus. „Eine besonderePerspektive für die Aktualität der Marxschen Geschichtsphilosophie", die sie „durchdie uferlose Willkür einer kleinen Parteiclique ... überrundet" meint und deren eigentlichen Sinn für sie die Entfremdungsproblematik darstellt, sieht sie darin, daß,da „die Marxsche Geschichtsideologie offiziell noch immer als die unveräußerlicheGrundlage der Partei in Geltung ist", der „fast paradoxe Fall eintreten (könnte), daß,in der Form eines Kampfes um die .reine Lehre', um die orthodoxe marxistischeIdeologie, eben diese Ideologie noch einmal ihre Kraft beweist, das erstickte Seufzeneiner ausgenutzten und beherrschten Gesellschaft (gemeint ist dje gesellschaftlicheWirklichkeit des Sozialismus in Gestalt des sozialistischen Weltsystems - M.B.) zuartikulieren." 17 In diesen Sätzen ist jede Form eines wissenschaftlichen Anspruchsfallengelassen: Das Gesicht der Konterrevolution offenbart sich ohne wissenschaftliche Maskierung.

Diese Seite der Angelegenheit muß gesehen und vor allem anderen zur Kenntnisgenommen werden, wenn man sich dem Problem der Entfremdung zuwendet. Wenneinige Marxisten in der letzten Zeit das Problem der Entfremdung in den Vorder-

14 Nur am Rande bemerken wir, daß fast ausnahmslos alle Marx-Kritiker der Gegenwartdie Quelle ihrer Weisheiten, nämlich de Man und Marcuse, verschweigen.

15 H. Barth: Wahrheit und Ideologie. Zürich 1945. S. 32016 Karl Marx. Die Frühschriften. Hrsg. von S.Landshut. Stuttgart 1953. S. V17 R.-E. Schulz: Geschichte und teleologisches System bei Karl Marx. In: Wesen und Wirk

lichkeit des Menschen (Festschrift für Plessner). Göttingen 4957. S. 178

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

grund schieben und dabei die sozialistische Gesellschaftsordnung in ihre Fragestellung mit einbeziehen, so ist das - ob sie das wollen oder nicht - ein fragwürdiges Unternehmen, das sich aus einer unkritischen Übernahme von Thesen bürgerlicher und revisionistischer Marx-Kritiker herleitet und - darüber hinaus - voneinem mangelnden Verständnis der Geschichte des Marxismus zeugt.

III.

In diesem Zusammenhang muß an ein Wort von Mehring erinnert werden. In dervon ihm besorgten Marx-Engelsschen Nachlaß-Ausgabe schrieb er: „Die geschichtlichen Wurzeln des Marxismus aufdecken heißt, die Wurzellosigkeit seiner .Überwindung 'enthüllen." « In der Tat kann es sich bei der Bloßlegung der geschichtlichenQuellen des Marxismus, wozu auch die Frühschriften von Marx gehören, darunterauch die ökonomisch-philosophischen Manuskripte ausdem Jahre 1844, immer nurum eine Verdeuüichung des geistigen Entwicklungsganges von Marx handeln, umeine Verdeutlichung des Prozesses seiner geistigen Emanzipation von zeitgeschichtlichen Ideen und vom überkommenen Gedankenmaterial unter dem Eindruck derpraktischen gesellschaftlich-sozialen Bewegung der Zeit, die er - was wichtig ist -studierte und an der er teilnahm. Dieser Prozeß kulminiert nicht in der Bloßlegungdes Problems der Entfremdung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sondern inder Erkenntnis von der welthistorischen Rolle des Proletariats, welche die Grundvoraussetzung zur Schaffung des wissenschaftlichen Kommunismus war.

Anders formuliert: Wenn es einen Punkt gibt, von dem aus an die Interpretationder Werke von Marx und Engels, auch an ihre frühen Werke und Manuskripte,herangegangen werden muß, dann ist es die Erkenntnis von der welthistorischenRolle des Proletariats. Einmal deshalb, weil allein diese Erkenntnis den weiterenFortgang und die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit und politischen Tätigkeitvon Marx und Engels bestimmte, zum anderen deshalb, weil in erster Linie dieseErkenntnis historisch wirksam geworden ist, und zwar in einem Ausmaß, für das esaus dem Bereich der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis in der Geschichtekeine Parallele gibt: Sie ist welthistorisch wirksam geworden im buchstäblichenSinne. Und schließlich war es Marx' und Engels' Bestreben - ein Bestreben, das sichin der Zeit vor dem „Kommunistischen Manifest" von Jahr zu Jahr verstärkte undimmer konkretere Formen annahm19 -, den wissenschaftlichen Kommunismus mitder praktisch-gesellschaftlichen Bewegung des Proletariats zu verbinden. Hierinhaben sie den eigentlichen Sinn ihrer gesamten Tätigkeit (einschließlich ihrer wissenschaftlichen Bemühungen) gesehen.

18 F. Mehring: Aus dem literarischen Nachlaß von K.Marx und F.Engels. Berlin-Stuttgart 1923. Bd 1. S. XI

19 Paul Kägi schreibt in seinem instruktiven Buch „Genesis des historischen Materialismus"(Wien-Frankfurt-Zürich 1965), das sich wohltuend von der Mehrzahl der Arbeiten derletzten 30 Jahre zu und über Marx von bürgerlichen Autoren unterscheidet, mit Recht,daß bereits die „Heilige Familie" nicht nur „den Sinn einer (gar nicht mehr aktuellen)theoretischen Auseinandersetzung, sondern den politischen Zweck, ein Hindernis (diejunghegelianische Ideologie im Hinblick auf die soziale Bewegung im Deutschland derZeit - M. B.) aus dem Wege zu räumen", habe (S. 299).

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

Manfred Buhr

Die Erkenntnis von der welthistorischen Rolle des Proletariats wird aber das erstemal eindeutig - d. h>. nicht nur rhetorisch wie in der „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" - im „Kommunistischen Manifest" formuliert. Und gemessen an dieserim „Kommunistischen Manifest" eindeutig formulierten und wissenschaftlich begründeten Erkenntnis von der welthistorischen Rolle des Proletariats verblassen alle mitder Erscheinung der Entfremdung begründeten Aussagen über die notwendige Emanzipation des Proletariats aus den ökonomisch-philosophischen Manuskripten, wobeibeachtet werden muß, daß sie erst durch diese Erkenntnis auf ihren wirklichen Sinnreduziert und anihren historischen Ortgestellt werden können.

Das ist auch der Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Bürgerliche Gelehrteund Ideologen, die im Bildungsbetrieb der bürgerlichen Universität groß gewordensind, werden nach Einflüssen und Ideen in den Frühschriften von Marx suchen, dieinseinen späteren Werken nicht mehr feststellbar sind oder inabgewandelter Form,inhaltlicher Verschiebung und anderem Begründungszusammenhang erscheinen.Dieser - übrigens bei jedem Denker zu beobachtende - Sachverhalt ist für sie dannAnlaß genug, einen „ursprünglichen Marxismus" zu postulieren 20, Marx' Lehre als„Werk eines Phantasten", das ein „Torso" geblieben sei, zu schmähen2i oder zubehaupten, daß bestimmte Tendenzen aus den Marxschen Frühschriften „in dernachmarxschen Entwicklung seiner Gesellschaftskritik (durch die internationaleArbeiterbewegung und ihre Theoretiker - M. B.) verdünnt worden sind" 22. siefinden so gleichsam einen geistigen Überschuß in den Frühschriften von Marx, mitdem sie dann ihre These vom Verfall der Marxschen Gedankenentwicklung begründen. Sie übersehen dabei, daß Marx mit der Erkenntnis von der welthistorischenRolle des Proletariats und der Verbindung des wissenschaftlichen Kommunismusmit der proletarischen Bewegung einen qualitativen Sprung in der Geschichte desDenkens vollzogen hat, der seine Theorie von allen vorangegangenen Ideologien undaller gegenwärtigen bürgerlichen Ideologie grundsätzlich unterscheidet.

Nur von hier aus ist der tiefere Sinn der 11. These über Feuerbach zu verstehen-„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aberdarauf an, sie zu verändern.' 23 Denn für sich genommen istdie 11. Feuerbach-Thesegar nicht so selbstverständlich und vor allem nicht so einleuchtend, wie es auf denersten Blick scheint. Es hat inallen Jahrhunderten Philosophen gegeben, die bestrebtwaren, ihre Ideen in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Allein das will Marxmit der 11. These über Feuerbach gar nicht in Abrede stellen. Worum es ihm geht, istder Tatbestand, daß alle bisherigen Versuche, philosophische Ideen inder Gesellschaftpraktisch werden zu lassen, scheiterten. Sie scheiterten einmal, weil die historischgesellschaftlichen Bedingungen für diese Ideen nicht reif waren bzw. ihnen nichtentsprachen, zum anderen aber, weil sie und ihre Schöpfer nicht mit einer praktischen gesellschaftlich-sozialen Bewegung bewußt einhergingen. Auf das letzteaber kommt es an. Es ist zugleich erste Voraussetzung jedes Versuchs, Texte vonMarx zu interpretieren.

Diesen Sachverhalt beachten die bürgerlichen Marx-Kritiker nicht oder wollenihn nicht beachten. Was ihnen jedoch nachgesehen werden kann, das kann man20 R. Tucker: Karl Marx

Mythos. S. 2.

21 F. Borkenau: Karl Marx (Auswahl). Frankfurt/M. 1956. S. 2622 H. Marcuse: Vernunft und Revolution. S.25923 K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 3. Berlin 1959. S.535

812

Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum

Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

Marxisten nicht nachsehen. Denn hier geht es nicht um eine bloße Bildungsfrage,sondern um eine Frage des Standpunkts, der proletarischen Parteilichkeit, derenAntwort von der Geschichte diktiert ist und auch gefordert wird. Die Geschichtesolltenaber Marxisten niemals geringschätzen, weil sie dadurchnicht nur den Bodendes Marxismus verlassen, sondern sich objektiv auch gegen den historischen Prozeßstellen.24

IV

Nunjväre allerdings nichts verkehrter, als wegen der Tatsache, daß die bürgerlichen uiid"revisionistischen GegnerTferMarxismus-tenmisrilüS'den Begriff der Entfremdung" zur Untergrabungjder wissenschaftlichen' Weltanschauung und der sozialistischen Gesellschaftsordnung "benutzen, dasTPfbblern der Entfr&ndunq gleichsamals illegitimes Kind zu verbannen. Gerade die aus dogmatischer Enge resultierendeund noch-Mf"'vor" wehigen Janren ungenügende monographische Erschließung derökonomisch-philosophischen Manuskripte durch uns machten es den Gegnern desMarxismus-Leninismus leicht, ihr Spiel mitdem Begriff der Entfremdung zu treiben.

°1iJ.aC-hv-fe®ä».der VOn i^a.r? ""L-fe Begriff der Entfremdung umschriebenwirdrstellt eineErscfielnung dar, die anden Nerv"d*er burgSßi3i '̂pitälistTscbenGesellschaftsordnung rührt. Diese Erscheinung verstärkt..sicJLnjSjjer weiteren Ent-wictttrn^-des-KapitäTKnius, besOT3el:TmW!semanTJDe*rgang zum ImranaTfsmus'undder Herausbildung d̂es s^atrapjj^oBa^en^I^BvtaJismus. Die^^rsücKiing

,2-, »""•" Biuui^uu a«: ucn ucymi uer cnuremaung aaoei verwenden \cxler~rucTfl7"Es'lst^'ls^^

jSchaffens"den Begriff der Entfremdung ausnehmend gebraucht hat,inseinen WerkenW| nach der „Deutschen Ideologie" aber auf seine Verwendung aus guten (inhaltlichen*Iwie formalen 25) Gründen weitgehend verzichtete, mit dem Verzicht auf den Begriff;|der Entfremdung auch das diesem zugrunde liegende Problem aus den Augen veWRloren habe. Ein Blick in die „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie" oder"|indas „Kapital", auch in Engels' „Anti-Dühring" genügt, um zu einer anderen Auffassung zu gelangen.

24 ... ganz abgesehen davon, daß es sich dabei um eine Frage handelt, die zum ABC desMarxismus-Leninismus gehört. Was hier - wie überhaupt - not tut, ist konsequentekommunistische Parteilichkeit, gepaart mit umfassender Sachkenntnis (wozu auch historische und philologische Genauigkeit und einwandfreies Quellenstudium gehören), undzwar sowohl im Hinblick auf die marxistisch-leninistische Philosophie als auch imHinblick auf die gegenwärtige bürgerliche Philosophie. Darüber hinaus darf einMarxist-Leninist Wissenschaft nicht mitbloßer Journalistik oder gar Mode verwechseln.

