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Essstörungen und Adipositas lups 14.04.2016 Dr. med. Bettina Isenschmid, MME www.spitalzofingen.ch/kea Peter Paul Rubens, zw. 1632 - 1635

Essstörungen und Adipositas lups 14.04 · ca. die Hälfte, Rauchen bei 35% Holderness CC, Brooks-Gunn J, Warren MP. Int J Eat Disord. 1994 Bulik CM, Sullivan PF, Kendler KS. Int

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Essstörungen und Adipositas – lups 14.04.2016

Dr. med. Bettina Isenschmid, MME

www.spitalzofingen.ch/kea

Peter Paul Rubens, zw. 1632 - 1635

Physiologisches Survival-Programm ◦ Reduktion des Energieverbrauchs

◦ Vermehrte Fettspeicherung

◦ Erhöhte Energieausschöpfung während des Fastens

◦ Netto: Erhöhte Tendenz, Gewicht zu restituieren

Psychologisch ◦ Einschränkung der Kalorien- oder Essmenge ist

unangenehm

◦ Erhöhte Tendenz zu unkontrolliertem Craving

◦ Durchhaltewille gering (bezügl. Überleben unsinnig!)

◦ Erfolgszwang, ungünstige Vorbilder (heute!)

Überessen / Essattacken bei Stress und emotionalen Belastungen

Ungünstige Bewältigungsstrategien („Hineinfressen", „Hinunterschlucken")

Selbst-Abwertung, „Anger-In“

Kognitive Zügelung, rigide Kontrollversuche

Verzögerte Sättigung im Verlauf der Mahlzeit

„Under-reporting„ der Nahrungsaufnahme

Snacking, Night Eating, Problem Eating, Sweet Eating, Binge Eating

Polyphagie - „gesunde“ Vielesser, gibt es sie (noch)?

Striegel-Moore & Rodin 1986, Diehl 1984, Schachter 1971, Hermann & Polivy

1975, Pudel 1982, Schoeller & Fjeld 1991, Clark 1993

Hilflosigkeit,

Restriktion,

Überaktivität

Schuld- und

Schamgefühle,

Selbstverachtung

Adipositas

Anorexie

Binges

Gewichts-

abnahme

Bulimie

„Diätfehler“

Kontrollverlust,

Purging

Gewichtszunahme

Selbstbestätigung,

Kontrollgewinn

Über 12 Monate exzessiv (Menge, Frequenz)

Dosissteigerung, Kontrollverlust

Unfähigkeit zur Abstinenz

Unmittelbare Belohnung, Wiederholungszwang

Entzugserscheinungen

Interessensabsorption und –zentrierung

Psychischer und körperlicher Verfall

Gesellschaftlicher Abstieg

Grüsser SM., Thalemann CN. Verhaltenssucht 2006

Suchtbezogene Emotionen: Scham, Selbstvorwürfe,

Zwänge, Rituale, kein Genuss

Abwehrformen: Verleugnen, Verkehren ins Gegenteil

(„fat is beautiful“), Verheimlichen, Dissoziieren und

Bagatellisieren

Konsequenzen: Selbstschädigung, Aggression bei

Verunmöglichung des Konsums

Der Substanzabhängigkeit ähnliche Sucht der

Kohlehydrat-Cravers Avena 2008

Long-term overconsumption of palatable food has

been compared to drug addiction. Berridge 1996; Gosnell 2000

Adipositas = Ess-Sucht?

