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Gedächtnisstörungen nach Hirnschäden

herausgegeben vonProf. Dr. Herta Flor, Prof. Dr. Siegfried Gauggel,

Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Dr. Hendrik Niemann,Dr. Angelika Thöne-Otto

Fortschritte der Neuropsychologie

Band 2

Gedächtnisstörungennach Hirnschäden

von

Angelika Thöne-Ottound Hans J. Markowitsch

Göttingen • Bern • Toronto • Seattle

Hogrefe

Gedächtnisstörungennach Hirnschäden

von

Angelika Thöne-Ottound Hans J. Markowitsch

Göttingen • Bern • Toronto • Seattle

Hogrefe

Umschlagbild: © Bildagentur Mauritius GmbHSatz: Ce Zet Mediengestaltung, Erkerode/ReitlingDruck: Druckerei Kaestner GmbH & Co. KG, 37124 GöttingenPrinted in GermanyAuf säurefreiem Papier gedruckt

© Hogrefe-Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen • Bern • Toronto • Seattle 2004Rohnsweg 25, D-37085 Göttingen

ISBN 3-8017-1665-1

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts-gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dasgilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfil-mungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischenSystemen.

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Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen(Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern großeMühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkesabzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganzausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwor-tung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in demWerk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen)werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nichtgeschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Dr. phil. Angelika Thöne-Otto, geb. 1964. 1985-1991 Studium der Psychologie in Würzburg. 1995Promotion. 1991 bis 1995 Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitseinheit PhysiologischePsychologie der Universität Bielefeld. Anschließend Konzeption und Aufbau der Tagesklinik für kognitiveNeurologie am Universitätsklinikum Leipzig in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Neuro-psychologische Forschung Leipzig. Tätigkeitsschwerpunkt: Neuropsychologische Therapie von Gedächt-nisstörungen.

Prof. Dr. Hans.-J. Markowitsch, geb. 1949. 1970 bis 1974 Studium der Psychologie und der Biologie inKonstanz. 1977 Promotion, 1980 Habilitation. Professuren an der Universität Konstanz und an der Univer-sität Bochum, seit 1991 Professor für Biopsychologie und Physiologische Psychologie an der UniversitätBielefeld. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnis, Gedächtnisstörungen, Wechselwirkungen zwischen Ge-dächtnis und Emotion.

Inhaltsverzeichnis

1 Beschreibung ....................................................................... 11.1 Gedächtnis als Grundfunktion.................................................. 11.2 Definition von Gedächtnis,

zeitliche und inhaltliche Subsysteme........................................ 21.2.1 Zeitliche Unterteilung von Gedächtnis..................................... 31.2.2 Inhaltliche Unterteilung von Gedächtnis .................................. 41.3 Bezeichnung und Definition der Störung ................................. 81.4 Epidemiologische Daten .......................................................... 111.5 Verlauf und Prognose ............................................................... 11

2 Ätiologie................................................................................. 132.1 Patienten mit Schädelhirnverletzungen .................................... 142.2 Patienten mit cerebralen Infarkten,

Aneurysmen oder vaskulären Erkrankungen............................ 152.3 Patienten mit intracranialen Tumoren ....................................... 152.4 Patienten mit degenerativen Erkrankungen des

Zentralnervensystems............................................................... 152.5 Patienten mit Zustand nach Hypoxie oder Anoxie .................... 162.6 Patienten mit Mangelkrankheiten, Avitaminosen,

Intoxikationen (Korsakowsyndrom, chronischer Alkoholmissbrauch) ................................................................. 16

2.7 Patienten mit bakteriellen oder viralen Infekten, parasitären, Pilz- und Wurmerkrankungen, Autoimmunerkrankungen ........................................................ 17

2.8 Patienten mit Organinsuffizienzen ........................................... 172.9 Patienten mit Epilepsie ............................................................. 172.10 Patienten mit Zustand nach Drogenmissbrauch........................ 182.11 Patienten mit psychischen Störungen (z. B. Schizophrenie)..... 182.12 Patienten mit Zustand nach Elektrokrampftherapie.................. 182.13 Patienten mit Transienter Globaler Amnesie ............................ 182.14 Patienten mit dissoziativen Zuständen, Konversionssyndromen,

psychogener Amnesie, mnestischem Blockadesyndrom .......... 18

3 Neuropsychologische und neurobiologische Störungstheorien und -modelle....................................... 21

3.1 Prozedurales Gedächtnis .......................................................... 213.2 Priming..................................................................................... 233.3 Perzeptuelles Gedächtnis.......................................................... 23