25 Bereits in der „Deutschen Ideologie" treten diese beiden Momente deutlich zutage. Hierführt Marx die Entfremdungsproblematik der ökonomisch-philosophischen Manuskripteinhaltlich weiter, konkretisiert sie, indem er sie mit der Teilung der Arbeit in Zusammenhang bringt und den Begriff der Entfremdung bis zu einem gewissen Grade durchden der Teilung der Arbeit ersetzt. Ein theoretisch wichtiger Vorgang, der von der bisherigen Literatur so gut wie gar nicht ausgewertet worden ist. Zugleich grenzt er sichformal vom Ausdruck „Entfremdung" ab: „Diese .Entfremdung', um den Philosophenverständlich zu bleiben..." (K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 3. S. 34)

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

Manfred Buhr

„ fsorwlr_ginr-^ gro6e°.Jffce™'tnisse von Marx, da&.exÄön _s«nem frühenSciSl^TrmTaem BegrirTder EnOTemdung^^ScTmeBehe ErschemTrngrdaß die" durchdie mafeneTTe'undlFisti^Lr^4ie1SS^,"arMäc?lte 9e9e«iM"rinnen gleichsam als-unentrinn-°?--r^?c^?eC^Än^-5^Wesen .flpsjtepitaüsiil'gfij^ijg dargetan undlh^e..mateneIle Gr"n4la5.eTOauf9edeckt'hat-im"'Gegensatz zu deVbürgerlichen^deo-logen vor und nach'ihm betrachtete "ei: diese Erscheinung jedoch - und das ist eineweitere große Erkenntnis vonihm - als eine historisch gewordene und mit dem Kapitalismus vergehende. Die Voraussetzuwgeff'zur ÜberwTndurig '̂dieserzum Wesendes Kapitalismus gehörenden Erscheinung sah er in der Umgestaltung der kapitalistischen Verhältnisse, in der sozialistischen Revolution, was er bereits in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten andeutungsweise formuliert hab.26 Undgenauso, wie die gesellschaftliche Erscheinung der Entfremdung eine historischgewordene und historisch vergängliche ist, ist auch der sie widerspiegelnde Begriffder Entfremdung ein historischer und sinnvoll nur auf kapitalistische Verhältnisseanwendbar. Den Begriff der Entfremdung auf sozialistische Verhältnisse übertragenzu wollen bedeutet, ihn in eine abstrakte, unhistorische Kategorie zu verwandeln.In der Konsequenz wird durch ein solches Vorgehen der unversöhnliche Gegensatz

jvon Sozialismus und Kapitalismuseliminiert.Gerade diese Tatsache wird,von^den bürgerlichen,und revisionistischen Marx-

fÄUSS^äÄ0"1111611- Ihre Abs^rTisTSTdenTegriff der Ent-fremdunginJIenRang einer unhistorischen, gTetcffsam ewigerTTum!^* Das darf nicht mit Automat? verwecTiself werden. Die revolutionäre Umgestaltung

der kapitalistischen Gesellschaft ist die unabdingbare Voraussetzung zur Überwindungder Entfremdung und zugleich der Beginn ihres Endes, was, wie jeder Vorgang imBereich der Gesellschaft und des Bewußtseins, ein Prozeß ist. Daraus kann allerdingsnicht der Schluß gezogen werden, daß es im Sozialismus noch Erscheinungen der Entfremdung gibt. Was gemeinhin und leichtfertig als Entfremdung im Sozialismus bezeichnet wird, ist der kapitalistischen Entfremdung bestenfalls äußerlich analog, niemals inhaltlich gleichgelagert. Und zwar trifft das schon auf die sog. kapitalistischenÜberreste im Bewußtsein der Menschen in der Übergangsperiode vom Kapitalismuszum Sozialismus zu. Oft wird als Beispiel für das Weiterbestehen von Entfremdungserscheinungen im Sozialismus der Staat angeführt. Dabei wird „bloß" übersehen - wasfür einen Marxisten allerdings ein schwerwiegender methodischer Fehler ist -, daßes den Staat überhaupt nicht gibt noch je gegeben hat und gerade Marx und Engels,auf die man sich dabei beruft, niemals von dem Staat gesprochen haben. Es gibt denbürgerlichen Staat, den sozialistischen Staat und - darüber hinaus - den sozialistischenStaat auf dieser oder jener Stufe der Entwicklung der kommunistischen Gesellschaftsformation und in dieser oder jener Situation des äußeren und inneren Klassenkampfes.Auffallend ist bei der Anführung des Staates als Beispiel für das Weiterbestehen vonEntfremdungserscheinungen im Sozialismus, daß es dieselben Autoren sind, die denStaatdurch und durch historisch, die Entfremdung dagegen höchst unhistorisch fassen.Der Hauptfehler, der in der Frage der Entfremdung im Sozialismus generell immerwieder unterläuft, ist das abstrakte, unhistorische Herangehen an die gesellschaftlichenErscheinungen des Sozialismus, dem ein vom gesellschaftlichen Leben im Sozialismuslosgelöstes aprozessuales Denken zugrunde liegt und das meist mit einer intellektua-listisch-skeptischen Gefühlswelt einhergeht. Dergestalt führt das Gerede über Entfremdung im Sozialismus nicht zur theoretischen gesellschaftlich-praktisch verwertbarenAnalyse bestimmter gesellschaftlicher Erscheinungen des Sozialismus, sondern zu ihrerVerzeichnung und damit zur Verdunkelung ihres eigentlichen Charakters.

814

Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

mus und Sozialismus umfassenden Kategorie zu erheben, um so den grundlegendenUnterschied zwischen den beiden ökonomischen Gesellschaftsformationen zu verwischen und das revolutionäre Kernstück des Marxismus-Leninismus, die Lehre vonder sozialistischen Revolution, als überflüssig darzutun.

Die Klärung der Funktion des Begriffs der Entfremdung innerhalb der Theorie desMarxismus ist nicht zuletzt von der Einschätzung der ökonomisch-philosophischenManuskripte abhängig, die Marx 1844 während seines Pariser Aufenthaltes im Zusammenhang mit ausgedehnten Studien der nationalökonomischen Literatur niederschrieb. Die erste Frage, die dabei gestellt werden muß, ist die nach dem CharakterderManusk"npteTHandelt essich bei den ökonomisch-philosophischen Manuskriptenum*efrr^n^3rgeschlossenes Ganzes oderumTeil- und Bruchstücke? Bieten sie dergestalt - wenigstens teilweise oder in groben Umrissen - eine einheitliche Lehreoder nur heterogene Gedankengänge? Jeder, der einen Blick auf die ökonomisch- __philosophischen Manuskripte geworfen hat, wird feststellen, daß sie keineswegs ein/in sich geschlossenes Ganzes darstellen. Schon deshalb kann von einer in ihnen ent-'wickelten einheitlichen Lehre nicht gesprochen werden, was auch auf die in ihnen"breit ausgeführte Entfremdungsproblematik zutrifft.

Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte sind Manuskripte im engeren, imbuchstäblichen Sinne. Sie zerfallen in mehrere Teile, die verschiedene Gegenständezur Sprache bringen. Insofern ist die immer wieder gestellte Frage, ob der Marx derökonomisch-philosophischen Manuskripte noch der junge Marx ist oder nicht, garnicht so entscheidend. Viel wichtiger ist die Tatsache, daß diese Manuskripte denGharakter von Vorarbeiten haben und eine Durchgangsstufe der ideellen Entwicklung von Marx bezeichnen. Ihrer Form nach sind sie kritische Reflexionen übergerade Gelesenes und Durchdachtes, gemischt mit selbständigen, aber durchaus nochunausgereiften Gedanken. Allein die zahlreichen Stilbrüche der Manuskripte weisendarauf hin 27 und sollten Anlaß sein, ihren selbständigen systematischen Wert nichthöher zu veranschlagen, als es im Hinblick auf den möglichen ideellen und erfahrungsmäßigen Entwicklungsstand des 26 jährigen Marx geboten ist.

Marx begann sich 1843/44 eingehend und außerordentlichintensiv mit nationalökonomischer Literatur zu beschäftigen und mit ihr auseinanderzusetzen. Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte sind das innerhalb weniger Monate hingeschriebene erste Produkt seiner Studien der politischen Ökonomie. Er war in den Manuskripten noch weit davon entfernt, der politischen Ökonomie den Rang einer

'27 In jenen Manuskriptteilen, in denen sich Marx mit der national-ökonomischen Literaturauseinandersetzt, ist seine Sprache ganz eindeutig und sind seine Behauptungen leichtfaßlich. Er selbst sagt: „Wir sind ausgegangen von den Voraussetzungen der Nationalökonomie. Wir haben ihre Sprache und ihre Gesetze akzeptiert... Aus der Nationalökonomie selber, mit ihren eigenen Worten, haben wir gezeigt..." (K. Marx/F. Engels:Kleine ökonomische Schriften. Berlin 1955. S. 96) In jenen Stücken, in denen er sicheigenen Reflexionen hingibt, ist die Sprache dem Stil der Beiträge aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" gleichgelagert. Diese Stücke enthalten viel Rhetorik, dafüraber weniger Sachaussagen. Ein Sachverhalt, der in die Augen springt und zu denkengeben sollte.

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

'II'

4:.\*

Manfred Buhr

Wissenschaft zu verleihen, d. h. auf dem Standpunkt der Kritik der politischenÖkonomie zu stehen obwohl er eine Reihe von nicht unwesentlichen kritischen Einwanden gegen die überkommene und zeitgenössische Wissenschaft deTpohtisctnÖkonomie erhob. Es ist immer ein erheblicher Unterschied, ob sich ein Denker taStadium der kritischen Aneignung einer Wissenschaft oder in dem des^osüiveTLTt^betnlsSfMaSChaft ^1^ <? ökoncrniisch-pMlosophiscLr^krip-ten befand sich Marx noch ausschließlich im Stadium der kritischen Aneiqnuna derWissenschaft derpolitischen Ökonomie Aneignung der

ei^^S^A^'^^^^^^^5^ Manuskripte undeinem prgleiclrmt den spateren ökonomischen Werken fällt auf, daß Marxinihnenetwas tut. was .er. späterhin weitgehend-und bewußt vermeidet." Er' «?die2tilS^lend^F^ÜSChen ÖkÖfiö™™d <* WirEcT^tsleb^n^SranSäSSund ?t::Anair^^f^^^^^-^%«i*ä£ izgange und Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise ist in den Manuskripten kaum, bestenfalls nurimAnsatz zufinden ivianusunp

o£Sar Z^ZJT*™ ^ ök°no^sch-P«l<*°Phischen Manuskripten ist™ Samonde de Sismondi orientiert. Sismondi hatte sich in seinem von Marx

Hque" TSZT her9eZ09eMn, ^ "N°UVeaUX Prind^s d'econoni poM-3L ,- tt ,' f ge9en die VOn der kl*ssischen politischen Ökonomiesanktionierten Ungerechtigkeiten des Kapitalismus ausgesprochen. Und ebeTäs-mondIS Krltlk an der klassischen politischen Ökonomie und damit an bestimmt „Erscheinungsformen des Kapitalismus war ganz moralisch ausgerichtet^ Dtesermehr moralisierenden als analysierenden Kritik Sismondis folgt Marx in den Manuskripten. Dieser Tatbestand muß festgehalten werden, weil er Schlüsse auld^V™SsTh ^*2**'ft Entfreffldu^ ™d -ine Funktion in den öktomiS-philosophischen Manuskripten zuläßt.

