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Grundbausteine einer Theorie des Tigrënnik
Randbemerkungen zum 140 jährigen Bestehen der
antiautoritären Internationale
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"I fell in Love with Bakunin and Nechaev's "Catechism of
the Revolution" - the priciples of which, along with some of
Machiavelli's advice, I sought to incorporate into my own
behavior. I took the Catechism for my Bible."
Eldrige Cleaver, Black Panther Minister of Information; "Soul
on Ice", New York, 1992
Shatov sagte zu Uspensky: "Das Königliche Himmelreich ist
nah", "Ja, im Juni!", fügte Nechaev hinzu
Fragmente zu Folklore und Brauchtum im Kanton Bern, Bd. 3: St. Imier, 10. Aug. 2012
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Einleitung
In dem Zentralen Staatsarchiv der Oktober-Revolution in Moskau (CGAOR) liegt eine aus 24
Grossbänden bestehende Akte, die über eine der intensivsten Menschenjagden im Europa des
19. Jahrhunderts Aufschluss gibt. Bereits in den zwanziger Jahren hat der russische Historiker R.
M. Kantor auf Grund dieser Akte und anderer Unterlagen aus dem Archiv der russischen
Geheimpolizei die von der Dritten Abteilung organisierte Verfolgung Nechaevs beschrieben. Fast
ein Jahrhundert nach der Auslieferung des so gefürchteten Revolutionärs ist eine auf Schweizer
Akten beruhende Untersuchung über dieses umstrittene Kapitel in der Geschichte des
eidgenössischen Asylrechts erschienen (L. Haas, Njetchajev und die Schweizer Behörden, in
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte, 17, 1967). Aber immer noch drängen sich der
Rebellin gewisse Fragen auf.
Vladimir Illyich erwähnte oft den gerissenen Trick, den die Reaktionäre mit Nechaev durch die
flinken Hände Dostoyevskys spielen. Er dachte zwar, dass "Die Dämonen" ein geniales Werk sei,
aber ekelhaft, weil infolge Menschen in revolutionären Zirkeln angefangen haben Nechaev
negativ zu behandeln, und dabei vollständig vergassen, dass dieser titanische Revolutionär eine
derartige Willenskraft und Enthusiasmus besass, dass er selbst als Gefangener in der Peter-und-
Pauls-Festung, grauenvollen Bedingungen unterworfen, in der Lage war, die Soldaten in seiner
Umgebung ganz unter seinen Einfluss zu bringen. Die Leute vergessen vollständig, dass
Nechaev über eine Begabung für die Organisation verfügte, eine Fähigkeit eine gewisse
konspirative Technik überall einzurichten, und die Fähigkeit Gedanken einen derart
verblüffenden Ausdruck zu verleihen, dass sie sich für immer ins Gedächtnis prägten... Alles von
Nechaev sollte veröffentlicht werden. Es ist nötig, alles zu lernen und herauszufinden, was er
geschrieben hat, und wo er es schrieb, und wir müssen alle seine Pseudonyme entziffern, und
alles Sammeln und Drucken, was er geschrieben hat. Und Vladimir Illyich wiederholte diese
Worte oft.
Es fällt unschwer auf, dass Vladimir Illych in Bezug auf Nechaev dieselben
Informationsbedürfnisse wie die "Dritte Abteilung" und der Zar formuliert und auch dieselben
Ziele, wenngleich erfolgreicher, verfolgt: Die Unterdrückung der russischen Revolution.
Der folgende Text stellt eine beliebige Aneinanderreihung von Abschnitten aus verschiedenen
Quellen dar, die getrost als die "üblichen Verdächtigen" bezeichnet werden dürfen und
Interessierten in volltextrecherchierbarer Form zur Verfügung stehen.
Die Auswahl der Abschnitte wurde durch die Anwendung elektronischer Textverarbeitung
vereinfacht. Auch wenn die Lesbarkeit des vorliegenden Textes dadurch vermindert wurde, die
Herstellung benötigte wenig Zeit und es wurde rigoros vermieden, einer komplizierten
Angelegenheit eine weitere persönliche Meinung beizumischen (mit der Ausnahme einiger
polemischer Ausrutscher), die sich nur im Grade der Ablehnung und Verurteilung der
Nechaevchina von anderen hätte unterscheiden können.
Das Erzählte lässt im Grunde genommen nur einen Schluss zu: Es ist bereits alles gesagt
worden!
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1.0 Überreste der Bildungsmoral
„Auch der ältere Anarchismus steht unter dem Zeichen jenes verstiegenen Idealismus, der die
allgemeine Geistesrichtung des zivilisierten Westeuropa während der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts war. Der moderne Anarchismus der Bakunins, Netschajew, Kropotkin u. a. trägt das
Kainszeichen der russischen Halbkultur, deren einziges Ziel nur die brutale Zerstörung alles
Bestehenden ist und unter den gegebenen Verhältnissen auch sein kann. Missbehagen und
Missvergnügen über wirkliche oder eingebildete Übelstände verbunden mit halsstarrigem
Doktrinarismus, der sich zu keinem sacrificio del intelletto bereit findet, mag ja auch die Kinder
der westlichen Zivilisation zu einer konsequenten Verneinung der bestehenden
Gesellschaftsordnung führen. Allein von da bis zur faktischen Grundstürzung aller gegebenen
Verhältnisse ist noch ein weiter Schritt und die wirkliche Absicht, Alles, auch die ungezählten
selbst von den theoretischen Anarchisten nicht geleugneten geistigen und materiellen
Errungenschaften der Zivilisation zu vernichten und auszutilgen, wird stets nur einzelnen
degenerierten Individuen kommen können, die sich ihrer eigenen sittlichen, intellektuellen und
materiellen Nacktheit wegen am liebsten vis-à-vis de rien befänden.“ (E.V. Zenker „der
Anarchismus, Kritische Geschichte der Anarchistischen Theorie, 1895)
So kam die grosse Bewegung der Jahre 1861, 1862 in Gang, die dann durch Verfolgungen
gebrochen, in den Studentengruppen und einigen Assoziationen kollektiver Arbeit sozialistisch
weiterlebte, vor allem im Geist Tschernyschewskijs, während nur selten grössere Pläne
entstanden wie in den Jahren bis 1866 im Moskauer Kreis von Ishutin (in dem schon der junge
Tscherkesow heranwuchs), bis er nach Karakosows Attentat (4. April 1866) zerstört wurde und
später, 1869 vor allem, als die Vereinigung der Studentenbewegungen und demokratische und
Bauernbewegungen grösseren Stils sich anbahnten. Daneben gab es weniger sozial, aber radikal
und in gewissem Sinn individualistisch und naturwissenschaftlich rigoristisch sich fühlende
Jugendkreise, die eigentlichen Nihilisten, und es gab schon vielerlei in London, in Genf, in Italien,
besonders in der Emigration lebende Russen der Jugend und mittleren Alters, von denen viele
Bakunin kannten, ohne sich wirklich seinen Ideen anzuschliessen.
Dies taten erst 1866 in gewissem Grade die Fürstin S.S. Obolenska in Neapel und der Pole
Walerian Mroczkowski, seit dem Herbst 1867 Nik. Schukowskij in der Schweiz. Statt den Drucken
der von allen projektierten russischen Druckerei in Bern konnte nur eine Nummer Narodnoe
Delo (Die Volkssache) im September 1868 in Genf erscheinen, von Bakunin und Schukowskij
geschrieben, und diese erregte auch in St. Petersburg einiges Interesse, so bei Tscherkesow und
bei Nechaew. Dann aber wurde Bakunins direkte Tätigkeit in Vevey und Genf durch N. Utin
hässlich gestört und später durch Nechaew ein Jahr lang abgelenkt, so dass er erst im Sommer
1870, als er Ross kennengelernt, an ihm einen wirklichen Ideenfreund fand, der dann vier Jahre
praktisch seine rechte Hand in russischen Angelegenheiten war. Eine im Sommer 1870 mit
Lawrow in Paris geplante russische Revue kam nicht zustande; ich habe das anarchistische
Programm derselben, das Bakunin Lawrow mitteilte, in meiner ersten Biographie angeführt.
1864 ging Karakozov um zu studieren nach Moskau, aber ein Jahr später wurde er bereits wieder
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von der Universität ausgeschlossen, da er seine Gebühren nicht bezahlt hatte. Während drei
Wochen versuchte er als Gehilfe für einen Adligen zu arbeiten, aber diese Erfahrung liess ihn mit
einem tiefen Hass auf den Adel zurück. Ishutin erinnerte sich, dass er immer an diese Zeit des
Hasses und der Wut gedacht hatte. Er sprach immer voller Geringschätzung von den Treffen, die
nach der Emanzipation zwischen den Besitzern und den Bauern stattgefunden hatten, um die
Fläche des Grundstückes zu bestimmen, das letzteren zugeteilt werden sollte. "Ich denke, dass
dies der Ursprung seines Hasses auf den Adel ist." Aber bis jetzt hatte Karakozovs kurzes und
gestörtes Leben das wichtigste Element seiner Persönlichkeit noch nicht offenbart: einen
ziemlich aussergewöhnlich sturen Willen und die Kraft der Konzentration.
Wie viele andere begann er seine Aktivitäten indem er sich Ausbildung und Propaganda
widmete. Er wurde Lehrer an einer der freien Schulen, die Ishutin in Moskau organisiert hatte,
die nach Pavel Akimovich Musatovsky benannt worden war, einem Vladimirer Adligen, der bis zu
einem gewissen Punkt die Haltungen der Populisten teilte. Aber diese Tätigkeit nagte an
Karakozovs Gewissen. Er fühlte sich ernsthaft krank, mehr als dass für seinen
Gesundheitszustand vertretbar war. Geschwächt durch Entbehrung und Schwierigkeiten, dachte
er an Selbstmord und kaufte Gift. Aber dann quälte er sich mit dem Gedanken, sterben zu
müssen ohne etwas für das Volk getan zu haben.
Anfangs März begab er sich nach St. Petersburg. Da er über keinen Pass verfügte, sah er sich
gezwungen, in Herbergen und gemieteten Zimmern zu leben und ständig seinen Aufenthaltsort
zu ändern. Er vereinigte sich mit Arbeitern und Studenten und traf sich öfters mit Khudyakov. Er
hatte einen Revolver dabei und sich Munition besorgt.
Er schrieb dann ein Manifest welches er vervielfältigte, und hinterlegte es an Orten, wo er
dachte, dass die Arbeiter es finden würden. Für die Geheimhaltung waren diese Handlungen
kaum von Nutzen, vor allem weil er seine Absicht kund tat, den Zar ermorden zu wollen. Aber
Karakozov fühlte dass eine solche Aktion nötig sei, wenn auch riskant. Eine Sache quälte ihn,
würden die Menschen verstehen, was er im Begriff zu tun war; und wie würden sie reagieren?
Dieses Problem - welches die grosse Leere in der Vorstellung der Terroristen war, die grosse
Lücke in ihrem Plan - bereitete ihm und Khudyakov während der Tage unmittelbar vor dem
Versuch fortwährend Sorgen. Karakozov hatte entschieden. Seine Zweifel betrafen nicht die Tat
sondern nur die Art und Weise wie sie von den Arbeitern gedeutet werden würde. Und
Tatsächlich ist seine Erklärung beinahe eine Beichte, ein Versuch sich in den Augen seiner
"Arbeiterfreunde", an die er sich richtete, zu rechtfertigen. Der Ton ist sehr persönlich gehalten
und das gibt diesem Manifest seine aussergewöhnliche Originalität und Kraft. Die Mitteilung ist
einfach und von den Grundsätzen der populistischen Doktrin der Moskauer Gruppe inspiriert.
Den Behörden war das Manifest drei Wochen vor dem Anschlag bekannt.
Aber am 29. war er wieder in St. Petersburg zurück und am 4. April 1866, während der Zar im
Begriff war, nach einem Spaziergang seine Kutsche zu besteigen, schoss er auf ihn - und
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verfehlte! Er versuchte wegzurennen, wurde aber von der Polizei und von Freiwilligen aus der
Menge festgehalten. Diesen rief er zu: "Dummköpfe, ich habe das für euch gemacht". Er wurde
zum Kaiser geführt, der ihn fragte, ob er Pole sei. Er antwortete: "Nein, ein Russe". Als er gefragt
wurde, weshalb er dies getan habe, antwortete er: "Sieht die Freiheit an, die Ihr den Bauern
gegeben habt!"
Die Schiesserei machte einen enormen Eindruck. Sie beendete die wenigen noch bestehenden
Spuren der Zusammenarbeit der liberalen Intelligentsia mit dem Kaiser in der Richtung von
Reformen - eine Zusammenarbeit die es möglich machte die Leibeigenen zu "befreien" und die
darauf folgenden Änderungen in den Lokalverwaltungen und der lokalen Justiz durchzuführen.
Eine Welle der Entrüstung und der Angst zerstörte jegliche liberalen Träume, die die Repression
von 1862 überlebt hatten.
Die Repression, die Karakozovs unglücklichem Versuch den Zaren zu töten folgte, hatte eine
unmittelbare Wirkung. Zwischen 1866 und 1868 gab es in ganz Russland keine einzige Gruppe,
die die Möglichkeit hatte klandestine Aktivitäten durchzuführen oder ihre Ideen zu verbreiten,
um ihren internen Debatten eine allgemeinere Bedeutung zu geben.
Die frühen sechziger Jahre erlebten eine allgemeine Wiedergeburt der Opposition gegen das
existierende System. Am aktivsten unter den Unzufriedenen waren Intellektuelle. Ihre Zahl
wuchs seit den Fünfzigern an, als die Universitäten dem Nachwuchs des Kleinbürgertums
zugänglich gemacht worden waren, gleichzeitig wie die teilweise Aufhebung der
Einschränkungen, die die Zulassung von Frauen bestimmten.
Was die Arbeiter angeht, schrieb Z.K. Ralli, der sich später den Bakunisten anschloss aber zu
dieser Zeit noch in Russland lebte, in seinen Memoiren:
Zu dieser Zeit war es in den Fabriken gefährlich, schlecht über den Zaren zu sprechen. In der
Regel liebt der Arbeiter die Studenten nicht, nur weil er sie als Feinde des Zaren betrachtet.
Der Zar ist für ihn die Verkörperung von Gerechtigkeit und Wahrheit. In den Strassen von
Moskau buhen sie die Studenten aus und beleidigen sie, und überall demonstrieren sie ihre
monarchistischen Gefühle. Die jungen Intellektuellen dieser Zeit wussten, dass in Russland
die Arbeiter und die Bauern ihre Hoffnungen für eine bessere Zukunft ihres Schicksals mit
dem Zaren verbanden
Die Opposition der Intelligenz drückte sich auf zwei grundsätzlich verschiedene Formen aus.
Eine Abteilung war geneigt, den existierenden Bedingungen den Krieg im Bereich des Geistes zu
erklären. Es handelte sich dabei um die Söhne und Töchter des Adels, die sich vom Druck
überholter Vorurteile befreien wollte.
Neben denjeigen, die unter dem Einfluss von Lavorov standen und dachten, dass es ihre
Aufgabe sei, sich für die Propaganda auszustatten, bildeten sich Gruppen, in denen Bakunins
Forderung nach einer Revolution bereitwillig aufgenommen wurde.
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Wie auch immer, die weniger glücklichen Kinder des Kleinbürgertums, oder die energiereicheren
oder weitsichtigeren Söhne des privilegierten ländlichen Bürgertums, waren unzufrieden mit den
bloss platonischen Gesten einer intellektuellen Revolte für ein volleres Leben. Als Ergebnis
davon traten mehrere Organisationen auf, einige verlangten die Einführung radikaler,
demokratischer Reformen, während andere offen von einer "unmittelbaren Revolution, einer
blutigen und unversöhnlichen Revolution, welche gezwungenermassen die Grundlagen der
bestehenden Gesellschaft verändern und die Anhänger des gegenwärtigen Systems
niederschlagen würde. Die Zerstörung dieser Organisationen durch die Polizei und die
Verhaftung ihrer prominentesten Mitglieder verhinderte die Bildung neuer nicht und trug bloss
zu ihrer Radikalisierung bei und machte sie entschlossener.
Das wichtigste Zentrum studentischer Unruhen war die Schule der Medizin in St. Petersburg. Sie
war nicht unter der administrativen Kontrolle von Tolstoy, sondern des Kriegsministers, D.A.
Milyutin, dem besten Repräsentanten dessen, was "Liberalismus der oberen
Regierungsbürokratie", genannt werden könnte. Innerhalb der Schule, waren Versammlungen
und Bibliotheken praktisch erlaubt. Wenn Versuche gemacht worden sind, in die geringsten
Bräuche der Studenten einzugreifen, wie der Freiheit lange Haare zu tragen, wurden sie sofort
mit gewalttätigen und gut organisierten Protesten beantwortet. Das kleinste Ereignis genügte
um die gesamte Studentschaft in Bewegung zu versetzen. Zu dieser Zeit, wurde eine
Organisation gegründet, um der Bewegung eine Richtung zu geben, die unter anderem den
Zweck hatte, Delegierte in die Hochschulen und Universitäten anderer Städte zu schicken und
um Unterstützung und Solidarität anzufragen. Die Delegierten wurden in Moskau nicht
besonders freundlich willkommen geheissen, obwohl auch dort die ärmsten Studenten die
Notwendigkeit befürworteten, gegen die Verhältnisse zu protestieren und auch der Ausschluss
der Frauen lebhaft noch gefühlt wurde . Aber in der Regel zogen es die Studenten der alten
Hauptstadt vor, sich darauf zu beschränken, ihre Sorgen den akademischen Vorgesetzten zu
erläutern, ohne auf offene Zusammenstösse zurückzugreifen.
Eine geheime Presse zu gründen, diese mächtige Waffe dem freien Gedanken, welcher gegen
den Despotismus kämpft, zu geben, das war stets das heisse, stürmische Verlangen aller
Organisationen, sobald sich dieselben im Stande fühlten, etwas von Bedeutung zu
unternehmen.
Schon in den '60er Jahren, wo die ersten geheimen Gesellschaften entstanden, welche die
agrarische Revolution zum Ziel haben, - wie die Gesellschaft "Land und Freiheit" und "Das junge
Russland", - sehen wir die ersten Versuche, so Etwas, wie eine Presse, zu gründen, welche
indessen nur wenige Wochen dauerten.
Es war klar, dass die liberale Presse, welche schon im Auslands existierte, trotzdem sie zum
Leiter einen Schriftsteller wie Herzen hatte, nicht mehr den Bedürfnissen der kämpfenden Partei
entsprach.
In den letzten 10 oder 16 Jahren, als die Bewegung eine bis dahin unbekannte Macht und
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Ausdehnung gewann, wurde das Ungenügende der in der Schweiz oder in London
funktionierenden Pressen stets klarer und das Bedürfnis nach einer zur Beantwortung von
Augenblicksfragen bereiten Lokalpresse stets dringender.
Daher kam es, das alle Organisationen, welche später sich auflösten oder eine nach der andern
in den Gefängnissen, Festungen oder sibirischen Bergwerken sich verloren, Versuche zur
Gründung ihrer Pressen in Russland selbst machten.
Aber ein Fluch des Schicksals schien auf den Unternehmungen dieser Axt zu lasten: alle
brachten es nur zum vorübergehenden, vorläufigen Bestehen und dauerten nur eine sehr kurze
Zeit. Kaum gegründet, wurden sie entdeckt.
Der Zirkel der Karakosoïzen hatte seine Buchdruckerei, welche aber nur wenige Monate bestand.
Der Zirkel der Nechaevzen hatte die seinige, welche jedoch die ganze Zeit hindurch unter der
Erde gehalten werden musste, bis sie samt der Organisation entdeckt wurde.
Zu Beginn der zweiten Jahreshälfte 1868 waren die Studierenden der Universität St. Petersburg
äusserst agitiert. Eine grosse Mehrheit war mittellos und lebte in einem Zustand ständigen
Mangels. Die Organisation von Gesellschaften der gegenseitigen Hilfe oder gemeinschaftlicher
Speisesääle war für sie von grösster Wichtigkeit. Ebenso wie das Recht Verbindungen zu bilden
und Versammlungen einzuberufen. Wie auch immer, die Behörden waren nicht willens solche
Aktivitäten zu dulden, welche sie als Konzessionen gegenüber den westlichen, demokratischen
Prinzipien verstanden. Zu dieser Zeit schrieb sich Nechaev als Hörer an der Universität ein.
Nachdem er der Universität beigetreten war, wurde er schnell einer der Führer des radikalen
Flügels der unzufriedenen Jugend, die Begierig war, für mehr zu kämpfen als die Gesellschaften
zur gegenseitigen Hilfe und die Gemeinschaftskantinen. Zu dieser Zeit war in St. Petersburg eine
Gruppe junger Intellektueller tätig, der zwei Männer angehörten die später berühmt werden
sollen: Vladimir Cherkezow, der 1866 in die Karakozov Affäre verwickelt worden war, und Peter
Tkachev, einem brillianten jungen Journalisten. Cherkozov wurde später als anarchistischer
Autor bekannt, während Tkachev als erster Befürworter von Blanquis Evangelium der
revolutionären Diktatur in die russische Geschichte einging, einer Art Bolschewismus ohne
marxistischen Wortschwall. Nechaev, der der Gruppe beitrat, blieb für immer unter dem Einfluss
dieser scheinbar widersprüchlichen Ideologien.
Nechaevs Unsterblichkeit basiert weder auf seinem Beitrag zum sozialistischen oder
anarchistischen Denken, welcher gleich Null ist, noch auf seinen eigentlichen Leistungen in der
Organisation revolutionären Kampfes. Sie basiert ausschliesslich auf einem eigenartigen
ethischen Code, den er in seinen revolutionären Aktivitäten angewendet hat, persönlich war er
in einem Masse uninteressiert, wie dies nur ein asketischer Fanatiker sein kann.
Es war ein Code, der von Machiavelli entlehnt war, und den Anhängern eines Loyola oder
Escoabar, ein Code wie er seit Urzeiten von allen Regierungen und Staatsmännern praktiziert
wurde, der den Mord eigener Konsuln oder Missionare erlaubt, um eine gerechte Ausrede zur
Kriegsführung zu haben.
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Selbst sein Märtyrertod, nach zehn Jahren Agonie im schrecklichsten Kerker der Welt und sein
beispielloser Mut und die Ausdauer, mit der er sein gnadenloses Schicksal ertrug, vermochte
während Jahrzehnten die Flecken auf seinem Ruf nicht zu reinigen.
Die zentrale Idee von Nechaevs Selbstbild ist Märtyrertum, nicht nur seines, oder das seiner
Familie sondern das Märtyrertum einer ganzen sozialen Klasse. Wie wir sehen werden, fand
Nechaev einen Weg seine Familie zu entschuldigen und ihr zu vergeben indem er eine soziale
Theorie umarmte, die es ihm erlaubte, die Schuld anderswo zu suchen und ihm ermöglichte eine
blutige Rachegier zu kultivieren. Nicht nur der Wunsch nach Martyrium und Rache, sondern die
entschiedene Verfolgung dieser Ziele, bestimmen seine Karriere als Revolutionär. Man muss
diese Eigenschaften betonen, es sei denn, Nechaevs Verhalten werde, als das eines Soziopathen
oder Psychopathen betrachtet.
Ein Student stellte Nechaev diesem Zirkel vor, als "einen echten Revolutionär, einen Bauern, der
den Hass des Leibeigenen auf seinen Meister bewahrt habe". Zu beginn scheinen seine niedere
Herkunft und sein brennender Hass auf das bestehende System, den sein gesamtes Wesen
ausstrahlte, die einzigen Eigenschaften gewesen zu sein, die den Respekt seiner Mit-
Unzufriedenen erheischten. Beschreibungen, von denen, die ihm zu dieser Zeit begegneten,
lassen ihn als jemanden ohne besondere Eigenschaften erscheinen.
Das Haus Stepanov beherbergte, im Teil, der zum Hof gerichtet war, zwei wichtige Handwerker-
Assoziationen und viele andere Menschen, darunter eine Funktionärsgattin mit Ihrer Tochter
Vera Zasulic, damals 15 Jahre alt, aber bereits eine widerstandsfähige Jugendliche. Alle
Bewohner des Hauses, von Beamten bis Arbeitern, mochten unsere studentische Gruppe, auf
Grund unserer korrekten Haltung und den Gefallen, die wir breitwillig allen taten, die uns um
Hilfe ersuchten: Medikamente für die Kranken, medizinische Unterstützung, Bücher für die
Arbeiter, die uns darum ersuchten, Briefe an Verwandte auf dem Land schreiben usw. Nechaev
hat durch Evlampij Ametistov von der Existenz unseres Zirkel erfahren, der damals von
irgendwoher ein paar alte Nummern der "Kolokol" von Herzen erhalten hatte und er drückte den
Wunsch aus, meine Bekanntschaft zu machen.
Der Gegenstand unserer ersten Treffen, war offensichtlich die Bewegung, die an der Akademie
der Medizin und der Chirurgie wegen der der Wahl einiger Internen als Leiter der Bibliothek und
der Kasse der Studenten, es war uns gelungen, M. Korinoskij hineinzubringen. Nechaev war der
Ansicht, dass es nötig sei, dieser Bewegung Studenten anderer Hochschulen anzuschliessen,
dass bedeutete: der Universität, dem Technologischem Institut und wenn möglich dem Korps der
Ingenieure.
Er war von der ersten Ausgabe der "Narodnoye Delo" (Sache des Volkes), die 1868
herausgegeben wurde, äusserst beeindruckt, in der Bakunin, der am meisten gefeierte russische
Revolutionär, seine anarchistischen Ansichten dargelegt hatte. Die Zusammenfassung dieser
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Philosophie durch den grossen Flüchtling war einfach genug. Sie sah die sofortige Abschaffung
des Staates vor, wonach Land und Produktionsmittel von landwirtschaftlichen Kommunen und
Arbeitervereinigungen übernommen werden sollten. Diese Ideen predigte Nechaev seinen
Mitstudenten.
Wir haben bereits erwähnt, dass die erste Nummer der "Narodnoye Delo", die am ersten
September in Genf herausgegeben wurde, die Vorstellungskraft aller, die sie gelesen hatten,
ergriff. Zur gleichen Zeit bildete sich eine Gruppe von Medizinstudenten, die nicht
ausschliesslich von Bakunin inspiriert worden war. Es war eher ein älteres Buch das sie bewog
eine Geheimgesellschaft zu gründen. Viele Mitglieder dieser Gruppe wurden später als
Anarchisten bekannt, wie Nemfiry Konstantinowich Ralli, Evlampy Vasilevich Ametistov und
Mikhail Petrovich Korinfsky. Das Buch, das sie inspirierte war Buonarrotis "La Conspiration pour
l'Égalité"
Dieses Ferment fand seinen kräftigsten Ausdruck in Netchaev. „Er war kein Produkt unseres
Intelligentsia Milieus. Er war diesem fremd. Es war keine Haltung, die aus dem Kontakt mit
diesem Milieu hergeleitet wurde, sondern brennender Hass, und nicht nur gegen die Regierung,
nicht nur gegen Institutionen, nicht nur gegen Ausbeuter des Volkes, aber gegen alle
Obshchestvo, alle gebildeten Schichten, vornehmen Leute - reiche und arme, Konservative -
liberal und radikal. Ob er die Menschen, die sich zu ihm hingezogen fühlten, nicht hasste;
bestimmt fühlte er nicht die geringste Sympathie ihnen gegenüber, noch einen Schatten des
Bedauerns aber viel Geringschätzung. Kinder des gehassten Obshchestvo, die mit dem
Obshchestvo vielfältig verbunden waren und eher dazu neigten, ihn zu lieben als zu hassen -
diese konnten für ihn nichts anderes sein, als Instrumente, aber keinesfalls Genossen oder
Anhänger." , schrieb Vera Zasulich viele Jahre später über ihn, als sie eine Erklärung für
Nechaevs Stärke und Seltsamkeit suchte. Und Tatsächlich ist seine Geschichte, die eines Mannes
aus dem Volke, der persönlich mit der rohen, brutalen Welt bekannt war, an der manche jungen
Populisten teilnehmen wollten; und der, als er schmerzhaft, absichtlich und ohne Hilfe, endlich in
die Welt der Intelligentsia aufgestiegen war, mit einer ungewöhnlichen Schnelligkeit all deren
bittersten Elemente aufnahm; um sich dann mit einer Energie und Rücksichtslosigkeit in
Bewegung zu versetzen, die Bewunderung und Angst in seiner Umgebung auslösten.