40-50% zusätzlich mit affektiven Störungen

10 % zusätzlich mit Zwangsstörung

4-7% ADHD (v.a. weibl. Jugendliche)

Bei bulimischen Esstörungen:

◦ Bipolare Störungen 10%

◦ Persönlichkeitsstörungen 60% (Borderline:17%)

Substanzmissbrauch:

Adipositas (BMI>35 kg/m2) und Alkohol bei

Männern durchschn. 43% (6-81%), bei Frauen

ca. die Hälfte, Rauchen bei 35%

Holderness CC, Brooks-Gunn J, Warren MP. Int J Eat Disord. 1994

Bulik CM, Sullivan PF, Kendler KS. Int J Eat Disord, 2002

Hauner H et al. Leitlinien Adipositas DGE 2007

Erhardt M et al. Eur Child Adolesc Psychiatry 2012

40 - 62% der Patienten mit psychischen Störungen sind schon vor Beginn der Pharmakotherapie übergewichtig!

Kardiovaskuäre Erkrankungen und Todesfälle sind auch ohne Medikation 1,5 – 2x häufiger als in der Allgemeinbevölkerung!

Aetiologien:

Genetische Prädisposition für Diabetes und zentrale Fettspeicherung

Chronische Stressreaktion mit Hyperkortisolismus

Emotional Eating, BED

Lebensstil: fettreiche Ernährung, wenig körperliche Aktivität, Rauchen, soziale Isolation, Armut

Zusätzlich Effekte der psychopharmakologischen Therapie und der «Klinik-Mast»

Allison et al. J Clin Psychiatry 1999

Stanton J. Schizophr Bull 1995

Gotthelf et al. Am J Psych 2002

Ca. 25% der Diabetiker leiden unter Depressionen.

Sie haben signifikant schlechtere metabolische Kontrolle (Typ 1 > Typ 2),

höheres Risiko für Retinopathie, Nephropathie oder sexuelle Funktionsstörungen,

geringere Adhärenz gegenüber medikamentöser Behandlung und Einhaltung der Diät,

geringere Lebensqualität (Rückzug, weniger Aktivitäten),

erhöhten Aufwand an Gesundheitsversorgung.

Depressiogener Teufelskreis

Lustman PJ, et al. Diabetes Care 2000

1. Gewichtsabnahme (1–2 kg/Monat, ca.10% /Jahr) und Stabilisierung auf tieferem Niveau

2. Schrittweise Modifikation von Ess- und Bewegungs-verhalten, langfristige Lebensstiländerung negative Energiebilanz

3. Aufbau von Selbstwertgefühl und flexibler Selbstkontrolle

4. Veränderung dysfunktionaler Einstellungen und Aufbau realistischer Zielvorstellungen

5. Hilfe beim Aufbau adäquater Beziehungsprozesse

6. Nachholen verpasster Entwicklungsschritte

7. Verhinderung von Risiken, Spätfolgen

8. Rezidivprophylaxe und -management

Ambulant, stationär, tagklinisch?

Therapieziele bei Adipositas

Tsigos C et al. 2008

Klare Evidenz dafür, dass:

Interventionen zu bescheidener, aber klinisch-metabolisch signifikanter Gewichtsabnahme führen

sie ein minimales Risiko beinhalten

eine multidisziplinäre Betreuung durch Spezialisten in Ernährung, Psychologie, Physiotherapie und Medizin erfolgen muss

eine Intensivphase der potentiell unbegrenzten Therapie/ dem Follow-Up vorangehen muss

der chirurgische Weg dabei immer offen steht, aber:

Bariatrische Eingriffe irreversibel sind und Folgeprobleme beinhalten: Dermatolipochalasie, orthopädische Probleme, psychosoziale Belastung, nutritive Umstellung, Suchtverlagerung etc....

Tsigos C et al. 2008

Body-Mass-Index (BMI) ≥35 kg/m2, ≥ 99.5 Perz.

2-jährige adäquate Therapie zur Gewichtsreduktion erfolglos

Bei BMI ab 50 kg/m2 und Patienten <18 Jahren ev. 12 bzw. 6 Monate ausreichend.

Zertifiziertes Adipositas-Zentrum, multiprofessionelles Team (Bariatrische Chirurgie, Innere Medizin/Endokrinologie, Psychiatrie/Psychosomatik, Ernährungsberatung); standardisiertes Evaluationsverfahren und Patientenmanagement inkl. Qualitätssicherung.