^"t^^P61, -Begriff,d^ Entfremdun9 steht in den Manuskripten in den seltensten FalFn für ein gesellschaftliches Verhältnis. Er wird in diesen von MarTvor-

28 Dafür nur zwei Belege: „Aber die Nationalökonomie kennt den Arbeiter nur als Arbeit«tier als em auf die striktesten Lebensbedürfnisse reduziertes Vieh" - De l^ter"Td TWS° armer']G mehf RelchtUm er P^uziert. * ™hr seine Produktion anÜX

;frdinLie° V^ ^ *™™*^- ** «>- ^^slZ^ZotenZtmZIa £lefVer/e9enstandll<*ung erscheint so sehr als Verlust des Gegenstand dlftder Arbeiter der notwendigsten Gegenstände, nicht nur des Lebens sondern au^h derJÄSq"*' ^^ iSt' (K- ^^ En9ek: Kleine öwSh^sStt

Mf£»inZhgese"scha]fÜichen O^nung, erklärt Sismondi. ist nicht der Reiche sondernalle KW m"V" -tT GeSellschaft nur «"*»<** wegen des Wohlstandes den «auf*K^S !erfbfrfet' wie es üb"haupt nur zu echtem Reichtum, d. h WohLndemer Gesellschaft, kommen kann, wenn sich eine Klasse den Wirtschaftsertraa einer?^™V77$£\s-de sismondi: n™x i^^sssssrAtfW ,ah\ c^ DlC €rSte Auflage erschien 1819- Mar* ^nützte die zwe"teAuflage von 1827.) Sismondi trieb politische Ökonomie noch im alten Stil ats iThreSÜTde^SSSr MaÖMhlnen ^ Staat6S ™^ ^WohSi't

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

wiegend zum Zwecke einer moralischen Beurteilung verschiedener, von der überkommenen und zeitgenössischen politischen Ökonomie schon festgestellter negativerErscheinungen des Kapitalismus (Ausbeutung, Elend des Proletariats, Profitstrebender Kapitalistenklasse, allumfassende Rolle des Geldes im Kapitalismus usw.) verwendet. Darüber hinaus dient er Marx in den Manuskripten, was von Feuerbach,vor allem aber von Hegel herkommt, als Konstruktionselement der Dastellung. Marxsetzt ihn über weite Strecken überall dort ein, wo er seiner moralischen Empörungüber die Lage des Proletariats, über das unerbittliche Profitstreben der Kapitalistenklasse und auch über die klassische politische Ökonomie, die beides und alles, wasdaraus folgt, als selbstverständlich, als natürlich nimmt, Ausdruck verleihen will.

\ Der Begriff der Entfremdung dient Marx in de.n^onomisch-pläo|Qphischen:Manuskripten alsojS^rzur"^/ uche7Wriang"el!u1!ar^ zur Qualifizierung ihrer' FolgeTfür'da' MfÄh, in^^ ersteTSSe-furden^rBlÄrer-; äls'feioralisch.

•miiocTraSreTielrdeTT^müßte jeweils an Ort und Stelle diesen Nachweis führen, wobei die Heranziehungder mitden Manuskripten entstandenen Exzerpte von Marx und eine Einsichtnahmeindiezur gleichen Zeit von ihm gelesene und verarbeitete Literatur unerläßlich sind.Ferner müßte besonderer Wert aufdie Herausarbeitung derMischung von Gedankengelegt werden, die Marx aus der überkommenen und zeitgenössischen politischenÖkonomie, dem französischen Materialismus und utopischen Sozialismus und Kommunismus, von Hegel und Feuerbach sowie von den Junghegelianern, schliepchvon Moses Heß und Friedrich Engels übernimmt und die, sich teilweise überschneidend oder in der Untersuchung unvermittelt durchbrechend, in die ökonomisch-

i philosophischen Manuskripte eingehen.N Die, gegebene Charakteristik der ökonomisch-philosophischen Manuskripte mußHestPnalten^cten','D"äs 'Wissen um sie bestimmt weitgehend den methodischen

Ansatz zu ihrer Einschätzung und - davon ausgehend - ihrer Analyse. Weiß manum ihren Charakter als Manuskripte, in denen sich verschiedene Gedankenreihenschneiden, dann wird man sie als Moment der ideellen Entwicklung von Marxnehmen, das eine Durchgangsstufe bedeutet. Vor allem wird man bei der Veranlagung ihres systematischen Wertes im Hinblick auf den wissenschaftlichen Kommunismus Zurückhaltung walten lassen müssen. Auf keinen Fall aber wird mansich zu apodiktischen Formulierungen, die auf einen festumrissenen, gesellschaftlicheProzesse analysierenden Standpunkt von Marx in den ökonomisch-philosophischenManuskripten zielen, hinreißen lassen dürfen.30

30 Übrigens ein Fehler, in den Wolfgang Heise in seinem Beitrag „Über die Entfremdungund ihre Überwindung" verfällt: „In den .ökonomisch-philosophischen Manuskripten'von 1844 vollzog Marx die Ausdehnung des Materialismus auf die Betrachtung derGesellschaft als Analyse des materiellen Lebensprozesses der Gesellschaft, somit derÖkonomie. Dadurch und darin deckte er die bestimmende Rolle des materiellen Produktionsprozesses auf. Hatte er in der Einleitung zur .Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie' von 1843 die historische Rolle des Proletariats zum ersten Male erkanntund ausgesprochen, so wird in den .Ökonomisch-philosophischen Manuskripten' dieseweltgeschichtliche Mission des Proletariats ökonomisch begründet. Den Schlüssel dazufand Marx in seiner Analyse der entfremdeten Arbeit." (W. Heise: Über die Entfremdung und ihre Überwindung. In: DZfPh. 6/1965. S. 685) Diese Feststellungen Heises erfolgen offenbar im Anschluß anA. Cornu, der in seinem Akademievortrag „Karl Marx -

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

Manfred Buhr

Ei" in,dies€m Sinne verfehlter methodischer Ansatz zur Analyse der ökonomisch-philosbphlscneTn^üsTtripte undjhrer hisförisc¥en Einordnung" (Worum es beiManuskripten in erster"'Lihie" eigentUcn" immer''zu"geKeh"hat) in den Prozeß derHerausbildung des wissenschaftlichen Kommunismus ist schon bSiEeTiFslenTHter-

sophischen Manuskripte vornehmlich unter systematischen, nicht historischen Ge-

Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte" (Berlin 1955) ausführte: Die Grundlage (in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten - M. B.) bleibt für ihn (Marx-MB.) die der menschlichen Emanzipation, die er aber nun vom Standpunkt desProletariats auffaßt, was ihn dazu führt, die Aufhebung der Entfremdung, die erweiterhin als Grundbedingung der .menschlichen Emanzipation betrachtet, nicht mehr inihrer polibsch^ozialen Form als Aufhebung des menschlichen Wesens im politischenStaat, sondern m ihrer ökonomisch-sozialen Form als Aufhebung der Entfremdungder menschlichen Tätigkeit, der menschlichen Arbeit, in deren Produkt als Aufhebung der entfremdeten Arbeit auffaßt." Allerdings fügt Cornu zum Unterschiedvon Heise einschränkend hinzu: „...welch letztere ihm nun das Hauptmerkmal und- M T bürgerlichen Gesellschaft zu bilden scheint' (S. 9f. Hervorhebung

Abgesehen davon, daß Heise von den ökonomisch-philosophischen Manuskriptenspricht, die es als solche, im Sinne einer in ihnen entwickelten einheitlichen Grundauffassung, nicht gibt, auch nicht im Hinblick auf die Entfremdungsproblematik verbauter sich durch diese seine Einschätzung von vornherein .den richtigen methodischenAnsatz, der Entfremdungsproblematik systematisch beizukommen und den Manuskripten insgesamt historisch gerecht zu werden. Denn nur eine historische Würdigung derökonomisch-philosophischen Manuskripte ist nach Lage der Dinge möglich. Zwangsläufig setzt er dadurch die moralischen Beurteilungen in den Manuskripten den Marxschen Analysen gesellschaftlicher Prozesse (ja des gesellschaftlichen Gesamtprozessesdes Kapitalismus) m der „Kritik der politischen Ökonomie" und im „Kapital" gleichUnd indem er sich gerade an die moralisierenden Thesen der ökonomisch-philosophilsehen Manuskripte (Stellen, die sehr oft auch affektbeladen sind) hält, kommt er inder Konsequenz zu der Auffassung, daß es auch in der kommunistischen Gesellschafts-tormation Entfremdungserscheinungen gibt, sie geben muß (S. 699 ff.) Daß er dabeidie Einschränkung macht, diese nur für die erste Phase des Kommunismus, den Sozialismus, gelten zu lassen, ist unerheblich. So oder so: Der Sozialismus ist in einemsolchen Konstruktionsspiegel eine Periode der Überwindung der Entfremdung wodurch die Entfremdung selber als eine notwendige Erscheinung des Sozialismus gesetztwird und dieser als notwendiges Übel auf dem Wege zum vollendeten Kommunismuserscheint. (Was natürlich ein schwacher Trost für Menschen ist, die in der Gegenwartnämlich im Sozialismus, leben und ihnaktiv gestalten.)

Heise kommt zu Schlüssen, die eher konstruierenden als analysierenden Charaktertragen. Der Hinweis am Schluß seines Beitrags, daß „aus all dem sich die Notwendigkeit (ergibt), den mit den Kategorien der Entfremdung und ihrer Aufhebung an allenkonkreten Subjekt-Objekt-Beziehungen aufweisbaren, allgemeine Struktur und Zusammenhang bestimmenden Sachverhalt zum Gegenstand empirischer Untersuchungenzu machen und somit Freiheit als Struktur konkreten Verhaltens empirisch zu analysieren (S. 710. Hervorhebung - M. B.), unterstreicht das GesagteMarcuse hat nicht nur ein Programm der Interpretation der ökonomisch-philosophischenManuskripte entwickelt, das von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern desMarxismus-Leninismus bis auf den heutigen Tag genauestens befolgt wurde sonderndurch die Art und Weise seiner Interpretation der Manuskripte auch den Grund für allespateren Marx-Interpretationen von bürgerlicher Seite gelegt.

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

Sichtspunkten. So kommt es, daß er Marx gleichsam eine Art dialektisches Bewußtsein unterschiebt, indem er an den Manuskripten als positiv hervorhebt, daß inihnen die in der politischen Ökonomie übliche Dreiteilung in Boden, Kapital undArbeit aufgehoben und dialektisch auf ihr eigentliches Wesen, die Entfremdung,zurückgeführt worden sei. Nun verfährt Marx in den ökonomisch-philosophischenManuskripten in der Tat so. Marcuse übersieht allerdings dabei „nur", daß Marxein solches an Hegel - im Falleder ökonomisch-philosophischen Manuskripte wahrscheinlich auch an Proudhon - orientiertes Vorgehen später bewußt aufgibt. Dadurcherfährt die Behauptung Marcuses, daß die Interpretation der späteren Werke vonMarx bei den Manuskripten anzusetzen habe und von ihnen her einer Revision zuunterziehen sei, in der Umkehrung ihre Wahrheit.

Marx kommt nämlich in seinen späteren Werken auf die von der politischenÖkonomie vorgenommene Dreiteilung in Boden, Kapital und Arbeit zurück. Unddas aus gutem Grund. Denn nun geht es ihm nicht mehr um eine moralische Beurteilung von bestimmten Erscheinungen des Kapitalismus und dieses insgesamt, sondern darum, die Dialektik der Sache selber zu erfassen und zur Darstellung zubringen, d. h. um die Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses. In denökonomisch-philosophischen Manuskripten ordnet Marx noch in hegelscher Manierdie Sache selber einer vorgefaßten Dialektik unter.

Die ökonomisch-philosophischenManuskripte und die „Kritik der politischenökonöme-tfleTII^Wissefischärr.' üncuKrer positiven Ausarbeitung zueinander. In einem Brief an Engelshat sicftlill&^fibeTdielelSTunktdeutficrfaus'gesprcxmen. DieBriefstelleist zwargegenein Vorhaben Lassalles gerichtet, könnte aber ebensosehr auf die ökonomisch-philosophischen Manuskripte gemünzt sein. Marxschreibt: „Ich seheausdieser(einen Note,daßder Kerl (Lassalle - M.B.) vorhat, diepolitische Ökonomie hegelsch vorzutragenin seinem2ten großen opus. Er wird zu seinemSchadenkennenlernen, daß es ein ganzandres Ding ist, durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt zu bringen, umsie dialektisch darstellen zu können, oder ein abstraktes, fertiges System der Logikauf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwenden." 32 Wenige Zeit später teiltMarx Engels die Gliederung der „Kritik der politischen Ökonomie" mit. Sie soll,schreibt er, in insgesamt sechs Bücher zerfallen, nämlich .1. Vom Kapital. 2.Grundeigentum. 3.Lohnarbeit. 4.Staat. 5.Internationaler Handel. 6. Weltmarkt" 33. Marxkehrt also zu der in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten verworfenen Dreiteilung zurück, weil es ihm nunmehr um die Analyse des kapitalistischenProduktionsprozesses und damit um die Dialektik der Sache selber zu tun ist, undweil er inzwischen durch „Kritik" die politische Ökonomie „aufden Punkt" gebrachthat, von wo aus ersie „dialektisch darstellen" kann. Der StandpunktJex_igk^iomisch-philosophischen Manuskripte ist der y^^hnungen^d^^stemsJ^dCT^ölIBsclaen».ÖkanSS^raurme^^^^^^v"EtiS^mig arjߣ^njiet_wird. TSäs'letzte wi«Mvon'den'burg"Sfflclien und rewSionistisc'hen Marx-Kritikern übersehen, auch dann,wenn sie die Einheit der Lehre von Marx oder die Kontinuität seines Denkens betonen, weil sie ihren Ausgangspunkt von den ökonomisch-philosophischen Manuskripten nehmen und diese als Maßstab der Lebensarbeit von Marx setzen.