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3.4 Wissenssystem ......................................................................... 233.5 Episodisches Gedächtnis .......................................................... 243.6 Interdependenzen? ................................................................... 25

4 Diagnostik ............................................................................. 264.1 Diagnostische Verfahren........................................................... 304.1.1 Testbatterien ............................................................................. 314.1.2 Messinstrumente für einzelne Gedächtnisfunktionen............... 424.2 Diagnostisches Prozedere......................................................... 444.3 Differenzialdiagnose ................................................................ 48

5 Behandlung – Therapiemethoden und ihre Wirkungsweise..................................................................... 51

5.1 Funktionstherapien .................................................................. 535.2 Kompensationstherapie ........................................................... 545.2.1 Methoden zur Reduzierung der Gedächtnisanforderungen ...... 575.2.2 Lerntheoretisch fundierte Methoden ........................................ 575.2.3 Externe Gedächtnishilfen ......................................................... 635.3 Integrative Behandlungsmethoden .......................................... 675.3.1 Verhaltensmodifikation............................................................ 675.3.2 Methoden zur Identitätsstärkung .............................................. 685.4 Zusammenfassung.................................................................... 69

6 Fallbeispiel ............................................................................ 716.1 Diagnostik ................................................................................ 716.2 Neuropsychologischer Befund - Zusammenfassung ................ 736.3 Ableitung der Therapieziele ..................................................... 746.4 Zusammenfassung des Therapieberichts .................................. 75

AnhangGlossar ..................................................................................... 77Literatur.................................................................................... 81Verzeichnis der Tests nach Testnamen ...................................... 89Bezugsquellen .......................................................................... 91

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1 Beschreibung

1.1 Gedächtnis als Grundfunktion

Gedächtnis hat mit Gedenken und dies wiederum mit (Rück-)Erinnern zutun. In den alten nordischen Götter- und Heldensagen halfen dem Götter-vater Odin seine Raben Hugin und Munin, seine Erinnerung aufzufrischenund aktuell informiert zu bleiben. Hugin bedeutet „Gedanke“ und Munin„Gedächtnis“. Beide Raben starteten täglich frühmorgens von OdinsSchultern, umkreisten die Erde und machten ihm beim Frühstück Mel-dung, was in der Welt passiert war. Hierfür könnten wir heute das Früh-stücksfernsehen bemühen, müssen uns aber gleichwohl merken können,was dort zu sehen und zu hören war, während Odin nur seine Raben fragenmusste, wenn er etwas (wieder) vergessen hatte.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es neben unserem Gehirn noch externeGedächtnisspeicher gibt, die man nutzen kann und die mit unserem Gehirnin Wechselwirkung treten. Computer in all ihren Formen haben heute dieRaben obsolet gemacht. Trotzdem zeigt der Hinweis auf die alten Sagen,dass wir neben unserem Individualgedächtnis auch noch über ein kollekti-ves Gedächtnis verfügen, das uns an einer Zeit teilhaben lässt, die vor un-serer Geburt da war, einer sehr entfernten Vergangenheit. Unser Wortge-brauch, der sich in dem Ausdruck der „entfernten Vergangenheit“ wider-spiegelt, deutet auch an, dass Raum und Zeit in Beziehung zueinander ste-hen, eine Erkenntnis, die wiederum ein Korrelat auf Hirnebene hat. Sosind Hirnstrukturen wie der Hippocampus einerseits mit der Verarbeitungdes strikt Räumlichen befasst (Londoner Taxifahrer haben deswegen einenvoluminöseren Hippocampus als andere Menschen [s. Markowitsch,2002] und Ratten können nach Hippocampusentfernung keine Labyrinth-gänge mehr erlernen [s. Markowitsch, 2002]), und andererseits bringen –insbesondere beim Menschen – Hippocampusresektionen die Zeit zumStillstand, weil man sich danach keine neuen Episoden bleibend einprägenkann (Fall H.M. von Scoville & Milner, 1957). Man kann hier von einemfunktionellen Wechsel einer Hirnstruktur sprechen, deren wesentlicheAufgabe sich während der Evolution adaptierte. Gleichzeitig wird mit die-sem Hinweis auch auf noch eine weitere Möglichkeit von Gedächtnis hin-gewiesen – Gedächtnis als in unseren Genen programmiertes Wissen (s.Markowitsch, 2002).

