10
1 Es war ein wunderschöner Morgen. Engelchen sass auf seiner Wolke und trällerte fröhlich vor sich hin. Eigentlich hatte es ja eine Aufgabe, wie alle anderen Engel auch. Aber, wie so oft, vergass es alles um sich herum. Eines Tages bekam es Besuch vom lieben Gott. „Guten Morgen Engelchen, “ sagte er freundlich. „Wie geht es Dir?“ Engelchen erschrak fast ein bisschen, so verträumt war es. „Guten Morgen lie-lie-ber Gott“, stammelte es. „Oh, ich wollte dich nicht erschrecken“, sprach der liebe Gott. „Aber, ich muss mit dir sprechen. Weisst du, ich beobachte dich jetzt schon eine ganze Weile. Du vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen kleinlaut. „D-d-das will ich ja eigentlich nicht. Aber, weisst du, es ist so sch-sch-schön da und ich singe doch so gerne, u-u-und dann vergesse ich mich. I-i-ich will mich a- a-a-ber ganz si-si-sicher bessern!“ Der liebe Gott lächelte gütig und meinte dann: „Ich verstehe dich ja auch, und du singst wunderschön. Weil es aber für dich so schwierig ist, dich an deine Pflichten zu halten, habe ich eine andere Aufgabe für dich.“ „A-a-ber, darf ich jetzt nie mehr si-si-singen?,“ fragte Engelchen traurig, und eine dicke Träne kullerte ihm über die Wange. Der liebe Gott setzte sich neben das Häufchen Elend, nahm es in die Arme und sagte: „Ach Engelchen, natürlich darfst du weiter trällern so viel du willst.“ Er zog vorsichtig eine glitzernde Kugel aus der Tasche und legte sie ihm in die Hände. Augenblicklich erhellte sich Engelchens Miene und es staunte eine ganze Weile, bevor es die Sprache wieder fand. „Oh, die ist aber wunderschön“, staunte es. „ Ist die für mich“, fragte es leise. „In gewisser Weise ja, aber nicht nur, Engelchen

Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde …€¦ · Web viewDu vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen

  • Upload
    others

  • View
    7

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde …€¦ · Web viewDu vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen

1

Es war ein wunderschöner Morgen. Engelchen sass auf seiner Wolke und trällerte fröhlich vor sich hin. Eigentlich hatte es ja eine Aufgabe, wie alle anderen Engel auch. Aber, wie so oft, vergass es alles um sich herum.Eines Tages bekam es Besuch vom lieben Gott. „Guten Morgen Engelchen, “ sagte er freundlich. „Wie geht es Dir?