32 K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 29. Berlin 1963. S. 27533 Ebenda: S. 312

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Manfred Buhr

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An diesem Vorgehen der bürgerlichen Marx-Kritiker ändert nun auch die Erschei-nung~ni'chts, dlufeinige unterihnen n"eüerc3ngs*,eineri" elwlis"a"nderenWewbescEfeiten,incfem sie dievonder ßurgerEcnen un9revisT6nisHs^oderSfflB®SB^"vön55ge^^und denAkzeWt auf die'Emrieifablehre voiTMarxTegenV LTO^n^elJer'Ätoslcht-

, ändefT^eTleriu^ dersTchVlrOrnfcrrtr^(Mf?^tiRj»^'iaß^^ Beifall\ 20Öen.KÄls einflußreichste Vertreter dieses Weges Können" ErichTr^m^üncrTean-

PauI^t^lirg-esehTn''weraenr~i ~ ——•• - - ..r-r-~**~~~-~. -"Fromm"stfm'nTFefirTLoblied auf den Marxismus an, wie es aus dem Munde eines

bürgerlichen Marx-Kritikers seit langem nicht mehr gehört wurde. Er schreibt: „DiePhilosophie von Marx stellt, wie der größte Teil des existentialistischen Denkens,einen Protest gegen die Entfremdung des Menschen, den Verlust seiner selbst undseine Verwandlung in einen Gegenstand, dar. Diesen Protest erhebt sie gegen dieEnthumanisierung und Automatisierung des Menschen, die mit der Entwicklungdes westlichen Industrialismus verbunden ist. Marx' Philosophie übt radikale Kritikan allen jenen »Antworten', die das Problem der menschlichen Existenz zu lösensuchen, indem sie die in ihr beschlossenen Widersprüche leugnen oder verschleiern.Sie wurzelt in der humanistischen philosophischen Tradition des Westens, die vonSpinoza über die französische und deutsche Aufklärung des achtzehnten Jahrhundertsbis zu Goethe und Hegel reicht, und deren innerstes Wesen die Sorge um denMenschen und um die Verwirklichung seiner Möglichkeiten ist." 35

Man könnte geneigt sein. Fromm dieses abzunehmen. Das um so mehr, als er vonder Kontinuität des Marxschen Denkens spricht). Allein es muß Verdacht erregen,wenn er, wie alle bürgerlichen und revisionistischen Marx-Kritiker der letzten dreißig Jahre, wiederum vom Begriff der Entfremdung ausgeht. Und dieser Verdacht•wird 2^^^m^^^^s«^}^^^f^z^^^^,^aaäl Fromm seine These"von derKont'mwtäFd^Marxscheni Denke^ beg^^d^Trrnit>^me?'b^^^^^^^^a'fi%qenund vor alkrncTommerenüäen Entfierndi^ kommt, daß es ihmnur um die Einheit der Lehre von Marxzu cmTastTrammTsoöerfTSaäBSSSSEHKiSaen

Momenten, die semer Lehre erst Leben veruehenTaoCT'^n'crtKirch die sie erst

rnffoSscTTn!^^^<üe*internafMiaTe^^ kofffiiranistischeTheorie bleiben außerhalb seiner Betrachtungen wie ebenso die gesellschaftlichpraktische Entwicklung und Verwirklichung des Sozialismus von der Oktoberrevolution bis zur Gegenwart.

Fromm führt auch aus, warum er so vorgeht. Zunächst will er das falsche, verzerrte Marx-Bild des Westens korrigieren. Bei dieser Gelegenheit bringt er viele

34 Der von der bürgerlichen Marx-Kritik gegenüber dem Marxismus angeschlagene Tonist übrigens abhängig von der jeweiligen historischen Situation. Als die Gegner desMarxismus-Leninismus infolge des konterrevolutionären Putsches in Ungarn 1956 neueHoffnungen schöpften, war ihre Sprache dem Marxismus gegenüber infam. Sieänderten sie, als ihre Hoffnungen nicht in Erfüllung gingen. Ein Vergleich der inden Jahren 1956/57 erschienenen Marx-Kritiken mit denen der letzten Jahre zeigt dassehr deutlich.

35 E. Fromm: Das Menschenbild bei Marx. Frankfurt/M. 1963.S. 5

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

treffende, wenn auch nicht neue Argumente gegen die bisherige bürgerliche undrevisionistische Marx-Kritik vor. Er geht gegen viele Vorurteile an, deren Unhalt-barkeit schon seit Jahrzehnten, eigentlich seit den Zeiten von Marx und Engels, vonden Marxisten-Leninisten immer wieder nachgewiesen worden ist. Allein das tutFromm um sich zugleich von der tatsächlichen geschichtlichen Bewegung, von dergesellschaftlich-praktischen Entwicklung des Sozialismus nach der Oktoberrevolution abzugrenzen bzw. diese als Fehlentwicklung, als mit den eigentlichen Intentionen von Marx nicht übereinstimmend zu unterstreichen.^ Indiesem Zusammenhangspricht er meist von „sowjetischer Form" des Marxismus. Aus dem Munde vonFromm hört sich das so an: „So groß auch die Bedeutung von Marx' Philosophieals Quelle philosophischer Einsicht und als Heilmittel gegen die augenblickliche -verschleierte oder offene - Resignationsstimmung ist, es gibt doch noch einen anderen, kaum weniger wichtigen Grund, sie zu dieser Zeit inder westlichen Welt neuzu interpretieren. Die Welt ist heute in zwei rivalisierende Ideologien zerrissen -in die des .Marxismus' und die des .Kapitalismus'. Während im Westen das WortSozialismus' als eine Erfindung des Teufels gilt und alles andere als Vertrauen erweckt, gilt für den Rest der Welt gerade das Gegenteil. Nicht nur benützen Rußlandund China den Begriff .Sozialismus', um ihre Systeme anziehend zu machen, sondernauch die meisten afrikanischen und asiatischen Länder fühlen sich zu den Ideen desmarxistischen Sozialismus stark hingezogen.., Und wie reagiert die öffentlicheMeinung und offizielle Politik des Westens darauf? Wir tun alles, um den russischchinesischen Anspruch zu unterstützen, indem wir ständig verkünden, daß ihr Systemmarxistisch' sei. Wir konfrontieren sodienoch unvoreingenommenen Bevolkerungs-massen der Welt mit der Alternative von .Marxismus' und .Sozialismus' einerseitsund .Kapitalismus' andererseits (oder, wie wir es gewöhnlich ausdrücken, zwischen.Sklaverei' und .Freiheit' bzw. freiem Unternehmertum) und geben damit der Sowjetunion und den chinesischen Kommunisten in dieser ideologischen Auseinandersetzung soviel Schützenhilfe wie nurmöglich." 37

Nachdem man solches von Fromm vernommen hat, kann schon hier gefragt werden, worin sich seine, von ihm als neu ausgegebene Marx-Interpretation von derbisherigen bürgerlichen und revisionistischen Marx-Kritik unterscheidet? Die Antwort: lediglich durch andere Akzentsetzungen. Mit seinemGrjafldaaJ^gen zieltFromm auf dasselbe wie ^J^^^^^^^^^^^^^-,MarrfstrfufSn^uf*!^^ reale

üon^MTOiBm^^s^bb von ihm gegenüber dem Marxismus dient derAusfuhrungdieses seines Grundanliegens, wobei hinzugefügt werden muß, daß ihm dieses Lobvon der realen geschichtlichen Macht des Sozialismus in der gegenwärtigen Epocheabgerungen ist. Wir haben es bei den Akzentverlagerungen in Fromms Marx-Kritikalso nicht mit besserer Einsicht (oder sog. Adaption) zu tun, sondern lediglich miteinem Zur-Kenntnis-Nehmen derThese desMarxismus-Leninismus durch die bürger-

3" Um sein Vorhaben glaubhafter zu gestalten, weist Fromm auf bestimmte Mängel derkapitalistischen Gesellschaftsordnung hin, die - nach ihm - mit Hilfe der Lehre vonMarx „modifiziert" werden können, ohne daß ihre ökonomischen und politischenGrundlagen auch nur angetastet werden.

37 E. Fromm: Das Menschenbild bei Marx. S. 6f.

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liehe Marx-Kritik, daß der Inhalt der gegenwärtigen historischen Epoche von derExistenz des sozialistischen Weltsystems bestimmt wird.

In der Tat folgt das Weitere bei Fromm aus seinem Grundanliegen. Wenn nämlichder geschichtliche Sozialismus, d. h. das sozialistische Weltsystem, so gut wie nichtsmit der Lehre von Marx zu tun haben soll, dann kann diese bestenfalls als ein humanes Anliegen vorgeführt werden, das - und daran ist Fromm gelegen - durchausim Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verwirklichen möglich ist.Fromm interpretiert dennauchdie Lehre^yon Marx,den Marxismus, in eine vondenkonkreten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen losgelöste HümanitatsIcTee um.Frofhttibewerkstelligt seineAbsicht, indemer dTe Lehre vonMä"rx"enthist6risiert'undentökonomisiert. Unter der Hand verwandelt er alle historischen und ökonomischenKategorien von Marx in anthropologische und reduziert die Theorie der sozialistischen Revolution auf eine Anthropologie mit eschatologischem Einschlag.38 Dergestaltheißtes bei ihm: „Das Ziel vonMarxwardas der geistigen Emanzipation desMenschen, seine Befreiung von den Fesseln der wirtschaftlichen Bestimmtheit, dieWiederherstellung seiner menschlichen Ganzheit, um ihn zu befähigen, zur Einheitund Harmonie mit seinem Mitmenschen und der Natur zu finden. Marx'Philosophiewar in wissenschaftlicher, nichtreligiöser Sprache, ein neuer und radikaler Schrittvorwärts in der Tradition des prophetischen Messianismus, sie zielte auf die volleVerwirklichung des Individualismus, gerade jenes Ziel, das das westliche Denkenseit der Renaissance und der Reformation bis weit ins neunzehnte Jahrhundertgeleitet hat."39 Und an anderer Stelle: „Ich behaupte..., daß Marx'Philosophieeinen geistigen Existentialismus in wissenschaftlicher Sprache darstellt und ebenwegen seiner geistigen Qualität im Gegensatz zur materialistischen Praxis und zurnur dünn verhüllten materialistischen Philosophieunseres Zeitalters steht.Marx' Ziel,ein auf seiner Theorie vom Menschen basierender Sozialismus, ist im wesentlichenprophetischer Messianismus in der Sprache des neunzehnten Jahrhunderts."40Schließlich: „Wenn man die Zweideutigkeiten der Worte .materialistisch' und .ökonomisch' vermeiden will, so könnte die Geschichtsauffassung von Marx eine anthropologische Geschichtsinterpretation genannt werden." 41

Nach all dem kann es kaum noch Verwunderung hervorrufen, daß der Satz ausdem „Kommunistischen Manifest": „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft istdie Geschichte von Klassenkämpfen"42 bei Fromm die folgende inhaltliche Umformung erfährt: „Für Marx ist die Geschichte der Menschheit eine wachsende Entwicklung des Menschen und seiner gleichzeitigen wachsenden Entfremdung." Und:„Die Vorstellung des aktiven, produktiven Menschen, der die gegenständliche Weltmit! seinen Kräften ergreiftund sichaneignet, kann ohne den Begriff der Verneinungder Produktivität, der Entfremdung, nicht umfassend verstanden werden."43

38 Was nicht besonders hervorgehoben zu werden braucht. Jede Erscheinungsform philosophischer Anthropologie hat, soweit sie nicht nur Teil einer umfassenden Weltanschauung, sondern Weltanschauung selber sein will oder damit nicht nur Psychologie gemeintist, eschatologischen Einschlag und steht in einem - direkten oder indirekten - religiösen Begründungszusammenhang. Die Bücher des Alten Testaments, besonders dasBuch Hiob, liegen aller philosophischen Anthropologie unausgesprochen zugrunde.

