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Ethik und Medizin aus islamischer und arabischer Sicht Adel Chérif Ethik Med (1998) 10: S134–S142 Zusammenfassung. Zunächst wird anhand von drei europäischen Schriftstellern, Ärzten und Historikern und in Form von zusammengesetzten Auszügen eine Zusammenfassung der arabisch-islamischen Medizin während 500 Jahren vorge- legt. Die Ethik im allgemeinen und dann in der Medizin der Araber im speziellen wird fortfahrend sehr klar dargestellt. Da im Islam die Wissenschaft sehr gelobt und vorangetrieben wird, ist die schnelle Entwicklung der modernen Medizin – Klonen, Organverpflanzung, Exi- tus, Sterbehilfe etc. – nicht in Kontradiktion mit der Religion, vorausgesetzt, daß die Einheit Gottes und die Würde seiner Propheten – Moses, Jesus und Moham- med – nicht und die Würde des Menschen selbst nicht erniedrigt wird. Ethik im allgemeinen, besonders aber im Medizinbereich, ist eine Lebensweisheit. Der erste Mann, der mir den Begriff dieser Ethik erleuchtete, war Prof. Breitner Vorsteher der chirurgischen Fakultät in Innsbruck. Ich traf ihn per Zufall im Spei- sewagen eines Zuges. Als er vernahm, daß ich arabischer Abstammung war, sagte er mir rührend und bestimmend: „Du mußt Deinem arabischen Volke die Ehre hal- ten. Sie haben uns ein bedeutendes Erbe in der Medizin hinterlassen. Sie haben nicht nur in der Wissenschaft Großes vollbracht, sondern vor allem eine echte Ethik dazu. Morgen 08.00 Uhr will ich Dich in der Vorlesung sehen.“ Am nächsten Tag saß ich zusammengeschrumpft ganz hinten. Als der Professor mit seinem impo- santen Stab den Hörsaal betrat, große Ovation, und mit theatralischer Kopf- und Händebewegung rief er, als er mich entdeckte: „Du Kameltreiber, sofort hier in die erste Reihe kommen!“ Und ich, der Kameltreiber, drängte mich zwischen den auf- geheiterten Studenten bis in die erste Reihe. Da saßen aber nur Mädchen, weil Herr Professor dies so wünschte. Er war nicht nur ein hervorragender Chirurg und Red- ner, sondern auch ein einmaliger Lebenskünstler und Idol der ganzen Stadt Innsbruck. Nun zur Ethik, die ich in zwei Teile ordnen möchte: Die allgemeine Ethik werde ich gleich fortlaufend anhand der Zusammenfassung der arabisch-islamischen Medizingeschichte erwähnen. Dr. med. Adel Chérif 47c Avenue du Midi, CH-1820 Montreux Territet © Springer-Verlag 1998

Ethik und Medizin aus islamischer und arabischer Sicht

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Ethik und Medizin aus islamischer und arabischer SichtAdel Chérif

Ethik Med (1998) 10: S134–S142

Zusammenfassung. Zunächst wird anhand von drei europäischen Schriftstellern,Ärzten und Historikern und in Form von zusammengesetzten Auszügen eineZusammenfassung der arabisch-islamischen Medizin während 500 Jahren vorge-legt.

Die Ethik im allgemeinen und dann in der Medizin der Araber im speziellenwird fortfahrend sehr klar dargestellt.

Da im Islam die Wissenschaft sehr gelobt und vorangetrieben wird, ist dieschnelle Entwicklung der modernen Medizin – Klonen, Organverpflanzung, Exi-tus, Sterbehilfe etc. – nicht in Kontradiktion mit der Religion, vorausgesetzt, daßdie Einheit Gottes und die Würde seiner Propheten – Moses, Jesus und Moham-med – nicht und die Würde des Menschen selbst nicht erniedrigt wird.