Gedächtnis stellt sich somit als ein facettenreiches Konstrukt dar, das ent-sprechend auf vielen Ebenen gestört sein kann, wobei Gedächtnisstörun-gen die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit massiv verändern kann. Auf dieVerbindung von Gedächtnis und Bewusstsein wies schon 1870 Hering (zit.in Markowitsch, 2002) mit folgender Formulierung hin:

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„Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene zu einem Ganzen, und wie un-ser Leib in unzählige Atome zerstieben müßte, wenn nicht die Attraktion der Materie ihnzusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewusst-sein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt.“

Wir wissen heute, dass zumindest zwischen Teilen unseres Gedächtnissesund dem Bewusstsein eine direkte Verbindung existiert, die auch auf Hirn-ebene das gleiche Netzwerk betrifft (Markowitsch, 2002).

Da Bewusstsein evolutionär gesehen erst spät entstand, waren ursprüng-lich vermutlich andere Faktoren am Entstehen langfristiger Gedächtnis-vorgänge beteiligt. Das Überleben von Individuum und Art waren wichtig,weswegen viele Gedächtnisinhalte bis heute stark an Affekte gekoppeltsind und Hirnstrukturen engagieren, die vor allem die Verarbeitung vonGeruch und Geschmack vornehmen. Für das Überleben des Individuumswar es von Vorteil, langfristig in der Natur existente Konstellationen be-halten zu können. Hierzu zählt, gesunde von krankmachender Nahrungdifferenzieren zu können, zu behalten, dass bestimmte Tiere (z. B. Schlan-gen) tödlich sein können und z. B. als Nashorn aus dem gespeicherten Ge-ruch von Dunghaufen schlussfolgern zu können, dass das Revier besetztist und bei Übertreten ein Kampf droht. Dem Überleben der Art diente es,am Duft gegengeschlechtlicher Artgenossen zu erkennen, ob diese paa-rungsbereit waren oder nicht. Insofern mussten langfristig Gerüche diffe-renziert behalten werden, was die Basis für Gedächtnis im Tierbereich aus-machte (s. Markowitsch, 2002). Gerüche provozieren häufig sehr ur-sprüngliche, aber auch sehr intensive, lebhafte Erinnerungen, was sichauch in manchen belletristischen Beschreibungen widerspiegelt. Hier wer-den immer wieder die „Petites Madelaines“ von Marcel Proust (s. Zitat inMarkowitsch, 2002) zitiert. Auch in „Fortunas Tochter“ von Isabel Allende(1999) heißt es gleich auf der ersten Seite, dass die Hauptfigur „ElizaSommers“ über zwei besondere Begabungen verfüge – einen guten Ge-ruchssinn und ein gutes Gedächtnis. Wiedererkennbedingungen, wie siebei Proust hervorgehoben werden, repräsentieren darüber hinaus die typi-schen Behaltensparadigmen in der Tierforschung (s. Markowitsch, 2002).Gedächtnisvorgänge sollen im Folgenden zum einen von der psychologi-schen und neuropsychologischen Seite dargestellt werden, zum anderensollen Zuordnungen zwischen zeitlichen und inhaltlichen Aspekten der In-formationsverarbeitung und den unterliegenden hirnanatomischen Netz-werken beschrieben werden.

1.2 Definition von Gedächtnis, zeitliche und inhaltliche Subsysteme

Lernen stellt die erfahrungsbedingte Modifikation von Verhalten dar undGedächtnis das Endprodukt eines Lernvorgangs. Lernen kann bedeuten,