“ Engelchen erschrak fast ein bisschen, so verträumt war es. „Guten Morgen lie-lie-ber Gott“, stammelte es. „Oh, ich wollte dich nicht erschrecken“, sprach der liebe Gott. „Aber, ich muss mit dir sprechen. Weisst du, ich beobachte dich jetzt schon eine ganze Weile. Du vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen kleinlaut. „D-d-das will ich ja eigentlich nicht. Aber, weisst du, es ist so sch-sch-schön da und ich singe doch so gerne, u-u-und dann vergesse ich mich. I-i-ich will mich a-a-a-ber ganz si-si-sicher bessern!“ Der liebe Gott lächelte gütig und meinte dann: „Ich verstehe dich ja auch, und du singst wunderschön. Weil es aber für dich so schwierig ist, dich an deine Pflichten zu halten, habe ich eine andere Aufgabe für dich.“ „A-a-ber, darf ich jetzt nie mehr si-si-singen?,“ fragte Engelchen traurig, und eine dicke Träne kullerte ihm über die Wange. Der liebe Gott setzte sich neben das Häufchen Elend, nahm es in die Arme und sagte: „Ach Engelchen, natürlich darfst du weiter trällern so viel du willst.“ Er zog vorsichtig eine glitzernde Kugel aus der Tasche und legte sie ihm in die Hände. Augenblicklich erhellte sich Engelchens Miene und es staunte eine ganze Weile, bevor es die Sprache wieder fand. „Oh, die ist aber wunderschön“, staunte es. „ Ist die für mich“, fragte es leise. „In gewisser Weise ja, aber nicht nur, „erklärte ihm der liebe Gott. „Weisst Du, das ist nicht einfach eine Glitzerkugel. Sie ist das Glück.“ Engelchen schaute ihn fragend an. „Also, das ist so“, erklärte ihm der liebe Gott: „Du fliegst jetzt auf die Erde und findest heraus, wer gerade etwas Glück braucht. Dann schaust du das Geschöpf an, das du ausgesucht hast und pustest sanft auf die Kugel. Und so findet das Glück seinen Weg.“ Etwas ungläubig, und auch leicht entsetzt schaute Engelchen den lieben Gott an. Vor lauter Verwirrung kam es wieder arg ins stottern. „A-a-aber, was s-s-soll ich denn auf der Erde, v-v-v-von dort bi-bi-bin ich doch gekommen!“ Der liebe Gott strich ihm über das gelockte Haar und sprach: „Freilich, aber sieh, Engelchen wie du brauchen manchmal eine besondere Aufgabe. Und, du weisst ja, Glück kann man nie genug haben. Auf der Erde gibt es immer wieder jemanden, der ein wenig davon braucht, damit es ihm wieder besser geht.“ Das sah nun Engelchen ein, und es war auch ein wenig stolz, dass es so eine wichtige Aufgabe übernehmen durfte. „Wann soll ich denn fliegen?, “ fragte es ungeduldig. „Gleich jetzt“, antwortete der liebe Gott. „Und keine Angst, du musst nicht