Ethik im allgemeinen, besonders aber im Medizinbereich, ist eine Lebensweisheit.Der erste Mann, der mir den Begriff dieser Ethik erleuchtete, war Prof. BreitnerVorsteher der chirurgischen Fakultät in Innsbruck. Ich traf ihn per Zufall im Spei-sewagen eines Zuges. Als er vernahm, daß ich arabischer Abstammung war, sagteer mir rührend und bestimmend: „Du mußt Deinem arabischen Volke die Ehre hal-ten. Sie haben uns ein bedeutendes Erbe in der Medizin hinterlassen. Sie habennicht nur in der Wissenschaft Großes vollbracht, sondern vor allem eine echte Ethikdazu. Morgen 08.00 Uhr will ich Dich in der Vorlesung sehen.“ Am nächsten Tagsaß ich zusammengeschrumpft ganz hinten. Als der Professor mit seinem impo-santen Stab den Hörsaal betrat, große Ovation, und mit theatralischer Kopf- undHändebewegung rief er, als er mich entdeckte: „Du Kameltreiber, sofort hier in dieerste Reihe kommen!“ Und ich, der Kameltreiber, drängte mich zwischen den auf-geheiterten Studenten bis in die erste Reihe. Da saßen aber nur Mädchen, weil HerrProfessor dies so wünschte. Er war nicht nur ein hervorragender Chirurg und Red-ner, sondern auch ein einmaliger Lebenskünstler und Idol der ganzen Stadt Innsbruck.

Nun zur Ethik, die ich in zwei Teile ordnen möchte:

Die allgemeine Ethik werde ich gleich fortlaufend anhand der Zusammenfassungder arabisch-islamischen Medizingeschichte erwähnen.

Dr. med. Adel Chérif47c Avenue du Midi, CH-1820 Montreux Territet

© Springer-Verlag 1998

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Die spezielle Ethik (Klonen, Sterbehilfe, Organtransplantation und Schwan-gerschaftsabbruch) werde ich am Schluß behandeln.

Die allgemeine Ethik

Die arabisch-islamische Medizingeschichte wird nachfolgend in großen Zügenskizziert. Als Grundlage habe ich drei Werke gewählt:

1. „Médecins arabes anciens“ von Prof. Jean-Charles Sournia, ancien président dela societé française et internationale d‘histoire de la médecine (ehemaliger Prä-sident der französischen und internationalen Gesellschaft für Medizinge-schichte).

2. „Ce que la culture doit aux arabes d‘Espagne“ von Juan Vernet, Prof. de la fa-culté de Philosophie de l‘université de Barcelone (Prof. an der philosophischenFakultät der Universität Barcelona).

3. „Allah‘s Sonne über dem Abendland, unser arabisches Erbe“ von Frau Dr. phil.Sigrid Hunke, welche zahlreiche Bücher über Geschichte und Religion verfaßte.

Professor Sournia schreibt unter anderem:

• Unter alt arabischer Medizin meint man die Medizinwerke, die in arabisch ge-schrieben wurden zwischen dem 8. und l3. Jahrhundert. Dies war in den weit er-streckten Gebieten von Turkistan bis zur atlantischen Küste. Das ist eine be-achtliche Tatsache.

• Heutzutage bemängeln viele westliche, knapp informierte Ärzte die Rolle derarabischen Medizin, indem sie ihr nur die Rolle des Übersetzers und des Ver-mittlers der althellenischen Medizin an Europa zusprechen. Das Erbe der Grie-chen wurde von denen nicht nur übersetzt, sondern weit analysiert und erwei-tert. Mein Buch bemüht sich, dies zu beweisen.

• Er fährt fort: Diese Denkart ist eine Illusion. Denn es ist unvorstellbar, daß die-ses Konglomerat von Völkern von Turkistan bis zum Atlantik unter der Flaggedes Islams während 500 Jahren Glorie nichts für die Humanität hinterlassen hat.Wenn die europäischen Mathematiker ihre Anerkennung und Schätzung derSchöpfung der Araber der Algebra zugeben, warum sollten die Mediziner heutedie große Leistung der Araber ignorieren?

• Er schreibt weiter: Der Islam zu Beginn seines Sprunges war offen und tolerantfür alle Kulturen der Welt, für alle Sprachen und alle Religionen, solange die Dok-trin des einzigen Gottes nicht berührt war, und so haben sie meisterhaft gewußt,wie sie von den Kulturen der Perser, Syrer, Griechen und Ägypter profitierenkonnten. Es wurde also nicht nur übersetzt, sondern weiterentwickelt und dannübergeben. Sie schrieben viele Bücher über Grippe, Schlafkrankheit, Meningitis,Spontanpneumothorax, Gicht und Rheuma mit Unterscheidung von beiden.