39 E. Fromm: Das Menschenbild bei Marx. S. 1540 Ebenda: S. 1641 Ebenda: S. 23

42 K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 4. Berlin 1959. S. 46243 E. Fromm: Das Menschenbild bei Marx. S. 49

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

In seinem Vorgehen ist Fromm konsequent. Er bewegt sich souverän im Bereichder bürgerlichen und revisionistischen Marx-Interpretation einschließlich der Momente ihrer Marx-Verfälschung, ganz gleich, ob sie theologischer, soziologischer oderpolitischer Natur sind. Fromms Ausführungen sind überhaupt eine geschickte Synthese bisheriger Marx-Kritik. Seine Konsequenz imVorgehen und inder Verwertungder verschiedensten Motive bisheriger Marx-Kritik läßt offenkundig werden, daßsein Unternehmen nicht bloß als Fehldeutung Marxscher Ideen angesehen werdendarf. Die Triebkräfte seines Unternehmens sind handfeste politische Absichten.Dabei ist es interessant zu beobachten, wie er etwa bestimmte Motive theologischerMarx-Interpretation sofort mit einer politischen Spitze versieht. Die sich vor allemvon Paul Tillich44 herleitende theologische Auffassung des wissenschaftlichenKommunismus als eines prophetischen Messianismus wird von Fromm einmal alsSelbstverständlichkeit (nicht als nur mögliche Interpretation, wie es noch bei PaulTillich der Fall war) vorgeführt, zum anderen mit soziologischen Argumenten gekoppelt, um von da aus in den Bereich des Politischen vordringen zu können.

Erich Thier war immerhin noch bereit, im Hinblick aufdie Entfremdungsproblematik einen Unterschied zwischen der theologischen Marx-Interpretation (wozu auchseine eigene gehört) und dem authentischen Marx festzuhalten: „Was Marx vorseinem Bewußtsein nicht wahrhaben wollte, ist jetzt - ihn (durch die theologischeMarx-Interpretation - M. B.) besser verstehend, als er sich verstand - ersichtlich:Wo esum den Menschen geht, geht eszugleich um Gott. Der junge Marx muß theologisch gewürdigt werden." 45 Davon ist bei Fromm nicht mehr die Rede. Er konstatiert voraussetzungslos: Der wissenschaftliche Kommunismus ist prophetischerMessianismus. Eine noch bei Tillich und innerhalb der theologischen Marx-Interpretation bloße Fragestellung wird bei ihm zur feststehenden Tatsache.46 Daß erdabei mit den Quellen in Konflikt gerät, kümmert ihn wenig. Er rechnet offenbarmit der Leichtgläubigkeit seiner Leser, deren Niveau er nicht allzu hoch anzusetzenscheint.

In der „Heiligen Familie" hat Marx darauf hingewiesen, daß im Kapitalismus dieMitglieder aller Gesellschaftsklassen auf diese oder jene Weise der Entfremdungunterliegen; er sah jedoch im Proletariat jene Klasse, die ihren Folgen am schärfstenausgesetzt ist: „Die besitzende, Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe

44 P Tillich: Kairos - Zur Geisteslage und Geisteswerdung. Darmstadt 1926; SozialistischeEntscheidung. Potsdam 1933; Der Protestantismus. Stuttgart 1950; ProtestantischeVision. Stuttgart 1952

45 E. Thier: Etappen der Marxinterpretation. In: Marxismusstudien. Tubingen 1954. b. 1148 Der Sozialismus (in seiner marxistischen und in anderen Formen) kehrte vollständig

zu dem Gedanken der .gerechten Gesellschaft', als der Voraussetzung der Verwirklichung der geistigen Bedürfnisse des Menschen, zurück. Er war, sowohl was denStaat als auch die Kirche anbelangt, antiautoritär, daher zielte er auf das schließlioheVerschwinden des Staates und auf die Errichtung einerGesellschaft, die aus freiwilligzusammenarbeitenden Individuen bestehen sollte... So sind also die marxistische undandere Formen des Sozialismus die Erben des prophetischen Messianismus, des christ-lich-chiliastischen Sektentums, des Thomismus des dreizehnten Jahrhunderts, desRenaissance-Utopismus und der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts. Er ist dieSynthese der prophetisch-christlichen Idee von der Gesellschaft als der Ebene, auf dersich die geistige Verwirklichung des Menschen vollzieht, und der Idee der individuellenFreiheit." (E. Fromm: Das Menschenbild beiMarx. S. 69f.)

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Manfred Buhr

s^ÄSa^.det K;asse fühit skh»*»«seib-besitzt in ihr den ScheiTSnlfl i t Efremdun9 al* ihre eigne Macht undEntfremdung vernichtet ^hZu7 u ^ ^^ die ZWeite fühlt sich in derunmenschlichen ExäS st S " "lhre °h™ht und ^ Wirklichkeit einerVerworfenheit^™™ üb« Y™?, ^u He9elS 2U gebrauchen' in d«notwendig durTdoHnnS ^ Verwf^^t- eine Empörung, zu der sietion, welche de SnESTS 5^ menSchI!chen W<^ °* *rer Lebenssitua-ist, getrieben wird InneSbdlfr\UmfaS^de Vemeinun9 *«er NaturWr««,toe d« LeZiTL? , Tn^ZeS 1St d6r Privatei9entümer also dieErhaltens de clensltes vot dt A^'f^' Von ™ ^eht die Aktion desFeststellung von MaTx S ZltlTt .^^ Vernichtu»9 aus." « Diese

ausgeht. „Das Proletariat LT alfP ilT- ** Ve™chtun9 d« Privateigentumsseinen bedmgeSn Sensatz' de^ e v7™^' ««* ^Ibst und damitaufzuheben. Es 2 dTeT*^ SeiteTV ^ m3Cht' ^ Privatei9entum,aufgelöste und sich .uLS^^^T**'' "*« üan*» * sich' d-einÄj^ÄSSSZS MÜber mT^^ AWeChnet «di-n

SSu^™^sonst mit der Geä'chte nicht so o' ^ h™*eh°b- werden muß. weil er esA^^nt^S^^^^^T^ hie;if,1S° die Unsich-h«t seinerhat die Geschichte an Marx Vo^n ^ Tcdeklariert: "Nu* eine Korrekturglaubte, daß die Arb«la™e S am t Efremdun3 vorgenommen: MarxBefreiung von der EnfoSnt,1™ "T eftfreändete Klasse sei. daß daher dieginnen würde. Man tÄ da?A ' ?* " BefrGiUn9 der Allbei^rklasse beSchicksal der ungeheu 2 MenlfhL T§ T*115' " dem die E"*emdu„g zumer nichts von demZimmer hofier wirfJ^Werde" S°llte' besondere ahnteMenschen statt MasiL n^nLulTert"^ ^ Beyö^a^' der Symbole undder Vertreter A*. m »Mnipuliert Wenn irgendwer, dann sind der AngestelltedTs WirketderÄTÄfS^"^ 'T^^* te ««ÄS!Eigenschaften wifSe cMcflic^ät ^^T ^ AUSd™* 9CWiSSer P^nlicherzwungen, seine ,Per£5SS? Sn L^he^9 M '̂ "^ " * ^ ^verkaufen; die Leute die Svmboleln , ' Meinun9en *. Vertrag mit zuihrer Gesohicküchkdt cemS "aniPuIleren- w«den hingegen nicht nur wegenten, die d7zu. atSüven p! ' rlw ^^ *" dieSer P™l*hen EigenscTaf-^^^;Ts^:l^SeTo macl:en'die leicht»behandeIn Und »Facharbeiter -, undÄttSST1"™^ ~^ "^^^« EbSaX/F' En9elS: WerKe- Bd- ZBerhn 195a S' 3749 E. Fromm: Das Menschenbild bei Marx q <?Qf n c

Funktion dieser oder jener Grunne ™ m u" r0?lm dle ^llschaftsbildendejener Gruppe von Menschen vom Grad ihrer Entfremdung ab-

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

Wenn Worte einen Sinn haben, dann können Fromms Ausführungen nur das bedeuten : Die moderne Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist entgegen Marx'Voraussicht und entgegen den Feststellungen der internationalen Arbeiterbewegungund ihrer marxistisch-leninistischen Parteien so vor sich gegangen, daß nicht mehrdie Arbeiterklasse, sondern die heute viel mehr entfremdeten Schichten der Angestellten, der Bürokratie, bestimmte Gruppen der Intelligenz potentiell und tatsächlich zur gesellschaftsbestimmenden und damit Geschichte vollziehenden undmachenden gesellschaftlichen Schicht geworden sind. Danach darf für die gesellschaftliche Schichtung nicht mehr die Stellung der Menschen im Produktionsprozeßbestimmend und maßgebend sein, sondern der Grad ihrer Entfremdung, worausfolgt, daß die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, die kapitalistische Ausbeuterordnung zu beseitigen, entfällt, weil die Klassenspaltung durch die moderne Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation eliminiert worden ist. An dereben herangezogenen Stelle fährt denn Fromm deshalb - allerdings für einen Marx-Kenner, der er sein will, einigermaßen blamabel - fort: „Was jedoch den Konsumangeht, gibt es keinen Unterschied zwischen den Handarbeiternundden Angehörigender Bürokratie. Sie sind alle nur von einer Sehnsucht beherrscht: nach Gegenständen,neuen Gegenständen, sie zu besitzen und zu benützen. Sie sind die passiven Empfänger, die Konsumenten, geschwächt und gefesselt von eben jenen Dingen, die ihrekünstlichen Bedürfnisse befriedigen. Sie stehen in keiner produktiven Beziehung zurWelt, ergreifen sie nicht in ihrer vollen Wirklichkeit, ein Prozeß, in dem sie mit ihreins würden; sie beten vielmehr Gegenstände an und die Maschinen, die Gegenstände produzieren - und in dieser entfremdeten Welt fühlen sie sich verlassen undals Fremde." 50 Fromm ersetzt so die Klassengegensätze durch die Verhaltensweisender Menschen. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Psychologie, wohiner gelangen will.

Fromm braucht die Psychologie, um seine aus dem Arsenal der theologischenMarx-Tft^pTetatlon^ergeTiöTleTM^ö^n scnonän^ülwteJTJfese^OTnJ^^ischaft-licheri~KomTminismuT^alsl)rop^etiscTie7rMessianismus innerweltlich begründen zukönnen. Denn dem Marxismus' "eine escnatologische Komponente anhangen kannmän'logisch nur innerhalb eines religiösen Begründungszusammenhangs. Die theologischen Marx-Kritiker geben das auch ohne weiteres zu,. Will man das jedochnicht wahrhaben, dann verbleibt nur die Psychologie, und zwar die von SigmundFreud infizierte: Das Unbewußte tritt an die Stelle Gottes. Fromm begründet dasnicht so direkt, sondern zieht zur Erklärung - natürlich in passender Auswahl - diegeistesgeschichtliche Tradition heran. Er schreibt: „Marx kämpfte ebendeshalb gegendie Religion, weil sie entfremdet ist und nicht die wahren Bedürfnisse des Menschenbefriedigt. Marx' Kampf gegen Gott ist in Wahrheit ein Kampf gegen den Götzen,genannt Gott... Der Atheismus von Marx ist die fortschrittlichste Form einesrationalen Mystizismus, der Meister Eckhart oder dem Zen-Buddhismus näher stehtals die meisten anderen Kämpfer für Gott und Religion, die ihn der .Gottlosigkeit'anklagen." Und weiter: „Es ist kaum möglich, über Marx' Stellung zur Religion zusprechen, ohne die Verbindung zwischen seinem Sozialismus und seiner Geschichtsphilosophie einerseits und der messianischen Hoffnung der alttestamentarischen

hängig macht, müßten nach seiner Auffassung eigentlich die berufsmäßigen Gangsterund die Prostituierten zur revolutionärsten Schicht der Gesellschaft geworden sein.