Das einzige Zeugnis der Kindheit Nechaevs, ist dasjenige seiner Schwester F.A. Postnikova; es
wurde von einem sowjetischen Historiker 1922 aufgenommen, als sie 76 jährig war, und es
hatte vermutlich seit langem den Status einer Familienlegende.
Vor 1861 waren Sergei und seine Familie Leibeigene. Damit unterschied sich seine Haltung
bezüglich der Emanzipation der Leibeigenen vollständig von derjenigen der Kinder des
Obshchestvo, deren naiven Hoffnung eine ebenso naive Enttäuschung folgte. Gemäss
Postnikova wurden Sergei und seine zwei Schwestern vor allem von ihren Grosseltern
aufgezogen. Ihre Mutter, eine fähige Näherin (und wie es scheint, eine schöne Frau), starb als
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sie alle sehr jung waren; und ihr Vater (der "streng" zu den Kindern war) verliess darauf Ivanovo
und nahm andernorts eine Arbeit als Kellner in einer Taverne an. Die Kinder lebten in der Folge
bei ihrem Grossvater, einem Maler, der vor allem an lokalen Kirchen arbeitete und der auch
bäuerliche Gerätschaften verzierte. (die Deichseln von Wagen werden erwähnt).
Eine Weile nach dem Tod der Mutter, baten die Grosseltern ihren Schwiegersohn wieder zu
heiraten, vermutlich zum Wohl der Kinder. Er heiratete eine Schneiderin und kehrte nach
Ivanovo zurück, wo er dem Vater seiner ersten Frau mit der Malerei half. Von Zeit zu Zeit
arbeitete er als Kellner oder als "Diener", der Tee, Getränke und Hors d'oeuvres in den Häusern
der Reichen von Ivonovo servierte. Was der junge Sergei hasste, der Angabe seiner Schwester
gemäss, und er wünschte sich, sein Vater würde diese Arbeit nicht verrichten. (Man könnte sich
fragen, ob er jeweils dabei mithelfen musste)
Als das Kind neun oder zehn Jahre alt war (das wäre ca. 1857) liess es der Vater in einer Fabrik
als Botenjunge arbeiten. Kurz darauf, er hatte einen Brief verloren, sei er dann von seinem Vater
verprügelt worden. Nach diesem Ereignis, so datiert von der Schwester, entschied Sergei, sich
zu bilden und diesem Leben der Erniedrigung und der Armut zu entfliehen, das sich vor ihm
erstreckte. Während der nächsten paar Jahre wurde die Idee, zu flüchten, "es zu schaffen", von
der Idee - nach Rache und Revolution überschattet.
Sergei hat keine formelle Schule besucht, aber das war kein Zeichen ungewöhlicher Armut. Die
meisten Kinder in Ivanovo, sowohl reiche als auch arme, wurden in einem informellen Rahmen
von Hauslehrern alleine oder in Gruppen unterrichtet. In Ivanovo bestanden 3 formelle Schulen
mit 5 Lehrern und 175 Schülern. Sergei wurde zuerst zu Hause von Pavel Prokof'evich in Lesen
und Bibekunde unterrichtet und 1859-1860 lernte er mit Dement'ev. Dement'ev, selbst von
bescheidener Herkunft (Sohn eines Geistlichen), der als Schriftsteller und Journalist in Moskau
ein wenig von sich reden gemacht hatte, aber die meiste Zeit mit Volksaufklärung verbrachte
und sein geringes Einkommen zum Unterhalt seines Alkoholkonsums verbrauchte. Dement'ev
sammelte um sich einen Kreis talentierter junger Männer mit literarischen Aspirationen,
worunter sich Nefedov, V.A. Riazantsev, und N.M. Bogomolov befanden. Diese jungen Männer
verkörperten die hauptsächlichste Sorgen der russischen Intelligentsia der späten 1850er und
frühen '60er – Volksaufklärung und die Angst vor der Proletarisierung der Bauern. Nefedovs
Familie waren Leibeigene, sein Vater der Sheremet'ev Familie gehörend. Nefedov begann in
verschiedenen Journalen Geschichten über das Leben der Bauern zu schreiben, obwohl er kaum
zwanzig jahre alt war. Erst mit seinen Beschreibungen des Fabriklebens in der „Moskoviskie
vedomosti“ (Moskau Gazette), erlangte er 1872 eine gewisse Bekanntheit. Es handelt sich im
frühe Beschreibungen der brutalen Bedingungen, die in den Textilfabriken von Ivonovo
vorherrschten. Er kann nicht der revolutionären populistischen Bewegung zugerechnet werden.
Sergeis Leidenschaft für das Lesen beginnt in der Periode seiner Beziehung mit Dement'ev und
Nefedov. Sie versorgten ihn mit Büchern, und rieten ihm, sich auch in ihrer Abwesenheit zu
bilden, sie behandelten ihn sogar als Kollegen in ihren Bildungsunternehmen: Der Schaffung
einer Sonntagsschule und einer Bibliothek für die Arbeiter der Textilfabriken und deren Familien.
Die Sonntagsschulbewegung der Jahre 1859-1863 bildete den ersten systematischen Versuch
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der Intelligentsia urbane Fabrikarbeiter zu bilden. Eine Handvoll Lehrer und Schüler, die
versuchten, was primär als Versuch angefangenen hatte Fabrikarbeiter zu alphabetisieren , in
eine soziale und politische Bewegung zu verwandeln, gaben der Regierung einen Vorwand im
Juni 1862 das ganze System zu schliessen. Zusätzlich zum Unterricht betrieben Nefedov,
Dement'ev und vier Gehilfen eine Leihbücherei, die aus 370 Büchern und vier Zeitschriften
bestand. In einem Artikel über die Sonntagsschule, der 1862 in der Moskau Gazette erschien,
listet Nefedov S.G. Nechaev unter den fünf ständigen Lehrern auf.
Er war kein wortgewandter Redner, an Versammlungen der Studenten sprach er wenig. In den
Erinnerungen seines Zeitgenossen, dem anarchistischen Autor Cherkezov, scheint es, dass er
jeweils still in einer Ecke sass, nur um plötzlich aufzuspringen, als wäre er vom heiligen Geist der
Revolte inspiriert. In abrupten Sätzen würde er die Idee, die damals Bakunin in Gang gesetzt
hatte, wiederholen, dass es nötig sei, ins Volk zu gehen und die Beziehungen zur bourgeoisen
Gesellschaft zu beenden. Und - als befände er sich inmitten eines blutigen Bürgerkrieges -
würde er die Jugendlichen dazu aufrufen möglichst viele Feinde zu ermorden.
Regierungsbeamte, Armeeoffiziere usw. Sein ungeschlachter rhetorischer Stil zog die einen in
seinen Bann und unterwarf sie seiner mächtigen Persönlichkeit, während sein wilder Fanatismus
andere, die über eine weniger entschlossene Disposition verfügten, abstiess.
Wie auch immer, während sein Bewusstsein Bakunins Ideen dachte und predigte, nahm tief in
seinem Unbewussten ein anderer intellektueller Einfluss von seiner Seele Besitz. Mit anderen
Studenten las er die berühmte "Lanterne", die republikanische Zeitung, die von Henri Rocheford,
dem unerbittlichen Feind des "second Empire" herausgegeben worden war. Durch diese
Publikation wurde er zweifellos mit dem heroischen, unterirdischen Kampf bekannt, zu dem
französische, deklassierte Intellektuelle gegen den Absolutismus Napoleons III. sich erhoben
hatten und wurde mit dem Namen des martyrisierten Führers dieser Revolutionäre vertraut,
Auguste Blanqui, der die meiste Zeit seines Lebens hinter Kerkermauern verbrachte. Er las die
Geschichte der Verschwörung der Gleichen, die von Grachus Babeuf geführt wurde, dem ersten
Protagonisten einer kommunistischen Diktatur, der seinen Kopf zwei Jahre vor der
Machtübernahme des kleinen Korsen unter die Guillotine gelegt hatte. Das Leben Babeufs
bewegte einige der Mitglieder des Zirkels. Die jungen Menschen begannen davon zu sprechen,
eine politische Organisation zu bilden. Necheaevs Lektüre umfasste in dieser Phase der
Gründung auch einen Polizeibericht über eine polnische Geheimgesellschaft, die 1863 in
Zusammenhang mit dem polnischen Aufstand gebildet worden war.
Nechaev und seine Freunde waren der festen Überzeugung, dass die Bauern mit der
Besiegelung der Reformen von 1861 nicht zufrieden sein würden. Ein Aufstand, so schien es
ihnen, war unausweichlich und so machte er Pläne für das "Programm der revolutionären
Aktion", welches er in Zusammenarbeit mit Tkachev schrieb. Das Programm gibt die Ideen ihrer
kleinen Gruppe wieder und entstand zwischen 1868 und 1869, und sein Ziel war es, die
Kontrolle über die studentische Bewegung zu erlangen und sie für ihre weiteren Zwecke zu
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nutzen.
Das Programm begann mit einer Reihe von Beobachtungen über die spirituelle Unmöglichkeit in
der existierenden Welt zu Leben:
"Wenn wir über unsere Umgebung nachdenken, kommen wir zweifellos zum Schluss, dass
wir im Königreich der Wahnsinnigen Leben - so schrecklich, so unnatürlich sind die
Beziehungen der Menschen zueinander, so seltsam und unglaublich ist ihre Einstellung
gegenüber der Ungerechtigkeit, der Scheusslichkeit und Niederträchtigkeit die unser
gegenwärtiges soziale Regime bilden."
Die Mitglieder des St. Petersburger Kreises, und insbesondere Nechaev, erkannten in der
studentischen Agitation die Gelegenheit, eine Bewegung von grösserem Umfang zu anzuregen.
Die allgemeine Erwartung war, dass der 20. Februar 1870, der neunte Jahrestag der Befreiung,
der "Emanzipation" der Leibeigenen, das Signal eines Landesweiten Aufstandes sein würde. Auf
dieses Datum hin hatten die Bauern, die mit dem Emanzipations-Gesetz äusserst unzufrieden
waren, eine neue Verteilung des Landes erwartet. Um ihre Teilnahme oder Führerschaft in dieser
nahenden Revolution wirkungsvoller zu gestalten, waren sich Nechaev und seine Freunde einig,
dass die Studentengruppen verschiedener Universitäten in einem gemeinsamen Netzwerk
verbunden werden sollten. Alle ihre Aktivitäten hätten von einem "Aktions-Komitee" koordiniert
werden sollen.
Die Polizei wurde sich bald über eine weitreichende Bewegung unter den Studenten der
Hauptstadt bewusst. Durch die Initiative der St. Petersburger Gruppe breitete sie sich in die
Moskau aus. Turbulente Treffen fanden in den Universitäten und dem Technologischen Institut
statt, als Ergebnis wurden diese Schulen geschlossen und die Studenten durch die
Universitätsbehörden diszipliniert. Die Polizei ging mit mehreren Verhaftungen vor. Alle
Mitglieder der ursprünglichen Gruppe fanden sich im Gefängnis wieder, mit der Ausnahme
Nechaevs, dem die Flucht nach Moskau gelang, das zu der Zeit relativ sicher war.
Trotz all dem, in St. Petersburg, erreichte die Bewegung einen Protest von beachtlichem
Umfang. Ein Zwischenfall eines Schülers an der Medizinischen Hochschule und einem Professor
wurde bald zur Ursache für verschiedene Versammlungen. Die Polizei intervenierte,
Verhaftungen wurden gemacht. Es gab ein Wenig Resignation im Protest, aber dies führte zu
weiteren Verhaftungen und Ausschlüssen. Am 15. März wurde die Schule geschlossen. Die
Studenten organisierten darauf eine Demonstration vor den Toren der Universität, und später
auf dem Nevsky Prospekt. Die Polizei versuchte diese Versammlungen zu verhindern, sogar
diejenigen, die in den Zimmern der Studenten stattfanden. Gemeinschaftliches Essen war
verboten - ein harter Schlag für die armen Studenten. Die Order der Polizei waren so streng,
dass falls sie wörtlich genommen worden wären, sie die Studenten tatsächlich daran gehindert
hätten, einen Platz zum Essen zu finden. Während der nächsten paar Tage fanden
Solidaritätsdemonstrationen in anderen Institutionen statt und am 19. März wurde die
technische Hochschule geschlossen. An allen Treffen wurde verlangt, dass sich die Studenten
13
frei organisieren könnten, ohne polizeiliche Aufsicht. Es gab auch viele Akte der individuellen
Unterstützung. Eine Anzahl Männer weigerten sich zum Beispiel, ihr Studium aufzunehmen,
sollten ihre Mitstudenten nicht befreit werden. Aber diese Proteste bewirkten keine Änderung
der Situation. Am 24. März öffnete die Universität wieder, ohne dass die Forderungen erfüllt
worden waren.
Die Schlussfolgerung, die im akademischen Feld gezogen werden konnte, wurden von Georgy
Petrovich Eniserlov gezogen, einem Studenten der während der Proteste am aktivsten gewesen
war und am meisten unter den Konsequenzen zu leiden hatte. In einer Handschrift, die unter
den Studenten zirkulierte, schrieb Eniserlov: "Wir habe um die Erlaubnis gefragt, unserer
Situation mit legalen Mitteln zu entfliehen? Was erwarten sie, das wir tun? Illegale Methoden
ausprobieren? Oder glauben sie uns nicht, wenn wir sagen, dass unsere Situation untollerierbar
geworden ist?" Dann sprach er von der Einstellung der Professoren gegenüber dem Elend des
Studentenlebens: "Der Student möchte seine Zeit der Forschung widmen, aber er muss sein
Brot verdienen... Ohne eine Kopeke in unseren Taschen sind wir oft über zwei hundert,
dreihundert, tausend Wersts weit hergekommen.“ (Es gab Studenten, die zu Fuss vom Kaukasus
angereist waren).
Die Bewegung wurde niedergeschlagen. Im Vergleich zu ein paar Jahren vorher, blieb ihre
territoriale Ausdehnung beschränkt, sie dauerte nicht so lange und hatte weniger Sympathie
und Interesse bei den gebildeten Schichten ausgelöst. Es blieb eine Demonstration, die sich
mehr mit dem "Proletariat des Denkens" beschäftigte, dessen Grenzen in den letzten zehn
Jahren klar definiert worden waren. Obwohl weniger bedeutend als die Ereignisse von 1861,
übten sie ebensoviel Einfluss auf die Entwicklung der revolutionären Strömungen aus, deren
Teilnehmer aus den Reihen des "Proletariats des Denkens" stammten.
Bevor Nechaev St. Petersburg verliess, zog er eine Nummer durch, welche am Anfang dieser
Karriere des Betruges und der Mystifikation steht und seinen Namen während der nächsten zwei
Generationen beschmutzen sollte. Zu Nechaevs Bekannten in der Hauptstadt gehörte eine junge
Frau, Vera Zasulich, die kaum neun Jahre später den Schuss abgab, der die terroristische,
nihilistische Periode der Geschichte der russischen Revolution einläuten solle. Im März 1869
erhielt sie in der lokalen Post einen Brief der eine Nachricht in Nechaevs Schrift enthielt: "Ich
werde in der Festung festgehalten. Ich weiss nicht in welcher. Lass es die Genossen wissen. Ich
hoffe dass ich sie wieder sehen werde; lass sie für die Sache weiterarbeiten."
In Moskau nahm er Kontakt mit Uspenskys Gruppe auf, und behauptete andere Reisen nach Kiev
und Odessa unternommen zu haben. Es muss aber zugegeben werden, das Nechaevs
politisches Leben von Anfang an voller Unbekannter und oft auch absichtlicher Mystifikationen
ist. Zu dieser Zeit, sei er zwei Mal von der Polizei verhaftet worden, zuerst in St. Petersburg,
dann in Moskau und dass es im gelungen sei, in beiden Fällen zu flüchten. Aber diese
Geschichten sind vermutlich von ihm erfunden worden, um eine Atmosphäre des Geheimnisses
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und der Verschwörung um ihn herum zu inspirieren, welche ihm helfen würde, ein Modell des
"revolutionären Prototyps" zu schaffen.
Ein paar von Nechaevs nächsten Freunden waren in das Geheimnis eingeweiht, die Mehrheit der
Studenten, denen die Nachricht gezeigt worden war, hielten sie für echt. Sie glaubten auch die
Geschichte, die später von seinen Freunden verbreitet wurde, dass es ihm gelungen sei, aus der
Peter und Pauls Festung zu flüchten, eine Leistung, die für unmöglich gehalten worden war.
Nechaev war ehrlich davon überzeugt, dass solche Massnahmen nötig seien. Die aufkommende
Bewegung verfügte über keine glamuröse Persönlichkeit, die die versprengten Teile
zusammenhalten konnte. Michael Bakunin, obwohl immer noch Zentrum der revolutionären
Bestrebungen, war zu alt um nach Russland zurückzukehren und die Aufgabe zu übernehmen,
eine Untergrundbewegung aufzubauen. Ein anderer grosser Mann schien nötig zu sein, der all
die Kräfte des aufkeimenden kommenden Aufstandes in Russland um sich sammeln würde.
Nechaev schien keine Zweifel zu haben, dass er diese Person war, obwohl er weder über die
literarische Gabe Herzens verfügte noch über die Sprachfertigkeit oder die heroische
Vergangenheit Bakunins. Aber jung wie er war, erkannte er, dass zur Führung der Bewegung vor
allem ein eiserner Wille nötig war, worüber er mehr als alle seiner Zeitgenossen verfügte. Um
Gehorsam zu erwirken, schuf er um sich einen Heiligenschein des Rätsels und des Heroismus,
welche ihn automatisch über seine Genossen erheben würden.
Die Geschichte seiner Flucht aus der Festung war genauso fantastisch, wie die Art und Weise,
wie seine Genossinnen darüber informiert wurden. Nechaevs Freunde, die offensichtlich davon
überzeugt waren, dass ihre Bewegung einen Helden (revolutionären Prototypen) brauchte -
sogar wenn dieser fabriziert werden musste -, verbreiteten die Geschichte, er hätte den Mantel
eines Generals angezogen und sich bald darauf in Moskau wiedergefunden.
Das tatsächliche Korn an Wahrheit in all diesen Legenden wurde nie wirklich geklärt. Aber es
scheint, dass er während der Studentenunruhen und den darauf folgenden Verhaftungen
polizeilich Vorgeladen worden war. Es gelang ihm danach den Polizeiposten zu verlassen,
entweder durch die Gedankenlosigkeit eines Beamten, oder weil er im Verhör keinen Verdacht
bezüglich der wichtigen Rolle, die er in der Bewegung eingenommen hatte, erregte. Aus
solchem Stoff sind viele heroische Mythen gemacht.
15
1.1
Bakunin an Albert Richard, 7. Februar 1870
(Gedruckt in der Revue de Paris, 1. September 1869, S. 126-127; Nettlau hat den Abdruck mit
dem Original verglichen.)
"Ach mein Lieber, wie diese Jungen (Nechaev und seine Genossen in Russland) arbeiten,
welche disziplinierte und ernste Organisation und welche Macht gemeinsamer Aktion, bei der
alle Individualitäten ausgelöscht sind, selbst auf ihren Namen verzichten, auf ihren Ruf, auf
jeden Glorienschein und Ruhm, nur das Risiko, die Gefahren, Verdriesslichkeiten und
härtesten Entbehrungen für sich nehmend, dabei aber haben sie das Bewusstsein, eine Kraft
zu sein und zu handeln. -
Du hast meinen jungen Wilden nicht vergessen . . .(A. Richard hatte 1869 Nechaev bei
Bakunin gesehen, Er nannte ihn damals Netchaiev Tigrënnik, "kleiner Tiger") Und sie sind alle
so. Das Individuum ist verschwunden, und an seine Stelle trat die unsichtbare, unbekannte,
überall gegenwärtige Legion, die überall handelt, jeden Tag stirbt und wieder geboren wird:
man verhaftet Dutzende, Hunderte erstehen wieder. Die Einzelnen gehen zugrunde, aber die
Legion ist unsterblich und täglich mächtiger, weil sie tiefe Wurzeln in der Welt der schwarzen
Hände geschlagen hat und aus dieser Welt eine Masse Rekruten schöpft.
Dies ist die Organisation, die ich geträumt habe, die ich noch träume und die ich für euch
will. Leider seid ihr noch beim individuellen Heroismus, beim Bedürfnis persönlichen
Paradierens, bei den dramatischen Wirkungen und den historischen Prahlereien. Deshalb
entgeht euch die Macht und von der Aktion bleibt euch nur der Lärm und die Phrase.
Schreibst Du mir nicht, dass ich, wenn ich wolle, der Garibaldi des Sozialismus werden
könne? Mir liegt sehr wenig daran, ein Garibaldi zu werden und irgendeine Rolle zu spielen.
Mein Lieber, ich werde sterben und die Würmer werden mich verzehren, aber ich will, dass
unsere Idee siegt. Ich will, dass die schwarzen Hände wirklich von allen Autoritäten und allen
gegenwärtigen und künftigen Helden befreit werden. Ich will zum Sieg unserer Idee nicht die
mehr oder weniger dramatische Ausstellung meiner eigenen Person, nicht eine Macht,
sondern unsere Macht, die Macht unserer Kollektivität, unserer Organisation und kollektiven
Aktion, zu deren Gunsten ich bereit bin, meinem Namen und meiner Person zu entsagen und
sie zu annullieren. Mein Lieber, die Zeit historischer und glänzender Individualitäten ist
vorüber und das ist desto besser so. Darin liegt die wahre Garantie des Sieges der
Demokratie. Sieh, mit welcher Schnelligkeit die Individualitäten von diesem Riesen mit
mehreren Millionen Köpfen, der das Volk heisst, absorbiert, verbraucht und verschlungen
werden. Und noch einmal, desto besser!
Betrachte genau den Charakter unserer Zeit. Es besteht eine charakteristische Opposition
der Masse gegen jede Autorität und jede Person, die sich aufzwingen will. Die Masse hat
Recht - sie steht auf unserm Programm - kein Einzelner wird mehr Macht haben - es wird
keine öffentliche Ordnung und Autorität mehr geben - und was muss an deren Stelle treten,
damit die revolutionäre Anarchie nicht mit der Reaktion ende -: die kollektive Aktion einer
unsichtbaren Organisation, die über ein ganzes Land verbreitet ist. Wenn wir diese
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Organisation nicht bilden, werden wir nie aus der Ohnmacht herauskommen.
Du, der Du gern nachdenkst, hast Du nie über die Hauptursache der Macht und der
Lebenskraft des Jesuitenordens nachgedacht? Soll ich Dir diese Ursache nennen? Nun, sie
liegt in der absoluten Auslöschung der Personen in dem Willen, der Organisation und der
Aktion der Gemeinschaft.
Und ich frage Dich, ist dies ein so grosses Opfer für wirklich starke, leidenschaftliche und
ernste Männer? Es bedeutet das Opfer des Scheins an die Wirklichkeit, des leeren
Glorienscheins an eine reale Macht, des Wortes an die Tat. Das ist das Opfer, das ich von all
unseren Freunden verlange und bei dem ich stets das erste Beispiel zu geben bereit bin. Ich
will nicht Ich sein, ich will Wir sein. Denn, das wiederhole ich tausendmal, nur unter dieser
Bedingung werden wir siegen, wird unsere Idee siegen. Nun, dieser Sieg ist meine einzige
Leidenschaft"
Die Italiener und Spanier fanden sich ziemlich leicht mit dieser Art Heroismus ohne Glanz und
ohne Lohn ab; die Franzosen dagegen konnten sich nicht daran gewöhnen, und Bakunin hat uns
immer vorgeworfen, wir schielten auf den Effekt, wollten eine Rolle spielen und hätten es nur
darauf abgesehen, Bewunderung zu erregen.
Im März 1869 traf Nechaev sicher in Genf ein, dem Hauptquartier der russischen revolutionären
Flüchtlinge. Michael Bakunin, Held und Veteran der revolutionären Bewegung während der
vergangenen drei Jahrzehnte, war sehr beeindruckt vom Tigrënnik, wie er seinen energischen
Schüler nannte.
Am 13. April (1869) schrieb mir Bakunin folgenden Brief:
... Zu dieser Stunde beschäftigen mich die Ereignisse in Russland vollständig. Unsere Jugend,
vielleicht die revolutionärste der Welt, sowohl in Theorie wie auch in Praxis, agitiert so heftig,
dass sich die Regierung gezwungen sah, Universitäten, Akademien und mehrere Schulen in
St. Petersburg, Moskau und Kasan zu schliessen. Zur Zeit habe ich ein Spezimen dieser
jungen Fanatiker hier, sie haben keine Zweifel und sind furchtlos. Sie haben als Prinzip
festgelegt, dass viele sehr viele durch die Hand der Regierung zu grunde gehen werden
müssen, aber dass man nicht ruhen wird, bis das Volk sich erheben wird. Sie sind
bewundernswert, diese jungen Fanatiker, - Gläubige ohne Gott und Helden ohne Phrasen!
Papa Meuron hätte Freude meinen Besucher zu sehen, du auch.
Hier müssen wir anders vorgehen. Die gebildete Jugend fehlt uns, sie ist vollständig
reaktionär; und die Arbeiter sind noch sehr bourgeois. Es wird wild, ich habe keine Zweifel;
aber es braucht einige Ereignisse, um sie zu wandeln.
Eine Begegnung, eine Entdeckung, eine grosse Streikbewegung, ein Erdbeben: jedes Ereignis
erzeugt Wahrheit, indem es unsere Art verändert, auf der Welt zu sein.
Umgekehrt hat sich eine Feststellung, die uns gleichgültig ist, die uns unverändert lässt, die zu
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nichts verpflichtet, noch nicht den Namen Wahrheit verdient. In jeder Geste gibt es eine
unterschwellige Wahrheit, in jeder Praxis, in jeder Beziehung und in jeder Situation. Die
Gewohnheit ist, dem auszuweichen, das zu verwalten, was die charakteristische Verwirrung der
Allermeisten in dieser Epoche produziert. In Wirklichkeit verpflichtet alles zu allem.
Ein Aufstand - wir wissen nicht einmal mehr, womit der anfängt. (Sechzig Jahre Befriedung,
Stilllegung historischer Umwälzungen, sechzig Jahre demokratische Anästhesie und Verwaltung
der Ereignisse haben unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, unseren Partisanen-Sinn für den
laufenden Krieg geschwächt. Genau diese Wahrnehmung müssen wir wieder erlangen, um
anzufangen.)
Er antwortete mir am 19. und lud mich ein, während der Frühlingsferien (Ende April) ein oder
zwei Tage in Genf mit Père Meruon zu verbringen: "Vermutlich wirst du dann den jungen
Barbaren bei mir antreffen"
Während der Frühlingsferien (24. April bis 3. Mai) begab ich mich nach Morges und von dort aus
reiste ich einen Tag nach Genf, aber Constant Meuron konnte mich nicht begleiten, trotz seinem
Wunsch dies zu tun und trotz den drängenden Einladungen Bakunins. Während diesem Besuch
in Genf, traf ich bei Bakunin den Schulmeister Netchaev, zu dem ich vom ersten Moment an
instinktiv einen grossen Abstand empfand: Aber, da Bakunin in ihm zu dieser Zeit den
bewundernswertesten Vertreter der revolutionären Jugend Russlands sah, habe ich nicht weiter
nachgefragt und seinen Worten Glauben geschenkt, übrigens sprach Nechaev nur ein paar
Worte Französisch, es war mir kaum möglich, mich mit ihm zu unterhalten.
Dieser Ausflug ins Val de Saint-Imier, stellte für mich eine Entdeckung dar und ist eine meiner
lebhaftesten Erinnerungen geblieben. Ich verliess Le Locle im ersten Zug mit meinem Freund
Auguste Spichiger, einem Schalenmacher (guoillocheur), der den Bezirk Courtelary, wo er
gearbeitet hatte, bereits kannte. Am Bahnhof von Chaux de Fonds erwartete uns ein Genosse,
Charles Collier, Uhrmacher, der uns begleiten wollte, um seinen Vater in Saint-Imier besuchen.
Wir folgten an diesem frühlingshaften Morgen zu Fuss dem Weg des Col de la Cibourg, einem
chamanten Pfad, der von Bäumen gesäumt durch Wiesen und Wälder schlängelte. Während des
Aufstiegs plauderten wir, und ich erzählte meinen Genossen, was ich über die revolutionäre
Bewegung in Russland gelernt hatte, und berichtete über die Hoffnungen, die Nechaevs
Gegenwart Bakunin hat schöpfen lassen.