• Al Heitham und Aboulkassis bewiesen sich in Ophthalmologie und brachten dar-über Kenntnisse, von denen Gallen gar nichts wußte. Und die Ärzte waren da-mals sehr gut honoriert (Probleme mit Krankenkassen gab’s noch nicht!).

• Auf die Reklamation eines Patienten, der teuer seinen Arzt honorieren mußte,antwortete der Kalif Haroun Al Raschid: Das Schicksal meines Reiches hängtvon mir ab. Mein Schicksal aber hängt an diesem Arzt. Der Kalif hat schon zudieser Zeit, also 930 n.Chr. das Studium der Medizin geordnet und reglemen-tiert, also vor über 1000 Jahren. Das ist eine große Leistung.

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Nun einige Auszüge von Sigrid Hunke:

• Vor 600 Jahren besaß die Medizinische Fakultät in Paris die kleinste Bibliothekder Welt. Sie bestand aus einem Titel, und diese Schrift war das Werk eines Ara-bers. Es war so kostbar, daß König Ludwig XI. 12 Mark in Silber und 100 Ta-ler in Gold hinterlassen mußte, als er sich diesen Schatz auslieh, damit seineLeibärzte jederzeit eine Kopie als Nachschlagewerk bei möglichen Attacken aufdie allerhöchste Gesundheit zu Rate zu ziehen vermochten.

• Wie sehr aber die Pariser ihren Schatz zu würdigen wußten, beweist das Denk-mal, das sie dem Andenken seines Autors Ar Rasi (Rasis) im Auditorium ma-ximum ihrer Medizinschule gewidmet hatten. Heute haben die Studenten derEcole de Médicine täglich sein Bild und das eines anderen Arabers, Avissena,vor Augen, wenn sie sich im großen Hörsaal am Bv. Saint Germain des Prés ver-sammeln.

• Ar Rasi pflanzte bei seinen Schülern eine hohe ethische Auffassung des Arzt-berufes ein und kämpfte gegen alle Scharlatanerie in Schrift und Wort. Er warder Abgott der Armen, die er nach der Heilung mit seinem Geld zu unterstützenpflegte, während er selbst anspruchslos, beinahe dürftig lebte. Wahrhaft einehohe und edle Ethik.

• Ar Rasi sagte: Ein Arzt sollte immer seine Patienten glauben lassen, daß es ih-nen besser gehen wird, und ihnen Hoffnung auf Heilung geben, wenn er auchselbst nicht so sicher über den Ausgang ist. Ebenso wie der Körper der Präge-kraft des Geistes gehorcht, so soll der Arzt auch den vom Tod schon Gezeich-neten ermutigen und ihm neue Lebenskraft verleihen. Das ist auch eine klareEthik.

• Der Auszug eines Briefes, den ein junger Patient seinem Vater aus dem Spitalschrieb, gibt uns ein klares Zeugnis für das Niveau der damaligen arabisch-islamischen Medizin

Lieber Vater!Du fragst, ob Du mir Geld bringen sollst. Nein. Wenn ich entlassen werde, be-komme ich vom Spital einen neuen Anzug und 5 Goldstücke für die erste Zeit,damit ich nicht sofort wieder arbeiten muß. Ich liege auf der orthopädischen Sta-tion neben dem Operationssaal. Wenn Du durch das Hauptportal kommst, bistDu bei der Poliklinik, wohin sie mich nach meinem Sturz gebracht hatten. Ichwurde nach der Untersuchung dort registriert und dem Oberarzt vorgeführt. EinWärter trug mich in die Männerstation, machte mir ein Bad und steckte mich insaubere Spitalbekleidung. Der Gang links vom Hof führt zur Frauenstation. Dumußt also rechts halten und an der inneren und chirurgischen Abteilung vorbei-gehen…

Wenn Du unterwegs Musik oder Gesang hörst, siehe hinein, vielleicht binich dann schon im Aufenthaltsraum für die Genesenden, wo wir Musik undBücher zu unserer Unterhaltung haben.