50 Ebenda: S. 60

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Propheten und den geistigen Wurzeln des Humanismus im griechischen und römischen Denken andererseits zu erwähnen." 51

Was Fromm mit gelehrtem Geschick umschreibt und durch den Hinweis auf diegeistesgeschichtliche Tradition zu verdecken sucht, das bringt Franz Borkenau ohneUmschweife zur Sprache. Vorweg erklärt er den wissenschaftlichen Kommunismuszur Utopie: „Die Utopie enthüllt sich ... als das, was sieist: alsdie unausweichlicheAntithese der wissenschaftlichen Maulwurfsarbeit zur Vorbereitung eines Gesamtsystems und zugleich als Ausdruck der Verzweiflung in einer noch höheren Potenzals jene. Marx sprang in den Abgrund der totalen Utopie, als er, obzwar er es sichselbst und erst recht der Welt verheimlichte, mit Verzweiflung auf jenen Torso einesLebenswerkes zurückblickte, das nur als göttliches Ganzes Sinn gehabt hätte." Undzur Erklärung fügt er hinzu: „Die Utopie - jene Utopie, mitder dann Lenin bitterenErnst machte - ist nun, trotz des .sachlichen' Ernstes, mit dem sie vorgetragen wird,das Werk eines Phantasten." 52

Nachdem Borkenau den wissenschaftlichen Kommunismus auf seine Art zurtotalen Utopie erklärt hat, fragt er: „Welches sind die Triebkräfte und Denkmotive,die hinter der fanatisch-revolutionären Utopie stehen? Ist es doch schließlich sie, dieauf dem Umweg über den russischen Kommunismus von dem gesamten LebenswerkMarx' weitaus am stärksten gewirkt hat! Weder bei Hegel noch bei den utopischenSozialisten noch gar bei den englischen Ökonomen sind ihre Wurzeln zu finden. Sieliegen jedoch nahe genug, obgleich Marx sich des Zusammenhangs offenkundig nichtbewußt war."53 Als Antwort bietet Borkenau das folgende an: „Die ungeheure Wuchtder Marxschen Prophetie beruht nicht zuletzt darauf, daß er obgleich ganz unbewußt, durchaus auf die alttestamentlichen Urquellen zurückgeht, die die Prophetienoch nicht in christlich-jenseitiger, sondern in diesseitiger, .chiliastischer' Form besitzen und denen es (nicht allerdings bei Jesaias) auch an gewaltsamen Elementenkeineswegs fehlt. Marx' sehr radikaler Bruch mit dem Judentum seiner Zeit, weitentfernt, zu einer rein empirischen Auffassung der Wirklichkeit zu führen, hat beiihm nur, ihm selbst völlig unbewußt, den Zugang zuden allerältesten alttestamentarischen Traditionen freigelegt." 54 Ein Kommentar zu Borkenaus Auffassungen -bei ihm sagt man vielleicht besser Einlassungen, weil seine Art zu schreiben undzu behaupten weder für noch gegen Marx, sondern allein für oder gegen ihn selberspricht - istüberflüssig. Denn ein Vorgehen, das Anspruch auf den Namen „Wissenschaft" erhebt, als wissenschaitliches Vorgehen genommen werden soll und will, sichaber bei der Untersuchung einer in der Gegenwart eminent wirkender historischerErscheinung der Psychologie des Unbewußten überantwortet, richtet sich selbst.1«

51 Ebenda: S. 6652 Franz Borkenau: Karl Marx (Auswahl). S 25 f53 Ebenda: S. 34

M£benla:, Ü' 36'J~ ^f,beachte die sprachliche Unbeholfenheit, mit der Borkenau seineKonstruktion durchfuhrt, und den zweimaligen Gebrauch von „unbewußt" in diesemkurzen Abschnitt: „...nicht zuletzt.... obgleich ganz unbewußt, durchaus... ihm völlig unbewußt..."

65 Im Hinblick auf Fromm wäre zu fragen, ob er weiß, in welche Gesellschaft er sich begeben und auf welchen Pfaden er wandelt? Diese Frage ist zugleich an jene Marxistenzu richten die seine Marx-Interpretation in Dankbarkeit als anregend und ausbaufähig ansehenzu müssen glauben.

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

Was es mit der Art und Weise von Borkenaus Marx-Kritik auf sich hat, das hatein für die bürgerliche Marx-Kritik eigentlich unverdächtiger Zeuge ausgesprochen.Paul Kägi schreibt in seinem schon erwähnten Buch, gerichtet an die Adresse Borkenaus: „Ohne leugnen zu wollen, daß bei Marx wie bei anderen Denkern unbewußteMotive mit im Spiele waren 56, möchte ich doch den methodischen Grundsatz vertreten daß wir nicht berechtigt sind, die entscheidenden Wandlungen einer geschichtlichen Persönlichkeit, besonders die eines Denkers, mit Hilfe der Psychologie desUnbewußten zu erklären, solange nicht die Mittel zur Erklärung auf der Ebene desBewußtseins, also aus ihren bewußten Äußerungen und Taten, erschöpft sind Undletzteres bestreite ich im Falle Marx, abgesehen davon, daß er ein Schulbeispiel einesbewußt lebenden, seine Gedanken ordnenden Menschen von seltener Ausdrucksfähigkeit darstellt. Dieser Weg ist gefährlich und führt direkt in die Gefilde derVogelscheuchen und der Heiligenbilder." 57 Bleibt für uns zu sagen, daß zwar dieToten ihre Toten begraben, daß aber die Toten nochmals begraben werden müssen,wenn der Geruch ihrer Verwesung den Lebenden Unheil verkündet.

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Das was wir bei derNeuinterpretatioii.von MaEx.durch Fromm feststellen konnten,trifft<--mtitätis mutähdls* '-Üjch auf viele andere Mara-Kritik^<der,.G„easn.wart zu,unter"anderen auch auf Sarti^ Man"da~rf• sich von ihnen nicht in die Irre fuhrenfesseltNacWKSTSarire z.' B?festgestellt hat, daß der Marxismus „längst noch nichterschöpft", „noch ganz jung" und die „Philosophie unserer Epoche" sei, überraschterseine Leser mit der Forderung nach einer „Reform und Regeneration dermarxistischen Grundidee", die durch Hineinnahme des Existentialismus, natürlich des Sartre-schen Existentialismus, in das System des Marxismus erfolgen soll. In diesem Sinneschreibt er: „Die Selbständigkeit der existentiellen Untersuchungen (folgt) mit Notwendigkeit aus der Negativität der marxistischen Untersuchungen.., Solange dieDoktrin sich ihrer Anämie nicht bewußt wird, solange sie ihr Wissen auf einedogmatische Metaphysik (Dialektik der Natur) gründet statt auf das Verständnisdes lebendigen Menschen, solange sie - wie Marx es getan hat - alle Ideologien,diedas Sein vom Wissen trennen undim Rahmen der Anthropologie die Erkenntnisdes Menschen auf die menschliche Existenz zu gründen suchen, unter der Bezeichnung Irrationalismus einfach abtut, solange wird der Existentialismus seine Untersuchungen fortführen. Das heißt, er wird versuchen, die Gegebenheiten des marxistischen Wissens durch indirekte Erkenntnisse... zu erhellen und im Rahmen desMarxismus eine verstehende Erkenntnis hervorzubringen, die den Menschen in dersozialen Welt wiederfinden und ihn bis in seine Praxis bzw. den Entwurf, der denMenschen auf Grund einer bestimmten Situation mit dem gesellschaftlich Möglichenkonfrontiert, verfolgen wird ... Von dem Tage an, da der Marxismus sich der Untersuchung der menschlichen Dimension (d. h. der Untersuchung des existentiellen Entwurfs) zuwendet und die Grundlegung des anthropologischen Wissens aufnehmenwird, hat der Existentialismus keine Existenzberechtigung mehr." 58 Soweit Sartre.

58 Was auchvon den Marxisten-Leninisten nicht bestritten wird.57 P.Kägi: Genesis deshistorischen Materialismus. S. 4058 J.-P. Sartre: Marxismus und Existentialismus. Hamburg 1964. S. 142f.

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Manfred Buhr

Der letzte Satz kann auch so ausgedrückt werden: Sobald der Marxismus-LeninismusderForderung Sartres nachkommt, hörter auf, eine revolutionäre Theorie zu sein

Für Sartre folgt aus der ablehnenden Haltung des Marxismus-Leninismus seinerForderung gegenüber, daß „innerhalb des zeitgenössischen Marxismus ein tieferMangel' vorhanden ist. „Und dieser Mangel ist nicht" - sofährt er erklärend fort -„eine begrenzte Lücke, ein Loch im Aufbau des Wissens: er ist ungreifbar und überall zugegen, er ist eine allgemeine Blutarmut." Zuvor gibt Sartre jedoch an, warumder Marxismus-Leninismus seiner Forderung nicht nachkommt: „Der Marxismus",so stellt er fest, „mußte, insofern er aus dem Klassenkampf hervorgegangen ist, zunächst völlig seine Funktion einer praktischen Philosophie, d. h. einer Theorie,' diediegesellschaftliche undpolitische Praxis erhellt, erfüllen." 59

Hier sieht Sartre durchaus richtig. In der Tat ist der Marxismus-Leninismus ausdem Klassenkampf hervorgegangen. Aber nicht nur das: Er ist selbst Moment desKlassenkampfes, Teil der gesellschaftlichen und politischen Praxis, und in ihr unddurch sie hat er sich seit über hundert Jahren bewährt, hat er seinen Wahrheitsgehaltstets von neuem - allen Verbesserungs- und Ergänzungsforderungen von bürgerlicher und revisionistischer Seite zum Trotz - bewiesen. Es ist gerade wegen derBewahrung des Marxismus-Leninismus in der gesellschaftlichen sozialistischenPraxis nicht einzusehen, warum nach soviel fehlgeschlagenen Versuchen von seinesgleichen ausgerechnet Sartre den Stein des Weisen gefunden und - wie eresnennt -den „tiefen Mangel", die „allgemeine Blutarmut" des Marxismus-Leninismus entdeckt haben soll. Der Mensch, dessen Ignorierung nach der Ansicht Sartres den„tiefen Mangel" des Marxismus-Leninismus darstellt, ist Gegenstand, vorzüglicherGegenstand des Marxismus-Leninismus. Die Forderung nach einer besonderen d hneben dem historischen Materialismus stehenden Anthropologie ist deshalb nichtnur überflüssig, sondern wissenschaftlich auch völlig abwegig.

Eine s^eForderenoJst zunächst wisj&nschaftsgeschichtlich verfehlt. Was Sartre(wie übrigens äucnTrolSn) mit Antnröpologie meint, ist"mcfts'¥ndires"lls-'eine

PsycMogie, und zwar genau/Ä*S^^

Zurücknahme des Entwicklungsstandes"der modernen Wissenschaft hinaus- DiePsychologie ist irrdö-Sweiten HäffiTSes'20. Jh." kein «Anhängsefder Philosophie

Betrachtet man die Sartresche Forderung unter systematischen Gesichtspunktenso lauft sie auf das Verlangen an die marxistische Philosophie hinaus, sie möge ihrenGegenstand um die Problematik der Psychologie erweitern, gleichsam nebenher dasForschungsprogramm der Psychologie mit erfüllen. Daß es eine marxistischePsychologie gibt, bleibt davon unberührt und hat mit der Forderung Sartres auchnichts gemein. Im Gegenteil: Werden aus der Sartreschen Forderung letzte Konsequenzen gezogen, so müßte man eigentlich auch verlangen, daß die marxistischePhilosophie die Astronomie, die Physik oder die Chemie, eigentlich auch die Medizinusw. in sich aufnimmt.