Engelchen

Page 2: Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde …€¦ · Web viewDu vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen

2

für immer dort bleiben. Du wirst sehen, die Kugel wird mit jedem Mal, wenn du Glück schenkst, etwas kleiner. Wenn gar nichts mehr übrig bleibt davon, dann ist es Zeit, dass du wieder zu uns kommst.“ So machte sich Engelchen auf den Weg. Die Glückskugel hielt es dabei immer vorsichtig in den Händen. Nach einiger Zeit erreichte es sein Ziel. „Phuu,“ staunte es, „wo bin ich denn da gelandet?“ Es sah sich um. Bäume, ein Bach, Wiesen – aber weit und breit kein Mensch. „Das kann ja heiter werden“, seufzte es. Also setzte es sich erst mal hin und betrachtete den Ort, wo es gelandet war. Niemand war da, nicht mal ein Tier. „Wenn das so ist“, murmelte es ein wenig trotzig vor sich her, „dann kann ich ja weitermachen wie dort oben. Was kann denn ich dafür, wenn der liebe Gott mich auf die Erde schickt und keiner ist da!“ Und so trällerte Engelchen eine ganze Weile. Plötzlich hielt es inne. Da war doch was. Ja richtig, es hörte ganz weit weg eine Vogelstimme, die aber immer näher kam. „Wer bist du denn?“, fragte es keck, als ein Spatz sich ganz in der Nähe auf einen Ast setzte. „Wer will das wissen?“, kam ebenso keck die Antwort. „Häm“, schnaubte Engelchen und wollte schon eine freche Antwort geben. Doch es besann sich eines Besseren. Schliesslich konnte es ja froh sein, dass überhaupt jemand da war! Wie sonst hätte es seine Aufgabe wahrnehmen sollen! „Wohnst du hier?“, fragte Engelchen. „Ach weisst du“, erwiderte der Vogel, „ich wohne mal hier, mal dort. Aber da gefällt es mir besonders gut. Es gibt genug zu essen, und zu trinken auch. Ich bin der Spatz, sehr erfreut“. „Du bist aber ein freundlicher Spatz“, antwortete Engelchen beeindruckt. „Es ist nämlich so: Der liebe Gott hat mich auf die Erde geschickt, damit ich Glück schenke, wo gerade jemand etwas davon braucht. Ich heisse Engelchen. Das Vögelchen kratzte sich mit der Kralle am Kopf. Eine ganze Weile waren beide still, dann fragte es etwas zögernd: „Ja, wo hast du denn das Glück“? Engelchen strahlte ihn an und meinte ganz feierlich: „Siehst du diese glitzernde Kugel? Das ist das Glück. Ich muss nur jemanden anschauen, dann leicht pusten, und schon ist dieses Geschöpf glücklicher.“ „Oh“, erwiderte der Vogel ganz fasziniert, „das ist aber schön. So etwas habe ich noch nie gehört!“ Engelchen sah ihn an und lächelte. Von Anfang an hatte es das herzige Tier ins Herz geschlossen. „Möchtest du auch etwas von meinem Glück?“, fragte es mit lieblicher Stimme. Auch der Spatz hatte seine helle Freude an dem niedlichen Engel. Doch er meinte: „Das ist lieb von dir, aber weisst du, ich habe viel Schönes erlebt in meinem Vogelleben. Ich bin alt, aber ich würde mich sehr freuen, wenn ich dich noch eine Weile auf deiner Reise begleiten dürfte. Das wäre Glück genug für mich.“ Engelchen strahlte. „Ja gerne!“ Mit diesem Gefährten würde die himmlische Reise bestimmt noch viel schöner werden! So zogen die beiden weiter. Der Spatz brauchte immer wieder eine kleine Pause. Engelchen war geduldig, es verstand gut, dass sein Freund nicht mehr so mochte wie auch schon. „Nimm dir Zeit“, sagte es. „Wir müssen uns gewiss nicht sputen.“Als sie eine Weile geflogen waren, sahen sie in der Ferne ein paar Häuser. Bald kamen sie bei einer armseligen Hütte vorbei. Dort war eine Frau gerade dabei ein Feuer zu entfachen. Sie hatte nur wenig Holz, und die Wärme würde nicht lange anhalten. Aber, was sollte sie machen; der Wald war weit weg und sie vermochte nicht so viel Holz zu schleppen. Die Armut und die grosse Schar Kinder, die sie allein zu versorgen hatte, zehrte an ihren Kräften. Engelchen schaute eine Weile zu, dann sagte es leise zum Spatz an seiner Seite: „Da muss ich helfen.“ Es hob die glitzernde Kugel nahe an seinen Mund, schaute die Frau an und pustete vorsichtig in ihre Richtung. In diesem Augenblick flackerte das Feuer einen Moment etwas heller, und die Beiden sahen das feine, aber traurige Gesicht der Frau. Der Spatz und Engelchen warteten gespannt, was wohl passieren würde. Doch, wie lange sie auch warteten, nichts geschah. Da wurden die zwei ganz betrübt. Der Vögel schaute Engelchen an und meinte: „Aber, wo ist nun das

Page 3: Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde …€¦ · Web viewDu vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen

3

verschenkte Glück hin? Du hast doch gesagt, jeder, der angepustet wird, dem würde ein Stück geschenkt.“ „Ach“, seufzte Engelchen, „ ich weiss auch nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich habe doch alles befolgt, was der liebe Gott mir gesagt hat“. Nach einer Weile schlug der Spatz vor, es wäre doch besser, weiter zu ziehen. Sie könnten ja doch nichts ändern. Und überhaupt habe es ja noch mehr Geschöpfe hier auf der Erde, die Engelchens Hilfe bräuchten.So machten sie sich weiter auf die Reise. Beide hielten Ausschau, wer oder was wohl etwas Glück brauchen könnte. Und wirklich, es dauerte nicht lange, da begegnete ihnen ein Bauer, der schaute furchtbar mürrisch aus. Engelchen war froh, dass es für den Mann unsichtbar blieb, und auch der Vogel fühlte sich sicher auf seinem Ast. Wer würde schon einen Spatz beachten!? Der Bauer war ganz allein. Keine Kinder halfen ihm auf dem Feld oder sprangen ums Haus herum. Keine Frau war zu sehen, nicht mal einen Hund hatte es, der den Mann wedelnd begrüsste, wenn er nach Hause kam. „Muss das aber traurig sein“; meinte Engelchen. „Da muss man ja unzufrieden sein. Der arme Mann. Der kann sicher auch ein wenig Glück gebrauchen“. Wieder pustete Engelchen in Richtung des Bauern. Ganz gespannt warteten die Beiden. Nichts, aber auch gar nichts geschah, und der Mann war noch ebenso mürrisch wie zuvor. „Was hat denn der liebe Gott mir nur für eine Kugel mitgegeben, rief es wütend. „Glück, ja woher. Das ist eine nichtsnutzige, glänzende Kugel, die bei jedem Pusten etwas kleiner wird. Sonst pa-pa-passiert a-a-a-aber g-g-gar nichts“, stotterte Engelchen ganz ausser sich und konnte sich gar nicht mehr beruhigen: „Engelchen, Engelchen“, versuchte der Spatz seine Gefährtin zu beschwichtigen. „Nein, es ist nichts passiert. Vielleicht haben wir nur zu wenig lang gewartet. Wie pflegte meine liebe Mutter zu sagen: Gut Ding will Weile haben!“ Sanft berührte er mit einem seiner Flügel Engelchens Kopf. Das beruhigte das himmlische Wesen. „Lass uns weitermachen“, redete er leise auf Engelchen ein. „Also gut“; antwortete es. „Lass uns losfliegen“. Sie kamen zu einem Feld, da sah es übel aus. Wo eigentlich schon bald das Korn geerntet werden sollte, war fast alles ausgetrocknet.“Ach du meine Güte!“, rief Engelchen. „Das sieht ja schrecklich aus. Wenn da nicht bald der Regen fällt, dann gibt es keine Ernte, kein Mehl, und kein Brot. Der liebe Gott hat ja nicht gesagt, dass ich nur den Menschen helfen soll.“ Es hob die Kugel nahe an den Mund und pustete so lange, bis es weiss war im Gesicht und ihm ganz komisch wurde. „Das reicht, hör auf!“, rief der Spatz und flatterte wild mit seinen Flügeln, damit Engelchen wieder Luft bekam. „A-a-a-aber“, stammelte es noch ganz benommen, „ das ist doch ein grosses Feld, das braucht gaaanz viiiil Glück!“ „Das glaube ich nicht. Weisst du – und das kannst du einem alten Spatz glauben – es braucht nur ein wenig Glück, und das kann ganz viel bewirken“: „Meinst du?“, erwiderte Engelchen. „Du hast Recht, ich darf nicht jetzt schon alles fortpusten, gewiss brauchen noch Viele ein bisschen Glück“. „Phuu“!, dachte der Spatz. „Nochmals gut gegangen. Wie das wohl noch weitergeht? Hoffentlich regt sich Engelchen nicht gleich wieder auf!“ Sie machten sich weiter auf den Weg. Es hatte ja keinen Sinn zu warten. Natürlich passierte wieder nichts, aber der Spatz vermochte Engelchen aufzuheitern, in dem er munter pfiff. Engelchen musste lachen.“ Du pfeifst aber komisch.“ „Ich weiss, erwiderte das Vögelchen. „Ich bin eben nur ein Spatz und keine Amsel. Er schaute etwas traurig, aber seine Reisegefährtin schaute ihn lieb an und umarmte ihn. „Dafür bist du ein lieber Freund und ich habe dich lieb. Komm, ich singe dir ein lustiges Lied.“ So flogen sie weiter. Es wurde langsam dunkel, und die Beiden suchten einen Platz zum Schlafen. Nahe beim Wald fanden sie eine Eiche mit einem bequemen Ast, wo sie es sich bequem machten. Sie waren beide müde. Engelchen murmelte schon halb eingeschlafen: „Schlaf gut, bis Morgen.“ Der Spatz lehnte sich an seine Himmelsfreundin und erwiderte: „Du auch. Bis Morgen.“

Page 4: Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde …€¦ · Web viewDu vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen

4

Es dämmerte langsam, und immer mehr Vogelstimmen begrüssten den Tag. Auch Engelchen und der Spatz erwachten. Sie schüttelten ihre Flügel und machten sich wieder auf den Weg, Zwischendurch fing der Spatz eine Mücke. Als er dies zum ersten Mal tat, fragte er Engelchen, was es denn essen würde. „Nichts“, antwortete dieses ihm. „Ich bin ein Engel, die essen nichts.“ Der Spatz staunte, suchte aber weiter nach etwas Essbarem. „Komm jetzt, mein Freund“, rief Engelchen nach einer Weile. „Wir haben noch viel zu tun!“ „Hetz nicht so, meine liebe Freundin. Ich bin ein alter Spatz und kann nicht mehr so schnell essen. Du hast gut reden, du brauchst ja nichts.“ „Tschuldigung,“ antwortete Engelchen kleinlaut. „Vor lauter Eifer habe ich das vergessen. Friss du nur deine Mücke in Ruhe zu Ende, ich kann schon warten.“ Es gab sich alle Mühe und biss sich auf die Lippen, damit der Spatz nicht merkte, wie ungeduldig es wurde. Endlich konnten sie aufbrechen. Engelchen trällerte vor sich hin, wohl mehr, um sich selber Mut zu machen, als aus purer Freude. Der Spatz fing gar nicht erst an zu pfeifen, seine Freundin hätte sonst nur wieder gelacht. Aber, eigentlich musste er sowieso seine Kräfte sparen für die Reise. Wohin es die Beiden wohl führen würde? Sie flogen zusammen in den Wald. Der Spatz setzte sich auf einen Ast und sagte leise zu Engelchen: „Siehst Du das?“ „Was?“, fragte es leise zurück. „ Dort drüben liegt ein kleiner Hund, angebunden an einem Baum. Hörst du, wie er kläglich winselt?“ Jetzt sah ihn Engelchen auch. „Ach Herrjeh, “ erwiderte es, „das ist ja furchtbar traurig. Er ist ganz dünn und zu schwach um aufzustehen.“ Ganz vorsichtig näherten sich die Beiden dem kleinen Geschöpf. Und siehe da, der Welpe konnte beide sehen und wedelte ein bisschen mit dem Schwanz. „Wer bist du?“, fragte er das himmlische Wesen. „Kannst du mich denn sehen? Ich bin Engelchen.“ „Ja“, antwortete der Kleine mit schwacher Stimme, ich sehe dich. Du bist hübsch und hast einen schönen Namen. Kannst du mir helfen? Ich bin ganz alleine und habe kein Futter, nur ein wenig Wasser.“ Engelchen strich ihm sanft über den Kopf und fragte: „Kannst du gehen? Wir könnten dich mitnehmen.“ Da kam ihm in den Sinn, dass es und auch der Spatz zu schwach waren, die Leine zu lösen. Es flüsterte leise, damit es der Welpe nicht hören konnte: „Spatz, mein Freund, was machen wir jetzt? Ich kann doch die Leine nicht losmachen!“ Es wandte sich ab und fing an zu weinen. Da hatte der Spatz eine Idee: „Engelchen, schenk du doch einfach ein wenig von deinem Glück. Ich habe Zeit und bleibe hier und werde so lange auf der Leine herum picken, bis der Kleine sich befreien kann“. Engelchen dachte eine Weile nach. Es sah ein, dass es nicht mehr machen konnte, als auch dem Kleinen ein wenig Glück zu schenken. Ganz vorsichtig pustete es und wartete. Eigentlich wusste es, dass wieder nichts passieren würde, aber es wollte den Welpen nicht erschrecken und blieb ganz ruhig. Wenigstens konnte der Spatz helfen, und dann würde sicher alles gut werden. „Warte nicht auf mich Engelchen, du hast noch eine Aufgabe“, mahnte er, „ich komme schon zurecht mit dem Kleinen.“ Es hielt noch einen Moment inne, hob die Glitzerkugel an den Mund und pustete ein wenig Glück zu den Beiden. Der Vogel merkte es nicht einmal, so beschäftigt war er schon damit, dem kleinen Hund zu helfen. Schweren Herzens verabschiedete sich Engelchen und flog davon. „Seltsam“, dachte es, als einige Zeit vergangen war. „Das ist gar nicht mehr so einfach, wenn man keinen Weggefährten mehr bei sich hat. Er war mir so vertraut, der liebe Spatz, als würden wir uns schon ewig kennen.“ Es seufzte, besann sich aber dann. Es wollte den lieben Gott nicht enttäuschen und weiter seine Aufgabe erfüllen. Der Wald lag schon weit hinter ihm, und langsam näherte es sich wieder einem Dorf. Es hielt einen Moment inne um zu sehen, wie viel von seiner Glückskugel wohl noch übrig war. Vorsichtig öffnete es seine Hände und erschrak. „Neeeein!“, jammerte es, die Hände waren leer! Kein Glitzern und Funkeln mehr. Was sollte es denn nun machen? Der liebe Gott würde sicher böse sein, weil es ja kaum helfen konnte. „Ich bin so ein dummes