Als der Chefarzt heute morgen mit seinen Assistenten und Wärtern auf Vi-site war und mich untersuchte, diktierte er dem Stationsarzt etwas, was ich nichtverstand. Dieser erklärte mir hinterher, daß ich morgen aufstehen darf und baldentlassen werde. Dabei mag ich gar nicht fort, die Betten sind weich, die Lakenaus weisem Damast und die Decken flaumig und fein wie Samt. In jedem Zim-mer ist fließendes Wasser und jedes wird geheizt, wenn die kalten Nächte kom-men. Fast täglich gibt es Geflügel oder Hammelbraten.“

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Die Verhältnisse, von denen der Brief spricht, würden wir ohne weiteres unse-rem 20. Jahrhundert zuschreiben. Das war aber vor mehr als 900 Jahren.

Woher wurde das alles bezahlt? Die Rechnung wurde aus dem staatlichenGrundbesitz beglichen, mit dem die Krankenhäuser bei ihrer Gründung reichversehen wurden.

• Zur Einweihung des Mansouri-Spitals in Kairo Ende des 10. Jahrhunderts, sagteder Sultan Al Mansour, dieses habe er gestiftet für seinesgleichen und Gerin-gere. Ich habe es bestimmt für die Herrschaft und die Diener, die Soldaten undden Emir, die Großen und die Kleinen, die Männer und die Frauen. Dies ist aucheine hohe Ethik.

• Weiter in die Ethik hinein: Im Jahre 931 hatte der Kalif Al Moktadir erfahren,es sei durch einen Bagdader Arzt ein Kunstfehler passiert, welcher den Tod desPatienten zur Folge hatte. Er befahl, daß hinfort alle Ärzte geprüft und durch ei-nen Praktizierschein approbiert werden sollten. Er setzte eine Ärztekammer ein,welche die Aufgabe dieser Prüfung hatte.

• 200 Jahre später, also im 12. Jahrhundert, war Ibn Al Thalmith Vorsteher derÄrzte in Bagdad, und ihm passierte bei seinen Prüfungen folgende köstliche Ge-schichte, die den Gipfel der Ethik bezeichnen soll:

Unter denen, die sich zur Prüfung einfanden, war auch ein weißhaariger, wür-diger, alter Scheich, der nur geringe praktische Kenntnisse in den einfachen Be-handlungsarten besaß, aber kein wirklich medizinisches Wissen. Als die Reihean ihn kam, fragte ihn Al Thalmith:

Warum beteiligt sich der ehrwürdige Scheich nicht an der Diskussion, damit wir erfahren können, über was für medizinische Kenntnisse er verfügt?“ –„Wie?“ fragte der Scheich, und wölbte die Hand hinter dem Ohr. „Hat da jemandetwas gesagt, was ich nicht verstanden habe, wie mir das schon öfters gegangenist?“

„Wer war dein Lehrer in dieser Kunst?“ fragte ihn Al Thalmith jetzt mit er-hobener Stimme. Es antwortete der Scheich: „Wenn ein Mann mein Alter er-reicht, mein Herr, ist es höflich, ihn zu fragen, wieviel Stunden er hat und werder berühmteste unter ihnen ist. Meine Lehrer sind schon alle tot.“ – „Es ist lei-der so üblich, diese Frage zu stellen, und wir haben uns dabei nichts Böses ge-dacht“, entschuldigte sich Al Thalmith zuvorkommend. „Jedoch sage mir, ohverehrungswürdiger Scheich, welche medizinischen Bücher und Manuskriptehast Du gelesen?“

„Gelobt sei der Allmächtige, wir sind auf die kindische Stufe gekommen,wo man einen Mann wie mich fragt, welche Bücher ich gelesen habe. Es wärepassender, mein Herr, in meinem Alter zu fragen, welche Bücher und welcheArtikel ich geschrieben habe. Ich sehe, daß ich mich bei Dir erst einmal ein-führen muß.“ Damit trat er an Ibn Al Thalmith heran und flüsterte ihm zu: „Ichbin ein alter Mann mit einer großen Familie und bin immer als Arzt bekannt ge-wesen. Alles, was ich kenne, sind ein paar einfache und praktische Mittel, durchdie ich den Lebensunterhalt für meine Familie verdiene. Bitte stell mich vor die-sen Leuten nicht bloß.“