Daß es sich hier, wie übrigens oft bei Sartre, um ein wissenschaftsgeschichtlichesVorurteil und einen Mangel an wissenschaftlicher Systematik handelt, istleicht einzu-

59 Ebenda: S. 140

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

sehen und kann noch hingenommen werden. Das hat er mit seinen philosophierenden Schriftsteller-Kollegen oder schriftstellernden Philosophen-Kollegen des drittenWeges insgesamt gemeinsam. Darüber hinaus ist jedoch weiter zu beachten, daßsich hinter der Forderung nach einer Anthropologie des Marxismus auch eine gesellschaftliche Stellungnahme verbirgt, die die gesellschaftlichen und ideologischenGegensätze der modernen Epoche zu vermitteln sucht und sie dadurch objektiv verschleiert Gerade das aber ist der Punkt, wo die Forderung Sartres den Bereichbloßer wissenschaftlicher Diskussion verläßt und zu einemMoment des ideologischenKlassenkampfes wird. Diese Seite des Zusammenhangs wird von den VerehrernSartres, vor allem von seinen Verehrern unter den Marxisten, übersehen, obwohl siedas A und O der Beurteilung des Philosophierens Sartres und von seinesgleichen(darunter auch Fromms) darstellt. Das ist um so verwunderlicher, als es sichin dieserBeziehung einmal um eine Grundeinsicht des Marxismus-Leninismus handelt, zumanderen aber hierüber bei Sartre selber - nicht ohne den Einfluß des Marxismus -Klarheit herrscht. Sartre bekennt: „Wir sind in der Bourgeoisie geboren, und dieseKlasse hat uns den Wert ihrer Errungenschaften - politische Freiheiten, habeascorpus usw. - gelehrt: wir bleiben Bürger durch unsere Kultur, unsere Lebensweiseund unser derzeitiges Publikum. Gleichzeitig drängt uns jedoch die historischeSituation, uns dem Proletariat anzuschließen, um eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen ... Trotzdem befinden wir uns... in der Situation von Vermittlern, diezwischen einer Klasse und einer anderen hin- und hergerissen werden, und sindfolglich dazu verurteilt, diese doppelte Forderung als eine Passion zu ertragen. Sieist sowohl unser persönliches Problem wie auch das Drama unserer Epoche." 6°

In der Tat: Die „Situation von Vermittlern" ist Sartres „persönliches Problem",das „Drama unserer Epoche" ist sie jedoch nicht - sie ist das Drama (man solltevielleicht besser Tragödie sagen) von Sartre und seinesgleichen, die aus einem„totalen Unvermögen", das soziale Kräfteverhältnis unserer Epoche real und perspektivisch einzuschätzen, resultiert. Was die Folgen dieses Unvermögens, nicht dieGründe des Unvermögens selber, angeht, so hat Sartre auch hier, im Unterschied zuseinen Verehrern, die bessere Einsicht. Auf die Frage: „Würden Sie behaupten, daßgewisse Dinge sich auf Grund dessen, was Sie geschrieben haben, geändert haben?"antwortet er: „Kein einziges! Im Gegenteil, ich habe von meiner Jugend an bis heutenur die Erfahrung des totalenUnvermögens gemacht." 61

Hinzu kommt ein Weiteres. Wenn einerseits Sartres Forderung nach einer Anthropologie des Marxismus eine wissenschaftsgeschichtliche und systematisch-philosophische Fehlleistung ist, so ist andererseits seine damit zusammenhängende Kritikam Marxismus, der historische Materialismus berücksichtige nicht den Menschen,eine Kompensation eigenen Unvermögens in Gestalt eines aggressiven geistigenAktes. Einmal entwickelt der dialektische und historische Materialismus als umfassende wissenschaftliche Weltanschauung bewußt keine Anthropologie im SinneSartres. Würde er das tun, dann würde er zu einer Weltanschauung, in der der Menschkeine Rolle spielte. Sartre hätte dann mit seiner Kritik recht. Zum anderen aber -undeben deshalb ist Sartres Kritik ein aggressiver geistiger Akt - ist der Mensch deshistorischen Materialismus nicht der Mensch des Sartreschen Existentialismus. Wilhelm R. Beyer schreibt mit Recht: „Was aber ist dieser Sartresche Existentialismus,

60 J.-P. Sartre: Qu'est-ce que la Jitterature. Paris 1958. S. 28961 M. Chapsal: Les ecrivains en personne. Paris 1960. p. 220

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der (in den Marxismus-Leninismus) eingebracht werden soll? Es ist der .Mensch',der einzelne, der sich auslebende, in Sexualität, Trieb, Entwurf, Vermittlung usw.austobende Mensch... Der literarisch ausgedeutete Mensch ist das Exemplar, dasSartre dem Marxismus einimpfen will. Keiner der Romanhelden Sartres, keine derTheaterfiguren Sartres, keiner der Filmhelden Sartres (auch nicht der durch geschickte Regie oft zentral beleuchtete Kommunist) reicht aber an den /sozialistischenMenschen' heran. Er bleibt: einzelner, oft einziger. Der von Sartre so .bereicherte'Marxismus wird die Aufgaben der politischen Gegenwart kaum erfüllen können..Danach fragt diese Sicht auch nicht. Sie sieht den Marxismus, den sie allenthalbenlobt, den sie als Krone, als Zukunft, als Ziel hinzustellen beliebt, als ein ,Objekt'eigener dialektischer Fabrikation an, das im Weitergang der fabrizierten Dialektikdie Stufe einer Anthropologie erreichen soll. Als ob der Marxismus das, was an undin der Anthropologie, der Lehre vom Menschen, recht und richtig ist, nicht in sichselbst hätte, so daß er keiner Anreicherung bedarf, sondern allein der Konkretisierung historischer Situationen. Im Vollzug dieser leistet er seine Aufgabe." 62

Der Mensch Sartres, den er dem Marxismus-Leninismus aufschwatzen will, istdie Fiktion eines sozial bindungslosen Individuums. Sartre läuft einer phantasielosen Einbildung des 18. Jahrhunderts nach, worüber schon Marx Klarheit geschaffenhat - allerdings nicht in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten undnicht unter dem Titel „Entfremdung", sondern in der „Einleitung zur Kritikder politischen Ökonomie" unter dem Titel „Robinsonade". Marx schrieb: „Inder Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt. Der einzelne undvereinzelte Jäger und Fischer... gehört zu den phantasielosen Einbildungen der18.-Jahrhundert-Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden,bloß einen Rückschlag gegen Überverfeinerung und Rückkehr zu einem mißverstandenen Naturleben ausdrücken ... Dies Schein und nur der ästhetische Schein der

kleinen und großen Robinsonaden. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der .bürgerlichen Gesellschaft'... In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der

Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochenzum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Konglomerats machen.Den Propheten des 18. Jahrhunderts.,., schwebt dieses Individuum des 18. Jahrhunderts - das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen,andererseits der seit dem 16. Jahrhundert neu entwickelten Produktivkräfte - alsIdeal vor, dessen Existenz eine vergangne sei. Nicht als ein historisches Resultat,sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das naturgemäße Individuum,angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes. Diese Täuschung ist jeder neuenEpoche bisher eigen gewesen... Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft... ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohnezusammen lebende und zusammen sprechende Individuen." Und Marx fügt hinzu:„Es ist sich dabei nicht länger aufzuhalten."63

Zweifellos geht Sartre mit seiner Forderung nach einer Anthropologie des Marxismus einer Illusion nach, weil er „im Literarischen wie im Philosophischen, ..'. den

62 W. R. Beyer: Schalmeienklänge um Karl Marx. In: Marxistische Blätter. Heft 5/1964.S. 5

63 K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 13. Berlin 1961. S. 615f.

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

Sonderling, den Abseitsstehenden, den ,Einzigen' und einzelnen (sieht), denjenigen,dessen Seelenleben und Familienstand man bis in alle Tiefen analysieren kann. Dernormale Durchschnittsmensch, der arbeitende Mensch und - der zufriedene Menschkommen bei Sartre selten zum Aufschein." <* Sartre verbessert seine Lage nicht,wenn er diese Forderung immer wieder von neuem erhebt und mit einer massivenKritik am Marxismus-Leninismus verbindet. Er verwandelt sie dadurch eher in diedogmatische Grundfege seines Philosophierens: „Der Marxismus degeneriert zwangsläufig zueiner unmenschlichen Anthropologie, wenn er den Menschen nicht wiedereinbezieht, ihn nichtzur Grundlage seiner Theorie macht."65 Sartre, der ausgezogenist, den Dogmatismus zubekämpfen, hat hier in der Tat seinen eigenen Dogmatismusentwickelt, und es ergeht ihm wie allen, die von einer abseits stehenden (um nichtzu sagen: abseitigen) Position aus den Dogmatismus im und am Marxismus bekämpfen wollen. Henri Lefebvre, der eswissen muß, sah sich zudem auch auf Sartrezutreffenden Eingeständnis gezwungen, daß „der Kampf gegen den Dogmatismusallzuleichtselberdogmatischen Charakterannimmt"66.

Hinzukommtein Weiteres. Sartres Forderung nach einer Anthropologie des Marxismus-Leninismus ist nur ein Sonderfall der sog. anthropologischen Wendung derimperialistischen Philosophie insgesamt. Seit der Jahrhundertwende, verstärkt nachdem ersten Weltkrieg, besonders aber nach dem zweiten Weltkrieg, wurde der Rufnach philosophischer Anthropologie innerhalb der bürgerlichen Philosophie immerlauter. Sieht man vonden stark traditionsgebundenen Philosophien ab, wieetwademNeuthomismus oder dem Positivismus, dann sind es vor allem die verschiedenenSpielarten der philosophischen Anthropologie, die der bürgerlichen Philosophie derGegenwart das Gepräge geben. Darunter sind nicht nur jene Philosophien zu verstehen, die vonihren Schöpfern sogenanntwerden, sondern auch solche Richtungen-wie der Existentialismus oder der Personalismus.

Anthropologische Wendung de^M^^ÜQbs^M^^^l^^^^ed}^^%^r.PhilQsrfijnie" auf das Problem des menschlichen Daseins (des Menschen als Indi-vidTufÄTIF^^^•als Problem desmenschlichen Daseins überhaapT§&g$.mrariiiWirkücnkeit handelt«s^icTi'jedeernim-däs'Pf^^ Menschen auf einerbestimmten Entwicklungsstufe seiner Gesellschaft, des Imperialismus.

Daß dies so ist, wird von den bürgerlichen Philosophen indirekt zugegeben. OttoEriedrich Bollnow, einer der Hauptvertreter der anthropologischen Wendung innerhalb des Existentialismus, schreibt z. B.: „Die Situation des heutigen Menschen wirdvon den verschiedenen Beobachtern übereinstimmend durch das Bewußtsein einer

** W. R. Beyer: Wider den Ultraindividualismus. In: DZfPh. Heft 10/11 1966. S. 1257*5 J.-P. Sartre: Marxismus und Existentialismus. S. 141. - Unter welchen Gesichtspunkten

der Marxismus den Menschen zur Grundlage seiner Theorie machen soll, sagt Sartreim nächsten Satz, der allein schon erhellt, daß seine Forderung unbillig ist: „DiesesVerstehen aber, das nichts anderes als die Existenz selbst ist, enthüllt sich in der geschichtlichen Entwicklung des Marxismus, in den Begriffen, die ihn indirekt erhellen(Entfremdung usw.) und zugleich in den neuen Entfremdungsverhältnissen, die aus denWidersprüchen der sozialistischen Gesellschaft hervorgehen und ihr ihre Hilflosigkeit,d. h. die Inkommensurabilität, die zwischen Existenz und praktischem Wissen besteht,vor Augen führen."

,66 H. Lefebvre: Probleme des Marxismus, heute. Frankfurt/M. 1965. S. 32

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Manfred Buhr

totalen Ungeborgenheit inmitten einer feindlich auf ihn eindringenden Welt gekennzeichnet. Der Mensch ist in einem umfassenden Sinn heimatlos geworden, under fühlt, mit Rilke zu sprechen, daß er ,nicht sehr verläßlich zu Haus ist' inmittenseiner gedeuteten Welt'.Das Gefühleiner hoffnungslosen Verlorenheit und geistigenUnorientiertheit hat ihn ergriffen. Man hat darum unsere Zeit geradezu als das Zeitalter der Angst bezeichnet und damit ohne Zweifel ihren am stärksten hervortretenden Zug getroffen."67 Was Bollnow hier beschreibt, ist nicht das Wesen des Menschen überhaupt und auchnichtder Grundzug desMenschen derGegenwart, sonderndes bürgerlichen Menschen in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus.Und die anthropologische Wendung der imperialistischen Philosophie ist so Ausdruck und Reaktion auf die „totale Ungeborgenheit" des dem Mechanismus deskapitalistischen Systems ausgelieferten Menschen, der sich gar nicht anders als„inmitten einer feindlich auf ihn eindringenden Welt" sehen kann.