Eine der Legenden, die der junge Mann Bakunin erzählte, betraf die Existenz des
"Aktionskomitees", das alle revolutionären Aktivitäten in Russland lenken sollte. Das Komitee
existierte nicht mehr, tatsächlich waren alle seine Mitglieder, mit der Ausnahme Nechaevs,
verhaftet worden, bevor es sich formell konstituieren konnte. Ob Bakunin tatsächlich an die
Existenz dieses Komitee glaubte, oder ob er zum Wohl der Sache, für das Prestige seiner
eigenen "Partei" so zu sagen, die Aufrechterhaltung dieser Fiktion als politisch nützlich
erachtete, wird vermutlich nie geklärt werden können. Wie auch immer, es existieren
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Dokumente, die belegen, dass Bakunin während seiner Nechaev-Periode zu ähnlichen Mitteln
gegriffen hat, wie sein Schüler. Nach ein paar Monaten Aufenthalt in der Schweiz, als der
Tigrënnik nach Russland zurückkehren wollte, erstellte er ihm einen unterschriebene Schein aus,
mit dem Inhalt, dass "der Träger einer der vertrauenswürdigen Vertreter der russischen Sektion
der revolutionären Weltunion, Nr. 2771" sei. Das Zertifikat trug ein Siegel in französischer
Sprache, das die Wörter "Europäische revolutionäre Allianz. Zentralkomitee" enthielt. Das
Dokument solle das Prestige des jugendlichen Emissärs in den Augen der russischen Studenten
erhöhen. Tatsächlich waren sowohl die "revolutionäre Weltunion" wie auch die "Europäische
revolutionäre Allianz" durch und durch eine Erfindung, pompöse Titel, die nichts und niemanden
als Bakunin selbst repräsentierten.
Wie ich in der alten Biographie zu zeigen versuchte, hatte Bakunin 1863 in Bezug auf die
russische Gesellschaft Semlja i Wolja den gleichen Irrtum begangen, sich ihm wenig oder gar
nicht bekannten Russen, die ihm von einer grossen revolutionären Gesellschaft erzählten, zur
Verfügung zu stellen und die Grösse derselben zu verkünden. Er fiel in beiden Fällen seinem
Temperament zum Opfer, wie ja wieder andere ihm ohne Beweise glaubten: derartiges ist wohl
nichts Neues, und manche Sachen sind schon auf solche Weise in die Höhe gebracht worden.
Mit Ideen hat das alles nichts zu tun.
Nechaev war von der fiebrigen Aktivität in Bakunins Umfeld in Westeuropa sehr beeindruckt. Er
drückte dies in einem Brief an einige Freunde in St. Petersburg aus und schrieb ihnen "Die Arbeit
hier ist siedend, und eine Suppe wird gebraut, die ganz Europa nicht wird runterschlucken
können." Der Brief wurde von der Postzensur gelesen und die Empfänger unmittelbar verhaftet.
Mit derselben Unachtsamkeit für die Sicherheit anderer Leute sandte er revolutionäre
Publikationen an verschiedenste Personen, deren Namen er habhaft werden konnte. In der Folge
wurden zwischen März und August fünfhundertsechzig Postsendungen, entweder Broschüren
oder persönliche Briefe Nechaevs, durch die Behörden beschlagnahmt und alleine in St.
Petersburg waren 387 Personen von den Ermittlungen betroffen. Dieses Verhalten, wurde
weniger von einem Mangel an Intelligenz hervorgerufen, als von einer wohl berechneten
fanatischen Entschlossenheit Leute zu kompromittieren, sie in Schwierigkeiten mit der Polizei zu
bringen und sie, sogar gegen ihren Willen, in die Ränge der Feinde der bestehenden Ordnung zu
stossen.
Die Literatur, die während diesen Monaten von Nechaevs erstem Aufenthalt in der Schweiz
(März bis August 1869) veröffentlicht wurde, bildetet den Gegenstand einer endlosen
Kontroverse zwischen marxistischen und bakunistischen Historikern. Nur drei dieser acht
Publikationen wurden unterschrieben und tragen die Namen von Ogarev, Bakunin oder Nechaev.
Das von Ogarev unterschriebene Werk, war ein Gedicht mit dem Titel "Der Student" (bzw. Die
lichte Gestalt ), das die Leidenschaft eines russischen Jugendlichen beschreibt, der, ein Sohn des
Volkes, für die Rechte der Unterdrückten kämpft, verfolgt wird und in Sibirien stirbt. Ein
bewegendes Gedicht in der Form einer Volksballade. Bakunin überzeugte den Autoren es
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"seinem Freunden Nechaev" zu widmen. Die Schlussfolgerung war offensichtlich - der "noble
Abenteurer", wie Bakunin seinen Schüler manchmal nannte, wurde als Zweiundzwanzigjähriger
offiziell als Märtyrer heiliggesprochen und hatte noch keinen Tag im Kerker verbracht. Necheaev
begann die Nachricht von seinem Tod zu verbreiten, zweifellos um die Wirkung des Gedichtes zu
verstärken.
Diese Heiligsprechung war anscheinend nicht genug für die erfolgreiche Schaffung eines Kultes.
So widersprüchlich wie dies auch sein mag, zur selben Zeit, erschien ein Text, der vom
nämlichen Nechaev unterzeichnet worden war. In einem persönlichen Ton, der beinahe an das
traditionelle "An mein Volk" königlicher Mitteilungen erinnert, schrieb er Sätze die in ihrer
schamlosen Unbescheidenheit und Aufschneiderei ihr Gegenstück nur im Lager von Pilsudski,
Mussolini oder Hitler finden.
Die Versuche, den Katechismus und die Aktionen Nechaevs in unmittelbare Nähe zum späteren
Stalinismus zu bringen, beinhalten nicht nur einen Denkfehler, sondern auch die Ignoranz
gegenüber den Akteuren. Wenn Paul Avrich meint, Nechaev sei „... letzten Endes, in einem wie
auch immer kleinen Ausmass, Vorläufer der im Namen der revolutionären Notwendigkeit
begangenen Massenmorde Stalins", dann verwischt er die Spuren: Nechaev, ohne Macht, mit
Wenigen unterwegs, gehetzt, entbehrungsreich und nicht siegreich, dagegen Stalin, machtvoll,
perfektioniert, Staatsmann und Kerkermeister! Den schnellen Schluss zu ziehen: vom
Individualterror zum Staatsterror lässt vielzuviele Zwischentöne unberücksichtigt.
Unter den Publikationen, die zu dieser Zeit veröffentlicht wurden, befanden sich zwei weitere
Appelle an die russischen Studenten, einer wird dem Dichter Ogarev zugeordnet, der andere ist
von Bakunin unterschrieben. Letzterer wurde durch den folgenden Satz berühmt, der die Rolle,
die den Studenten zugeschrieben werden sollte, ausdrückt:
"Deshalb meine Jungen Freunde, verlasst so bald als möglich diese, dem Untergang geweihte
Welt, diese Universitäten, Akademien und Schulen, von welchen sie euch ausschliessen und
in welchen sie euch immer vom Volk trennen wollen. Geht ins Volk!"
Die am Besten bekannte der Veröffentlichungen dieser Zeit ist der "Katechismus des
Revolutionärs", eines der berühmtesten und gewissermassen notorischsten Beispiele
revolutionärer Literatur. Es handelte sich um ein geheimes Dokument das verschlüsselt worden
war, welches Nechaev nach Russland eingeschmuggelt hatte, als einer Art Leitfaden für
zukünftige Aktivitäten.
So unterhaltsam einige der Passagen des Katechismus klingen mögen, mit ihrer blutrünstigen
Feierlichkeit, sollte das Dokument in seiner Ganzheit in der internationalen anarchistischen
Bewegung der siebziger und achziger Jahre eine wichtige Rolle spielen. In einer gewissen Weise
wurde es zum Koran dieser fanatischen und skrupellosen Elemente, die individuellen Terrorismus
mit bestimmten Formen des Banditentums zu vereinen suchten. Es gab viele darunter, die alle
sechsundzwanzig Thesen auswendig kannten.
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Man muss die Wendung, welche hier in der Anempfehlung der Gewalt sich vollzog, genau
beachten; das Attentat wird nicht mehr empfohlen, weil dadurch direkt der Zweck des
Umsturzes erreicht werden könnte, sondern indirekt als blutige Reklame auf die indolente
Masse, welche so durch schreckliche Ereignisse auf die Theorie aufmerksam gemacht werden
soll. Das ist der teuflische Grundgedanke der „Propaganda durch die That“, welche ein anderer
Bakunist, der Mann der Juraföderation Paul Brousse, das traurige Verdienst hat definiert zu
haben. "Thaten" sagt Brousse:
"Thaten werden allseitig besprochen, nach der Ursache der Thaten fragen die indifferenten
Massen, sie werden aufmerksam auf die neue Lehre und diskutieren sie. Sind die Menschen
erst einmal soweit, so ist es nicht schwer, Viele von ihnen zu gewinnen."
Daher empfahl er Aufruhr und Attentat, nicht um dadurch die bestehende Ordnung zu
beseitigen, sondern zum Zwecke der "Propaganda".
Brousse hatte den Gedanken, wie wir sehen, nur von Nechaev zu entlehnen. Woher ihn dieser
hatte, ist nicht schwer zu sagen. Wie, wenn die Meinung, welche die Autorschaft des
Revolutions-Katechismus und der anderen oben genannten Schriften nicht Nechaev, sondern
Bakunin selbst zuschreibt, doch gewisse Anhaltspunkte hätte? Allein, wer der Verfasser dieser
Schriftstücke ist, ist von nebensächlicher Bedeutung. Nechaev ist Geist vom Geiste seines
Meisters.
Grave ist der Nechaev Kropotkins. Im Jahre 1883 hat er unter dem Pseudonym Jehan Levagre
eine Schrift veröffentlicht mit der Bemerkung "Publication du groupe de 5e et 43e
arrondissements", in welcher er den Grundsatz aufstellte, dass die öffentliche Propaganda der
geheimen Propaganda der That als Brustwehr dienen müsse, dass sie ihr die Mittel der Aktion,
nämlich Menschen, Gold und Beziehung bieten und überhaupt dazu beitragen müsse, die
Thaten ins rechte Licht zu stellen, in dem sie dieselben kommentieren. Das ist auch der Sinn, in
welchem Grave die "Revolte" leitet.
Er ist, jeden Zoll breit Mann der That, in den Spalten seiner Zeitung so gut wie in seinen
Schriften, zumeist in dem Buche "die sterbende Gesellschaft und die Anarchie" (la Sociétè
mourante et l'anarchie), die ihrem Verfasser ob ihres aufreizenden Tones im Jahre 1894 eine
Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis eintrug.
Damals (1880er und '90er) waren «Expropriationen» eine brennende Frage, nämlich die damals
von allen Richtungen gegen den zaristischen Regierungsapparat vorgenommenen Beraubungen
öffentlicher Kassen usw. Kropotkin war unbedingt dagegen, wie die in Anm. 159 genannte Quelle
im einzelnen erklärt. Er sah eine Demoralisierung der Beteiligten voraus, befürchtete ein
Netschaewtum wiederkommen zu sehen und verwies auf die wenigen Francs, mit denen der
Révolté gegründet worden war.
August Reinsdorf war ganz das geistige Kind von Bakunin's revolutionärem Katechismus, der
eigentlich von Nechaev stammt. Die revolutionären Thesen von Bakunin/ Nechaev nahm
21
Reinsdorf nicht nur ernst, sondern er lebte sie auch bis zur letzten Konsequenz.
Es ist gar kein Zweifel, dass Stellmacher in seinem Vorhaben (1884) sehr stark durch jene
Verschwörerideologie beeinflusst wurde, welche der russische Terrorist Nechaev in seinem
bekannten "Revolutionären Katechismus" niederlegte, den man lange Zeit fälschlicherweise
Bakunin zugeschrieben hatte. Reinsdorf veröffentlichte diese Grundsätze im September 1880 in
der "Freiheit" und empfahl den deutschen Arbeitern, dieselben gründlich zu studieren.
Hektographierte Exemplare zirkulierten damals sehr häufig in den Kreisen der Revolutionäre und
übten besonders auf den romantischen Geist der jugendlichen Elemente einen starken Einfluss
aus, wenngleich die Sympathie, welche man diesem Katechismus der Terroristen entgegen
brachte, sich bei den meisten auf eine rein platonische Bewunderung beschränkte. Nach den
Aussagen intimer Freunde kannte Stellmacher diese angeblichen Grundsätze Bakunins fast
auswendig.
Tatsächlich hat Nettlau keine Erklärung für die Attentate. Viel glaubwürdiger ist das, was Rocker
in Anlehnung an einen Zeitgenossen der damaligen Attentäter vorbringt. Diese hätten geradezu
eine Sehnsucht nach Verfolgung entwickelt, um den tief in ihnen nagenden Privathass an jedem
beliebigen Träger des Systems abreagieren zu können. In den Kreisen der Attentäter habe
Nechaevs "Revolutionärer Katechismus" (im September 1880 in der "Freiheit" veröffentlicht)
zirkuliert. Damit könnte selbst das Lockspitzeltum von Terroristen erklärt werden, da der Russe
in Artikel 14 geboten habe, ein echter Revolutionär müsse seine Verfolger täuschen und sich
darum selbst bei der geheimen Polizei Eingang verschaffen können. Die entscheidende Frage,
von welchem Zeitpunkt an ein Terrorist vom aktivistischen Taktiker in ein Werkzeug der Polizei
verwandelt wird, lässt sich aber nicht theoretisch allgemein, sondern nur in der Praxis einzelner
Fälle beantworten.
Sozialpsychologisch lässt sich der Terrorismus übrigens am besten interpretieren als
gruppenkonformistischer Zwang, ein Regelsystem zunächst als Gewaltsystem zu definieren und
dieses durch Gegengewalt zu beseitigen. Dabei war die subjektive Realität der
Gruppenmitglieder derart auf die künstlich geschaffene Gegenrealität fixiert, dass sich das
terroristische Subjekt beauftragt glaubt, das als Unrecht gedeutete System ebenso rücksichtslos
zu bekämpfen, wie die Polizei den Rechtsbrecher verfolgt.
Im August 1869 als alle Literatur veröffentlicht worden, die für den kommenden Aufstand nötig
war, reiste Nechaev unverzüglich nach Russland ab. Er reiste mit Grablew nach Rumänien, er
war etwa zwei Wochen mit Botew in Bräila zusammen, ebenso kannte er Ljuben Karawelow und
es wurde ihm ein serbischer Pass zur Reise nach Russland besorgt usw.
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Man kann nicht von Bakunin scheiden, ohne seines Lieblingsschülers Sergei Nechaevs
flüchtig zu gedenken, obwohl dieser noch weniger als Bakunin reiner Anarchist war,
und noch weniger vom russischen Nihilismus loszulösen ist.
22
Die lichte Gestalt
Von Geburt kein Edelmann,
Wuchs er unterm Volk heran;
Doch verfolgt vom Zorn des
Zaren Und der Missgunst der
Bojaren, Weihte er sich selbst der
Not, Stets bereit zum Opfertod
Auf der Folter bei den Henkern,
Unerschrocken, gleich den Denkern,
Um dem Volk das Heil zu künden:
Von der Bruderschaft der Menschen,
Ihrer Gleichheit und der Freiheit!
Häscher fingen ihn alsbald.
Doch er floh in fremdes Land (aus
des Zaren Kasematte, wo man
Peitschen, Zangen hatte), Um von
dort aus hier zu schüren, Und die
Wirkung war zu spüren, Denn das
Volk begann zu warten Und zu
murren ob des harten Schicksales,
doch siehe da: "Gleichheit,
Freiheit, sie sind nah!" Also sagt's
euch der Student, Hört es jetzt bis
nach Taschkent!
Und so wartete auf ihn
Jedermann im ganzen Land,
Um die Erbherr'n und alsdann
Selbst das Zar'tum zu vernichten!
Hört und kommt und lasst uns richten!
Hört auf des Studenten Wort:
Allem Frevel alter Zeiten
— Kirchen, Ehen und Familien -
Lasst uns nun ein End' bereiten!
Denn das Hab und Gut der Welt,
Land, Besitz und alles Geld,
Soll alsdann Gemeingut werden
In dem neuen Reich auf Erden!
23
1.2
„Wo hoch über den Dächern das Fallbeil ragt,
wo wild durch die Gassen der Strumwind jagt,
Da zieht es mit unwiderstehlichen Drängen mich hin“
Mitte September war er zurück in Moskau. Dort fand er ein paar alte Freunde, da Moskau
weniger als St. Petersburg unter den März-Verhaftungen, die durch die studentische Bewegung
verursacht worden waren, gelitten hatte. Bakunins Empfehlung Nechaevs im Namen der nicht
existenten "Revolutionären Welt Union" beeindruckte bald all diejenigen, denen sich letzterer
näherte. Nur wenige seiner neuen Genossen kannten ihn unter seinem richtigen Namen. Für die
anderen war er Ingenieur Pavlov - ein Name so gewöhnlich wie Smith oder Johnson in den
Vereinigten Staaten.
Die Organistation nannte sich "Volksjustiz" (Narodnaja Rasprava, Volksrache). Ihr Emblem war
eine Axt, Symbol volkstümlicher Vergeltung. Mit denjenigen, die Nechaev für am verlässlichsten
hielt, bildete er die "Grossrussische Sektion Moskau", die eine Art zentraler Organisation war.
Jedes der Mitglieder dieser Gruppe sollte eine eigene Gruppe bilden, deren Mitglieder nichts von
der zentralen Gruppe wussten. Jedes der Mitglied dieser Untergruppen, hätte wiederum eine
neue Gruppe bilden sollen usw. In Übereinstimmung mit den "allgemeinen Bestimmungen der
Organisation" sollten die Mitglieder gegenüber dem Organisator die grösst mögliche Offenheit
walten lassen. Sie sollten keine Fragen über die anderen Gruppen stellen und nur die Details,
nicht aber den grossen Zusammenhang der Organisation kennen. Und über allem schwebte das
grosse unsichtbare Kommitee und das keiner der engsten Mitarbeiter Nechaevs kannte und
dessen Wille Nechaev den Genossen der zentralen Gruppe übermittelte.
Irgendwie vermochten die Aktivitäten der Organisation keine grossen Fortschritte zu
verzeichnen. Eine Anzahl Studenten wurde gewonnen, aber das war auch alles. Es gab keinen
Kontakt zu den Massen. Der machiavellistsiche Plan Einfluss auf Reiche zu gewinnen und sie zu
zwingen die Sache zu unterstützen, indem man deren Geheimnisse herausfand, funktionierte
auch nicht wirklich gut.
Die Expeditionen "in die Tiefe" waren ebenfalls ein Misserfolg. Eine Regel der "Allgemeinen
Bestimmungen der Organisation" verlangte die Kultivierung der Bekanntschaft mit den
Gerüchten der Stadt, mit Prostituierten und anderen privaten Quellen, um Gerüchte zu sammeln
und zu verbreiten." Die Prostituierten und ihre männlichen Begleiter waren weniger geneigt der
revolutionären Sache dienlich zu sein, als deren Vertreter auszurauben und sie der Polizei zu
verraten.
Kurz nach seiner Ankunft in Moskau, machte Nechaev die Bekanntschaft einer der seltsamsten,
exzentrischsten und bewegendensten Figuren in der Geschichte des russischen Radikalismus.
Ivan Gavrilovich Pryzhov. Diese bemerkenswerte Person, war finanziell auf dem Trockenen und
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hängte viel in Cherkesovs Buchladen herum, wo er Uspensky und durch diesen Nechaev
kennengelernt hatte. Wenn wir das Leben und Werk Pryzhovs betrachten, sind wir mit dem
russischen Leben, vielleicht in seiner schmerzhaftesten Form, konfrontiert. Er gehört sicherlich
zu den Menschen, die Dostojevsky die "Beleidigten und Verletzten" nannte. Pryzhovs
lebenslange Unfähigkeit irgendwo dazu zu gehören, gründete in den Umständen seiner Familie,
die während vieler Generationen Leibeigene der prominenten Familie Stolypin waren. Ivan
Pryzhovs Vater wurde von seinem Eigentümer freigelassen und diente während dreiundvierzig
Jahren als Medizinischer Gehilfe im Marinskaia Spital in Moskau, einer Institution für Mittellose.
Für seine langjährigen treuen Dienste an diesem trostlosen Ort wurde ihm 1856 zu seiner
Pensionierung das Recht gegeben, als Mitglied des Adels eingetragen zu werden. Er war somit
einer der wenigen Russen, die je in einer Generation vom leibeigenen Bauer in einen -
mindestens technischen - Adelsstand gehoben worden waren.
Somit war Ivan Gavrilovich, 1827 geboren, eine Kuriosität in jener hochstrukturierten
Gesellschaft. Wo gehörte er hin? Er war weder vom Volk, noch Teil des Obshchestvo. Man ist
geneigt zu denken, dass die Verwirrung seiner Umstände zur Leidenschaft seiner folgenden
Identifizierung mit dem Narod beitrug.
Pryzhov beendete das moskoviter Gymnasium 1848, seine Leistung berechtigten ihn, ohne
Eintrittsprüfung ein Studium aufnehmen zu können. Aber dann hatte er Pech. Er wollte sich in
der humanistischen Fakultät in Moskau einschreiben, aber die Panik, die der Ausbruch der
Revolution in Europa verursachte, bewog Nikolas I zu befehlen, dass die Anzahl Studenten
verringert werden müsse, und dass diejenigen, die nicht die Söhne der Oberschicht oder
höheren Beamten waren, einer genaueren Überprüfung zu unterziehen seien. Pryzhov wurde
abgelehnt.
Trotz - oder vielleicht wegen - seiner frühen Verbindung zum Marinskaia Spital, hatte Pryzhov
kein Interesse an Wissenschaften oder Medizin und 1850 wurde er ausgeschlossen, anscheinend
wegen akademischem Desinteresse. In einem gewissen Sinn, verliess er die Universität nie.
Wie viele anderen Rebellen und Radikalen der Boheme, gab es keinen anderen Ort, wo er sich
wohler fühlte. Und so blieb er, und setzte seine Bildung fort, ohne offizielle Anerkennung und
nahm sich die Freiheit, Vorlesungen zu besuchen, und leitete sein gesellschaftliches Leben
daraus ab. Er kannte mehrere Mitglieder des Rybnikov Zirkels, nicht aber Rybnikov selbst.
Zwischen 1852 und 1866 arbeitete er auch als Funktionär am Moskauer Zivilgerichtshof, um
seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. 1866 verlor er seinen Posten, anscheinend auf
Grund von Gesetzesreformen, und von diesem Zeitpunkt an verschlechterte sich seine
finanzielle Situation, die immer prekär gewesen war, zunehmend. Er war seit langem ein
schwerer Trinker, nun wurde er Alkoholiker. Sogar in den 50ern trank er während der Arbeit, und
beendete, wie er beschreibt, die meisten Tage in seiner "Lieblings Taverne in der intimen
Gesellschaft von Bachus." Viele seiner Forschungen zu seinem bekanntesten Werk, "Die
Geschichte der Tavernen in Russland", betrieb er vor Ort. Pryzhov verbrachte einen Grossteil
seiner Zeit damit, in der halbverbrecherischen Unterwelt von Grossmoskau umherzuschweifen
und nahm auf eine relativ Harmlose Art und Weise am Treiben teil, aber er beobachtete was um
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ihn herum vorging und machte Notizen. Er wählte eher Material aus seinem grossen Lagerhaus
aus, oft auf fettigen und zerrissenen Papierfetzen hingekritzelt, als das er seine Artikel "schrieb"
und fügte so einen Artikel zusammen, um ihn zu verkaufen. Es war alles ein Buch, wirklich: das
echte Leben des russischen Volkes.
Eine teilweise Ausnahme bildete vielleicht seine Arbeit über Tavernen, welche eine wirklich
anspruchsvolle Arbeit über die rebellische und kriminelle Welt war, die ihren Mittelpunkt in den
Kabak hatte. Er war daran interessiert, was die Menschen tranken, an den verschiedenen
alkoholbedingten Todesarten oder sonstigen Krankheiten und er klassifizierte die verschiedenen
Formen des Verbrechens, die von den Tavernen ausgingen. Gegen Ende seines Lebens
entwickelte er die zeitgenössisch anmutende Theorie, dass die Tavernen in Russland tatsächlich
ein revolutionäres Milieu bildeten. Sie waren für ihn nicht nur Zentren des Alltages, sondern "das
Zentrum jeder populären Revolte, seit dem Aufstand von Stenka Razin". Die veröffentlichte
Geschiche der Tavernen bildete nur den ersten drittel seiner Arbeit ab, kein Verleger wollte mit
den restlichen Abschnitten in Berührung kommen, die sich eher um das Milieu der Taverne
drehten, obwohl dem Leiter der moskoviter Universitätspresse ein gewisses Interesse an seinen
Arbeiten nachgesagt wurde. Pryhzov verbrannte den Rest der Arbeiten am Vorabend seiner
Verhaftung.
Er unterhielt viele grosse Vorhaben - die Geschichte der Leibeigenschaft, die Geschichte der
Freiheit in Russland - die zum Teil nicht einmal teilweise realisiert wurden. Er war oft hungrig und
mittellos und wurde manchmal von Arbeitern, an denen er ein reges Interesse zeigte, gefüttert.
1865 erkrankte er an Typhus, was eine seiner schlimmsten Krankheiten war.
1864 schrieb der radikale Ethnograph Ivan Gavrilovich Pryzhov einen Artikel über religiösen
Wahn, "Sechsundzwanzig moskoviter pseudo-Propheten, pseudoheilige Narren und Idioten,
sowohl männliche wie auch weibliche", in dem die erste Studie niemand anderem als Ivan
Iakovlevich gewidmet ist. Pryzhof zieht eine Grenze zwischen echten iurodivye, die er für
geisteskrank und elend hält, und den sogenannten Izheiurodivye, oder Scheinheiligen, Heuchler
und Schwindler wie Ivan Iakovlevich.
Arbeitslos seit 1866, sank Pryzhof tiefer und tiefer in Landstreicherei und Alkoholismus ab. Er
versuchte sich mit seinem Hund "Leporello" zu ertränken, wurde aber aus dem Wasser gezogen.
Er arbeitete kurz für eine private Eisenbahnlinie (Das revolutionäre Potential der Eisenbahn
reizte ihn anfänglich) Im Frühjahr 1868 finden wir ihn, verzweifelt einen Verleger für ein weiteres
seiner umfangreicheren Projekte, "Der Hund in der Geschichte des menschlichen Glaubens",
suchen. Aber diesmal wurden seine Schwierigkeiten nicht, wie so oft, von der politischen Zensur
verursacht.
Er verbrachte die meiste Zeit mit gemeinsamen Trinken und Gesprächen mit den
Eisenbahnarbeitern, die ihn auch mit Nahrung versorgten. Der Verkauf seiner Bibliothek 1869,
ein verzweifelter letzter Ausweg, führte ihn in Cherkezovs Buchhandlung.
Wie schnell wurde Pryzhof rekrutiert? Die Antwort scheint zu sein, dass Nechaev bald
beschlossen hatte, dass Pryzhof nützlich sein könnte, und Pryzhov konnte ihm nicht lange die
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Stirne bieten. Er war verzweifelt, wütender auf die Welt, als er es je gewesen war, zur Tat bereit.
Nechaev scheint Pryhzov überzeugt zu haben, dass zwischen ihnen eine besondere Verbindung
bestand, da sie beide Männer aus dem Volk waren. Nechaevs Hass auf die alte Ordnung muss
ihn ebenso zufriedengestellt, wie eingeschüchter haben. Pryzhof hatte Beziehungen ins untere
Beamtentum, er konnte Urkainern Proklamationen in ihrer Sprache schreiben (was er tat); aber
vor allem hatte er ein unvergleichliches Wissen über das Leben der untersten Schichten
Moskaus und Necheav beabsichtigte die halbverbrecherische Unterwelt zu nutzen, falls ihm dies
gelingen sollte.
Bald hatte Pryzhov seine eigene Fünfergruppe, von deren Mitglieder einige im Oktober von der
Moskauer Universität ausgeschlossen worden waren, nach einer der vielen
fakultätsstudentischen Konfrontationen, die während der vergangenen 15 Jahre einen derart
hohen Stellenwert in der Radikalisierung russischer Studenten eingenommen hatten.