Ibn Al Thalmith flüsterte zurück: „Unter der einen Bedingung, daß Du nichteinen Fall behandelst, von dem Du nichts verstehst, und daß Du nicht zum Ab-führen oder zu einem Aderlaß rätst, außer in einfachen Fällen.“

„Das ist mein Prinzip schon immer gewesen“, beteuerte der Scheich eifrig,„mein Lebtag bin ich über Zuckerkand und Rosenwasser nicht hinausgegangen.“

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Da sagte Ibn Al Thalmith – so, daß alle es hören konnten: „Entschuldige uns, oh Scheich, jetzt kennen wir Dich gut, Du kannst in Deiner Praxis fort-fahren.“

Er wandte sich ab und während der Alte davonschritt, warf er dem nächstender wartenden Kandidaten zu: „Wer war Dein Lehrer?“. – „Der Scheich, den Ihreben geprüft habt, mein Herr“, antwortete der Kandidat. Ibn Al Thalmith lachte,daß ihm das Wasser in die Augen trat, „Ein wackerer Scheich“, sagte er, als ersich beruhigt hatte, „und Du befolgst seine Methode?“ Der Kandidat bejahte. Dasagte Ibn Al Thalmith: „Überschreite sie niemals“, und fuhr in seiner Prüfungfort.

Ist dies nicht die nobelste Art der Ethik – sei es in medizinischer oder sonstirgendwelcher Gesellschaft? Dies ist ein Kompromiß zwischen Humansein undtrotzdem Beachten des Gesetzes.

Die Grenze kennen und da stehen bleiben, das lehrte schon lange eine altearabische Weisheit. Gott segne denjenigen, der seine Grenze kennt und diesenicht überschreitet.

Die Ethik überhaupt ist im Islam eine heilige Aufgabe. So sprach Gott zuMohammed: „Sei höflich, lieb und human, sonst verlierst Du die Sympathie desVolkes.“

Hier einige Zitate des Propheten Mohammed:

„Wer seinen Herd verläßt auf der Suche nach Wissen, wandelt den Weg Gottes.“ „Die Tinte des Schülers ist heiliger als das Blut des Märtyrers.“„Suche Wissen von der Wiege bis zum Grabe.“ „Wer nach Wissen strebt, betet Gott an.“ „Das Studium der Wissenschaft hat den Wert eines Gebetes.“Der Prophet selbst lenkte den Blick seiner Anhänger über die Volksgrenze hin-aus, denn die Wissenschaft dient der Ehre Gottes.„Darum erwirb sie, aus welcher Quelle sie auch stammen mag, ja um Allah‘sWillen, empfange Wissen, sogar von den Lippen eines Ungläubigen.“So Mohammed – und dazu Goethe:„Und so muß das rechte scheinen, was auch Mohammed gelungen; nur durchden Begriff des Einen hat er alle Welt bezwungen.“Dies sind keine Märchen aus 1001 Nacht, was zum Beispiel den Brief des Pati-enten und die Geschichte der Prüfung des Scheichs angeht, sondern echte Tat-sachen, die in den genannten Büchern nachzulesen sind.

• Cordoba in Andalusien besaß in der Mitte des 10. Jahrhunderts allein 50 Kran-kenhäuser, 80 öffentliche Schulen, 27 höhere Lehranstalten und Hochschulenund 20 öffentliche Bibliotheken, die 100000 Bücher enthielten.

• Die Zahl der Ärzte in Bagdad allein betrug damals (also anfangs des 11. Jahr-hunderts) 860, die der beamteten Regierungsräte nicht mitgerechnet.

• Das weitläufig in vielen Pavillons angelegte Adudi-Spital in Bagdad, das pracht-volle Nuri-Spital in Damaskus und das Mansouri-Spital in Kairo waren zu die-ser Zeit die berühmtesten Anstalten und Medizinzentren der arabischen Welt.

• Nicht nur Kalifen und Sultane oder vermögende Privatleute, sondern auch Ärztegründeten Krankenhäuser neben ambulanten Sanitätsstationen und Gefängnis-lazaretten.