Page 5: Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde …€¦ · Web viewDu vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen

5

Engelchen“, schluchzte es. „Hätte ich doch beim Feld bloss nicht so fest und lange gepustet, dann wäre jetzt noch ganz viel übrig!“ Es half alles nichts. Da konnte das arme Wesen noch so wehklagen, da war nichts mehr zu machen. Es wischte die Tränen weg und flog mit hängendem Kopf dem Dorfe zu. Plötzlich hielt es inne. Da war es doch schon mal! Es fing an zu regnen. Schnell suchte es Schutz unter einem Baum. Es schaute über das Feld, vor welchem der Baum stand. „Das ist doch mein Feld“, rief es. „Da habe ich doch so fest gepustet. Es regnet, und das Korn fängt ganz langsam an zu wachsen.“ Das konnte natürlich nur Engelchen sehen. Es freute sich und hüpfte auf und ab unter dem Baum. „Engelchen, du bist doch nicht so dumm“; lachte es. Als der Regen eine Pause machte, flog es weiter und kam am Bauernhof vorbei. Aber was war denn da los? Grosse Freudentränen rannen ihm nun über das lachende Gesicht. „Mein süsser, kleiner Welpe“, freute es sich. „Er ist ja gar nicht mehr im Wald angebunden. Und aus der Tür kam der Bauer, der doch erst noch so mürrisch aussah. Er brachte dem Welpen einen Napf mit Futter, strich im sanft übers Köpfchen und sagte glücklich: „So ein Glück, dass du den Weg zu mir gefunden hast. Du bist ein feiner Kerl und sollst es gut haben bei mir.“ Engelchen freute sich. Soeben hatte der Hund den Engel entdeckt und wedelte. Und siehe da, plötzlich landete der Spatz neben Engelchen und erzählte ganz aufgeregt, wie er den Welpen zum Hof brachte, und der Bauer den Kleinen sofort ins Herz geschlossen habe. „Und weisst du Engelchen“, berichtete er weiter. „Der Kleine folgt ihm auf Schritt und Tritt und darf mit dem Traktor aufs Feld in den Stall, und mit ins Dorf, die Milch in die Käserei bringen.“ Schwer zu sagen, wer nun glücklicher war, der Spatz oder der Engel. Es war schon spät und fing an einzunachten. Beide brauchten dringend etwas Schlaf. Das war ein aufregender Tag!Früh waren die Zwei wach. Auf dem Hof war schon viel Betrieb, aber die Beiden wollten ja noch weiter. Ob es wohl noch mehr Überraschungen geben würde? Engelchen flog voraus, wartete aber immer wieder geduldig auf den Spatz. Bald kamen sie am Haus vorbei mit den vielen Kindern und ihrer Mutter. „Schau“, rief Engelchen und drehte sich zum Spatz um. „Siehst du das? Ein grosser Stapel Holz, schön aufgeschichtet, steht an der Hausmauer. Genug zum Kochen und noch für manchen Winter. Ist das nicht schön?“ „Ja“, erwiderte der Spatz und schaute ganz ungläubig. „Da hat jemand bemerkt, wie sehr die arme Frau schuften musste und das Holz fast nicht mehr tragen konnte. Ein kleines Wunder!“ Sie schauten einander glücklich an und Engelchen meinte ganz andächtig: „Du, ich glaube fast, die Glitzerkugel hat geholfen.“Und der Spatz antwortete: „Ja, ich glaube das auch. Sieh, der kleine Hund hat einen Platz gefunden, und der mürrische Bauer ist jetzt ganz ein anderer Mann. Das Korn wird wachsen, und die Kinder und ihre Mutter haben genug Holz für eine lange Zeit.“ Es fing wieder an zu regnen, und Beide verkrochen sich unter dem Dach eines Hauses. Ja, und nun war Engelchens göttlicher Auftrag zu Ende. Es war etwas traurig, weil es nun wieder zurück in den Himmel musste, aber auch, weil es nicht noch mehr geschafft hatte. Und natürlich gab es da noch etwas, das die Freude über das Vollbrachte trübte: Es musste zurück ohne den Spatz. Es legte einen Flügel um seinen Freund, gab ihm einen Kuss und sagte: „Danke, dass du mich begleitet hast. Ich habe dich ganz fest lieb und werde dich nie vergessen! Ach weisst du, ich hasse Abschied. Das ist immer so traurig.“ Auch der Spatz war betrübt, dass er nun wieder ohne Engelchen da sein würde. Er legte seinen Kopf an Engelchens Schulter und sagte leise: „Leb wohl, es war schön, dich kennenlernen zu dürfen. Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages im Himmel.“ „Oh ja, das wäre schön, dann könnten wir wieder zusammen sein. Auf Wiedersehen, mein lieber Freund.“Engelchen war eine Weile geflogen und kam nun wieder zurück im Himmel. Der liebe Gott wartete schon. „Hallo Engelchen, schön, dass du wieder bei uns bist“, begrüsste er