In einem Fall gelang es Nechaev beinahe fette Beute zu machen, aber dies ohne die Hilfe der
Unterwelt. Ein sehr junger Offizier der Armee, den Nechaev für die Sache zu gewinnen
vermochte, wurde angestiftet eine falsche Verhaftung eines ehemaligen Mitglieds einer
revolutionären Gruppe in St. Petersburg zu organisieren und ihn zu erpressen, ihn dazu zu
bringen, sich den Weg aus der Situation zu kaufen und einen Check für 6000 Rubel zu zeichnen.
In ähnlicher Weise versuchte er Bakunin zu täuschen, indem er ein Mitglied der zentralen
Gruppe mit einem übertriebenen Bericht über die Aktivitäten in Russland zu ihm schickte. Dieser
Delegierte hatte strikte Anweisung alle Fragen Bakunins mit "Ich weiss es nicht" zu beantworten,
um zu verhindern, unabsichtlich die wahre Situation zu verraten.
Einmal besuchte ich auf dem Wege nach Italien Bakunin (er lebte damals, soweit ich mich
erinnere in Locarnao) und traf bei ihm den alten Mazzini an, dem er bis ins kleinste Detail alle
Chancen für eine baldige Revolution in Russland erklärte. "An der Wolga", sagte er, "hatten wir
1667 Razin und 1773 Pugacev, und jetzt steht dort, wie mir zuverlässig bekannt ist, die
revolutionäre Frage auf der Tagesordnung. Die Raskolniki sind in Aufruhr, die Arbeitermassen
schliessen sich ihnen an, Kalmücken und Kirgiesen zeigen ebenfalls ihre Unzufriedenheit - mit
einem Worte, ein allgemeiner Aufstand steht bevor." Ich versuchte ihn davon zu überzeugen,
dass seine Informationen aus trüben Quellen stammten, dass ich unlängst von meinem Gut im
Governement Saratov zurückgekehrt war, ihm versichern könne, dass an der Wolga alles ruhig
und friedlich sei und niemand dort an eine Revolution denke. Überzeugen konnte ich ihn nicht.
Alle Quellen sind sich einig über die Methoden, die Nechaev anwandte: er war entschlossen die
Narodnaya Rasprava am Leben zu erhalten. Spannung und Falschheit sind in allen Dokumenten
ersichtlich, die uns zur Verfügung stehen. Es ist wahr, dass diese Gewalt - die schon bald in die
Katastrophe führen sollte - durch die eigentümliche Natur seines Charakter erklärt werden kann.
Aber der Hauptgrund lag in seiner Überzeugung (welche er auch die anderen glauben machte),
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dass Geschwindigkeit entscheidend sei, weil das Ende nahte und die Revolution am 19. Februar
1870 ausbrechen würde. Wir finden dieselbe Befürchtung auch in den Werken Tkachevs. Er war
auch davon überzeugt, dass eine Bauernrevolution in Russland nur in der nahen Zukunft möglich
sei und dass sonst eine Entwicklung wie in Europa (Stabilisierungen auf bourgeoiser Grundlage)
die echte Bauernrevolution unmöglich machen würden.
Nechaev hatte ein Flugblatt mit dem Titel "Von denen die vereinigt sind an diejenigen die
versplittert sind" herausgegeben. Er wollte, dass Ivanov, ein Student der
Landwirtschaftsakademie, den Aufruf im studentischen Messesaal und in der Bibliothek
anschlage. Ivanov widersetzte sich dieser Idee, in Angst, die Polizei würde als Ergebnis dieser
Aktion den Messesaal schliessen. Nechaev verfolgte anscheinend den subtilen Plan, den Geist
der Revolte zu stimulieren, indem er die materiellen Bedürfnisse der Studenten untergraben
wollte. Ivanov blieb hartnäckig und weigerte sich, selbst als Nechaev erwähnte, dass er den
Befehl vom mysteriösen Komitee erhalten habe.
Als Nechaev dies erfuhr, erklärte er es gleichbedeutend mit Hochverrat, und fügte hinzu, dass
der Tod die einzige Massnahme wäre, die in einem solchen Fall zur Anwendung zu kommen
habe. Am 3. Dezember, 1869, wurde Ivanov in eine Grotte in der Nähe des Parks der
landwirtschaftlichen Akademie gelockt, wo die fünf ihn überfielen. Nechaev versuchte ihn zuerst
zu erwürgen und leerte schlussendlich seinen Revolver in Ivanovs Kopf. Der Körper wurde mit
Steinen beschwert, und durch ein Loch in der Eisdecke eines nahen Weihers versenkt. Alle
Teilnehmer am Mord waren sehr niedergeschlagen, ausser Nechaev. Er scheint vollkommen
mitleidslos geblieben zu sein, obwohl er blutverschmiert war und seine Hände von Ivanovs
Zähnen verbissen.
Als er St. Petersburg vernahm, dass Ivanovs Körper im Teich gefunden worden und dass sein
Genosse Uspensky, der ihm am nächsten stand und der am Mord teilgenommen hatte, verhaftet
worden war, entschloss er sich nach Moskau zu reisen. Die Exekution des Verräters war sehr
amateurhaft durchgeführt worden.
Furchtlos kehrte Nechaev sofort nach Moskau zurück. Aber er erkannte, dass das Spiel aus war,
wenigstens zur Zeit. Die Zahl der Verhafteten stieg an und die Organisation war am
auseinanderbrechen. Er entschloss, sich wieder ins Ausland zu begeben, um Mittel aufzutreiben
mit denen er die anderen Gefährten retten wollte, die der Verhaftung bisher entgangen waren.
Es ist nicht möglich, die Anzahl der Anhänger zu bestimmen, die Nachaev rekrutiert hatte. Nach
A.K. Kuznecov, einem Mitglied der Organisation, schlossen sich bis zu 400 den Zirkeln an. Ob es
nun mehr oder weniger waren - Tatsache ist, dass es Nechaev gelungen war, eine für damalige
Verhältnisse sehr starke Organisation der studentischen Jugend mit aufzubauen, deren
politischen Gehalt niemand bezweifelte. Nechaev war Mitbegründer einer politischen Tendenz,
einer jakobinischen Tendenz der revolutionären Bewegung Russland.
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Aleksandrovskaia gehörte der Oberschicht an und war mit einem St. Petersburger Zollbeamten
verheiratet. Sie wurde 1862 verhaftet als sie radikale Propaganda verbreitete. Nachdem sie ein
paar Monate im Gefängnis verbracht hatte, wurde sie nach Tula exiliert. Nach Karakozovs
Versuch bot sie den Behörden der Regierung freiwillig ihre Dienste im Kampf gegen die
revolutionäre Bewegung an.
Aleksandrovskaias Aussagen an die Polizei machen klar, dass die Romanze ihrer Flucht ins
Ausland mit Nechaev nicht bloss politisch gewesen sein soll. Sie war in jeder Beziehung
enttäuscht. Nach ihrer Ankunft in Genf wurde sie von Ort zu Ort herumgeschoben, und im
allgemeinen vernachlässigt. Sie habe "irgendeinen alten Mann" (Ogarev) getroffen, der sie vage
fragte, wie denn die Dinge in Russland stehen würden. Nach ein paar Tagen teilte ihr Nechaev
mit, dass es Zeit sei, zu gehen. Sie wurde mit einer Menge neuer Proklamationen versehen, die
sie zwei Studenten der Petrovsky Landwirtschafts Akademie in Moskau abliefern sollte. Sie war
auch in Besitz von Material, das an Mark Natanson und andere Feinde Nechaevs adressiert war,
am 11. Januar wurde sie an der Grenze verhaftet.
29
1.3
Als er in der Schweiz eingetroffen war, veröffentlichte Nechaev ein Brief-Manifest, welches
einmal mehr seinen revolutionären Geist veranschaulichte und zur selben Zeit seine
aussergewöhnliche Fähigkeit zur Mystifikation hervor strich. Die russische Polizei unternahm
einmal mehr Schritte, sich seiner habhaft zu werden und ein ganzes Buch wurde von R.M. Kantor
über die Methoden geschrieben, die dabei zur Anwendung kamen.
Er eröffnete seine Kampagne mit einer Reihe von Manifesten, die an alle möglichen sozialen
Schichten gerichtet waren und rief sie zur Revolte gegen den Zaren auf. An die Frauen schrieb
er, dass der einzige Ausweg aus ihren Schwierigkeiten in der sozialen Revolution läge.
"Zusammen mit den Arbeiterklassen müsst ihr das Reich der Oberschicht zerstören. Und
damit müsst ihr alle seine Gesetze zerstören, die die Menschen ersticken. Erst dann wird der
Weg frei sein, dass Frauen frei arbeiten können... Erst wenn das Privateigentum abgeschafft
ist, kann auch die Familie zum verschwinden gebracht werden. Alles Land, alle Fabriken und
Werkstätten, alle Werkzeuge, Kommunikationsmittel werden den Artels der Arbeiter und
Arbeiterinnen gehören, die sie benutzen..."
Bakunin hatte mit diesen Publikationen nichts zu tun. Sein Jünger wurde immer unabhängiger,
und obwohl er mit dem alten Mann im Namen des inexistenten "Komitees" zusammenarbeitete,
folgte er seinen eigenen Launen in der Veröffentlichung von Flugblättern und Zeitschriften. Das
ist insbesondere der Fall, bei der Veröffentlichung der zweiten Ausgabe der "Volksrache", welche
im März 1870 herauskam. Das wurde zunehmend unterhaltsam. Hier fanden sich Meinungen,
die alles ausdrückten, was von dem, das allgemein als anarchistische Philosophie bezeichnet
wird, am meisten verhasst ist.
Kurz nach seiner Ankunft in der Schweiz infolge der Tötung Ivanovs gab er eine Reihe von
Flugblättern heraus, die an die Armee, Ukrainer, Frauen, "Mouzhiks und alle „einfachen Arbeiter"
gerichtet waren und nicht zuletzt an die unteren Mittelklassen der Städte und kleineren
städtischen Siedlungen. Es scheint unglaublich, aber in letzteren Werk rief er seine Leser
tatsächlich dazu auf, alle Städte niederzubrennen und die zerstörten Lokalitäten umzupflügen -
anscheinend die vereinfachte Anwendung seiner Schuljungen Reminiszenz des "Carthago est
delenda" zur Lösung moderner sozialer Probleme. Nach der Zerstörung, schrieb er, wird "jeder
Mouzhik seine eigener Meister sein." Es war so einfach!
Aber Nechaevs typischstes Manifest dieser Zeit, richtete sich an die Studenten von Russland. Er
brüstete sich einmal mehr mit seiner Flucht vor der Polizei und fuhr fort:
"Hört die Schreie derjenigen, die unter der Folter sterben und erkennt eure Fehler. Von jetzt
an muss jeder Schritt, den wir unternehmen durch rigide Berechnung und unflexible Logik
bestimmt sein. Jedes Gefühl muss in der Brust erstickt werden: eine einzige Leidenschaft darf
in uns leben: der Wille eine gemeinsame Kraft zu bilden. Genossen, glaubt an euch. Zu viele
30
sind bereits für die Sache des Volkes gestorben. Die Zeit zu erobern ist angebrochen. Die
Studenten des Westens sind nicht in der Lage oder Willens unsere Ideen zu begreifen. Sie
hatten ihre grossen Tage und haben die Bühne verlassen, ihre Rolle im Leben des Volkes ist
vorüber. Die Universität erzeugt nur noch Filister der Wissenschaft und Knechte der
Regierung. Aber es gibt im Westen andere Männer - neu und frisch - und ihnen gehört die
Zukunft. Die Welt der Arbeiter ist nicht durch die Grenzen von Staaten geteilt oder durch
unterschiedliche ethnische Herkunft, dies sind die Männer, die uns verstehen werden. Unsere
Sache - die Sache des Volkes - ist ihre Sache. Folgt den Worten von Christus, dem ersten
revolutionären Agitator. "Werft keine Perlen vor die Säue". Bringt euch nicht länger in
Versuchung, mit dem Wort der Wahrheit eine Welt zu erwecken, deren Zeit vorbei ist. Ihr
Ende ist unausweichlich, wir müssen handeln um es zu beschleunigen."
Im Januar 1870, kehrte Nechaev also von Russland nach Genf zurück, wo er sich als Vertreter
des revolutionären russischen Komitees ausgab. Er wurde von Bakunin (Brief vom 12. Januar)
nach Locarno eingeladen. Er begab sich dorthin und fand Bakunin mit der Übersetzung eines
Buches von Marx beschäftigt vor. Er drängte ihn dazu diese Arbeit aufzugeben, um sich
vollständig der revolutionären Propaganda in Russland zu widmen. Es handelte sich darum
jemanden zu finden, der für den Rest des vereinbarten Preises die Übersetzung an der Stelle
Bakunins beenden würde. Joukovsky, der über Nechaevs Projekt auf dem Laufenden gehalten
wurde, schlug vor, sich mit ein paar Freunden, um die Fertigstellung der Übersetzung zu
kümmern, zu der Bedingung, dass Bakunin die Arbeit durchsehen würde; aber dieses Angebot
wurde nicht angenommen. Bakunin verliess sich auf die Zusage Nechaevs, sich um die
Angelegenheit zu kümmern und beschäftigte sich nunmehr mit der russischen Propaganda und
wollte von der Übersetzung nichts mehr hören. Nun missbrauchte Nechaev das Vertrauen
Bakunins auf unwürdge Weise, ohne sein Wissen schrieb er dem Verleger Poliakov einen Brief,
im Namen des revolutionären russischen Komitees, er kündete die Dienstverpflichtung Bakunins
durch das Kommitee an und dass dieser infolgedessen die begonnene Arbeit nicht beenden
würde. Angeblich fügte er eine Drohung an, für den Fall, dass Poliakoff sich beschweren sollte.
Davor hatte er seinen Verleger, Edmond Buchet, wie folgt gewarnt: ‘Wie Sie sich denken können,
bin ich radikal gegen alle Literaturpreise. Teilen Sie das also bitte den betreffenden Personen
mit, damit sie diesen Fehlgriff vermeiden. Ich muss sogar zugeben, dass ich, sollte ein so
bedauernswerter Fall eintreten, vermutlich nicht imstande wäre, die jüngeren Situationisten von
Tätlichkeiten abzuhalten: sie würden bestimmt die Preisrichter angreifen, die eine solche, von
ihnen als eine Beleidigung empfundene Auszeichnung, verleihen.
Die gesamte russische Emigration konzentrierte sich damals, mit ganz geringen Ausnahmen, in
und um Genf. Zahlenmässig war sie sehr unbedeutend: zehn bis zwölf Personen; dafür gehörten
aber Männer wie Bakunin und Ogarev dazu (Herzen war im Januar 1870 gestorben). Bakunin
lebte in Locarno. Die Emigration war in zwei Fraktionen geteilt: die grössere unter der Führung
Bakunins bestand aus Ogarev, Zukovskij, Ozerov, Zemanov, Elpidin Mroczkowski und Mecnikov;
31
die andere aus Utin, Trusov, der Levaseva und einer anderen Frau, deren Namen ich vergessen
habe. Zur ersten Gruppe gehörte auch Nechaev.
Trotz dieser späten Stunde war Bakunin noch nicht im Bett, sondern lag auf demselben in seiner
ganzen ungeheuren Länge ausgestreckt, Tabak rauchend, wie aus einer Röhre. Im Zimmer
herrschte schreckliche Unordnung. Der Fussboden bedeckt mit Asche und Zigarettenenden. Der
Kamin rauchte etwas. Auf den ohne Symmetrie herumstehenden Stühlen und dem Tisch lagen
Bücher und Papiere.
Um 11 Uhr war das Frühstück in einem kleinen Speisesaal bereit, nach Bakunin's Geschmack
zubereitet. Bakunin begann auf seine Art Café zu machen. Mit verschiedenem Übergiessen, von
einem Geschirr zum anderen, nach unbekannten Gesetzen der Physik machte sein Apparat
Lärm, athmete, brachte verschiedenartiges Geräusch hervor. Dies unterhielt augenscheinlich
den Experimentator, obgleich der Café sehr schlecht wurde, - aber Wehe dem, der ihn kritisieren
würde oder nur ein Gesicht schnitte beim Anblick einer solchen Art der Cafézubereitung.
Bakunin liess dann seine gröbsten Injurien los.
Während dieser Operation machte Bakunin selbst Lärm durch Athmen und begleitete seinen
Apparat mit Tönen. -"Da ist eine Schale für Dich, trinke; willst du mit oder ohne Rum? Ich selbst
trinke ohne Zugabe .. Und ich werde Dir meine Tageseintheilung angeben, wie du Dich
benehmen musst. Wisse ein für allemal, dass ich Dich um 11 Uhr morgens, wie jetzt zum Essen
rufe. Um 12 1/2 gehen wir mit Zajcev und anderen in die verschiedenen Cafés, die Zeitungen zu
lesen, Punsch zu trinken, zu plauschen und spazierengehen, bis 4 Uhr. Dann gehe ich bis 8 Uhr
Abends schlafen. Ich trinke Thee oder Selter, gehe zu jemand, bis 10 Uhr. Dann die ganze Nacht,
wie gestern, angekleidet bis 5 Uhr morgens, schreibe ich Briefe."
Früh im Januar 1870, reiste er also nach Locarno in der italienischen Schweiz, wo Bakunin zu
hause war und er blieb dort eine Weile bei seinem Lehrer. Zu der Zeit war Bakunin praktisch
mittellos. Um den Wolf von seiner Türe fernzuhalten, hatte er begonnen "das Kapital" von Karl
Marx ins Russische zu übersetzen, das 1867 erschienen war. Der russische Verleger hatte ihm
300 Rubel im voraus bezahlt, zu der Zeit eine ansehnliche Summe. Der alte Rebell war mit
seiner Aufgabe nicht sehr zufrieden, wenn man bedenkt, was für Schwierigkeiten selbst
professionelle Marxschüler haben, die "ökonomische Metaphysik", wie er das Monumentalwerk
seines Rivalen nannte, auch nur zu lesen. Der junge Mann hielt dem entgegen, dass sein Lehrer
seine Zeit verschwende, Zeit welche Bakunin, wie er glaubte, ausschliesslich der im Entstehen
begriffenen Revolutionären Bewegung schuldete.
Was folgte war der verantwortungslose Scherz eines skrupellosen jungen Mannes der sich
jenseits von Gut und Böse glaubte. Nachdem er Bakunin vage angeboten hatte, sich um die
Angelegenheit zu kümmern, schrieb er dem russischen Studenten einer deutschen Universität,
der als Mittelsmann zwischen dem St. Petersburger Verleger und dem Übersetzer agierte, einen
Drohbrief. Der Brief ohne Unterschrift trug den Briefkopf des "Komitees für die Volksrache".
Bakunin - das ist mittlerweile die allgemeine Meinung, nicht nur der anarchistischen, aber auch
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der unvoreingenommen marxistischen Historiker - hatte mit der Angelegenheit nichts zu tun.
Er versprach ihm die finanzielle Unterstützung durch das "Komitee", an dessen Bestehen
Bakunin zu der Zeit vermutlich noch glaubte. Ausserdem war ein ebenso gerechter wie
inexistenter russischer Adliger kurz davor sein Vermögen zu veräussern, um den vollständigen
Ertrag dem "Komitee" zu überweisen.
Aber in der Zwischenzeit war echtes Geld dringend nötig geworden, sowohl für die Sache, wie
auch um Körper und Seele zusammenzuhalten. Da waren noch die restlichen 10'000 Franken
aus dem Bakhmetiev-Fonds, immer noch im Besitz von Alexander Herzen. Aber dieser
enttäuschte alte Liberale stand nicht mehr in besonders freundlicher Beziehung zu Bakunin.
Noch hatte er die geringste Absicht den Tigrënnik zu treffen, der ihn nun eher mit Schrecken als
mit Bewunderung erfüllte.
Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass Alexander Herzen bereits ein wohlhabender
Mann war, als er im Frühjahr 1847 in Europa angekommen ist. 1841 erhielt er von seinem Vater
ein Landgut im Chukhloma Bezirk der Provinz Kostroma. Das Gut war ansehnlich, wenn man
bedenkt, dass das Dorf Lepekhino allein von 229 männlichen Leibeigenen bewohnt wurde. Als
sein Vater Ivan Alekseevich Iakovlev am 6. Mai 1846 starb, erbte Herzen ein drittel des Kapitals
des Vaters, ca. 100'000 Silberrubel. Wir sollten nicht vergessen, dass Herzen Besitzer von
Leibeigenen war, darauf erpicht, dass diese ihren Zehnten ablieferten. Er schrieb Kliuchariov, als
er Italien im November 1847 bereiste, sich um den Geldfluss zu kümmern, den er für seine
ausgedehnten Reisen benötigte, "andernfalls solle es dieser auf sich nehmen seine Leibeigenen
daran zu erinnern.".
Ein Teil seines Vermögens wurde vom Erlös aus dem Verkauf der Ländereien und den
dazugehörenden Leibeigenen gebildet.
Als Herzen im Frühling 1870 endlich verstarb, was nur noch H.M. Enzensberger zu bedauern
scheint, rückte seine Familie unter dem Druck von Bakunin und Ogarev das restliche Geld aus
dem Bakhmetiev-Fonds an Nechaev heraus (nicht jedoch die Zinsen, der Fonds ist zu 5%
angelegt worden). Das war jedoch nicht der Gipfel des Ehrgeizes des jungen Mannes.
Das literarische Talent Ogarevs, die theoretische Mitarbeit und der heroische Ruf Bakunins
mussten mit der regelmässigen Unterstützung eines "Engels", der für mehr sorgte als nur ein
paar tausend Franken, ergänzt werden. Für diese Rolle war Alexander Herzens Tochter
vorgesehen. Natalie Herzen ("Tata") war eine hochemotionale, hysterische Type, durchdrungen
von einer tiefen Ehrfurcht für die Erinnerung an ihren Vater - Vaterfixation, wie der moderne
Begriff lautet.
Sie unterschied sich in diesem Punkt vom Rest ihrer Familie, welche vollständig bourgeois
geworden war. Der Kuppler, der das Treffen zwischen den beiden jungen Menschen arrangierte,
war in diesem Falle Bakunin. Natalie brauchte eine "Sache" für die sie arbeiten konnte, um ein
Betätigungsfeld für ihren depressiven Zustand zu schaffen. Bakunin versuchte sie zu überreden,
der "Organisation" seines jungen Anhängers beizutreten. Vielleicht roch sie den Braten und
33
vermutete, dass die beiden vor allem an ihrem Geld interessiert waren. Nichtsdestotrotz war sie
offensichtlich von der heroischen Aura fasziniert, die der junge Gesetzlose verströmte und fühlte
sich zu ihm angezogen.
Liebe Tata
,(Ohne Datum)
(Eingang) 26. Mai 1870
"es fällt mir immer schwerer, dir zu schreiben, aber trotzdem tue ich es gern. Du weisst sehr
wohl, warum ich nicht um die Sache herumreden kann, warum ich meine Gedanken nicht vor
dir verbergen kann und warum es mir unmöglich ist, die Inbrunst (oder Grobheit, wie du es
nennst) zu bezähmen, die direkt aus meinem Herzen kommt. Meine Gedanken über dich und
meine Vorstellungen von dir sind jedoch so häufig völlig anders als du wirklich bist; sie
passen nicht zu den Gewohnheiten, die du nie abzulegen oder irgendwie abzuschütteln
versucht hast. Kurz, meine offenen, geraden Worte sind oft als Tadel gemeint, als Kritik an
deiner Unentschlossenheit, deiner Schwäche, deinem Zögern und einigen anderen
Eigenschaften, die du einmal deinen eigenen Worten nach bekämpfen wolltest. Deshalb hast
du meine Worte oft als unangenehm empfunden, aber ich habe trotzdem nicht geschwiegen
und werde auch in Zukunft sprechen. Auch in diesem Brief wirst du keine Komplimente
finden.
In den ersten Tagen nach unserer Begegnung brachtest du Unzufriedenheit mit deinem
sinnlosen Leben zum Ausdruck; gleichzeitig waren dir die Gründe dafür jedoch nicht ganz
fremd. Sinnlos ist das Leben dann, wenn es kein Ziel hat, wenn jemand weiss, dass seine
Existenz für alle überflüssig ist, ausser für Leute der selben trivialen Art, wenn jemand so
wenig Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten hat, dass er es nicht schafft, sich für
einen aktiven Schritt aus eigener Initiative heraus zu entscheiden und stattdessen wartet, bis
das Schicksal (das ist der dümmste aller Begriffe) ihm irgendwann einen Anstoss gibt. Und
tatsächlich werden solche Menschen vom Schicksal gebeutelt, und zwar in Gestalt von Vätern
und Müttern und den verschiedensten Schutzengeln und Bevormundern, wie z.B. ...
Solange sich jemand nur in einer solchen Umgebung aufhält, empfindet er kaum
Unzufriedenheit. Er ist eine leblose Hülle und kann daher ganz ruhig sein, denn Unfreiheit und
Sklaverei stören ihn nicht. Aber sobald er anderen Menschen begegnet, sobald er die
Unabhängigkeit eines anderen wahrnimmt, hat sein beschauliches und zufriedenes Dasein
ein Ende. Dann muss er sich entweder mit kühnem Schwung aus dem Sumpf befreien oder
bewusst immer tiefer darin versinken, bis er sich immer mehr selbst verachtet, sein
Denkvermögen nachlässt und der Mensch allmählich das Dasein einer Pflanze führt"
Nechaev und Bakunin nahmen die Idee wieder auf, die seit der Zeit Ishutin's in der Luft lag und
druckten und verbreiteten zwei Manifeste, die sich an den Adel richteten.
Der Ausgang dieser Freundschaft war die Wiederaufnahme der "Kolokol" (Glocke), der einst
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berühmten Publikation, welche in der russischen Geschichte untrennbar mit dem Namen
Alexander Herzen verbunden ist. Seine Tochter nutzte die Tatsache vollständig aus, dass sie die
Mittel zur Herausgabe der Zeitung lieferte. In den sechs Nummern der "Kolokol", die Nechaev in
Gang setzte, sucht man vergebens den feurigen Anarchismus des Tigrënnik. Es muss nicht
speziell erwähnt werden, dass die zur Schau gestellte Mässigung des jungen Machiavellis von
der Absicht geleitet war, das Herz und das Vermögen des Mädchens fester in seinen Griff zu
bekommen.
Sogar bevor er das Unternehmen in rosa Journalismus aufnahm, hatte Nechaev die Gelegenheit
seine unglaubliche Indifferenz gegenüber jeglicher Art politischer Prinzipien oder irgendwelcher
Konsistenz zu zeigen.
In der Zwischenzeit verlangte die zaristische Regierung die Auslieferung Nechaevs als
gewöhnlichem Verbrecher und die schweizerische Regierung war bereit ihr diesen Gefallen zu
tun. Einmal, als er in Genf in Gesellschaft eines anderen Russen spazierte, entkam er knapp
einer Verhaftung, weil die Polizei sich irrtümlicherweise auf den anderen Mann stürzte, was
Nechaev die Flucht ermöglichte.
Während die russischen und schweizer Behörden den jungen Gesetzlosen jagten, fand ein
bitterer Familienstreit zwischen dem Meister und seinem Schüler statt. Nechaev beendete die
Freundschaft in einer wahrlich nechaevschen Art und Weise. Er stahl eine Schachtel, die
Bakunins internationale Korrespondenz enthielt. Nechaev hatte in seinem Besitz auch ein paar
intime Briefe von Natalie Herzen. Diese wollte er nun als Knüppel gegen seine ehemaligen
Freunde einsetzen.
Am Sonntag dem 27. Februar fand in Lausanne im Hotel des Trois-rois eine grosse Veranstaltung
statt, die von der dortigen Sektion organisiert wurde, sie hatte zum Zweck die Lausanner
Arbeiter unter die Fahne der Internationalen zurückzuholen, die von den meisten von ihnen
verlassen worden war.
Perron nutzte die Gelegenheit, die sich durch die Versammlung in Lausanne bot, um "die
warmen Sympathien des Publikums zu Gunsten eines russischen Sozialisten, Nechav, dessen
Auslieferung die russische Regierung vom Bundesrat forderte, zu wecken. Man habe in
verschiedenen Zeitungen detaillierte Berichte dieser Infamie lesen können, der sich die
schweizer Behörden anschliessen könnten.