Gedächtnis undBewusstsein

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etwas Faktisches oder Episodenartiges zu lernen, oder eine Handlungs-weise – im ersten Fall spricht man von „lernen, was“, im zweiten von „ler-nen, wie“. Während Munk (1902, S. 454) Gedächtnis als „Summe aller Er-innerungs- und Vorstellungsbilder“ bezeichnete, formulierte Sinz (1979,S. 19) eine für den deutschsprachigen Raum vorbildliche, wenn auch et-was komplexe Definition: „Unter Gedächtnis verstehen wir die lernabhängige Speicherung ontogenetisch erworbenerInformation, die sich phylogenetischen neuronalen Strukturen selektiv artgemäß einfügt undzu beliebigen Zeitpunkten abgerufen, d.h. für ein situationsangepasstes Verhalten verfügbargemacht werden kann. Allgemein formuliert handelt es sich um konditionierte Veränderun-gen der Übertragungseigenschaften im neuronalen ‘Netzwerk’, wobei unter bestimmten Be-dingungen den Systemmodifikationen (Engrammen) entsprechende neuromotorische Sig-nale und Verhaltensweisen vollständig oder teilweise reproduziert werden können.“

1.2.1 Zeitliche Unterteilung von Gedächtnis

Seit den Anfängen psychologischer Gedächtnisforschung ist es, von weni-gen Ausnahmen abgesehen, üblich, Gedächtnis der Zeit nach zu untertei-len, wobei man meist eine dichotome Zweiteilung in Kurzzeit- und Lang-zeitgedächtnis vornimmt, manchmal aber auch noch einen dritten Spei-cher – das intermediäre Gedächtnis dazu nimmt. Die Arbeiten von Rosen-zweig, Bennett, Colombo, Lee und Serrano (1993) und von Shadmehr und

Definition vonGedächtnis

Kurzzeit-,Langzeit-, Intermediär-gedächtnis

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Abbildung 1: Beziehung zwischen Verarbeitungstiefe und Verarbeitungsdauer. Die Grund-einteilung ist in ein im Sekunden- bis Minutenbereich liegendes Kurzzeitgedächtnis und einzeitlich jenseits hiervon liegendes Langzeitgedächtnis. Ein dazwischen liegendes interme-diäres Gedächtnissystem wird nur von einer Minderheit von Wissenschaftlern angenom-men.

GedächtnisLernen

Ged

ächt

nist

iefe

Sekunden Minuten Stunden Tage Monate Jahre

Kurzzeit-gedächtnis

intermediäresGedächtnis

Langzeit-gedächtnis

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Brashers-Krug (1997) sind zwei Beispiele für das der traditionellen medi-zinischen Sicht nahekommende Verständnis von Kurzzeitgedächtnis alsdem Behalten von Informationen über ein paar Stunden bis hin zu einemTag (Abbildung 1).

Das Kurzzeitgedächtnis in wissenschaftlicher Sicht ist dagegen – andersals im Alltagssprachgebrauch – auf den Bereich von Sekunden bis Minu-ten oder auf vier bis sieben Informationseinheiten eingeschränkt (s. Mar-kowitsch, 2002). Alles darüber Hinausgehende wird im Rahmen der Zwei-teilung dem Langzeitgedächtnis zugeordnet. In den letzten Jahren propa-gierte insbesondere Baddeley (1998) die Existenz eines Arbeitsgedächt-nisses. Entsprechend seiner Terminologie bedeutet Kurzzeitgedächtnis das„online“-Halten der Information, mit der man erstmalig konfrontiertwurde, während das Arbeitsgedächtnis sich auf ein mehrkomponentiges,aktives Verarbeiten von Informationen bezieht, was auch die Übertragungschon langfristig gespeicherter Informationen in einem temporären Puffereinschließt, bevor diese Information wieder abgerufen wird. Für diese Pro-zesse untergliedert Baddeley das Arbeitsgedächtnis in eine kontrollierende„zentrale Exekutive“ (die man sich als im Stirnhirn angesiedelt vorstellenkann) und in mehrere nachfolgende „Sklavensysteme“, die modalitätsab-hängig reagieren, im Sinne einer „visuellen Schiefertafel“ oder eines „arti-kulativen Schaltkreises“. Neuerdings nimmt er die Existenz eines zusätz-lichen „episodischen Puffers“ an (Baddeley, 2002).

Die Speicherkapazität des menschlichen Langzeitgedächtnisses hat insbe-sondere Informations- und Computerwissenschaftler interessiert; ein schonalter Wert liegt bei 1015 Bit mit Schwankungen in der Schätzung zwischen106 und 1021 Bit (Schaefer, 1960).