• Nicht nur Juden, die eine große Aufgabe als Vermittler der arabischen Kulturnach Europa erfüllt haben, auch Christen hat der Ruf des gesegneten LandesCordoba und Toledo der Weisheit angezogen.

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• Einer der ersten Großen des Abendlandes, der – vom lebenden Hauch des ara-bischen Geistes angerührt – keine Scheue zeigte, ihn zu verkünden, war zugleicheiner der größten Kaiser, der sizilianische Stauffer, Friedrich II.

• In Cordoba waren 27 Schulen, in denen die Kinder unbemittelter Eltern unent-geltlich Unterricht erhielten. Die Kosten zahlte der Kalif Al Hakam.

• Während der Omajadenherrschaft zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert ström-ten Studenten von allen Teilen der Welt in Andalusien zusammen, um die Wis-senschaft zu lernen, für die Cordoba der edelste Speicher war.

• Die Bibliotheken in Cordoba enthielten mehr als eine halbe Million Bücher.• Noch Mitte des 10. Jahrhunderts dringen die Araber, vom Lombardenkönig Hugo

ins Lande gerufen, hoch ins Engadin vor, wo Pontresina – die Pont Sarazena, dieBrücke der Sarazenen -, bis heute Spuren der Fremdlinge bewahrt.

• Vergessen wir nicht, daß diese unglaublich große Zahl von Büchern nicht auto-matisch gedruckt, sondern in monate- und jahrelanger Arbeit von Hand ge-schrieben wurde und nicht eben billig war.

• Ein arabisches Wort sagte: „Wer sich mit der Bearbeitung von Perlen beschäf-tigt, muß Sorge tragen, daß er ihre Schönheit nicht zerstöre. Ebenso ziemt esdem, der menschliche Leiber, die edelste Schöpfung der irdischen Welt, heilenwill, daß er behutsam und liebevoll mit ihnen umgehe.“ Hier besteht auch eineeinmalige Ethik im wahrsten Sinne.

• Bis 1924 galt, daß der Blutkreislauf vom Spanier Michael Servet und WilliamHarvey Mitte des 15. Jh. entdeckt worden war. Doch im selben Jahr, also 1924,bewies der ägyptische Student, Dr. At-Tatawi, mit seiner Dissertation, daß es einAraber war, Ibn Al Nafis, der als erster in der Geschichte der Medizin im 13. Jh.den Blutkreislauf entdeckt hatte.

Die prüfenden Freiburger Professoren haben dies nach langer Forschung bestätigt.

• Al Rasi (Rahses) hatte die Araber das unbefangene Schauen gelehrt. Das schreibtHunke. Mit seiner Schrift über Masern und Pocken hatte er zum ersten Male nachsorgfältiger Beobachtung ihr vollständiges Krankheitsbild festgehalten, was nochvon Ärzten des 18. Jh. als eine der besten Arbeiten in dieser Hinsicht genannt wird.

• Ibn Sina (Avissena genannt) liefert als erster die vorzüglichste differentialdia-gnostische Unterscheidung von Rippenfellentzündung, Lungenentzündung, In-terkostalneuralgie, Leberabszess und Mittelfellentzündung. Er unterscheidet dieSymptome von Darm- und Nierenkoliken und beschreibt Gesichtslähmungenaus zentralen und lokalen Ursachen.

• Der andalusische Chirurg Abu L’Qassin hat sich 700 Jahre vor Percival Pot mitder Gelenkentzündung und der Wirbeltuberkulose beschäftigt, die später nachdem Engländer Pottsches Übel = Malum Potti genannt wurde. Er lehrte die Nahtmit Catgut. Bei allen Eingriffen unterhalb der Nabelhöhle riet er als erster zurHochlagerung der Beine, heute benannt nach Friedrich Trendelenburg.

• Die Psychotherapie spielte bei den Arabern eine wichtige Rolle. Eine eigene Li-teratur (die Wirkung der Musik auf Mensch und Tier) befaßte sich mit der psy-chischen Heilbehandlung.

• Ibn Sina (Avissena) schrieb: „Wir müssen bedenken, daß die Musik als eine derbesten und erfolgreichsten Methoden die geistigen und seelischen Kräfte des Pa-tienten stärkt und ihn ermutigt, besser zu kämpfen, und seine Umgebung freund-lich und gefällig gestaltet.“

• Den Ruhm Galens und der Griechen lange Zeit zu verdunkeln – Ibn Sina ist esgelungen.