Am Ende seines Besuches bei Bakunin in Locarno, hat mich Nechaev in Neuchatel besucht. Er
erklärte mir, dass ihn die russische Polizei eines gemeinen Verbrechens beschuldigte (den Mord
am Studenten Ivanov), er werde als Mörder und Fälscher verfolgt und die schweizer Regierung
sei ersucht worden, ihn auszuliefern. Er gab mir eine Nummer der Zeitung, die seiner Angabe
gemäss in St. Petersburg klandestin von der Geheimgesellschaft "Narodnaia Rasprava"
(Volksrache) gedruckt geworden sei. Darin wurde behauptet, Nechaev sei von Polizisten auf
Befehl des Grafen Mesentsof, Chef der "dritten Abteilung", in einem Dorf auf der grossen Strasse
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nach Sibiren erwürgt worden und er bat mich darum, eine Übersetzung des Berichtes zu
veröffentlichen; es handelte sich dabei um eine Finte, um die helvetische Polizei von seiner Spur
abzubringen. Ich zögerte nicht seinem Wunsch nachzukommen, und "Le Progrès" veröffentlchte
in der Ausgabe vom 5. Februar, unter dem Titel "die Ereignisse in Russland" einen langen Artikel,
den ich ihm schickte. Zwei Wochen später (in der Nummer vom 19 Februar), fügte der Progrès
einen Artikel von Bakunin dazu, der nicht unterschrieben war, mit dem Titel "Die schweizer
Polizei", der an die Heldentaten der wadtländer, tessiner und genfer Polizei in Bezug auf Frau
Obolensky, Mazzini oder Bulewski erinnerte und der gegen die Lügen des "Bären von St.
Petersburg" protestierte, die die politischen Flüchtlinge als gewöhnliche Verbrecher darstellten.
"Hast Du in Nummer 8 des Progrès Netschajef's Brief gelesen? Er existiert also wirklich, und
sonderbar ist es, dass dieser Brief in eben derselben Nummer veröffentlicht ist, in welcher ich
meinen Zweifel an seine Existenz äussere. Sage mir doch endlich die Wahrheit, ob Du ihn
kennst? Wie dem auch sei, diese Nummer muss unbedingt verbreitet und mein Artikel nebst
diesem Brief in allen möglichen schweizer, deutschen und französischen Journalen abgedruckt
werden. Darüber eben schreibe ich an Perron. Er soll zu Becker gehen und sich mit ihm über
die deutsche Propaganda besprechen. Du aber, lieber Freund, nimm diese Nummer und
schicke sie klug und vorsichtig an die beiden Natalien nach Paris, und zwar doppelt auf zwei
verschiedenen Wegen: in einem geschlossenen Couvert und unter anderen russischen
Zeitungen per Kreuzband und verlange von ihnen, dass sie die beiden Artikel:
1. La Police Suisse,
2. Netschajeffs Brief
unverzüglich durch ihre Bekannten Reclus, Rey, Robin u. a. in allen Pariser Journalen, wo dies
nur möglich ist (im 'Siècle', 'Réveil','Démocrat', 'Rappels', 'Avenir', 'National' etc. etc.)
abdrucken lassen.
Schicke gleichzeitig Talandier ein Exemplar und schreibe ihm und bitte ihn eindringlich, im
Namen der alten Freundschaft, er möge keine Mühe scheuen, damit Brief und Artikel in den
englischen Journalen abgedruckt werden. Tue dies alles, ohne einen Augenblick zu
verlieren .... Hier Talandiers Adresse..."
Der Genfer „Vorbote“ vom Februar 1870 teilte mit:
“Die russische Polizei hat den politischer Verbrechen beschuldigten Studenten Netschajeff,
der auf dem Transport nach Sibirien seinen Peinigern entsprungen, der europäischen
Polizeigevatterschaft als gemeinen Verbrecher signalisiert. Es ist allerdings ein entsetzlich
gemeines Verbrechen, seinen Henkern zu entrinnen; aber gerade deshalb, weil der
unverschämt kecke Bursche ein politischer Verbrecher ist und die Polizei den gemeinen
Verbrecher zum Vorwande hat, sind alle besoldeten Jagdhunde Europas zu dessen Verfolgung
auf den Beinen. Werden sich die schweizerischen Polizeibehörden auch solidarisch machen
für die Verbrecherfabrikation der russischen Grausamkeitsregierung?“
Bakunins bereits erwähnter Artikel »La police suisse« im »Progrès« vom 19. Februar 1870
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bemerkte, es scheine, dass die Polizei von ganz Europa im Dienste der russischen Regierung
stehe. Angeblich handle es sich um die Verfolgung und Auslieferung von gemeinen Mördern und
Fälschern. Die demokratischen und liberalen Behörden der Schweiz, welche die Fürstin
Obolenska brutalisiert und den berühmten Mazzini ausgewiesen hätten, verfolgen eifrig Russen
und Polen, die ihnen signalisiert werden. Die Genfer Polizei habe bei dem polnischen Emigranten
Bulewski eine Haussuchung gehalten unter dem Vorwande, nach gefälschten russischen
Banknoten zu suchen. Vor allem aber forschen die schweizerischen Behörden, dem Grossmeister
von Petersburg zuliebe, gierig nach einem gewissen Netschajeff, der wie eine mystische Person
erscheine und von dem fast alle europäischen Zeitungen sprechen.
Netschajeff sei ein Verschwörer, folglich weder Brigant noch Dieb. "Pourquoi donc le faire
rechercher à titre d'assassin et de voleur? Mais il a assassiné, dit-on. Qui le dit? Le
gouvernement russe. Mais ne faut-il pas être bien naïf vraiment pour ajouter foi à ce que dit le
gouvernement russe, ou bien pervers pour se donner l'air d'y ajouter foi?"
Am 5. März 1870 teilte der »Progrès« mit, vor einiger Zeit habe der Genfer Staatsrat und
Polizeidirektor Camperio den in Genf lebenden russischen Emigranten Ogarev, einen Freund und
Mitarbeiter von Herzen, in sein Bureau kommen lassen, wo er ihm nachstehende Eröffnung
gemacht habe:
»On m'apprend que Netschajeff est caché chez vous. Si J'ai un conseil à vous donner, c'est de lui
faire quitter Genève au plus vite, parce que la police va se mettre à sa recherche.«
(„Man teilt mir mit, dass sich Nechaev bei ihnen versteckt hält. Falls ich ihnen eine Rat zu geben
habe, dann ist es, ihn schnellst möglich Genf aus Genf fortzuschaffen, weil die Polizei sich auf
seine Suche machen wird“)
Der "Progrès" fügte hinzu, die Darstellung sei absolut authentisch. Camperio befinde sich in
einem Dilemma, aus dem er sich schwerlich herauswinden könne. Entweder wusste er, dass
Netschajeff ein gemeiner Mörder sei, dann habe er sich zu seinem Mitschuldigen gemacht, weil
er ihn freundlich vor der russischen Polizei warnte; oder aber es war ihm bekannt, dass
Netschajeff ein politischer Verbrecher sei, dann habe sich Camperio. indem er nicht feierlich
gegen die ungeheuerliche Zumutung der Auslieferung eines Proskribierten an seine Henker
protestierte. zum Komplizen der Petersburger Polizeispione gemacht.
Desweiteren wurde ein Brief veröffenlicht, von Nechaev unterschrieben und vermutlich von
Bakunin redigiert. Er erschien auch in "la Marseillaise" von Paris, in "L'Internationale" von
Brüssel und im "Volksstaat" in Leibzig. Schliesslich erschien in der Nummer vom 5. März des
Progrès, ein Artikel, mit dem Titel: "Die Affäre Nechaev", in dem neue Einzelheiten veröffentlicht
wurden. Unter anderem ein Auszug eines Briefes den Bakunin (nicht unterschrieben) mir am 1.
März von Locarno geschrieben hatte, in dem die Ankunft eines Kommissars in dieser Stadt
erwähnt wurde, der ihn mit einem Befehl Nechaev zu verhaften, aufsuchte. Zu diesem Zeitpunkt
befand sich Nechaev in Sicherheit: Wir hatten ihm einen Unterschlupf in Le Locle besorgt, bei
netten Leuten, die, ohne von den unseren zu sein, einem Geächteten diese Gefälligkeit gerne
erwiesen.
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Brief an den Volksstaat (Anhang)
Ich muss noch einmal auf die Russischen Verhältnisse zurückkommen. Um 1857 hatte ein
russischer Sozialist, Bakhmetiev eine Depot in die Hände von Herzen und Ogarev gelegt, eine
Summe von 25'000 Franken, um es für revolutionäre Propaganda und Aktion in Russland zu
verwenden. Ein Teil dieses Geldes war bereits 1869 an Nechaev ausgezahlt worden. Durch den
Tod Herzens verblieb Ogarev als alleiniger Verwalter des " Bakhmetiev Fonds"; Bakunin ersuchte
seinen alten Freund den restlichen Betrag in seiner Gesamtheit dem russischen revolutionären
Komitee, das durch Nechaev vertreten wurde, zur Verfügung zu stellen. Bakunin sah vor, ein
russisches Informationsbüro einzurichten, das die Aufgabe gehabt hätte, Neuigkeiten aus
Russland in der Bevölkerung zu verbreiten. Die Briefe von Bakunin an Ogarev, in der
Korrespondenz veröffentlicht, enthalten zu diesem Thema viele Einzelheiten. Man sieht, dass
Bakunin daran dachte, sich in Zürich mit Ogarev niederzulassen und diese Stadt zum Zentrum
der russischen Propaganda zu machen. In seinem Brief vom 21 Februar 1870 schreibt er ihm:
"Man wird nach Zürich emigrieren müssen. Es ist mir absolut unmöglich mich in Genf
einzurichten, du weisst es und verstehst dies selbst... Es sieht aus, als würde sich meine
Angelegenheit mit Boy (Nechaev) und Co. regeln.
"Ich habe ihnen offen die Bedingungen dargelegt, unter denen ich mich dieser Sache
hingeben könnte. Ich habe in mir jede falsche Scham abgelegt, und ich habe ihnen alles
gesagt, was ich sagen musste. Sie wären dumm, wenn sie den Bedingungen nicht zustimmen
würden, die ich gestellt habe. Und wenn sie nicht die Mittel finden, diese zu befriedigen,
würden sie den Beweis ihrer Unfähigkeit und Ohnmacht erbringen."
Zwei Wochen später beschliesst er, eine Reise nach Genf zu unternehmen, wozu er sich
vierundzwanzig Franken von Emilio Bellerio, einem jungen Tessiner, auslieh.
Joukovsky nahm Nechaev nicht ernst, und hat mir heftige Vorwürfe gemacht, im Progres den
übersetzten Artikel der No.2 der "Veröffentlichungen der Gesellschaft der Volksjustiz"
herausgegeben zu haben: Er sagte der Artikel könne nichts anderes sein als ein Roman.
Währenddessen schloss sich in Genf der Streik der Maler-Gipser dem Streik der Ziegelmacher
an, der eine grosse Unruhe in der ganzen Stadt auslöste. Die Maler-Gipser, die seit zwei Jahren
einen neuen Tarif forderten, hatten beschlossen die Arbeit niederzulegen. Die Patrons, dadurch
alarmiert, liessen Plakate aufhängen, die die Regierung aufforderten "die von der
Internationalen Geführten" zu unterdrücken und die ausländischen Arbeiter des Landes zu
verweisen. Mit der Einberufung einer Arbeiterversammlung, die ausschliesslich Schweizern
offenstand, wurde auf diesen patronalen Vorstoss geantwortet. Am 7. Juni versammelten sich
5'000 und protestierten einstimmig "gegen die Provokation bezüglich der Auflösung der
Internationalen und gegen die Ausschaffungsdrohung an die Ausländer". Diese mächtige
Demonstration gab der Bourgeoisie und der Kantonsregierung zu denken, und der Kantonsrat
wagte nicht dem Befehl folge zu leisten.
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Ich habe nun über Bakunin und Nechaev gesprochen, und über die Umstände, die zu ihrem
Bruch geführt haben. Diese Umstände sind der Geschichte der Internationalen vollständig
fremd, aber da ich bis zu einem gewissen Punkt persönlich darin verwickelt war, muss ich sie
erwähnen.
Während Bakunins Aufenthalt in Genf hatte die genfer Polizei einen jungen russischen
Studenten, Semen Serebrenikof, festgenommen (9. Mai), den sie für Nechaev hielt. Serebrenikof
wurde nach einigen Tagen freigelassen (20. Mai); aber mit dieser Verhaftung stellte sich die
Frage, ob die schweizer Regierung fähig sei, Nechaev an Russland auszuliefern, im Falle, dass er
Tatsächlich verhaftet werden sollte. Von persönlichen Freunden von Bern, Adolf Vogt und Adolf
Reichelt, vernahm Bakunin, dass ein Mitglied des Bundesrat erklärt hatte, dass die hevetische
Regierung einer Ausschaffung Netchaevs nicht zustimmen würde, aber dass sie die genfer
Regierung nicht daran hindern könnte, dies zu tun, falls sie dies in Betracht ziehen sollten. In der
Folge, schrieb Bakunin von Bern seinen Freunden (26. Mai) in Genf, soviel Werbung wie möglich
für seine Broschüre, "Der Bär von St. Petersburg und die Bären von Bern", zu machen. Sie
erschien anfangs Mai. Im "Journal de Genève" wurde ein Bericht über die Verhaftung
Srebrenikofs veröffentlicht, die von ihm verfasst worden war. Eine Protestnote wurde von der
russischen Emigration unterschrieben und dem Bundesrat zugestellt. Man sieht in der
herausgegebenen Korrespondenz von Bakunin eine weitere Frage, die behandelt wurde: Es ging
darum herauszufinden, ob das revolutionäre Kommitee, das Nechaev vertrat, das sich jetzt im
Besitze des Bakhmetiev Fonds befand, Bakunin regelmässige Mittel der Existenzsicherung
zusichern würde, indem sie ihn als Schriftsteller und Journalisten anbindete. Es gab bereits ein
Hin und Her zwischen Nechaev und Bakunin.
Wir haben soeben gesehen, dass es ab Mai Spannungen zwischen Nechaev und Bakunin
gegeben hatte, und dass am 14. Juni der Bruch unausweichlich war. Er vollzog sich Mitte Juli.
Nach und nach wurde aufgedeckt, dass Nechaev, um die Diktatur zu errichten, die er ausüben
wollte, allerlei jesuitische Manöver unternahm, Lügen, Diebstahl von Papieren, etc. Eines
schönen Tages wurde eine entschiedene Erklärung von ihm verlangt, wonach er Genf überstürzt
verliess, wobei er eine ganze Sammlung von Papieren mitnahm die er Bakunin und anderen
russischen Emigranten entwendet hatte.
Ich lasse Bakunin die Angelegenheit selbst erzählen (Brief an seinen Freunden Talandier, am 24.
Juli 1870 in Neuchatel in Französisch geschrieben, zum Zeitpunkt als er die Mitteilung erhielt,
Nechaev habe sich bei Talandier in London vorgestellt und dass dieser ihn, uninformiert wie er
war, als einen Freunden empfangen habe.)
„Es bleibt vollkommen wahr, dass N. der durch die russische Regierung am meisten verfolgte
Mensch bleibt... Es ist ebenfalls wahr, dass N. einer der aktivsten und energischsten
Menschen ist, die ich je kennengelernt habe. Wenn es sich darum handelt, dem zu dienen,
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was er die Sache nennt, zögert er nicht und macht vor nichts halt und zeigt sich
unbarmherzig, gegenüber sich und anderen. Das ist die die wesentliche Eigenschaft, die mich
angezogen hat, und mich lange dazu bewog ein Bündnis mit ihm zu suchen. Es gibt Personen
die so tun als wäre er einfach ein Ritter der Industrie: das ist eine Lüge. Er ist ein ergebener
Fanatiker, sehr gefährlich, mit dem ein Bündnis für alle Beteiligten verhängnisvoll wäre. Aus
den folgenden Gründen. Er war zuerst Teil eines geheimen Komitees, das in Russland
bestand. Dieses Komitee gibt es nicht mehr, alle seine Mitglieder sind verhaftet worden. N.
bleibt der einzige, und er alleine bildet heute, das was er das Komitee nennt. Die russische
Organisation wurde dezimiert, er bemüht sich im Ausland eine neue zu gründen. All dies
schien vollkommen natürlich, legitim und sehr nützlich, - aber die Art und Weise, wie er die
Sache angeht ist verachtenswert. Die Katastrophe, die zur Zerstörung der
Geheimgesellschaft in Russland führte hat bei ihm einen lebendigen Eindruck hinterlassen. Er
ist mittlerweile davon überzeugt, dass es nötig ist, die Politik Machiavellis und das System
der Jesuiten anzunehmen, um eine ernsthafte und unzerstörbare Gesellschaft zu gründen. -
Gift für den Körper, die Lüge für die Seele. Wahrheit, gegenseitiges Vertrauen, ernste und
strenge Solidarität bestehen nur zwischen einem Dutzend Individuen, die den Kern der
Gesellschaft bilden. Alle anderen sollen als blinde Instrumente dienen, als ausbeutbare
Masse in den Händen diese Dutzends von Männern, die sich tatsächlich solidarisieren. Es ist
erlaubt und sogar vorgeschrieben die andern zu täuschen, sie zu kompromittieren, sie zu
bestehlen und nötigenfalls auch zu verlieren, - sie sind Kanonenfutter für die Verschwörung...
Die Sympathien lauer Menschen, die der revolutionären Sache nur teilweise ergeben sind
und die ausser dieser Sache noch andere menschliche Interessen haben, wie Liebe,
Freundschaft, Familie, soziale Beziehungen. Diese Zuneigung bilden in seinen Augen keine
hinreichende Basis, und im Namen der Sache muss er sich Ihrer ganzen Persönlichkeit
bemächtigen, ohne Ihr Wissen. Um sein Ziel zu erreichen wird er sie ausspionieren und sich
zur Aufgabe machen, und sich all Ihre Geheimnisse aneignen. Und dazu wird er, in Ihrer
Abwesenheit, alleine in ihrem Zimmer bleiben, er wird alle Schubladen öffnen, wird Ihre
Korrespondenz lesen und falls ihm ein Brief interessant erscheint, das heisst
kompromittierend für Sie oder für einen Ihrer Freunde, wird er ihn stehlen und ihn sorgfälltig
als Dokument gegen Sie oder Ihren Freund aufbewahren. Er hat dies mit Ogarev und Tata
(Nathalie Herzen) und anderen Freunden gemacht. Und als wir ihn in einer Vollversammlung
zur Rede stellten, wagte er uns zu sagen: "Nun ja, das ist unser System. Wir betrachten alle
Personen, die nicht vollständig mit uns sind, als Feinde und haben die Aufgabe alle zu
täuschen, zu kompromittieren." Das heisst all diejenigen, die mit diesem System nicht
einverstanden sind und die nicht versprochen haben es anzuwenden. Falls Sie ihn einem
Freunden vorstellen, wird seine erste Sorge sein, Misstrauen zwischen ihnen zu sähen,
Gerüchte zu verbreiten, Intrigen, in einem Wort, Verwirrung zu stiften. Hat ihr Freund eine
Frau oder eine Tochter, so wird er versuchen diese zu verführen, ihr ein Kind zu machen, um
sie der offiziellen Moral zu entreissen und sie in eine revolutionäre Empörung gegen die
Gesellschaft zu versetzen. Rufen sie nicht Übertreibung, all dies wurde mir hinreichend
dargelegt und bewiesen. Als er erkannte, demaskiert worden zu sein, war er noch so naiv, so
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kindlich, trotz seiner systematischen Perversion, dass er es für möglich hielt mich zu
konvertieren. Er ging sogar soweit, mich zu bitten, diese Theorie in einer russischen Zeitung
zu entwickeln, die er herausgeben wollte. Er hat mein und unser aller Vertrauen missbraucht,
er hat Briefe gestohlen uns sich grauenhaft, wie ein Elender benommen. Die einzige
Entschuldigung ist sein Fanatismus. Er ist schrecklich ehrgeizig, ohne dies zu wissen und
identifizierte zum Schluss seine Person vollständig mit der Sache der Revolution. Aber er ist
kein Egoist im banalen Sinne des Wortes, weil er seine Person einem grossen Risiko aussetzt
und das Leben eines Märtyrers führt, voller Entbehrungen und einer unglaublichen Arbeit. Er
ist ein Fanatiker und der Fanatismus führt ihn dazu ein vollendeter Jesuit zu sein; zeitweise
ist er einfach nur dumm. Die meisten seiner Lügen sind mit weissem Faden genäht... Trotz
dieser relativen Naivität ist er sehr gefährlich, weil er täglich Handlungen begeht,
Vertrauensbrüche, Verrate gegen die es umso schwieriger ist, sich zu schützen, weil man sie
nicht für möglich hält. N. ist eine Kraft, eine immense Energie. Ich habe mich nur mit grossen
Schwierigkeiten von ihm getrennt, weil sein Dienst an unserer Sache viel Energie verlangt
und weil man sie selten bis zu diesem Punkt entwickelt findet. Aber nachdem ich alle Mittel
aufgebraucht hatte, ihn zu überzeugen, musste ich mich von ihm trennen und als die
Trennung vollzogen war, musste ich ihn aufs Äusserste bekämpfen...
Sein Genosse Srebrenikof ist ein durchtriebener Spitzbube und Lügner, ohne Entschuldigung,
ohne die Gunst des Fanatismus.“
Das ist es, was ich zur Zeit über diese Geschichte weiss. Seit Februar lebte Nechaev vesteckt,
einmal in der Nähe von Le Locle einmal in Genf. Ich erinnere mich, dass er eines Tages bei mir in
Neuchatel ankam, um zehn Uhr abends, und mir, zum Entsetzen meiner Frau, erklärte, dass die
Polizei auf seinen Fersen sei, und dass ich ihm für die Nacht Asyl gewähren sollte. Er verbrachte
die Nacht, ohne Wissen der Haushälterin oder der anderen Mieter des Hauses, in einer Kammer,
von der mir der Eigentümer den Schlüssel anvertraut hatte. Er zog am frühen Morgen weiter.
Anfangs Juli, als Bakunin in Genf war, erhielt ich eine Mitteilung von Nechaev, der mir
ankündete, dass er mir einen Koffer, der ihm gehöre, schicken würde und in der er mich bat
diesen ein paar Tage aufzubewahren. Der Koffer traf ein und ich habe ihn sicher aufbewahrt.
Bald darauf sah ich Nechaev ankommen, begleitet von einem jungen italienischen Arbeiter,
einem grossen Jungen, der milde und kindlich wirkte, den er zu einer Art Diener gemacht hatte,
Nechaev erzählte mir, dass er nach England abreise, und dass einer seiner Freunde vorbeikäme,
um den Koffer zu holen. Tatsächlich traf am nächsten Tag ein düsterer kleiner Mann ein, um im
Auftrag Nechaevs den Koffer abzuholen, dieser nannte sich Sallier und war in Wirklichkeit
Vladimir Serebrenikof , von dem im Brief Bakunins die Rede ist (nicht zu verwechseln mit Semen
Serebrenikof). Ich habe ihm den Koffer ohne Weiteres ausgehändigt. Aber bereits zwei Tage
später klingelten zwei Männer an meiner Haustüre, ich öffnete, es waren Ozerof und - welche
Überraschung - der junge italienische Arbeiter, dessen Name ich vergessen habe. Ozerof fragte
mich wo der Koffer sei. Ich antwortete, dass Sallier ihn mitgenommen habe. Ozerof und der
Italiener hoben die Arme und schrien: "Zu spät". Sie erklärten mir, was sich ereignet habe.
Nachdem Nechaev Genf verlassen hatte, wurde sich Bakunin gewahr, dass ihm Papiere
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gestohlen worden sind und erkannte, wer diese entwendet hatte. Wo aber befand sich der Dieb,
niemand wusste es und wir fragten uns was zu tun sei, da der Italiener aufs gratwohl nach Genf
gereist war: Er erzählte mit einer erbarmenswerten Haltung, dass der Padrone sehr böse sei, ihn
wie einen Hund behandelt hätte, und ihn mit einem Revolver bedroht hatte, um ihn zum
Gehorsam zu zwingen, dass er keine Lust mehr hätte bei ihm zu bleiben. Er sagte, dass sich
Nechaev in Le Locle verborgen hält. Bald darauf, wurde beschlossen, dass Ozerof - ein Mann der
Tat – sich, vom Italiener begleitet, aufmachen sollte, um die gestohlenen Papiere
wiederzubeschaffen, die sich, man wird es erraten, in besagtem Koffer befanden.
Die beiden waren nicht die einzigen, die sich in Bewegung versetzt sahen. Am selben Tag als sie
mich verliessen, erhielt ich Besuch einer mysteriösen Dame, die von Genf anreiste und mir
Grüsse von Bakunin ausrichtete: Es handelte sich um Natalie Herzen, der ältesten Tochter des
Gründers der "Kolokol", sie wollte sich auch mit Nechaev treffen und mit ihrer
Überzeugungskraft dasselbe erreichen, wie Ozerof mit Gewalt. Sie stellte sich, mit meiner
Empfehlung versehen, August Spichiger vor, der sie zum Haus führte, wo Nechaev sich
versteckt gehalten hatte.
Die Papiere, die Nechaev gestohlen hatte, sind 1872 durch Ross in Paris gefunden worden. Die
Einen wurden verbrannt, die Übrigen den rechtmässigen Besitzern zurückgegeben. Nach der
Verhaftung von Nechaev in Zürich, war es R.S. der von Zürich nach Paris reiste, um den Koffer
mit den Papieren wiederzubeschaffen.
Nach dem Bruch mit Bakunin begab er sich nach London, wo er vor einer Auslieferung relativ
sicher war. Nechaevs Aufenthalt in London war von kurzer Dauer. Er wurde von den alten
Flüchtlingen geschnitten und anscheinend gab es keine neuen. Er ging nach Frankreich, zur Zeit
des Krieges mit Preussen. Hier war er sicher, dass er nicht nach Russland ausgeschafft würde.
Nach dem die Belagerung von Paris aufgehoben worden war, erfasste ihn der alte rastlose Geist
wieder. Er ging nach Zürich, wo er hoffte, unter den vielen russischen Studenten Anhänger zu
finden, und in den Jura, wo ihn Landsleute gelegentlich besuchen würden. Es sind keine Belege
seiner Tätigkeit vorhanden, sein Erfolg scheint sich in Grenzen gehalten zu haben.
In London angekommen, begann Necheav mit dem Geld, das ihm aus dem Bakhmetiev-Fonds
geblieben war, mit der Herausgabe einer russischen Zeitung "Obchtchina" (La Commune, die
Commune), in der er Bakunin und Ogarev angriff.
Man weiss über die Aktivitäten Nechaevs und V. Serebrennikovs in London ausser der
Herausgabe der "Obchtchina", von der nur eine einzige Nummer erschienen ist, und die
gewissermassen die Fortsetzung der "Narodnaja Rasprava" war, fast nichts.
Der Artikel "Unser Programm im allgemeinen" wiederholt dieselben etatistischen und
kommunistischen Vorstellungen, die Nechaev schon in der "Narodnaja Rasprava" unter dem Titel
"Die Hauptgrundlagen der künftigen Gesellschaft" vorgebracht hatte. Im übrigen griff der
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Leitartikel die Politiker der Emigration an, in erster Linie Herzen, Ogarev und Bakunin:
"Die Generation, der Herzen zugehörte, war der letzte Ausdruck des in Liberalismus
machenden Adels. Ihr doktrinärer Radikalismus war eine Gewächshausblume, die in einer
künstlichen Atmosphäre gewachsen und aufgeblüht war und aus ihr sich nährte, die aber
beim ersten Kontakt mit der frischen Luft und der wirklichen Atmosphäre der praktischen
Aktion verwelkte. Die Männer dieser Generation kritisierten die soziale Ordnung, sie zogen
sie mit der spöttischen Geschicklichkeit, die in den Salons an den Tag gelegt wird, ins
Lächerlich, und das alles in einer veralteten poetischen Sprache. Diese Kritik war für sie ein
Beruf geworden; sie waren mit ihrer Rolle zufrieden."
Im selben Artikel kritisiert er die Internationale für ihren Mangel an revolutionären Geist:
"So sieht man im Westen, trotz der Existenz einer sehr realen breiten Organisation mit der
bestehenden sozialen Ordnung Unzufriedener, keine Männer, die durch die Breite ihrer
Vorstellungen in sich einen starken Willen und schöpferische Leidenschaft vereinigten.