1.2.2 Inhaltliche Unterteilung von Gedächtnis

Gedächtnis galt früher meist als einheitliches Konstrukt und der in derNeuropsychologie bis heute gängige Ausdruck vom „globalen amnesti-schen Syndrom“ unterstreicht dies. Gleichwohl existierten schon seit Be-ginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt Hinweise auf Differenzierungsmög-lichkeiten, wie sie Patienten mit neurologischen, aber auch psychischenStörungen lieferten. So verwies K. Schneider (1928) auf KretschmersAusspruch vom „bewußtseinsfähigen bzw. ins Bewußtsein tretenden Teilder mnemischen Funktionen“ (S. 508) und schrieb über außerbewussteDispositionen zum Wiedererkennen und zum Erinnern. Veraguth undCloetta (1907), Heilbronner (1904/05) und K. Schneider (1912, 1928)(alle zit. in Markowitsch, 1992b) benutzten beispielsweise schon die Me-thode der partiellen Bilddarbietung die erst ein halbes Jahrhundert späterwieder neu für die Untersuchung des impliziten Gedächtnisses propagiertwurde („Priming“; s.u. und Abbildung 3) und K. Schneider verwendete

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Puzzles – und damit eine „prozedurales Gedächtnis“ (s.u. und Abbildung3) messende Methode – zur Differentialdiagnostik. Kohnstamm (1917; zit.in Markowitsch, 1992b) differenzierte zwischen erhaltenen Sprach- undRechenfähigkeiten sowie Kenntnissen des täglichen Lebens („Wissenssy-stem“ oder „semantisches Gedächtnis“; s.u. und Abbildung 3) bei anderer-seits stark beeinträchtigtem autobiographischen Gedächtnis („episodi-sches“ oder „episodisch-autobiographisches Gedächtnis“; s.u. und Abbil-dung 3). Ziehen (1908) hatte schon kurz nach der Wende zum 20. Jahrhun-dert in einer Festrede für das militärärztliche Bildungswesen darauf hinge-wiesen, dass die Hirnphysiologie gezeigt habe, „daß ein allgemeines Ge-dächtnis nicht existiert, sondern nur Teilgedächtnisse“ (S. 16).

Tulving (1972), später Mishkin und Petri (1984) sowie Squire (1981) for-mulierten erste Ansätze zu inhaltlichen Unterteilungen des Gedächtnisses,die schließlich von der Mehrheit der Neurowissenschaftler akzeptiert wur-den. Während Tulving seine Gedächtnisunterteilungen aus der Experimen-talpsychologie und theoretischen Vorstellungen herleitete, war Squireauch an der Repräsentanz der Systeme auf Hirnebene interessiert. Für denHumanbereich werden die Unterteilungen von Squire und Tulving ammeisten benutzt, wobei die von Squire pragmatisch und an der Tierfor-schung orientiert sind (Abbildung 2), während die von Tulving theoretischausgefeilter sind (Tulving, 2002; Tulving & Markowitsch, 2003) (Abbil-dung 3). Nach der Einteilung von Squire bestehen z.B. keine wesentlichenUnterschiede zwischen dem episodischen und dem semantischen Ge-dächtnis, während bei Tulving das episodische Gedächtnissystem nur dem

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Abbildung 2: Inhaltliche Unterteilung des Gedächtnisses in Systeme in Anlehnung anLarry Squires Vorstellung. Angegeben sind zusätzlich Hirnregionen, die grob verallgem-einert mit der Verarbeitung dieser Systeme befasst sind. (Nach einem Dia, das freund-licherweise von Randy Buckner, St. Louis, zur Verfügung gestellt wurde.)

Gedächtniseinstellung

Deklaratives GedächtnisArbeitsgedächtnis

Nichtdeklaratives Gedächtnis

Fertigkeitenund

Gewohn-heiten

EinfachesklassischesKonditio-

nieren

Sprach-basierte

Informationen

Nichtasso-ziativesLernen

Visuo-spatiale

Information

HippocampaleFormation,

Diencephalon,Cortex

Parieto-occipitaleCortices

FrontaleCortices

Basal-ganglien,

Cerebellum,Cortex

CerebralerCortex

Cerebel-lum

???

Ereig-nisse

Fakten PrimingANATOMIE

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