Jugendliche: zwingend Pädiater und Psychiater beiziehen: mind. eine Komorbidität / Skelettwachstum / geistige Reife

Patienten älter als 65 Jahre: Operationsrisiken und Lebenserwartung aufgrund der Co-Morbiditäten abwägen.

Verpflichtung der Patienten zu regelmässigen Nachkontrollen während mind. 5 Jahren (Compliance Vertrag).

www.smob.ch: Richtlinien 2014

Frau D: BMI 39,

Gonarthrosen, behinderter

Sohn, Paarkonflikt, rezidiv.

Depressive

Störung

Herr S: BMI 41,

Diskushernie,

Diabetes mellitus II,

Hypothyreose,

zwanghafte

Persönlichkeit

Frau T: BMI 35,

Fussarthrosen und -

tendinosen, Binge

Eating, depressiver

Partner, existentielle

Probleme

Frau M: BMI 39,

lernbehinderter Sohn,

alleinerziehend

St. n. sexuellem

Missbrauch, Binge

Eating

Frau F: BMI 42,

bipolare Psychose,

bulimische ES,

Diskushernien,

Fibromyalgie

Herr V: BMI 44,

St. n. Polytrauma,

Night Eating,

Persönlichkeitsstörung,

sexuelle Dysfunktion,

Frau P: BMI 36, St. n.

Mamma-CA, Ablatio,

Hyst- und

Ovarektomie,

Diabetes mellitus II,

Depression

Operationskandidaten? Gruppe XY

Fehlende 2jährige adäquate Therapie zur Gewichtsreduktion (resp. <1 Jahr

bei einem BMI von ≥ 50 kg/m2)

Somatische Ausschlussgründe: ausgeprägte Niereninsuffizienz, instabile

Koronare Herzkrankheit, Leberzirrhose, Morbus Crohn, St. n. Lungenembolie

innerhalb letzte 6 Monate, Krebspatienten (nicht kontrolliert oder Remission

weniger als 2 Jahre nach Diagnose/Therapie)

Nicht auf das Übergewicht zurückzuführendes, behandlungsbedürftiges

psychisches Leiden, mit Dekompensation in den letzten zwei Jahren

Chronischer Substanzabusus

Mangelnde Compliance (versäumte Termine, Unfähigkeit zu Kooperieren,

Mangel an Urteilsfähigkeit, Krankheitskonzepte ausserhalb allgemein

nachvollziehbarer Normen)

Von Facharzt bestätigter Mangel an Einsichtigkeit in die Auflagen und

Bedingungen für post-operative Therapien (Essverhalten, Nachkontrollen,

Substitution)

Mangelnde soziale Unterstützung

www.smob.ch: Richtlinien

www.asemo.ch: Consensus II

Psychosoziale Determinanten beeinflussen den postoperativen Verlauf stark:

◦ Motivation, niedrigeres Gewicht und jüngeres Alter positiv

Veränderbarkeit psychischer Variablen durch die Chirurgie:

◦ Soziale Phobien klar rückläufig, QoL allg. besser

◦ Verlauf Essstörungen: BED inkonsistent, regelm. Erbrechen bzw. frustrane Essanfälle häufiger

◦ Erneute Verschlechterung der psychischen Variablen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, schwerwiegende intrapsychische Konflikte unbeeinflusst oder gar verschlechtert