Solange nicht auf die eine oder andere Art Männer dieses Schlages aufgetreten sind und die
heutigen charakterlosen Schönredner von ihrem Podest gestossen haben, wird man nicht
erwarten dürfen, dass sich eine ernsthafte und unabhängige sozialistische Bewegung aus
dieser Internationalen Assoziation entwickelt, wie gross die Organisation auch sein mag."
Es ist dies dieselbe Sprache, die die französischen Blanquisten führten, nachdem sie auf dem
Haager Kongress mit der Internationalen Arbeiter-Assoziation gebrochen hatten.
Nechaev veröffentlichte einen offenen Brief an Bakunin und Ogarev:
"Bürger,
da ich nicht die Möglichkeit sehe, Sie bald persönlich zu treffen, wende ich mich durch die
Vermittlung der ältesten Tochter Herzens, die unsere Kasse verwaltet, an Sie und bitte Sie,
den Restbestand des Fonds, von dem mir ein Teil zu Lebzeiten A. Herzens und ein weiterer
vor nicht sehr langer Zeit übergeben worden ist, an die Redaktion der "Obchtchina" zu
überweisen. Ich ergreife diese Gelegenheit, um Ihnen zu sagen, dass ich Sie trotz der
Divergenzen über unsere politischen Ziele und Mittel. die sich ergeben haben, als wir die
Frage der Praxis angeschnitten haben, die nicht nur theoretischen Radikalismus erfordert,
sondern auch dessen Konsequenz in der Aktion - und indem ich mich für die Zukunft von
jeder politischen Solidarität mit Ihnen lossage -, dennoch auch weiterhin für die besten
Repräsentanten einer Generation ansehen werde, die leider von der historischen Bühne
abtritt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Vorstellungen Ihrer Generation, Bürger (die weder
in Ihrem Leben noch in Ihrer gesellschaftlichen Stellung begründet sind und, von aussen
empfangen, mit Ihrer materiellen Situation in völligem Widerspruch stehen, so dass Sie sie
nicht in die Praxis haben umsetzen können) - diese Vorstellungen, sage ich, haben Sie,
wenigstens einige von Ihnen, immerhin vor dem Morast und dem Dreck bewahrt, in den Ihre
ehemaligen Mitschüler Katkov, Leont'ev und Konsorten gefallen sind. Ihre sozialen
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Überzeugungen haben Sie gehindert, Anhänger des verfluchten heutigen Staatssystems zu
werden; aber sie sind von der Generation, die nicht aus dem Volk kommt, in so geringem
Masse aufgenommen worden, dass Sie aus niemandem einen wirklichen Feind des
betreffenden Staates gemacht haben. Dies liegt daran, dass der Widerspruch, der zwischen
Ihrem revolutionären Denken und Ihrem aristokratischen Leben klafft, zu einem verzweifelten
Skeptizismus und einer enttäuschten Grundstimmung geführt hat, die selbst so starke
Geister wie A. Herzen gelähmt haben.
Alles, was diese Generation an Nützlichem hervorbringen konnte, ist in den brillanten
literarischen Arbeiten aus der Feder des verstorbenen Herausgebers der 'Kolokol' und den
Ihren ausgedrückt worden. Da ich in Ihnen treue Anhänger derselben sehe, halte ich es für
meine Pflicht, mich Ihnen gegenüber mit ebensoviel Freimut und Loyalität zu betragen, wie
ich sie in meinem Verhalten gegenüber unseren Feinden ablehne.
Ich bin, Bürger, zutiefst überzeugt von der Schärfe Ihrer politischen Einsicht, die nicht
zulassen wird, dass Sie sich zu persönlichem Unwillen oder augenblicklichem Zorn werden
hinreissen lassen - und so das Spiel unseres gemeinsamen Feindes, der russischen
Regierung, die Sie mit eben soviel Energie wie ich hassen, zu spielen. Ebenso halte ich
die Gerüchte für erlogen, wonach in den Meinungen, die Sie vor kurzem über mich geäussert
haben, mehr wütendes Befremden als praktischer Verstand zutage getreten wäre, welch
letzterer bei jedem ernsthaften Politiker die Anfälle persönlicher Unzufriedenheit mässigt.
Indem ich mich von Ihnen, Bürger, nach einer letzten Erklärung trenne, reiche ich Ihnen die
Hand als Freund und wage zu hoffen, dass ich niemals aufhören werde, es zu sein, zumal es
unter uns künftig keine Konflikte auf praktischem Gebiet mehr geben kann - denn ich bin
zutiefst davon überzeugt, dass Sie nie mehr als Praktiker der russischen Revolution auftreten
werden.
Sergej Nechaev"
Es ist nicht genau bekannt, wohin Nechaev reiste, nachdem er London verlassen hatte. Nach
dem 4. September fuhr er nach Paris, wo er sich noch während der Belagerung aufhielt;
zumindest war er am 9. Februar 1871 dort.
Der Tumult des Krieges liess Nechaev bald in Vergessenheit geraten und wir hörten nichts mehr
von ihm.
Im Frühling 1871, während die Commune gegen die Versailler Armee kämpfte, erfuhren wir, dass
sich Nechaev nach Paris begab, und ich gebe zu, dass ich auf den Moment wartete, seinen
Namen erwähnt zu sehen, in Verbindung mit der Erzählung einer verwegenen Heldentat oder
eines Aktes verzweifelter Grausamkeit. Aber es scheint, dass Nechaev nicht in den Reihen der
Verteidiger von Paris kämpfte oder er fand sich in diesem Milieu nicht zurecht, das er nicht
verstand oder er hielt sich im Hintergrund. Nach der Niederschlagung der Kommune, hörten wir
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im Verlaufe des Jahres 1871 nichts mehr von ihm.
Z. Ralli, der Nechaev in St. Petersburg seit seinen Anfängen kannte, nennt ihn zuletzt (Brief an B.
Nikolaewskij, Katorga i ssylka, 1926, S. 217, Anm. 3) einen einfachen Republikaner im Sinn wie
er sich Robespierre vorstellte, einen Nichtsozialisten (vor allem im Sinn geringer sozialistischer
Kenntnisse) und während der Commune - er war in Paris damals - einen Anhänger von Félix
Pyat.
So, wie Nechaev in den Pflichten des Revolutionärs gegen die Gesellschaft seine Rache in
Paragraphen geordnet hat, so hat Rimbaud in seinem Gedicht L 'Orgie parisienne' seinem Hass
und seiner Wut wegen der Zerschlagung der Pariser Kommune Ausdruck verliehen:
Was macht uns das, mein Herz, die glühenden und blutigen Lachen,
und tausend Morde und das lange Schreien vor Wut, Höllenseufzer,
die jede Ordnung zerstören, und noch der Nordwind über den
Trümmern.
Und jegliche Rache? - Nicht! Aber wir wollen völlige Rache!
Industrielle! Fürsten! Senate! Geht zugrunde! Nieder mit der Macht,
dem Recht und der Geschichte! Das steht uns zu. Blut! Blut!
Die goldene Flamme!
Alles für den Krieg, die Rache, den Terror. Mein Geist! Drehen wir
das Messer in der Wunde um: Vergeht, Staaten der Erde! Kaiser,
Regimenter, Bauern und Völker! Genug!
Im Sommer ist er wieder in der Schweiz. Im Frühjahr 1872 schreibt er an Ralli, um ihm seine
Ankunft in Zürich anzukündigen.
In Zürich traf er den Bakunisten M. Sazhin, damals als Armand Ross bekannt, ein älterer
Revolutionär, der unter den russischen Studenten, die in den Universitäten in Zürich, München
oder Wien studierten, viele Freunde hatte. Alleine und von allen Verbindungen abgeschnitten,
versuchte Nechaev Sazhin zu überzeugen, mit ihm zusammen zu arbeiten. Sazhin respektierte,
gemäss seinen "Reminiszenzen", Nechaevs Mut, seine "kolossale Energie, seine fanatische
Hingabe für die Sache der Revolution", seinen Charakter aus Stahl, und seine unermüdliche
Fähigkeit zu arbeiten". Aber er fühlte sich genauso abgestossen von Nechaevs geringer
Intellektueller Aussstattung und durch seine "Nechaevshchina", der Begriff der mit der Zeit von
den Russen benutzt wurde, um Machiavelismus in seiner verabscheungswürdigsten Form zu
bezeichnen.
Sazhin, der 1876 verhaftet wurde und viele Jahre in russischen Kerkern und im sibirischen Exil
verbrachte, blieb Zeit seines Lebens Bakunist. Er feierte seinen 80. Geburtstag 1925.
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Sahzin wusste auch, dass er sein Prestige unter den Russen in Zürich verlierte, falls bekannt
würde, dass er ein Freund Nechaevs sei. Er hatte Befürchtungen, wie Bakunin seine Verbindung
zu seinem persönlichen Feind aufnehmen würde. Der alte Mann liess alle wissen, dass er mit
jedem brechen würde, der mit dem Schurken zu tun hatte
M.A. Bakunin fand bald heraus, dass Nechaev bei mir abgestiegen war, einig mit meinen
Genossen El'snic und Gol'stein, verlangte er, dass ich mit Nechaev breche, wohlverstanden, er
nahm an, dass wir im Begriff waren etwas auszuhecken. Mit der Ausnahme einiger Emigranten,
allen voran Bakunin, wusste niemand von Necheavs Gegenwart in Zürich, wo er mit einem Pass
angereist war, der auf den Namen Lider ausgestellt worden war. Meine Auseinandersetzung mit
den Bakunisten verlief befriedigend: diese gaben zu, dass ich der Organisation von Bakunin, der
slavischen Sektion der Internationale, angehören und trotzdem persönliche Beziehungen zu
Nechaev unterhalten konnte, dessen Methoden wir ablehnten und der für uns keine Gefahr
darstellte.
Er kehrte, so glaube ich, danach in die Schweiz zurück, wo er sich verborgen hielt. Während der
Monate Juli und August berichteten die Zeitungen regelmässig über den Prozess, der sich zu der
Zeit in St. Petersburg abspielte.
Während sich Nechaev versteckte und plante, reiste und intriguierte, warteten vierundachtzig
junge Männer und Frauen auf ihren Prozess im Zusammenhang mit seinen Aktivitäten in St.
Petersburg und Moskau. Dreihundert Personen waren ursprünglich verhaftet worden. Der
Prozess fand endlich im Juli 1871 statt und dauerte bis am 11. September.
Insgesamt waren 152 Leute für ihre Beteiligung an der Volksrache verhaftet worden, aber
weniger als die Hälfte waren zu Beginn des Prozesses noch im Gefängnis. Unter den
Freigelassenen waren Vera Zasulich, Enisherlov, die Gebrüder Ametistov, die Gebrüder
Mavritskii, Antonova, Prokopenko und Nadezhda Uspenskaia. Mikhail Negreskul war einer der
vier, die im Gefängnis starben. Sobeshchanskii wurde als unzurechnungsfähig eingestuft. Nur 64
Personen standen zwischen dem 1. Juli, 1871 und dem 27.August vor Gericht. Die Regierung
unternahm alles Mögliche, um die öffentliche Meinung zu manipulieren, indem sie eine
kontrollierte Berichterstattung des Prozesses inszenierte. Graf S.I. Pahlen (Justsizminister), die
Polizeibehörden und der Innenminister waren sich einig, dass die offenste und vollständigste
Enthüllung der Nechaevaffäre in den Zeitungen, einen Hieb gegen die Revolutionäre darstellen
würde.
Trotz dieser Massnahmen gelang es der Regierung nicht, die Atmosphäre während des Prozesses
zu kontrollieren oder die Verteidiger mit den ungenauen und vorurteilsbehafteten
stenografischen Berichten zufriedenzustellen. Zu den Faktoren, die vernachlässigt worden
waren, gehörte die Sympathie des Gerichtsvollziehers, Postnikov, für die Nihilisten und die
Entschlossenheit der Studenten den Gerichtssaal zu füllen.
Die Studenten verbrachten die ganze Nacht im Hof des Gerichts, um in die Gerichtsverhandlung
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zu gelangen. Der Gerichtssaal war überfüllt. Die Leute packten die Zeitungen und lasen jedes
Wort der Reden der Verteidiger und der Angeklagten.
Die Reaktionen auf den Prozess der Nechaevzen machen deutlich in welchem Ausmass die
radikale Subkultur während der 1860er in Russland Wurzeln geschlagen hatte. Gebildete
Russen hatte ihr Vertrauen in die russische Regierung verloren und die Jugend war so
tiefgreifend zu einer radikalen Weltanschauung bekehrt worden, dass selbst der Nechaevismus
die Motive und die Zukunftsaussichten der Angeklagten nicht in Verruf bringen konnte.
Die Monate, die dem grossen Prozess folgten, verbrachte Nechaev teils in Zürich, teils im Jura
und in Paris. Er kehrte endlich nach Zürich zurück obwohl es für ihn nicht mehr so sicher war,
wie im vorangegangenen Jahr. Er wurde von Bakunins Freunden gewarnt, die herausgefunden
hatten, dass die russische Botschaft Wind von seinem Aufenthalt bekommen hatte und die
schweizer Behörden zu seiner Verhaftung und Auslieferung drängten.
Nachdem Nechaev seine Geliebte in Paris verlassen hatte, kam er im frühen Herbst 1871 nach
Zürich. Seine Geliebte war eine Französin, namens Albertine Hottin, anscheinend die einzige
Liebe in Nechaevs Leben (Vera Zasulich hatte seine Avancen zurückgewiesen). Frau Hottins
Briefe an Nechaev, und Entwürfe seiner Briefe an sie (er schrieb sie in sein Notizbuch, um sich in
französisch zu üben) befinden sich im Staatsarchiv Zürich.
Er blieb im Untergrund, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen die "Polnische
Socialdemokratische Association" zu infiltrieren. Er fand sich schliesslich unter einem Dach mit
Stempkowski - ein Mann, der ihn neben vielen russischen, deutschen und schweizerischen
Polizeiagenten, seit langem suchte.
Hier traf er einen Polen namens Turski, der zur Zeit vermutlich der einzige erklärte Anhänger
Blanquis unter den russischen und polnischen Flüchtlingen war. Seine politischen
Überzeugungen waren deshalb nahe denen Nechaevs, der in erster Linie ein Mann der Tat war
und kein Interesse daran hatte sich theoretisch in eine Ecke drängen zu lassen. Durch Turski
lernte Nechaev einen anderen Polen kennen, Stempkowski, der in verschiedenen radikalen
Organisationen in Zürich sehr aktiv war. Jahre zuvor war er bereits verdächtigt worden ein
russischer Polizeispitzel zu sein, aber es ist im gelungen, sich vom Vorwurf zu befreien. Nechaev,
der sonst sehr misstrauisch war, vertraute ihm vollständig und wollte ihn benutzen, Bakunins
Organisation zu infiltrieren.
Nechaev suchte den zürcher Polen ein tiefergehendes, stürmischeres Programm anzubieten und
sie in seine russisch-serbische Organisation einzubinden.
Wir gehen davon aus, dass Stempkowski Nechaev eine Kopie des Programms der Polnischen
Socialdemokratischen Association gegeben hat (diejenige, die die Polizei in Nechaevs Effekten
vorfand).
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Erst ein Jahrhundert später trat eine interessantes Nebenprodukt von Nechaevs Verhaftung ans
Licht. Seit dieser Verhaftung lagerte ein vierseitiges Manuskript mit dem Titel "Fundamentale
Thesen" (Osnovnyia plozheniia") in den zürcher Archiven, die von vielen Gelehrten zu Rate
gezogen worden sind. Es ist unzweifelhaft in Nechaevs Handschrift verfasst (und schwer zu
entziffern), dieses Dokument, sein letztes politisches Traktat, ist von zweifelhafter Herkunft.
Anscheinend war es als Brücke gedacht, zwischen seiner kleinen zürcher Zelle (er selbst,
Valerian Smirnov, Vladimir Golshtein, Alexander Elsnits und ein paar Serben) und der lokalen
Polnischen Socialdemokratischen Assiciation.
Die "fundamentalen Thesen" und andere Arbeiten, die Nechaev während seiner letzten Jahre in
Freiheit geschrieben hat (z.B. das Programm der Londoner Obchtchina), deuten an, dass obwohl
er sich nicht gänzlich von Bakunins Einfluss gelöst hatte, er doch ein elitistischer Revolutionär
geworden war, dessen Denken sich vor allem aus dem Blaquismus herleitete. Die
"fundamentalen Thesen" und andere seiner letzten Werke, zeigen Nechaev als einen
interessanten aber unoriginellen und unsystematischen Denker.
Fundamentale Thesen , Sergei Nechaev
1. Wir, ---, die der Überzeugung sind, dass unter den gegenwärtigen Zuständen in unserem
Land, eine Explosion der unzufriedenen Massen nah und unausweichlich ist, bilden eine
Gesellschaft zur Gründung einer Partei mit dem Zweck, die gegenwärtige politische und
ökonomische Ordnung umzustürzen, das heisst, für die Bildung einer socialdemokratischen
Republik, die den Despotismus und die Ausbeutung, die heute herrschen, ersetzen soll.
2. Die politischen Entwicklungen in der Geschichte der westlichen Nationen bieten uns viele
traurige Beispiele von revolutionären Bewegungen, die ohne positive Ergebnisse geblieben
sind; all die Sturzbäche von Blut des Volkes, die bisher vergossen wurden, haben bei weiten
die erwünschten Ziele nicht erreicht, weil die aufständischen Massen in ihrer Mitte keine
kompetenten und erfahrenen Männer hatten, deren Interessen mit den ihren zusammenfielen
und weil die meisten Aufstände die ehrliche Fraktion der Intellektuellen überrascht vorfand.
Auf dieser Grundlage treten wir zur Organisation einer neuen Partei an, die, unter günstigen
Umständen, einen Volksaufstand nicht nur zu stimulieren vermag, sondern auch in der Lage
ist, die Ergebnisse der Revolution erfolgreich zu konsolidieren.
3. In Angesicht eines Kampfes auf Leben und Tod gegen eine riesige undisziplinierte
Machinerie des Despotismus, obwohl unser Ziel das System einer föderierten Union von
Gminas unseres Landes ist, erachten wir trotzdem die Konzentration der Kräfte der Massen
als notwendig, und in Zeiten der Revolution als das Einzige, das uns zu retten vermag; - und
deshalb erheben wir einmal mehr unsere revolutionäre Flagge, von der das Blut unserer
gefallenen Brüder noch nicht abgewischt worden ist, Wir lassen darauf das Motto: (im original
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leer), bis die Errungenschaften der Revolution vollständig gegen die Bedrohung durch die
innere Reaktion und die Intriguen der äusseren Feinde gesichert sind.
4. Wenn die lange herbeigesehnte Zeit für nationale Befreiung gekommen ist, wenn das
revolutionäre Banner siegreich über unserem Land weht, werden sich die
Gründungsmitglieder unserer Gesellschaft zweifellos verpflichtet fühlen, alle notwendigen
Garantien gegen die Intriguen privater Individuen sowie gegen die rückwärtsgerichteten
Bestrebungen verschiedenster lokaler Gruppierungen zu bieten. Alle Versuche der Reaktion
zur alten Ordnung zurückzukehren, müssen gelähmt werden und die Bevölkerung muss mit
allen Mitteln entlang dem Pfad der Revolution geführt werden.
5. In Kraft dessen, wird es eine der Hauptaufgaben der revolutionären Partei sein, die
revolutionäre Propaganda in dieser ersten Periode der Revolution zu organisieren und die
vollständige Beseitigung des Einflusses der Unterstützer der umgestürzten Ordnung bei der
Wahl der Repräsentanten der Nation.
6. Die revolutionäre Partei muss das Fundament legen für ein neues soziales System und nur
dann, wenn eine Wiederkehr des alten definitiv unmöglich ist, wird die Partei Wahlen der
Repräsentanten der Nation organisieren - mit der vollständigen Freiheit revolutionärer
Propaganda - zur Bildung einer verfassungsgemässen Regierung des Landes.
7. Überzeugt von der Erfahrung des letzten Jahrhunderts, welche mächtige Waffe die
Reaktion aus dem Gesetz des universellen Wahlrechts für sich geschaffen hat, lehnt die
Partei auf der Grundlage der revolutionären Einheit der Regierung, diejenigen als Kanditaten
ab, die sich den folgenden sozialen Prinzipien widersetzen:
a) Eine republikanische Form der Regierung muss diskussionslos akzeptiert werden, weil
unter jeder anderen Regierungsform die Redefreiheit unmöglich ist.
b) Nach dem Sieg der sozialen Revolution über ihre inneren und äusseren Feinde wird eine
Aufgabe der Staatstätigkeit die Organisation und Regelung der Arbeit sein. Der Staat wird
über die Frage produktiver und unproduktiver Arbeit entscheiden.
c) Das Land muss denen gehören die es bearbeiten, dass heisst, Millionen von Menschen,
dem ganzen Volk und keinen privaten Besitzern und deshalb wird es Eigentum des Staates
sein, der es unter den Gminas verteilt.
d) Fabriken und die Produktionsmittel, müssen der städtischen arbeitenden Bevölkerung
gehören, dass heisst, sie bilden auch einen Teil des nationalen Eigentums und werden
deshalb vom Staat an die Arbeiterassoziationen verteilt.
e) Die Verpflichtung Kinder aufzuziehen und zu erziehen fällt dem Staat zu.
8. Wir akzeptieren diese Vorschläge als Basis unseres Programms, zu tiefst von ihrer
Gerechtigkeit und ihres Gemeinwohls überzeugt, wir fordern Demokraten anderer slavischer
Völker sich mit uns zu vereinigen.
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9. Wir anerkennen die Wichtigkeit der slavischen Rasse in der zukünftigen Geschichte des
Kontinents, wir sind der Überzeugung, dass die Lösung des sozialen Problems in einem Land,
das unter dem Joch eines schrecklichen Despotismus leidet, auch einen Beitrag zur Lösung
des sozialen Problems in Europa als ganzem ist.
10. Wenn wir die Initiative in der revolutionären Sache der slavischen Rasse ergreifen, kann
die endgültige Organisation der sozialdemokratischen Republik natürlich nur das Ergebnis
eines Aufstandes der brüderlichen Völker sein, vereinigt in einer mächtigen slavischen Union.
11. Möge der Tag bald anbrechen wenn die grosse slavische Rasse, durch die Sonne der
Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität beleuchtet, ihren rechtmässigen Platz unter den
Völkern Europas einnehmen und ihre grosse historische Mission erfüllen wird.
Es lebe die sozialdemokratische aufständische Republik!
Es lebe die Union sozialdemokratischer slavischer Staaten!
Filippeus, weigerte sich die Niederage zu akzeptieren. In einem Bericht vom 19. Januar, an eine
unidentifizierte höhere Autorität, drückte er die unmittelbaren Ängste der dritten Sektion kurz
und bündig aus:
"Die Interessen der Justiz, selbst sehr gewichtig, verlangen dass der Haupttäter des Verbrechens
der Bestrafung nicht entgeht. Aber abgesehen davon, aus der Perspektive der öffentlichen
Sicherheit und der persönlichen Sicherheit des Kaisers, verlangt Nechaevs agitatorische Aktivität
äusserst ernsthafte Aufmerksamkeit und es ist notwendig sie zu beenden, da er in der Lage ist,
Fantasien in jungen Menschen zu wecken und es ist unmöglich darauf zu vertrauen, dass aus
dem Kreis dieser fantasiegeplagten Jugendlichen keine neuer Karakozov hervortreten wird."
Filippeus umriss was zu Necheavs Verhaftung nötig sei: Äusserste Geheimhaltung über die
Menschenjagd, wobei nur der Kaiser, P.A. Shuvalov und vermutlich Levashev über den Plan
informiert sein sollen, Eine sechs- bis achtmonatige Frist, in der er nicht zur Eile gedrängt werde
und keine punktuellen Berichte von ihm verlangt würden, unbeschränkter Kredit bis 6000 Rubel,
wobei er für 3000 keine Buchhaltung führen müsse, das Recht Russen und Ausländern
Belohnungen für ihre Dienste (bis 6000 Rubel), im Falle einer Verhaftung Nechaevs zu bezahlen;
Die Erlaubnis eine dreiwöchige Reise nach Moskau und ins Ausland zu unternehmen, um
Agenten auszuwählen, die lokalen Bedingungnen abzuklären, und einen detailierten Aktionsplan
zu entwerfen.
Als ich nach der Niederschlagung der Kommune nach Zürich zurückkehrte, nahm ich meine
Beziehungen zu Nechaev wieder auf. Er hatte sich zu der Zeit Arbeit besorgt und malte
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gewerbliche oder Industrielle Schilder. Er tat dies als wahrer Künstler. Er lebte unter einem
serbischen Pass und ausser mir kannten wenige seine wahre Identität, seine Wohnung befand
sich in einem Vorort von Zürich. Normalerweise besuchte er mich am Morgen früh, auf seinem
Weg zur Arbeit, wo er von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends beschäftigt war. Während dieser
Begegnungen vereinbarten wir jeweils einen Ort ausserhalb der Stadt, um unsere Unterhaltung
weiterzuführen, wann immer wir dies für nötig hielten.
Der Tonhallekrawall brach am Abend des 9.3.1871 aus, als Deutsche in der Zürcher Tonhalle den
Sieg im deutsch-Französischen Kriegs feierten (Sedanfeier) und internierte franz. Offizieren
(Bourbakiarmee), die in den Saal eingedrungen waren, eine Schlägerei anzettelten, während
draussen Demonstranten mit Steinen warfen. Die Polizei brauchte einige Zeit, um den Platz und
die Tonhalle zu räumen und die Verantwortlichen zu verhaften. Der dt. Gesandte in Bern
intervenierte. Um einige 100 Personen zurückzudrängen, welche die Gefangenen befreien
wollten, musste die Zürcher Regierung kant. Truppen aufbieten; ein Warnschuss traf einen
unbeteiligten Deutschen tödlich. Am 11. März eröffneten die Truppen das Feuer gegen die
Aufrührer, die sich gewaltsam Zugang zum Gefängnis verschafft hatten; vier Personen starben,
mehrere wurden verletzt. Der Regierungsrat forderte Bundeshilfe an und am 12. März trafen in
Zürich vier Bataillone ein. Es kam zu keinen weiteren Zwischenfällen und die letzten Soldaten
verliessen die Stadt am 19. März. Die Zürcher Regierung betrachtete den T. als revolutionäre
Handlung, vergleichbar mit den Pariser Ereignissen zu Beginn der Commune oder mit einem
Streik. Allerdings stand nicht die Internationale dahinter. Der T. war vielmehr eine Demonstration
gegen die siegreichen Deutschen und die dt. Arbeiter, denen einerseits vorgeworfen wurde,
höhere Löhne zu beziehen, und andererseits, in Krisenzeiten für den Lohndruck verantwortlich
zu sein.
Nechaev kehrte also Ende Juni via Basel nach Zürich zurück, und vertraute sich den polnischen
Revolutionären an - vor allem Turski und Adolf Stempkowsi. Stempkowski und ein paar andere
polnische Flüchtlinge arbeiteten in der Malerei eines gewissen Kafel, in der Nechaev als
Schriftenmaler angestellt war. Im August 1872 entdeckten zwei französische Agenten endlich
Necheaev und lieferten ihrem Vorgesetzten eine Personenbeschreibung von ihm.
Die grosse Kolonie slavischer Flüchtlinge hatte endlich einen Informanten hervorgebracht. Ein
Schweizer namens Zega trat als Mittelsmann zwischen Nikolich und Stempkoswki auf. Zega
berichtete Nikolich, dass er mit der Hilfe Stempkowsiks Nechaev am 4. August zweimal gesehen
habe. Mittlerweile bot Nikolich Stempkowsi 5000 Goldrubel an, und Stempkowski sagte ihm,
dass Nechaev am 14. August um 13.00 im Café Müller sein werde. Nikolich, der der schweizer
Polizei unter dem Codenamen Konevich bekannt war, organisierte einen Hinterhalt mit dem
Polizeichef von Zürich, J.J. Pfenninger. Die zürcher Polizei stellte acht Beamte in zivil unter der
Leitung von Major Nötzli zur Verfügung. Fünf davon überwachen das Café, während die anderen
drei draussen warteten. Nechaev traf um 14.00 ein und schloss sich Stempkowsi, zwei schweizer
Mitgliedern der Internationale, Greulich und Remy sowie einem Mitglied der slavischen Sektion
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der Internationalen Zürichs, dem Studenten der eidgenössischen technischen Hochschule,
Dmitri Richter, an. Während Nechaev an seinem Bier nippte, näherte sich einer der schweizer
Polizeibeamten (Hangartner) und bat ihn kurz nach draussen zu treten, um ein paar Worte zu
wechseln. Nechaev war kaum draussen, als sich die anderen Bullen auf ihn stürzten und ihm die
Hände banden. Er rief Stempkowski um Hilfe, und dieser spielte seine Rolle als Genosse und
simulierte eine Intervention, während Greulich und Remy zuschauten. Nechaev schrie "Sag den
Russen, dass Lider verhaftet worden ist." Die Polizei entledigte Nechaev seines Revolvers und
seines Taschenmessers. Im Gefängnis konfrontierte ihn Nikolich mit den Worten: "Ah! Herr
Nechaev, endlich habe ich die Gelegenheit ihnen persönlich zu begegnen."