Nun ist die philosophische Besinnung auf den Menschen so alt wie die Philosophieselber. Sie war seit jeher Bestandteil aller (echten) Philosophie, und es hat im Ablauf der Jahrhunderte keine Philosophie gegeben, die sich der Fraa&.jiacn demMenschen entzogen hatte. Dieses anthropologische philosophische Denken (mansagrvi'elleicht'bess^fTaie verschiedenen Menschenbilder der Philosophen) der Vergangenheit war jedoch - im Unterschied und im Gegensatz zur philosophischenAnthropologie der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie - jeweils nur Momentvon umfassenden Weltanschauungen, zu deren untrennbaren Bestandteilen Reflexionen über die Natur und Gesellschaft ebenso gehörten wie über den Menschen.Kant hat bekanntlich seine philosophischen Bemühungen in den drei Fragen zusammengefaßt: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Dieerste Frage ist bloß spekulativ... Die zweite Frage ist bloß praktisch. l.. Die dritteFrage, nämlich: /wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen? istpraktisch und theoretisch zugleich"68, und schließt dergestalt die ersten beidenFragenin sichein.Sieläuft auf die Frage hinaus:Was ist der Mensch? und impliziertdie Forderung, „die Rechte der Menschheit herzustellen" 69.

Demgegenüber ist es dem anthropologischen Denken der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie darum zu tun, das „Wissen des Menschen von sich selbst" zu erschließen 70, wobei es dann vom Menschen selbst nichts weiter zu sagen weiß, alsdaß er auf diese oder jene Weise ein Problem ist. Wenn Demokrit den Satz formulieren konnte, der seither Programm jeder großen Philo^c^pTne^tt^JWEenscKTstT waswir 'allrjkennen*"»Tsö 'steffi"aie^ pMlc^öpEilcne Antnropologie d6T-G5genwartre^lg^!Se1!crrest: „Wir besitzen heute keine tragfähige Konzeption vom Menschenmehr." 72

Sie kann sie auch nicht besitzen, weil ein anthropologisches Denken, das sichisolierend vorantreiben will, indem es auf den Menschen schlechthin reflektiert,

67 O. F. Bollnow: Die Vernunft und die Mächte des Irrationalen. In: Wesen und Wirklichkeit des Menschen. S. 88

68 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 805co I. Kant:Sämtliche Werke. Akademie-Ausgabe. Bd. 20. S.4470 M. Landmann: De nomine - Der Mensch im Spiegel seines Gedankens. München 1962.

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71 Fragment 165'2 M. Landmann: De nomine - DerMensch im Spiegel seines Gedankens. S. 537

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Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx-Kritik

eben nicht zu einer tragfähigen Konzeption vom Menschen kommen kann, sondernbestenfalls zu anthropologischen Trugbildern, denen es verfällt. Sartres Sonderling,den er zur Grundlage seiner Anthropologie macht, ist ein solches anthropologischesTrugbild. Die Aufgabe, die sich die philosophische Anthropologie gestellt hat, aufzuweisen, wie aus einer „Grundstruktur des Menschseins... alle spezifischen Monopole, Leistungen und Werke des Menschen hervorgehen: so Sprache, Gewissen,Werkzeug, Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die darstellendenFunktionen der Künste, Mythos, Religion, Wissenschaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit"73 - eine solche Aufgabe ist undurchführbar. Diese Aufgabenstellung verkehrt die wirklichen Zusammenhänge. Sie ist vor allem deshalb undurchführbar, weil schon der methodische Ansatz der philosophischen Anthropologieunzureichend ist. Denn vom Wesen des Menschen^yjan. seiner Grundstruktur zureden, ohne die Gesellschaft äls"'ÄusT}"'fligspunkt der Reflexionen über den Menschenzu flgfffire^füh^^logie kommt dann erschwerend hinzu, daßjsie^von-dtiV Basis^der gegebenen Gesell-schaft,Tihre¥'ökönömisch"en*STruktur, absieht bzw.. gar nicht bis zu ihr vordringt. Siehaf'die für die Ideologie "des auf stiebenden "Bürgertums sochäräEteristische und fürihre Forschungen so fruchtbare innige Verbindung von Philosophie, Gesellschaftslehre und politischer Ökonomie aufgegeben. Soweit sie Bindungen an andere Wissenszweige sucht, verfällt sie der Psychologie, wie etwa Sartre, der die politische Ökonomie durch die Psychoanalyse ersetzt.74

Allein das machjraa |̂enscheinlich,.c!3fjLja^ den verschiedenen Spielarten der philosophischen Anthropologie keine Antwort auf die Frage nach der Situation desMen1ch"ehnr?Whetitige^^PhilosopKie"in'dS'liapl '̂dleaen Menschen als geseflsch^ftüches Wesen nimmfTdiedie pTulosophischT"ge'sellschäftMehT,,fmd öK61io%mTlvemPr^TemaÄ7erMenschenals-HSne1?T5^schäftlicherr°fSwio¥lung~derGe^ jed^^Te^cnenr auchals Iffdividüünit'etng^iflteF ist, stellt unaihriwissens^ji^ft^ge'staiterr^dem'^ö^lftJe^'^ zum Sozialismus. DieseFofdeWng'errullt abernur einea Philosophie, der dialektische undhistorische Materia-lismüsTNSr"dieser'Ist daherberufeil, aufdieTrage nach*'der'1-(n^tToffdJs"'TOenschenin der heutigen-Zeit zu antworten* üncfaTesem eine klare gesellschaftliche und indi-viduelle Perspektive zu weisen.

Hmter dem Prozeß der anthropologischen Wendung breiter Kreise der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie steht die Absicht, von der Problematik der gegebenen, d. i. kapitalistischen Gesellschaft und damit auch von der Problematik des

73 M. Scheler: Die Sonderstellung des Menschen. In: Mensch und Erde. Darmstadt 1927.S. 246

74 Sartre bemerkt: „Das Gegebene, das wir jeden Augenblick im schlichten Faktum desErlebens überschreiten, beschränkt sich nicht auf die materiellen Verhältnisse unserer

Existenz. Man muß... auch unsere eigene Kindheit einbeziehen. Sie, die zugleich dasdunkle Erfassen unserer Klasse, unseres sozialen Bedingtseins auf Grund der Familiengemeinschaft und ein blindes Überschreiten, einen ungeschickten Versuch, uns davonloszureißen, darstellt, prägt sich schließlich in uns in Gestalt des Charakters aus. Hiertreten die angelernten (bürgerlichen oder sozialistischen) Gebärden und die widersprüchlichen Rollen, die uns bedrücken und zerrütten . . . auf." (J.-P. Sartre: Marxismusund Existentialismus. S. 82)

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.

Manfred Buhr

konkreten Menschen in dieser Gesellschaft abzulenken. Das geschieht in eindeutigerFrontstellung gegen den wissenschaftlichen Kommunismus und seine gesellschaftliche Wirklichkeit in Gestalt des sozialistischen Weltsystems - auch dann, wenndies von den Ideologen der imperialistischen Bourgeoisie nicht in jedem Fall ausgesprochen wird. Die wissenschaftliche Analyse der bürgerlichen Gesellschaft durchden Marxismus-Leninismus soll in metaphysischen Spekulationen über das Wesendes Menschen, seine überzeitliche Grundstruktur und die Hervorkehrung von ihmzwar zukommenden, aber ihn nicht ausmachenden, weil sekundären, Merkmalenregelrecht ersäuft werden. Die neueste Mode der bürgerlichen Philosophie, ihrebetonte Hinwendung zur anthropologischen Fragestellung unter gleichzeitiger Abkehr von der konkreten gesellschaftlichen Problematik, erweist sich so als Apologetik.

Wenn Sartre also meint, er müsse seines bürgerlichen Publikums wegen die anthropologische Mode der bürgerlichen Philosophie mitmachen, so ist das seine Sache,vor allem aber kein Grund, vom Marxismus-Leninismus dasselbe zu verlangen.Sartre steht - entgegen anders lautenden Meldungen - außerhalb des Marxismus-Leninismus, nicht zuletzt wegen seiner Forderung nach einer Anthropologie desMarxismus.

Bleibt noch festzuhalten: In der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie muß man sich immer wieder vor Augen halten, daß es auch hier um den Kampfzweier gesellschaftlicher Systeme geht - und daß dergestalt alle damit zusammenhängenden Probleme Fragen des ideologischen Klassenkampfes sind. Das mag eineSelbstverständlichkeit sein; sie wird aber oft vergessen. Was Franz Mehring ineinem seiner berühmten Leitartikel für die „Neue Zeit" vor über fünfzig Jahrenschrieb, gilt ohne Einschränkung heute noch - ja die Geltung dieser Sätze hatsich angesichts des Prozesses der gesellschaftlich-praktischen Gestaltung des Sozialismus noch verstärkt. Mehring schrieb: „Der tatsächliche Sachverhalt darf nicht verschleiert werden, in den eigenen Kreisen darf keine Illusion darüber um sich greifen,was die Wirkungen einer Politik sind, die mit der Möglichkeit eines friedlich-schied-lichen Ausgleichs zwischen Bourgeoisie und Proletariat rechnet. Die moderne Arbeiterklasse darf den Preis ihrer sibyllinischen Bücher immer nur steigern, läßt sie sichaufs Abhandeln ein, so werden sie zu jener Makulatur, auf der die Runen bürgerlicher Weisheit über Marx ... verzeichnet sind." 75

75 F. Mehring: Gesammelte Schriften. Bd. 14. Berlin 1964. S. 720f.

Die „empirische" Sozialforschung und die Soziologie

Von HANSGÜNTER MEYER (Berlin)

I

Die Frage, die uns hier beschäftigen soll, ist als wissenschaftlicher Gesprächsstoffnicht gerade selten. Jedoch weist sie einen Unterschied zu der üblichen Fragestellungauf; sie enthält möglicherweise nicht viel Neues hinsichtlich des Sachverhaltesselbst, stellt aber doch den Versuch dar, die fragliche Problematik unter einemanderen Blickwinkel zu sehen, nämlich unter dem Aspekt, ob empirische Sozialforschung überhaupt möglich und wozu sie nötig ist. Der Positivismus wie der dialektische Materialismus (letzterem ist bekanntlich nicht selten ein positivistisches Anliegen unterstellt worden) haben - wenn auch mit letztlich unvereinbar unterschiedlichen Voraussetzungen - gegenüber den großen „spekulativen" Systemen der klassischen bürgerlichen Philosophie und ihren Nachfolgern und Epigonen das Erfordernis betont, (auch) die Wissenschaft von der Gesellschaft auf Erfahrung zubegründen.

Des raschen Vordringens des Positivismus bei bürgerlichen Wissenschaftlern ungeachtet, hat die bürgerliche Soziologie ihre Entwicklung bezeichnenderweise mitdem Aufbau einer Reihe spekulativer Systeme des gesamtsozialen Verhaltens begonnen. Man muß diesen theoriegeschichtlichen Umstand im Auge behalten, weiler deutlich macht, daß die Forderung nach einer empirischen Soziologie als Antithese gemeint und als solche verstanden worden war; sie war nicht Konsequenz derbisherigen Denkweisen, nicht ihre logische Fortsetzung, sondern ihre Alternative.Ihre Frontstellung war mindestens dreifach: Sie verstand die praktische Unwirksamkeit der spekulativen Systeme als deren Scheitern, auch wenn sie nicht umhin konnte,eine Reihe Fragestellungen aus ihnen zu entnehmen. Sie war gegen das MarxscheGesamtmodell der Gesellschaft gerichtetl, überdeckt von der bei Adorno2 formulierten Selbstbeschränkung, mit den „Teilbezügen" eher exakte wissenschaftliche

1 T. Parsons, um nur einen Beleg zu geben, zählt die Marxsche Theorie zum Typ der„empirischen Allgemeinaussagen". Kein Soziologe könne heute in diesem Sinne Anhänger von Marx sein. Es ist Parsons' mangelndes Selbstverständnis, wenn er glaubt,seine „strukturell-funktionale Theorie" bilde eine wirklich wissenschaftliche Alternative

zu den Marxschen „allgemeinsten Mustern". (Vgl.: Soziologische Theorie. Neuwied/Rhein und Berlin 1964. S. 40 f.) Parsons' Neuerung läuft darauf hinaus, eine allgemeineTheorie auf folgendes Axiom aufzubauen: „Die Grundeinheit aller sozialen Systeme istdas Individuum als Handelnder." (Ebenda: S. 52; vgl. auch S. 19)

2 Vgl.: Th. W. Adorno: Deutsehe Soziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Heft 2/1959. S. 266

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Buhr, M., 1966: Entfremdung – philosophische Anthropologie – Marx-Kritik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Vol. 14 (1966), pp. 806-834.