◦ „Postsurgical Eating Avoidance Disorder“

Larsen 1990; Adami 1996, Weiner 1999; Powers

1999; Green et al. 2004; Segal et al. 2004

„Im einen Fall könnte eine

Operation seelische Probleme

verstärken und eine erhebliche

Störung der Compliance zur Folge

haben, im anderen Fall könnte der

zu erwartende drastische

Gewichtsverlust soziale

Diskriminierung oder

gewichtsbedingte chronische

Schmerzen des Stützapparates

beheben und dadurch die

depressive Störung bessern.“ Kielmann R, Herpertz S. Verhaltenstherapie

2002,12:319–326

Gewichtsverlauf bei 20 - 30% der

Operierten letztlich unbefriedigend

Vielen Patienten können trotz

verkürzter Resorptionsstrecke

wieder mehr Kalorien zu sich

nehmen

Wiederanstieg des Körpergewichts

ist mit Diabetesrezidiv assoziiert,

Rückfallrate nach 5 Jahren 20-30%

(HbA1c > 6,5%, nü Glc >7 mmol/l).

Suizidrate 3x höher (Männer >

Frauen), 70% in den ersten 7

Jahren postoperativ

Ungenügende Inanspruchnahme

des Nachsorgeprogramms Ramos Y et al. 2012; Mingrone G et al. 2015;

Tindle H et al. 2010

„…ein allgemeiner

Adaptationsprozess an

den «neuen» Alltag mit

seinen vielfältigen

psychosozialen

Herausforderungen und

Ernüchterungen…“

Kielmann 2002

Deprivation, Selbstwertstörung,

Depressionen, soziale Ängste

Ausgrenzung, Integrationsprobleme

Ausbildungs- und Berufsprobleme

Einsamkeit, unerfüllte Sexualität

Substanzmissbrauch

Sek. Essstörungen etc.

Psychosoziale Ursachen – auch Folgen!

Psychotherapeutische Behandlung vor Adipositas-Chirurgie:

◦ Psychodiagnostisches Assessment und erfolgreiche Bearbeitung seelischer Probleme als wichtiger Garant für eine gute Compliance und dauerhaften Gewichtsverlust nach Adipositas-Chirurgie.

Psychotherapie im Anschluss an die Chirurgische Intervention:

◦ 20% der Partner/Freunde reagieren eifersüchtig oder ablehnend auf Erfolg!

◦ Aggravation der Essstörungen oder Suchtverlagerung, wenn keine Alternative aufgebaut ist.

◦ Ex-Obese: Phantom-Fett – neue/ persistierende Störung der Körperwahrnehmung

◦ Sexualität, Kinderwunsch, Verhütung

Psychopharmakologie?

Kinzl J. 2012, Hrabosky J. 2004, Clodi M. 2010, Faccio E. 2016

“Many GBP candidates have been obese for most of their

lives and have psychologically adapted to the numerous

physical, emotional, and social consequences of obesity.

Thus, it may be somewhat challenging for patients to

become accustomed to these changes postsurgically.

The surgical team should communicate the likelihood of

such significant change in many life areas after surgery, so

that patients can prepare accordingly.”

Dynek MP. 2002

Wenn ich gewusst hätte, dass ich so aussehe, hätte ich

mich nie operieren lassen.

Das Fett ist weg, aber sonst auch alles.

Ich kann einfach nicht aufhören zu essen.

Ich mache mir alles wieder kaputt.

Verrückt, ich sehe mich immer noch dick und fett.

Ich bin todmüde und kann mich zu nichts mehr aufraffen.

Meine Familie war dagegen, deshalb darf ich jetzt auch

nichts sagen.

Was bleibt mir denn jetzt noch…?

Regelmässiger Mahlzeitenrhythmus, Frühstück

Vermeiden von Snacking, kleine Portionen

fettarm, proteinreich, Gemüse und Salat, wenig Fast-Food

Entspannte Ess-Situation (mehr Zeit, sich hinsetzen)

Flexiblere Kontrolle des Essverhaltens

Vielfältige Stressbewältigungsstrategien

Realistische Gewichtsziele

Self-Monitoring pflegen

Körperliche Aktivität (30-60’/d)

Sozialer Support

Figur- und Gewichtsunabhängiger Selbstwert

Kayman et al. 1990, Westenhöfer et al. 2000, Klem et. al. 2000

Psychologie oder Bariatrie?