Anlässlich der Verhaftung Nechaevs, hatte die schweizer Polizei verschiedene Dokumente
beschlagnahmt, darunter Ausweise und zwei Heftchen. Eines der Heftchen enthält neben
Notizen einige Listen russischer Studenten, wo wir die Namen Vera Figner, Elizaveta Juzakov und
Dmitrij Richter finden. Das andere enthält neben einer langen Liste von russischen
Würdenträgern, deren Bedeutung unklar ist, viele Adressen von Zeitungen und Mitgliedern der
Internationalen.
Etliche Monate später, nachdem Nechaev ausgeliefert, verurteilt und eingesperrt worden war,
verteilte die höchst zufriedene russische Regierung grosszügige Belohnungen. Jedes Mitglied
von Major Nötzlis Eskorte erhielt hundert schweizer Franken, Nötzli selbst 2000. Pfenninger, der
eine entscheidende Rolle bei der Verhaftung eingenommen hatte, wurde mit 4000 Franken
belohnt.
Greulich und Remy behaupteten später, dass sie Nechaev nicht kannten. Aber die Anwesenheit
dieser zwei Männer im Café Müller an diesem Nachmittag im August, inspirierte böse
Geschichten.
Zurzeit werden diejenigen, die glaubten Nechaev sei ein Spion, abgeschreckt sein. Der Beweis
wäre teuer geworden. Stellen Sie sich vor, Aleksandr Sergeevic, stellen Sie sich vor, und sie
werden revoltiert sein, einer der drei Bekannten von Nechaev, die sich heute mit letzterem
getroffen haben, dieser Zeuge seiner Verhaftung, ein Mitglied der hiesigen Internationale,
namens Greulich, hat die anderen beiden daran gehindert, einzugreifen; Und als man Nechaev
die Handschellen anlegte und als man ihn auf den Posten zerrte, hatte dieser Internationale
keine Scheu ihn vor aller Welt zu beschimpfen: “Laissez-Le, das ist ein Lump“. Das sind sie,
diese Apostel der Brüderlichkeit, der Menschheit, der revolutionären Solidarität.
Die Verhaftung Nechaevs fand kurz nach einem gewalttätigen Überfall auf Nikolai Utin statt
(anscheinend durch Freunde Nechaevs), einem Führer der pro-marxistischen russischen Sektion
in Genf.
Ein Meister solcher Intrigen war ein russischer Flüchtling, der damals in Genf lebte, namens
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Nikolas Utin. Er hatte in den russischen Studentenunruhen im Anfange der sechziger Jahre
mitgetan, war dann aber, als die Sache brenzlich wurde, ins Ausland geflüchtet, und lebte hier
bequem von einer namhaften Jahresrente - zwölf- bis fünfzehntausend Franken werden genannt
-, die er aus dem Schnapshandel seines Vaters bezog. Hierdurch gewann der eitle und
schwatzschweifige Patron eine Position, die er mit seinen geistigen Fähigkeiten nie hätte
gewinnen können; Erfolge blühten ihm nur auf dem Terrain des Privatklatsches, wo, wie Engels
einmal sagt, "Leute, die etwas zu tun haben, denen, die den ganzen Tag zum Klüngeln haben,
nie gewachsen sind". An Bakunin hatte Utin sich anfangs herangedrängt, war aber bei diesem
gründlich abgefallen, und so bot ihm Bakunins Entfernung aus Genf eine um so günstigere
Gelegenheit, den grimmig gehassten Mann auf dem Wege des Privatklatsches zu verfolgen.
Diese Tendenzen hatte Bakunin bekämpft, namentlich auch mit Rücksicht auf die unausrottbare
Neigung der "La fabrique" zu Bündnissen mit dem bürgerlichen Radikalismus; Robin und Perron
aber glaubten, den Gegensatz zwischen "La fabriqe" und den gros métiers, der nicht von
Bakunin geschaffen worden war, sondern in einem sozialen Gegensatze wurzelte, übertünchen
und verkleistern zu können.
Der Kongress nahte heran und die Allianz wusste, dass vor diesem Kongress der Bericht über
den Netschajewschen Prozess, mit dessen Abfassung der Bürger Utin von der Konferenz betraut
war, veröffentlicht werden sollte. Es war ihr von der höchsten Wichtigkeit, das Erscheinen des
Berichts vor dem Kongress zu verhindern, damit dessen Mitglieder nicht vollständig über diesen
Gegenstand unterrichtet würden. Bürger Utin begab sich nach Zürich, um seine Arbeit
auszuführen. Kaum dort niedergelassen, wurde er das Opfer eines Mordversuchs, den wir ohne
Bedenken auf Rechnung der Allianz setzen. In Zürich hatte Utin keine anderen Feinde als einige
allianzistische Slawen unter der "Oberhand" Bakunins. Übrigens ist die Organisation des
Hinterhalts und Meuchelmords ein von jener Gesellschaft anerkanntes und angewandtes
Kampfmittel; wir werden andere Beispiele hierfür in Spanien und Russland sehen. Acht slawisch
redende Individuen lauerten Utin an einem einsamen Orte in der Nähe eines Kanals auf; sowie
er bei ihnen angekommen war, griffen sie ihn von hinten an, schlugen ihn mit schweren Steinen
an den Kopf, versetzten ihm eine gefährliche Wunde am Auge, und, nachdem sie ihn zu Boden
geworfen, hätten sie ihn vollends getötet und in den Kanal geworfen, wären nicht vier deutsche!
Studenten hinzugekommen. Bei ihrem Anblick entflohen die Mörder. Dieses Attentat hat den
Bürger Utin nicht abgehalten, seine Arbeit zu vollenden und sie dem Kongress zu übersenden.
Der zürcher Regierungsrat beschloss am 27 Oktober 1872 die Auslieferung Nechaevs.
Im Mai 1872, hatte die "Polnische Socialdemokratische Association", an deren Aktivitäten Adolf
Stempkowski erstaunlicherweise teilgenommen hatte, ein Programm und Statuen genehmigt,
die gemäss einem zaristischen Polizeiagenten (vermutlich Stempkowski), vermutlich vom
Kommunarden Kasper M. Turski niedergeschrieben worden waren. Das Programm beginnt mit
dem üblichen Bombast der europäischen radikalen Linken und spricht vom "politischen und
ökonomischen Despotismus durch die privilegierte Minderheit über die arbeitenden Massen.
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Dann folgt ein unverfälschter Bakunismus. "Eine freie Vereinigung von Arbeiterassoziationen"
steht an prominenter Stelle in der Vision einer Zukunftsgesellschaft im Programm, eine
Gesellschaft, die durch einen "allgemeinen Aufstand" in der Form einer "sozialen Revolution"
hervorgerufen werden sollte. Das Land solle in dieser Gesellschaft Eigentum von
"landwirtschaftlichen Kommunen" sein und die Fabriken und Produktionsmittel würden
"Arbeiterassoziationen" gehören. Das Programm lehnte polnischen Nationalismus ab, aber
deutete auf eine Art revolutionären Pan-Slavismus hin. Das Programm endet mit den Hinweisen:
"Es lebe die soziale Revolution! Lang lebe die freie Kommune! Lang lebe das freie und
socialdemokratische Polen!"
Die polnischen Vereinigungen in Zürich verfassten ihrerseits einen Text in deutscher Sprache "An
das schweizerische Volk", um es gegen die bereits zu befürchtende Auslieferung Nechaevs zu
mobilisieren.
an das ch Volk (Anhang)
Der Text wurde zunächst als rotes Plakat veröffentlicht, das in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober
an die Mauern von Zürich geschlagen und sofort von der Polizei wieder abgerissen wurde, was
die polnischen Verfolgten dazu veranlasste, ihn als Broschüre nachzudrucken und unverzüglich
zu verbreiten.
Im Augenblick der Verhaftung Nechevs hielt sich Bakunin in Zürich auf. Man verfasste sofort ein
Flugblatt in deutscher Sprache, das von Golitejn, Smirnov, Ralli, Elsnic, Ozerov und Bakunin
unterzeichnet war. Die Genannten appellierten darin an die zürcher Kantonalregierung und die
schweizerische und europäische Öffentlichkeit, sich dafür einzusetzen, dass Nechaev nicht an
die russischen Behörden ausgeliefert würde, die ihn als gewöhnlichen Verbrecher forderten,
während er in Wahrheit ein politischer Täter sei, immer vorausgesetzt, dass er, wie das Flugblatt
sagte, wirklich "der berühmte Flüchtling Nechaev" sei und nicht - ein unter dem Namen Stephan
Graschdanoff bekannter Serbe". Indessen scheint dieser Appell nicht viel Wirkung gehabt zu
haben.
Flugblatt , 16.7 (Anhang)
Im selben Monat wurde eine Broschüre unter dem Titel "Ist Netschajeff ein politischer Verbrecher
oder nicht?" veröffentlicht. Sie war in Genf gedruckt worden und trug dieselben Unterschriften
wie das Flugblatt und zusätzlich die von Lazar' Gol'denberg. Die Broschüre brachte Einzelheiten
vom Prozess der "Nechaevcy" und unterstrich, dass es sich um ein politisches Verbrechen
handle. Gleichzeitig mit der französischen Fassung wurde sie auf deutsch veröffentlicht. Wir
wissen nicht, wer die Schrift verfasste und ob Bakunin daran beteiligt war
Ist Netschajeff ein politischer Verbrecher oder nicht? (Anhang)
Adolf Stempkowski wurde in Zürich mit dem Versprechen des sicheren Geleits vor eine private
Jury zur Aburteilung vorgeladen, gebildet aus: Jakob Franz, Lazar Goldenberg, Woldemar
Holstein, Paul P. Iowanowics, Paul St. Smirnoff, Peter Stepicz, Emil Syzmanowski, Gustav Töpper,
Georg Wilhelm und Zalewski.
Der Zürcher Justiz- und Polizeidirektor, Pfenninger, verbot die Abhaltung der Gerichtssitzung:
Stempkowski hatte die Hilfe der Polizei angerufen. Der seltsame Akt ging trotzdem von statten.
„Nach Anhörung von zehn Belastungszeugen und Verlesung verschiedener schriftlicher
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Dokumente, wurde nach fünfstündiger Verhandlung einstimmig der Spruch gefällt: Ja, der
Angeklagte Adolf Stempkowski ist schuldig, als Denunziant und Spion gegen den politischen
Flüchtling Netschajeff tätig gewesen zu sein. Dieser Wahrspruch (datiert Zürich, 1. September
1872) wird hiermit der Öffentlichkeit übergeben.“
Nach der Verhaftung von Nechaev wurde der Prozess gegen Stempkowski durch ein Gericht
gehalten, das Delegierte von verschiedenen Arbeiterorganisationen von Zürich abhielten, dieses
verurteilte Stempkowski als Polizeispitzel zum Ausschluss aus den Arbeitermilieus. Eine Gruppe
Polen und Serben waren mit dem Urteil nicht zufrieden und verurteilten ihn zum Tode, es war
dieselbe Gruppe, die beschlossen hatte, der Auslieferung Nechaevs zu widerstehen und zu
versuchen ihn mit einem bewaffneten Angriff auf seine Eskorte zu befreien.
Aber das Urteil wurde nicht vollstreckt, von den fünf Schüssen, die aus nächster Nähe auf
Stempkowski abgegeben wurden, traf kein einziger das Ziel; Er fiel hin und spielte den Toten.
Der Versuch Nechaev zu befreien schlug auch fehl. Aus den Händen der Polizei gerissen, wurde
Nechaev von Menschen umringt, die der Polizei halfen. Zwei Personen die am Handstreich
teilgenommen hatten, wurden verhaftet.
Einige Zeit darauf, wurde ich in Bern verhaftet und eingesperrt, unter der Anschuldigung, das
Attentat gegen Stempkowski vorbereitet zu haben.“
Studenten in Zürich, die sich gegenüber Nechaev loyal verhielten und andere, die mit ihm nichts
zu schaffen hatten, seine Ausschaffung jedoch heftig ablehnten und solidarische Schweizer
heckten mehrere Aktionspläne aus, einen Gefängnisausbruch inbegriffen. Anscheinend
versuchten sie es mit Bestechung. Zwei Frauen, deren Identität nie ermittelt werden konnte,
haben einen Wärter mit 200 Franken bestochen. Er verriet ihnen die Zeit, in der spät am 27.
Oktober Nechaevs Transport vom Gefängnis vorgesehen war. Die jungen Leute, die Nechaev
befreien wollten, versammelten sich am 26. Oktober kurz nach Sonnenaufgang vor dem
Gefängnis. Eine Droschke fuhr durchs Tor gefolgt von einer zweiten, in der Nechaev sass,
gefesselt und von Polizeibeamten bewacht. Sie fuhren im Schritttempo in Richtung Bahnhof. Die
Studenten eilten neben Nechaevs Droschke her und erreichten gleichzeitig den Bahnhof. Dort
stiegen Nechaev und die Beamten aus. Nechaev war gefesselt, so dass er nur kleine Schritte
machen konnte. Ein junger Serbe näherte sich ihm und versuchte, ihn den Polizisten zu
entreissen. Nach einem kurzen Handgemenge gelang es den Beamten, ihn von Nechaev zu
trennen. Er wurde verhaftet und am nächsten Tag aus dem Kanton Zürich ausgewiesen.
Bakunin, der die Nachricht gerade aus dem "Journal de Geneve" erfahren hatte, notierte am 31.
Oktober 1872 in sein Notizbuch, dass Nechaev am 26. des Monats um fünf Uhr morgens
ausgeliefert wurde. Am übernächsten Tag schrieb er an Ogarev:
"Das Unerhörte ist also geschehen. Die Republik hat den unglücklichen Nechaev
ausgeliefert." Und er fährt fort: - Übrigens sagt mir eine innere Stimme, dass Nechaev, der
unrettbar verloren ist und es ohne Zweifel weiss, aus seinem tiefsten Innern, welches
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verworren und versumpft, doch keineswegs banal ist, seine ganze ursprüngliche Energie und
Standhaftigkeit wieder wachrufen wird. Er wird als Held zugrundegehen, und diesmal wird er
niemanden und nichts verraten. Das ist meine Überzeugung. Bald werden wir sehen, ob ich
recht habe."
56
1.4
Das Spiel war aus. Der Traum von Macht war vorüber. Aber sein Vertrauen in die Revolution
blieb. Sein Schicksal war besiegelt. Er würde nicht als politischer Verbrecher vor Gericht gestellt.
Nechaev hatte sich geweigert, an der Justizkomödie teilzunehmen, die am 20. Januar 1873 im
moskauer Bezirksgericht stattgefunden hat. Er erklärte zu beginn, dass er sich nicht als
Verteidiger verstehe und dass ein russisches Gericht kein Recht hätte ihn zu als gemeinen
Verbrecher zu verurteilen, das ganz Russland wüsste, dass ein politischer Täter sei.
Das Urteil war der Verlust aller Rechte, 20 Jahre Deportation zu Zwangsarbeit in den Minen und
danach lebenslängliche Verbannung nach Sibirien. Als er den Gerichtssaal verliess, schrie der
dem Untergang geweihte junge Mann: "Lang lebe die Nationalversammlung! Nieder mit dem
Despotismus". Die Verurteilung zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit in den Minen war bloss ein
Scherz um die Formalitäten zu befriedigen, auf die die Schweizer Regierung bestanden hatte, als
sie Nechaev als gemeinen Verbrecher ausgeliefert hatte. Die zaristische Regierung war fest
entschlossen ihn nicht als gewöhnlichen Gefangenen zu behandeln. Auch wenn der ganzen Welt
vorgemacht wurde, dass der Gefangene zur Zwangsarbeit nach Sibirien verfrachtet worden sei,
wurde er in Wirklichkeit in die Peter-und-Pauls-Festung gesteckt, in welche gewöhnliche
Kriminelle nie interniert wurden.
Nechaevs "blinde Feindseligkeit" gegenüber Macht, Wohlstand und Autorität überkam zeitweilig
die Neigung zur Manipulation, die er in seinem Innern kultiviert hatte. Zweifellos nahm er an,
dass Privilegierte und Mächtige sittlich verdorben waren und dass jedes Mittel im Kampf gegen
sie legitim sei.
Das war selbstverständlich nicht der erste Gewaltausbruch von Nechaev. Wie bereits bemerkt,
hatte er am 13. April 1873 einen Stuhl nach einem Gendarmerie Offizier geworfen. Während des
Jahres 1875 besuchte ihn Potapov mit der Absicht Informationen über den revolutionären
Untergrund zu beschaffen - und nachdem Nechaev die Regierung beleidigt hatte, bedrohte
Potapov ihn mit Körperzüchtigung. Nechaev antwortete mit einer Ohrfeige, die ihn aus Nase und
Mund bluten liess.
Mit einigen seiner Hugerstreiks gelang es ihm, Forderungen durchzusetzen.
Wie auch immer, der Ausbruch im Februar 1876 leitete eine neue Periode seiner Gefangenschaft
ein. Am 20. Februar wurde er in eine Zelle verlegt, mit einem Eisengitter vor dem Fenster, und
angekettet.
Seine Hände und Füsse wurden in schwere Fesseln gelegt, und die Ketten, die diese Fesseln
verbanden, waren mit Absicht verkürzt worden, so dass der Gefangene in der Form eines Jochs
gekrümmt war und weder gerade stehen, noch voll ausgestreckt liegen konnte und gezwungen
war kauernd zu sitzen. Während zwei Jahren schleppte er Fesseln; seine Hände und Füsse waren
von Geschwüren überdeckt; Er wurde geschwächt, nur der Tod hätte das Opfer aus den Händen
seiner Schlächter befreien können, aber die Schlächter wollten nicht von ihrem Opfer lassen, die
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Fesseln wurden Necheav entfernt, aber nur um ihm ständig mit neuen drohen zu können.
Die Behörden, anscheinend vom Gedanken fasziniert Nechaev zu konvertieren, beschlossen
religiöse Bücher in seine Zelle zu plazieren. Die Kampagne begann im März 1878. Am 29. März
fand Nechaev achtzehn religiöse Pamphlete in seiner Zelle, als er vom Hofgang zurückgekehrt
war. Dies trieb ihn in Rage, was sich vor allem durch schnelles Umhergehen und Zuckungen
bemerkbar machte.
Der Bericht der letzten zehn Jahre, die Nechaev in Russlands grauenhaftesten Kerker verbrachte
ist einer der grossen Epen der revolutionären Geschichte. Seine Einzelhaft in einer dunkeln und
feuchten Kasematte, sein Kampf um Bücher und Schreibwerkzeug, die körperliche Züchtung die
er einem General verabreichte, der ihm vorschlug, er solle seine Genossen verraten, die zwei
Jahre, die er an Füssen und Händen angekettet war bis sein Fleisch zu faulen begann und
schlussendlich das unglaubliche Können, mit dem es ihm gelang die Freundschaft und den
blinden Gehorsam von beinahe vierzig Wärtern und Soldaten zu gewinnen, die zu seiner
Bewachung befehligt worden waren.
Es war durch diese Wärter und Mitgefangenen, dass es ihm nach acht Jahren endlich gelang mit
der Aussenwelt Kontakt aufzunehmen. Im Frühjahr 1881 erhielten die Mitglieder des
Exektutivkommites des terroristischen des Volkswillens (die "Nihilisten"), die Nechaev längst für
verstorben hielten, den ersten Brief des berühmten Gefangenen. Vera Figner eine der wenigen
Überlebenden des Kommitees, beschreibt den Eindruck, den dieser Brief gemacht hatte:
Dieser Brief trug einen streng sachlichen Charakter; keine Ergüsse, keine Sentimentalitäten, kein
Wort von dem, was Netschajew durchlitten hatte und gegenwärtig durchlebte. Schlicht und
sachlich warf er die Frage seiner Befreiung auf. Seitdem er im Jahre 1869 ins Ausland geflüchtet
war, hatte die revolutionäre Bewegung vollkommen ihren Charakter geändert, sie war
unermesslich in die Breite gegangen, war permanent geworden und hatte drei Phasen
durchgemacht: die utopische Phase des »Ins-Volk-Gehens«, die realistischere der »Land und
Freiheit«-Agitation und die darauffolgende der Wendung ins Politische, der Bekämpfung der
Regierung nicht nur durch Worte, sondern durch Taten. Und Netschajew? Er schrieb wie ein
Revolutionär, der soeben erst aus den Reihen der Kämpfer ausgeschieden ist und an seine in
Freiheit gebliebenen Kameraden schreibt.
Einen sonderbaren Eindruck machte dieser Brief - alles was bisher als ein dunkler Fleck an der
Persönlichkeit Netschajews gehaftet hatte, das unschuldig vergossene Blut, die Erpressung von
Geldmitteln, die Beschaffung kompromittierender Dokumente zu Erpressungszwecken - das
ganze Lügengewebe im Namen des Zwecks, der die Mittel heiligt - , das alles war plötzlich
verschwunden.
Wir sahen einen Geist, der nach langen Jahren der Einzelhaft weder geschwächt noch verdunkelt
war, einen Willen, den auch die ganze Last der grausamen Strafe nicht gebrochen hatte, eine
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Energie, die trotz der Misserfolge nicht geschwächt war. Wir lasen in der Sitzung des Komitees
das Schreiben Netschajews, und uns alle ergriff einmütig der Gedanke: ihn befreien!
In den folgenden Briefen enthüllte Netschajew nach und nach vor uns seine Tätigkeit in den
verflossenen Jahren. Obwohl er in seiner Kasematte an Händen und Füssen gefesselt lag,
arbeitete er doch rastlos. Tag für Tag war er bemüht, das feindliche Milieu, das ihn umgab, unter
seinen Einfluss zu bringen. Er studierte den Charakter jedes einzelnen Gendarmen, jedes
Soldaten, der ihm als Wächter beigegeben wurde. Er beobachtete, verglich, stellte zusammen,
um für jeden eine besondere individuelle Art und Weise seelischer Beeinflussung auszuarbeiten.
Er untergrub tagaus, tagein die Disziplin unter den untersten Dienstgraden, die ihn bewachten;
er erschütterte in ihren Augen die Autorität ihrer Vorgesetzten, agitierte, propagierte,
beeinflusste den Verstand und das Gefühl, zwang zu Eingeständnissen, bemächtigte sich des
Willens der Leute; er nutzte den aussergewöhnlichen Charakter und die Strenge seiner Haft aus,
um seine Person mit einem mysteriösen Schein zu umgeben, der für die Zukunft etwas
Besonderes versprach.
Auf diese Weise vermochte dieser ungewöhnliche Mensch dank seiner zähen, rastlosen
Kleinarbeit, sich etwa 40 seiner Wächter unterzuordnen. Von ihnen hatte er allmählich alle
Einzelheiten über die Einrichtung des Ravelins und der Peter-Pauls-Festung, über ihr
Dienstpersonal, dessen gegenseitige Beziehungen, die Dienstordnung, die Lage der Festung und
der Insel, auf der sich damals der Ravelin befand, erfahren. So hatte er langsam eine Menge von
unschätzbaren psychologischen und materiellen Daten gesammelt, die ihn in die Lage setzten,
einen Plan für seine Befreiung auszuarbeiten und an dessen Verwirklichung zu gehen, nachdem
er ihn vorher jahrelang in seinem Grabe vorbereitet hatte.
Getreu seinen alten Traditionen, meinte Netschajew, dass seine Befreiung unter komplizierten,
mystifizierenden Umständen stattfinden müsse. Seine Befreier sollten, um den militärischen
Dienstgraden zu imponieren, in ordensgeschmückten Militäruniformen erscheinen; sie sollten
erklären, dass ein Staatsumsturz vollzogen, Kaiser Alexander gestürzt und sie im Namen des
neuen Kaisers dem Insassen des Ravelins bekanntzugeben hätten, dass er wieder frei sei. All
dieses Kulissenwerk war natürlich nicht etwa bindend für uns, sondern nur für Netschajew
charakteristisch.
Als die Frage seiner Befreiung in der Sitzung des Komitees aufgeworfen wurde, beschlossen wir
ohne weiteres, die Durchführung dieser Aufgabe der Militärorganisation anzuvertrauen.
Jedoch waren wir darüber einig, das ganze Unternehmen bis zum Frühling hinauszuschieben, um
die Festung durch Boote und nicht über das Eis zu erreichen. Ausserdem hielt es das Komitee für
unmöglich, das Attentat gegen Alexander II. aufzuschieben. Da dessen Vorbereitung die
Konzentration aller Kräfte erforderte, sahen wir uns genötigt, Netschajew mitzuteilen, dass wir
an das Werk seiner Befreiung erst dann herantreten könnten, wenn das Unternehmen gegen
den Zaren zu Ende geführt sein würde.
Entgegen den späteren Behauptungen in der Literatur überliessen wir keineswegs Netschajew
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die Entscheidung dieser Frage. Jeder Aufschub der Vorbereitungen hätte das Attentat auf den
Zaren mit sicherem Misserfolg bedroht. Das Komitee teilte Netschajew seinen Beschluss mit,
und Netschajew antwortete, er werde warten.
Die Verbindung, die mit Netschajew angeknüpft war, wurde eine Zeitlang durch Issajew
aufrechterhalten, er traf gewöhnlich an einer bestimmten Stelle der Strasse einen der Soldaten
aus der Festung, und der übergab ihm den von Netschajew mit Hieroglyphen eigener Erfindung
ausgefüllten Zettel. Am 1. April wurde Issajew verhaftet, die Verbindung riss für eine Zeitlang ab
und wurde dann endgültig abgebrochen nach dem Verrat Mirskis (des Attentäters auf den
Gendarmeriechef Drenteln), der gleichzeitig mit Netschajew im Alexejew-Ravelin der Peter Pauls-
Festung gefangen gehalten wurde. Die Folge dieses Verrats war die Verhaftung der Gendarmen
und Soldaten, die Netschajew ergeben waren; 23 von ihnen wurden vor Gericht gestellt und in
Strafbataillone geschickt, andere gemassregelt. Netschajew selbst starb im Alexejew-Ravelin,
aber die näheren Umstände seines Todes blieben bis zur Revolution in geheimnisvolles Dunkel
gehüllt. Erst auf Grund der Dokumente im Festungsarchiv konnte festgestellt werden, dass er
am 21. November 1882 im Ravelin gestorben war, ohne dass die vielen Narodowolzen, die
damals dort schon gefangen sassen, je die Möglichkeit gefunden hätten, in Verbindung mit ihm
zu treten. Er ist zweifellos, wie mancher andere Bewohner dieser finsteren Kasematte, Hungers
gestorben: die Ernährung war, nachdem die Narodowolzen dort untergebracht worden waren, so
gering, dass nach dem Zeugnis von Bogdanowitsch nach Verlauf eines Monats die Gefangenen
nicht mehr imstande waren zu gehen, ohne sich an den Wänden festzuhalten
Die Soldaten, die infolge ihrer Verbindung mit Netschajew verurteilt und später nach Sibirien
verbannt worden waren, gedachten nach dem Zeugnis allerjener Verbannten, die sie später
kennenlernten, Netschajews, der ihr Leben zugrunde gerichtet hatte, nie mit einem Vorwurf.
Sie alle sprachen von ihm mit einem ganz besonderen Gefühl, das an Angst grenzte, und
sagten, dass sie im Banne seines Willens gestanden hätten. »Es war gar nicht daran zu denken,
etwas nicht zu tun, was er einem befahl«, sagte einer von ihnen, »es genügte, wenn er einen
nur ansah.«
Man erzählte, dass die Soldaten und Unteroffiziere während der Gerichtsverhandlung von
Netschajew wie Menschen gesprochen hätten, die noch immer im Banne der Angst vor ihm
standen. Sie nannten nie seinen Namen; er wurde immer als »er« oder als Nr. 5 bezeichnet.