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• An den Lehranstalten Europas, also Salerno, Padova, Bologna, Paris und Ox-ford, wurden die Werke von Avissena, Abu L’Qassis, Rahses, Avenzoar, Hun-ein und Isaak Judäus am häufigsten studiert. Hier muß nochmals erwähnt wer-den, daß die gelehrten Juden an dieser arabischen Kultur sehr stark mitgearbei-tet haben.

• Erst im Jahre 1500 erhielt als erstes das Strassburger Krankenhaus einen ange-stellten Arzt, also 800 Jahre nachdem der Omaj ade Kalif Al Walid das erste ara-bische Krankenhaus gegründet und Ärzte dorthin gerufen hatte. Leipzig folgte1517, das Hôpital de Dieu in Paris 1536. So waren die Araber einst – und heute??

• Daß um die Mitte des 16. Jh. ein Veroneser Arzt und Avissena-Kommentator ineinem Krankenhaus in Padova klinischen Unterricht erteilte, war eine Sensation.Studierende aus aller Herren Länder strömten in Padova zusammen, um an denneuartigen Demonstrationen der Avissena- und Galenteste an den Kranken teil-zunehmen.

• In den Schriften des Grafen Ferrari Da Grado, Prof. aus Pavia, wird laut Stati-stik Avissena mehr als 3000mal zitiert, Rahses und Galen 1000mal und Hippo-krates 140mal.

• Obwohl die Araber nun endgültig in Ungnade gefallen sind, wirken ihre Schrif-ten, besonders ihre Augenheilkunde unter der Oberfläche bis ins 18. Jh. weiter.Viele ihrer wertvollen Erfahrungen, Entdeckungen und Erfindungen sind jedoch,wenn auch ungenannt, fester Bestandteil der internationalen Heilwissenschaftgeworden.

• Über Cordoba und Andalusien äußerte sich ebenso lobend Prof. Vernet. Erschreibt: „Und während diese Andalusienperiode floriert, besuchten zahlreicheWissenschaftler, Philosophen und Ärzte aus Frankreich, England, Deutschland,Italien und Dalmatien die Bibliotheken und konsultierten ihre Kollegen in Cor-doba, Toledo und Sevilla und kauften ihre Manuskripte.“

• Das Wellcome-Institut of the History of Medicine publizierte 1973 eine wich-tige Arbeit von Spink und Lewis über Abu L’Qassis.

• Die UNESCO würdigte Avissena und feierte seinen 1000. Geburtstag. 1952wurde für ihn ein grandioses Mausoleum errichtet, und bei der Feier des 1000.Geburtstages wurden zahlreiche seiner Bücher geehrt. Zahlreiche Dissertatio-nen, Theaterstücke und Radiosendungen wurden gemacht. Über 40 Werke hater geschrieben. Das berühmteste war „Quanum fit‘ Tibb“; das bedeutet „Die Heil-kunst“ und wurde von Occident mit dem Namen „Die Kanone der Medizin“ ver-sehen.

• „Die Kanone von Avissena“ und „Der Kontinent von Rahses“ waren die funda-mentalen Bücher der Medizin in Europa bis zum 17. Jh.

• Während Hippokrates nur eine bescheidene Urinuntersuchung machte, erreichteAvissena die Grenze der Uroskopie; seine Werke sind trotz aller Kritiken der Ur-sprung der modernen Medizin.

• Abu L’Qassis war einer der ersten Ärzte, der die Lepra gut beschrieben hat. UndAverros (lbn Ruschd) behandelte als erster die Krätze.

• Zwei Institutionen haben die Europäer von den Arabern übernommen: die An-stalten der Geisteskranken und die Prüfung für die Genehmigung zur Ausübungdes Medizinberufs.

• Lange Zeit bestand die Behandlung der Schizophrenie in Peitschenhieben, bisdie arabischen Ärzte die Beruhigung der Krisen mit geeigneten Opiumdosen (IbnAbi Usaybia) einführten, dies noch vor dem 13. Jh.