Page 6: Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde …€¦ · Web viewDu vergisst dauernd deine Aufgabe, und trällerst den lieben langen Tag auf deiner Wolke.“ „Oh-oh-jeh“, sagte das Engelchen

6

es. Engelchen senkte den Kopf. „Was hast du denn?“, fragte der liebe Gott besorgt. „Bist du traurig, dass du wieder zurückkommen musstest?“ Engelchen schüttelte den Kopf, hielt tapfer die Tränen zurück und erwiderte: „Ach lieber Gott, ich habe gar nicht so viel geholfen wie ich wollte. Beim Feld habe ich so fest und so lange gepustet, dass nur noch ein wenig Glück für den kleinen Hund übrig war.“ Nun konnte es die Tränen doch nicht mehr zurückhalten und schluchzte herzergreifend. Der liebe Gott nahm es in die Arme und sagte leise zu ihm: „Engelchen, das ist doch überhaupt nicht schlimm! Du hast es so gemacht, wie es du für richtig empfunden hast, und das ist gut so. Es kommt nicht darauf an, dass man Vielen Glück schenkt, sondern, dass man sich bemüht zu helfen. Niemand kann die ganze Welt glücklich machen. Doch auch nur das kleinste Bisschen, das man davon weitergibt ist etwas Wunderbares. Du hast das sehr gut gemacht“ Das tat Engelchen so gut. Der liebe Gott war doch zufrieden mit ihm. Glücklich schlief es in Gottes Armen ein. Als es erwachte, war der liebe Gott immer noch da. Er schaute Engelchen an und deutete auf seine Schultern. Sogleich huschte ein Lächeln über Engelchens Gesicht. Auf Gottes Schulter sass sein lieber Freund, der Spatz. Das war eine Überraschung und beide freuten sich sehr! „Engelchen“, flüsterte ein sichtlich glücklicher Vogel „Mein lieber Spatz“; flüsterte ein überglückliches Engelchen zurück. Von nun an waren die Beiden unzertrennlich und auf ewig zusammen.

Dorli Lötscher