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Spezielle Ethik

Die Sterbehilfe

Wie vorher erwähnt, ist der Mensch die edelste Schöpfung auf dieser Erde und hatinfolgedessen, wenn seine Stunde schlägt, das Recht auf ein würdiges und natür-liches Sterben. Jede weitere Maßnahme, die das Ziel hat, das elende Leben künst-lich zu verlängern, wird im Islam abgelehnt.

Schwangerschaftsabbruch

Im Islam ist der Schwangerschaftsabbruch nach dem 42. Tag nach der Befruch-tung die größte Sünde überhaupt, denn es ist eine willkürliche Tötung. Somit gilthier die gleiche Betrachtung wie auch im Christentum.

Nur in speziellen Situationen, wo die Rettung des sicheren Lebens der Mutterim Vordergrund steht, wird der Schwangerschaftsabbruch toleriert, vorausgesetztaber, daß eine zuständige Gruppe von Fachärzten die Zustimmung dazu erteilt.Auch im Falle von Schwangerschaft durch Vergewaltigung kann ein Gremium vonÄrzten und Religiösen dem Schwangerschaftsabbruch zustimmen.

Organtransplantation

Der Islam ist für den Fortschritt der Wissenschaft und im Dienste der Würde desMenschen sehr tolerant und offen. Voraussetzung dafür ist, daß ein Team von Spe-zialärzten zunächst den sicheren Tod des Spenders deklariert und eine andere Ärz-tegruppe die Transplantation beim Empfänger vornimmt.

Selbstverständlich muß der Spender vor dem Ableben aus freiem Willen undunentgeltlich diese Spende schriftlich oder vor zwei Zeugen bestätigen, oder dienächsten Angehörigen können auch nach dem Ableben des Spenders unentgeltlichzustimmen. Jeder Handel mit menschlichen Organen ist kategorisch verboten undstrafbar.

Bei Spendern, die zum Tode verurteilt sind, gelten die oben genannten Bedin-gungen, denn die Würde des Menschen (auch wenn zum Tode verurteilt) ist hei-lig und steht im Vordergrund.

Klonen

Dem Klonen, soweit dies bei Pflanzen oder Tieren geschieht und zur Besserungdes Lebensstandards des Menschen führt, steht im Islam nichts entgegen. Was aberdas Klonen beim Menschen angeht, so besteht hier eine sehr strenge Ablehnung,und zwar nicht nur im Religionssektor, sondern auch bei den Ärztegesellschaften.

Im letzten islamischen Kongreß wurde das Klonen beim Menschen katego-risch abgelehnt mit folgender Begründung: Das Klonen beim Menschen wird eineKette von unannehmbaren Problemen auslösen, welche kaum vorauszusehen sind,religionsmäßig, moralisch und vor allem ethisch. Die Angabe von Befürwortern,die Menschheit werde daraus nur Vorzüge erzielen, indem Rasse, Intelligenz, Kör-perschönheit und selektive Weisheit ausgewählt und kreiert würden, ist total irre-

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führend; denn beim Kopieren wird nur der Körper, nicht aber die Fähigkeit des Ge-hirns nachgeahmt.

Die Antwort auf die bessere Entwicklung der Schönheit und Rasse steht in fla-granter Kontradiktion zum Rassismus, den wir heute alle ablehnen und versuchen,mit allen Mitteln aus unserem Leben auszuradieren. Die ganzen ethischen Gesetzebezüglich Heirat, Scheidung, Kinderhaben und Welterleben – sowie die Würde vonMann, Frau und Sex—würden chaotisch oder radikal zerstört. Zweifelsohne sindalle Religionen und fast alle Ärzte und Wissenschaftler heute dagegen.

Doch die Annahme, daß das Klonen beim Menschen seinen Weg schreitet undsich bald verwirklicht, ist leider Gottes da. Und das bedeutet mindestens die Zer-störung der Familie und deren Sinn in Zukunft. Man kann sich ein Leben ohne Fa-milie oder Kinder und ohne Lebensfreude für Mann oder Frau kaum vorstellen.Dieses Problem ist sicher die größte Herausforderung, die uns Menschen von heuteschwer prüfen wird. Die Förderung von Ethik und Religion, beide untrennbar, istzweifelsohne die stärkste Waffe dagegen.

Literatur

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