Aber auch im fernen Sibirien war der gewaltige Einfluss dieses Gefangenen, der ihre Seelen sich
unterjocht hatte, immer noch nicht geschwunden, weder schwere Erlebnisse, noch Zeit und
Entfernung vermochten die Macht dieser Hypnose zu zerstören.
Am 21. Oktober 1882 starb Nechaev an Skorbut.
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2. Anhang
-WORTE AN DIE JUGEND
-EINIGE WORTE AN MEINE JUNGEN BRÜDER IN RUssLAND
-Katechismus des Revolutionärs
-Flugblatt 16.7.1872
-An das schweizerische Volk
-Ist NETSCHAJEFF ein politischer Verbrecher oder nicht?
WORTE AN DIE JUGEND
Wir verstehen unter Revolution eine radikale Umwälzung, eine Ersetzung aller Formen des
zeitgenössischen europäischen Lebens ohne Ausnahme durch neue, ihnen gänzlich
entgegengesetzte.
Sind alle vorhandenen Formen schlecht, so können neue erst dann entstehen, wenn keine
einzige von der Vernichtung verschont geblieben ist; das heisst völlig neue Lebensformen
können nur aus dem vollkommenen Amorphismus (aus der völligen Ertötung) entstehen.
Im entgegengesetzten Falle, das ist, wenn einige alte Formen oder selbst nur eine unversehrt
bleiben sollte, würde dadurch ein Keim der früheren Formen und die Möglichkeit zurückbleiben,
dass dieser sich in der Zukunft üppig entfaltet. Mithin würde die Veränderung nur eine
vermeintliche und provisorische sein und umsonst würden Opfer und Blut vergeudet werden, um
deren Preis man diese Veränderung errungen.
Solche vermeintlichen Veränderungen pflegen bis jetzt in allen Ländern nur von der
niederträchtigen vornehmen Welt bewerkstelligt zu werden. Die Anhänger des Staatstums
hüllten sich in ein oder das andere liberale Flittergewand, führten durch ihre trunkenen Reden
die Volksmassen in den blutigen Kampf; nach dem Siege aber, inmitten der Haufen, der für die
angebliche Freiheit Gefallenen, errichteten sie neue Galgen und Blutgerüste, auf welchen sie
ihre verschont gebliebenen Revolutionsbrüder hinrichteten und auf diese Weise die früheren
drückenden Verhältnisse wieder herstellten. Immer pflegten ehrgeizige Leute die
Unzufriedenheit und den Zorn des Volkes zur Befriedigung ihres Ehrgeizes zu benutzen. Im
Anfang revolutionär und demokratisch, pflegten sie zuletzt Despoten zu werden, und das jeder
Organisation bare, preisgegebene Volk wich stets den dichtgedrängten Heeresmassen, und so
hat es noch nie eine echte Revolution gegeben. (Freilich kann es eine solche bei einem Volke
nicht geben, zwar kann sie in bloss einem Lande ausbrechen, doch zuletzt muss sie von allen
Völkern zu Ende geführt werden.)
Zu einer echten Revolution sind Menschen erforderlich, und zwar nicht solche, die, an der Spitze
der Volksmassen stehend, über sie gebieten, sondern solche, die, unter der Menge selbst
unbemerkt verborgen, ein vermittelndes Glied zwischen den Volksmassen sind und so der
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Bewegung unmerklich ein und dieselbe Richtung, einen Geist und einen Charakter verleihen.
Nur diesen Sinn hat die Leitung einer geheimen vorbereitenden Organisation und nur in bezug
darauf ist sie notwendig.
Die Leiter einer echten Volksrevolution zeigen sich, sobald sie das Leben darauf vorbereitet hat,
durch Handlungen, schliessen sich eng aneinander an und organisieren sich während des
Verlaufs der Sache selbst.
Nicht selten hat lange Untergrundarbeit, die von der wirklichen Tätigkeit getrennt ist,die Reihen
durch unzählige Personen aufgefüllt, die beim ersten Andrange stets den Umständen wichen. Je
näher die Zeit der echten Volksbewegung heranrückt, um so seltener findet eine Spaltung
zwischen Gedanken und Sache statt. Die von den Revolutionsideen durchdrungenen,
unmittelbar vor der Umwälzung lebenden Generationen bergen in ihrer Mitte Menschen, welche
die Zerstörungswut nicht in sich unterdrücken können und die noch vor Ausbruch des
allgemeinen Kampfes schleunigst den Feind ausfindig machen und, ohne zu denken, ihn
vernichten.
Zuerst gleichsam als Ausnahmefälle, die von den Zeitgenossen als Handlungen des Fanatismus
oder der Wut bezeichnet werden, müssen sie immer mehr und mehr in verschiedenen Formen
wiederkehren, um dann gleichsam zu einer epidemischen Leidenschaft der Jugend zu werden
und sich schliesslich in einen allgemeinen Aufstand zu verwandeln. Dies ist der natürliche Weg.
Die Vernichtung hochstehender Personen, in denen die Regierungsformen oder die Formen der
ökonomischen Zersetzung sich verkörpern, muss mit Einzeltaten begonnen werden. Weiterhin
wird diese Arbeit immer leichter werden; in demselben Masse, in dem die Panik in der
Gesellschaftsschicht um sich greifen wird, die dem Untergang geweiht ist. Taten, zu denen
Karakasow 1), Beresowski 2) u.a. die Initiative ergriffen haben, müssen sich beständig häufen
und vermehren und zu Taten der Massen werden, wie die der Kameraden von Schillers Karl Moor.
3) Doch muss mit jenem Idealismus aufgeräumt werden , der es verhinderte, dass man nach
Gebühr handle; er muss durch grausame, kalte, rücksichtslose Konsequenz ersetzt werden. Alle
derartigen kollektiven Taten der Jugend müssen durch den Zufluss empörter, nichts schonender
Volkskräfte rasch und immer mehr einen Volkscharakter annehmen.
In Bezug auf die Zeit enthält der Begriff Revolution zwei gänzlich verschiedene Tatsachen: Den
Anfang, die Zeit der Zerstörung der vorhandenen sozialen Formen, und das Ende, den Aufbau,
das heisst die Bildung vollkommen neuer Formen, aus diesem Amorphismus. Entsprechend einer
jener altersschwachen klassischen Wahrheiten, dass der Anfang keineswegs das Ende sei, wenn
er auch unmerklich in dieses überginge, ist die Zerstörung keineswegs ein Aufbau und mit ihm
unvereinbar. Die Dilettanten und die Philister der Wissenschaft, die satten Grübler der guten
alten Zeit, schrieben im Kampfe mit den Ideen der allgemeinen Revolution langatmige
Abhandlungen über ein und dasselbe Thema:
Ohne einen streng ausgearbeiteten Plan des Aufbaus darf man nicht zerstören. Es scheint
mithin, dass sie vergessen hatten, dass alle die edlen, heiligen Menschen, die von der Idee eines
neuen Lebens beseelt waren und auf friedlichem Wege dem Bestehenden versuchsweise
bessere Formen geben wollten, überall verfolgt, geächtet und mannigfachen Leiden und Qualen
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ausgesetzt waren; ferner, dass wir nach Millionen von Opfern zur Überzeugung gelangt sind,
dass nur eine gewaltige Umwälzung, ein Kampf auf Leben und Tod zwischen den Geniessenden
und den Unterdrückten, die entstellte Welt erneuern könne...
Unser erstes ist der Kampf, kalter, erbitterter Kampf; unser Ziel ist die vollständige Zerstörung
aller beengenden Bande. Ich spreche nicht von den professionellen Lügnern, den
niederträchtigen Feiglingen, den Lakaien des Despotismus, die gemietet sind, in Literatur und
Wissenschaft die bestehende Ordnung zu verteidigen. Wir kennen auch solche, die aufrichtig
Pläne zu einem besseren Leben aussinnen. Sie wissen gut, dass man für keine Änderung, die der
Regierung nicht gefällt, ihre Zustimmung erlangen kann. Sie wissen, dass die Vorteile der
Regierung denen des Volkes diametral entgegengesetzt sind; sie begreifen, sie wissen, dass
man mit Gewalt alles nehmen müsste... Dennoch ersinnen sie solche Pläne, der Teufel weiss, für
wen und wozu. Da sie ihr Material aus den bestehenden widerwärtigen Verhältnissen schöpfen,
so ist das Resultat stets dasselbe ekelhaftes Zeug. Jahrzehnte, Jahrhunderte hindurch pflegten
diese dummen Leute ihren Wanst mit der Habe des Volkes vollzustopfen und nur dummes Zeug
auszusinnen. Sie haben ganze Bände geschrieben; mit diesen Bänden wurden Bibliotheken
angelegt, die Jugend las sie und das Gelesene wurde wieder aufs Papier geworfen.
So hat unsere Zeit einen Haufen der verschiedensten Rechte des Menschen-Sklaven geerbt,
einen Haufen philosophischer Systeme des abergläubigen Menschen. Systeme, von denen das
eine aus dem anderen entstand und eines das andere verzehrte und so weiter, und dies alles
nennt man Wissenschaft... Abscheulich...
Die italienischen Bauern verstehen jetzt 4), die echte Revolution ins Werk zu setzen: sie
verbrennen alles Papier, sobald sie sich einer Stadt bemächtigen. Eine solche Vernichtung muss
überall stattfinden. Wir sagen: Eine unvollständige Zerstörung ist unvereinbar mit dem Aufbau
und daher muss sie absolut und ausschliesslich sein. Die jetzige Generation muss mit der echten
Revolution beginnen. Sie muss mit der völligen Veränderung aller sozialen Lebensbedingungen
beginnen, das heisst, die jetzige Generation muss alles Bestehende ohne Unterschied blindlings
zerstören in dem einzigen Gedanken: möglichst rasch und möglichst viel. Und da die jetzige
Generation selbst unter dem Einfluss jener verabscheuungswürdigen Lebensbedingungen stand,
welche sie jetzt zu zerstören hat, so darf der Aufbau nicht ihre Sache sein, sondern die Sache
jener reinen Kräfte, die in den Tagen der Erneuerung entstehen. Die Abscheulichkeiten der
zeitgenössischen Zivilisation, in der wir aufgewachsen, haben uns der Fähigkeit beraubt, das
Paradiesgebäude des zukünftigen Lebens aufzurichten, von dem wir nur eine nebelhafte
Vorstellung haben können, indem wir uns das dem bestehenden ekelhaften Zeug
Endgegengesetze denken!
Für Leute der bereits begonnenen praktischen Revolutionssache halten wir jegliche
Betrachtungen über diese nebelhafte Zukunft für verbrecherisch, da sie nur der Sache der
Zerstörung als solcher hinderlich sind, den Gang des Anfangs der Revolution aufhalten, dadurch
also ihr Ende in die Ferne rücken . Bei einer praktischen Sache ist dies eine nutzlose
Geistesschändung, eine Selbstbefleckung der Gedanken. Wir müssen uns ah so aufgrund des
Gesetzes der Notwendigkeit und strengen Gerechtigkeit ganz der beständigen, unaufhaltsamen,
unablässigen Zerstörung weihen, die so lange crescendo wachsen muss, bis nichts von den
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bestehenden sozialen Formen zu zerstören bleibt.
Nicht die Konspiration ist unsere Aufgabe, sondern der tatsächliche Kampf vom ersten Schritte
an. Alles, was für die Sache der Erneuerung des russischen Landes von Nutzen ist, erwächst aus
diesem Kampfe. In dem Masse, in dem der Kampf wächst, werden auch unsere Kräfte wachsen.
Daher die Abneigung gegen Trägheit, bei wem und worin sie sich auch äussert. Wir müssen mit
allen Mitteln diesen verderblichen sozialen Schlaf stören, 'diese Eintönigkeit, diese Apathie! Wir
glauben nur denjenigen, die ihre Ergebenheit für die Revolutionssache durch die Tat äussern,
ohne Folter oder Kerker zu fürchten; daher verwerfen wir alle Worte, denen nicht die Tat auf dem
Fusse folgt. Wir haben jene zwecklose Propaganda, die zur Verwirklichung der Revolutionsziele
sich weder an die Zeit noch an den Raum hielt, nicht mehr nötig! ... Sie ist uns vielmehr
hinderlich und aus allen Kräften werden wir ihr entgegenwirken! ... Wir wollen, dass jetzt nur die
Tat das Wort führe, wir wollen nicht, dass sich der Geist im eitlen Geschwätz vernichte, dass der
Ton der Polemik, der Eifer in der Presse die Charaktere schände, neue Schwätzer hervorbringe
und die Aufmerksamkeit auf leeres Zeug ablenke , die sich jetzt auf richtigere Dinge
konzentrieren muss. All die Schwätzer, die dies nicht begreifen sollten, werden wir mit Gewalt
zum Schweigen bringen! ...
Wir zerreissen alle Bande mit den politischen Emigranten, welche nicht in die Heimat
zurückkehren wollten, um sich in unsere Reihen zu stellen, und, solange diese Reihen noch
unsichtbar sind, auch mit all denjenigen, die nicht dazu beitragen wollen, dass diese Reihen
öffentlich auf der Bühne des russischen Lebens auftreten. (Eine Ausnahme ist nur für jene
Emigranten erlaubt, welche sich bereits als Arbeiter der europäischen Revolution betätig
haben!)
Wir wenden uns jetzt zum ersten und letzten Mal an alle oppositionellen Elemente im russischen
Leben und fordern sie zur sofortigen praktischen Tätigkeit auf. Sie mögen sich im Kampfe all den
Ihrigen zu erkennen geben und im Namen der Sache und ihrer Tätigkeit sich ihnen anschliessen.
Wir werden keine Wiederholungen und Aufrufe mehr erschallen lassen. Wer Ohren und Augen
hat, wird die Kämpfenden sehen und hören und wenn er sich ihnen nicht anschliesst, so werden
nicht wir es sein , die an seinem Untergang schuld sein werden, ebensowenig wie daran, dass
alles, was sich aus Feigheit und Niederträchtigkeit hinter den Kulissen versteckt, mit diesen
Kulissen erbarmungs- und schonungslos zerschmettert werden wird.
Wenn wir auch keine andere Tätigkeit als die Sache der Zerstörung anerkennen, so sind wir
dennoch der Meinung, dass die Formen, in denen diese Tätigkeit sich äussern mag,
ausserordentlich mannigfaltig sein können. Gift, Dolch, Schlinge und dergleichen! ... Die
Revolution heiligt alles in diesem Kampfe in gleicher Weise. Das Feld ist also frei! ... Die Opfer
sind von der unverhohlenen Volksempörung gezeichnet! Mögen also alle ehrlichen, frischen
Köpfe sich nach jahrhundertelanger Schändung zur Erneuerung des Lebens aufraffen. Mögen die
letzten Tage der sozialen Blutegel trübe sein. Jammergeschrei der Angst und der Reue wird in
der Gesellschaft ertönen.
Die lumpigen Literaten werden lyrische Töne anschlagen. Sollen wir darauf achten? Mitnichten.
Wir müssen gleichgültig gegen all dieses Geheul bleiben und uns mit den dem Untergange
Geweihten in keinerlei Kompromisse einlassen. Man wird es Terrorismus nennen. Man wird ihm
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einen tönenden Spitznamen. geben. Nun wohl, uns ist es gleichgültig. Wir scheren uns nicht um
ihre Meinung. Wir wissen, dass kein einziger in ganz Europa ein ruhiges, bürgerliches Leben lebt
und dass kein einziger ehrlicher Mensch uns, ohne heucheln zu müssen, einen Vorwurf machen
kann.
Von der zeitgenössischen Literatur, die aus lauter Denunziationen und Schmeicheleien besteht,
von der käuflichen Literatur dürfen wir nichts als Abscheulichkeiten und Gerede erwarten. Die
Interessen der zeitgenössischen realen Wissenschaft sind die Interessen des Zaren und des
Kapitals, denen
sie ausschliesslich dient, ausschliesslich, weil bis jetzt keine einzige Entdeckung im Volksleben
zur Anwendung kam; alle Entdeckungen werden entweder von den grossen Herren, Dilettanten
und Schacherern ausgebeutet oder zur Vermehrung der militärischen Macht angewandt.
Die ganze Erfindungsgabe der Studierenden wird nicht auf die Bedürfnisse des Volkes gerichtet.
Daher sind auch die Interessen dieser realen Wissenschaft nicht die unsrigen. Brauchen wir
denn noch von der sozialen Wissenschaft zu sprechen?
Wem sind nicht Dutzende teurer Namen bekannt, die nach Sibirien oder sonstwo in die
Verbannung getrieben wurden, weil sie mit dem ehrlichen Wort der warmen Überzeugung die
Menschenrechte wieder herstellen wollten? Ihre feurigen, Glaube und Liebe atmenden Reden
wurden von der rohen Gewalt erstickt.
Die jetzige Generation muss selbst eine schonungslose, rohe Kraft schaffen und unaufhaltsam
den Weg der Zerstörung gehen. Der gesunde, unverdorbene Verstand der Jugend muss
begreifen, dass es bedeutend menschlicher ist, Dutzende, ja Hunderte von Verhassten zu
erdolchen und zu erstikken , als im Verein mit ihnen sich an systematischen, gesetzlichen
Mordtaten, an den Qualen und der Marter an Millionen von Bauern zu beteiligen, woran unsere
Tschinowniks, unsere Gelehrten, unsere Popen, unsere Kaufleute, mit einem Wort, alle Leute von
Stand, welche die, die zu keinem Standegehören, unterdrücken, mehr oder minder unmittelbar
teilhaben... Mögen also alle gesunden, jungen Köpfe sofort an die heilige Sache der Ausrottung
des Bösen, der Läuterung und Aufklärung der russischen Erde durch Feuer und Schwert gehen
und sich brüderlich mit denen vereinigen, die dasselbe in ganz Europa tun werden.
1) Dimitri V. Karakasow (1840-1866), russischer Revolutionär und Mitglied der terroristischen Gruppe von Igutin an der
Moskauer Universität, verübte am 4. (16.) April 1866 ein Attentat auf Zar Alexander II. Der Versuch misslang; er
wurde verhaftet und hingerichtet.
2) Antoni Beresowski (1847-1916), polnischer Revolutionär, war nach dem polnischen Aufstand von 1863 nach Paris
geflüchtet, wo er am 24. Mai 1867 ein Attentat auf Zar Alexander II. während der Pariser Weltausstellung versuchte.
Der Versuch misslang; er wurde verhaftet und zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Es gibt Hinweise, dass Netschajew von diesen Attentaten sehr beeindruckt war, besonders von dem des Karakasows.
(Am 13. März 1881 gelang russischen Nihilisten dann doch das Attentat.)
3) Dass Netschajew Schillers Räuber erwähnt, mag sicherlich damit zusammenhängen, dass er das "erhabene
Verbrechen" bejaht, von ihm fasziniert war.
4) Guiseppe Garibaldi (1807-1882) nahm an den nationalen Befreiungsbewegungen in Italien teil. Im Jahre 1869
landete er mit seinen Truppen in Marsala (Sizilien), um das Land von französischen und anderen Besatzungsmächten
zu befreien.
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EINIGE WORTE AN MEINE JUNGEN BRÜDER IN RUSSLAND
Ihr erhebt Euch von neuem. Also, es ist nicht gelungen, Euch lahmzulegen. Dieser zerstörende
Geist, der Euch beseelt, ist also nicht das ephemere (vorübergehende) Erzeugnis einer
jugendlichen Überspanntheit, sondern der Ausdruck eines Lebensbedürfnisses und einer
wirklichen Leidenschaft. Er entspricht den Tiefen des Volkslebens.
Wenn Eure revolutionären Bestrebungen nur eine äusserliche, vorübergehende Krankheit wären,
der einfältige Kitzel der Eitelkeit junger Leute, so wären die gewaltigen Mittel, welche unsere
vaterländische Regierung angewendet hat, um Euch zu heilen, schon längst von Erfolg gekrönt
gewesen. Schon längst wäret Ihr, mit Verzichtleistungen auf den gefahrvollen Wahnwitz zu
denken, mit Verzichtleistung auf alles das, was im Menschen Menschliches ist, unter dieser
Menge von beamteten und hochgestellten Ungeheuern, welches das Volk plündern und das
Land verzehren, neue Ungeheuer geworden. Ihr würdet Euch den Namen von "Patrioten des
Reichs alles Reussen" verdient haben.
Die studierende Jugend Russlands hat schon viele Stürme durchgemacht. Nach den Stürmen von
1861, während und nach dem polnischen Aufstande hat dieser "gute Kaiser Alexander" seine
Kräfte nicht geschont, um Euch eine gründliche politische Erziehung zu geben. Ermutigt durch
unsere "patriotische" Presse, durch die Slavenfreunde ebenso wie durch die Anhänger der
bürgerlichen Zivilisation des Okzidents, durch unsere Landjunker gleichzeitig wie durch unsere
Liberalen, hat er sich reichlich gegen Euch aller Mittel bedient, welche ihm die Tataren erblich
vermacht haben und die die deutsche Bürokratie später so ausserordentlich vervollkommnet
hat: Knute, Spiessrute, Folter, Galgentod und Hungertod, lebenslängliche Zuchthausstrafe und
Massenexil; er hat alles angewendet, um Eure Kraft zu ermessen, Euren beharrlichen Willen,
Euren Glauben an die Sache des Volkes.
Nichts hat Euch ausser Fassung gebracht, Ihr habt Euch aufrecht erhalten, also seid Ihr stark.
Viele Eurer Genossen sind umgekommen. Aber für jedes eingescharrte Opfer sind zehn neue
Kämpfer aus der Erde emporgesprossen. Also ist das Ende dieses ruchlosen "Reiches aller
Reussen" nahe.
Woher schöpft Ihr Eure Kraft und Euren Glauben? Einen Glauben ohne Gott, eine Kraft ohne
Hoffnung! Woher nehmt Ihr diese Seelenstärke, Eure ganze Existenz aufs Spiel zu setzen und
der Folter und dem Tode ohne Eitelkeit und Phrasen die Stirne zu bieten? Wo ist die Quelle
dieses unerbittlichen. Gedankens der Zerstörung und dieser nüchternen Entschlossenheit, vor
der unseren Gegnern der Verstand still steht und das Blut in den Adern gerinnt? Unsere offizielle
und offiziöse Presse, welche die Stimmung des russischen Volkes wiederzugeben vorgibt, bleibt
ausser Fassung vor Euch stehen; sie begreift es nicht mehr.
Wäret Ihr Diener des Kaisers und des Reiches, Spione, Henker, Privat- oder Staatsdiebe mit oder
ohne Einbruch, "gutgesinnte" Canaillen, liberale Kriecher, Würger der Bauern und Polen, hättet
Ihr Tausende oder Zehntausende menschlicher Wesen umgebracht - diese teure Presse hätte es
Euch verziehen und kaum hättet Ihr den Zeitungsredaktionen Eure Erkenntlichkeit bewiesen, so
hätten sie Euch als "Retter des Kaiserreichs" ausgerufen, gerade so, wie sie es mit Murawjow,
dem Henker* , gemacht haben.
Wäret Ihr eine ideale, doktrinäre und sentimentale Jugend, würdet Ihr Euch lediglich über Kunst
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und Wissenschaft, über Freiheit und Humanität theoretisch, im geselligen Kreis und durch
Bücher unterhalten - man würde Euch das auch noch verzeihen. Denn die würdigen Veteranen
dieser verächtlichen Presse haben in gleicher Weise ihre Jugend verlebt. Auch sie haben
geschwärmt, als sie noch Studenten waren. Begeistert von, schönen Theorien, haben sie auch
geschworen, ihr Leben dem Kultus des Idealen zu weihen, den edlen Heldentaten, dem Dienste
der Freiheit und Menschenliebe. Dann kam die Erfahrung; eine Erfahrung, die in der
verwerflichsten Welt, die man sich nur denken kann, gemacht wurde, und unter dem Einfluss
dieser Welt sind sie das geworden, was sie jetzt sind - Canaillen. Aber sie erinnern sich noch mit
Rührung ihrer Jugendträume und würden Euch die Euren gern verziehen haben; um so mehr, als
sie der Überzeugung leben, dass Ihr unter dem Einfluss derselben Verhältnisse noch schlechter
werden würdet als sie.
Was sie Euch nie verzeihen werden, das ist, dass Ihr weder Schurken noch Träumer werden
wolltet. Ihr verachtet diese hassenswerte Welt, deren wirkliche Verhältnisse Euch erdrücken,
ebenso wie die ideale Welt, welche bis jetzt den reinen Seelen als Zuflucht vor den bestehenden
ruchlosen Zuständen gedient hat. Das ist es, was unsere patriotische Presse an Euch erschreckt.
Sie weiss nicht, was und wohin Ihr wollt.
In ihrer Bestürzung sucht die Presse von Petersburg und Moskau einen Ausweg und posaunt
einstimmig in die Welt hinaus, -die gegenwärtige Bewegung der russischen Jugend finde ihre
Quelle in 'polnischen Intrigen'. Nichts unsinniger als das!
Zwischen dem Programm der polnischen Patrioten und der russischen Jugend, welche die
sozialistische und revolutionäre Idee repräsentiert, besteht eine grosse - Kluft zwischen der
Majorität der polnischen - Patrioten und uns ist nichts weiter gemeinsam als das eine Gefühl und
Ziel: der Hass gegen das Gesamtrussland und der feste Wille, es zu zerstören - so schnell wie
möglich. Das ist der einzige Punkt, worin wir übereinstimmen. Einen Schritt weiter - und die Kluft
öffnet sich zwischen uns: Wir wollen die definitive Abschaffung all dessen, was den Staat
zusammenhält, sowohl innerhalb als auch ausserhalb Russlands, und die Polen zielen nur auf die
Wiederherstellung ihres historischen Staates hin.
Dies ist gegen unser Prinzip, weil jeder Staat, möge seine Gestaltung noch so demokratisch sein,
die arbeitenden Volksmassen zu Gunsten einer nichtarbeitenden Minorität aussaugt. Die Polen
träumen das Unmögliche, weil in Zukunft die Staaten sich nicht erhalten werden; sie werden
fallen, durch die Emanzipation der Massen vernichtet.
Ohne es zu wissen und zu wollen, richten sie ihre Träume auf eine neue Sklaverei ihres Volkes
hin; wenn sie zur Verwirklichung dieses Traumes gelangen sollten - nicht durch die Volksmacht,
die sich ohne Zweifel nicht dazu hergeben wird, sondern mit Hilfe auswärtiger Bajonette - ,
würden sie ebenso unsere Feinde wie die Unterdrücker ihres eigenen Volkes werden. Wir werden
sie dann im Namen der sozialen Revolution und der Freiheit der ganzen Welt bekämpfen. Aber
bis dahin sind sie unsere Freunde und müssen wir ihnen helfen, weil ihre Sache - die Zerstörung
des Russenreichs - auch unsere ist. Für die Russen und die Nichtrussen, die heute im russischen
Reiche gefesselt sind, gibt es keinen gefährlicheren Feind als dieses Kaiserreich selbst. Die
polnischen Patrioten haben dies nie begriffen und darum ist ihr Einfluss auf die revolutionäre
russische Bewegung so gering gewesen.
67
Also: Nicht polnische Intrigen sind es, welche die russische Jugend in Flammen setzen, sondern
eine weit riesigere Macht: Das Erwachen des Volkslebens.
Die gegenwärtige Regierung bietet eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Regierung des Zars
Alexis, Vater Peter des Grossen, welcher trotz seiner "historischen" Gutmütigkeit das Volk
geplündert und niedergemetzelt hat - zum grössten Ruhm des Staates und zum Nutzen einer
adeligen und beamteten Clique, ganz wie es heute der "Befreier der Bauern", dieser vortreffliche
Kaiser Alexander II. , macht. Damals wie heute verliess das unglückliche, mit Füssen getretene,
gefolterte Volk seine Dörfer und flüchtete sich in die Wälder. Heute wie damals regt sich diese
zahllose Volksmasse, die endlich den kaiserlichen Betrug mit Augen wahrnimmt, und erwartet
ihre Befreiung nur von unten, auf dem Wege, den ihr vor gerade 200 Jahren ihr Held Stenka
Razin* vorgezeichnet hat.
Man merkt das Herannahen eines neuen blutigen Ereignisses, eines letzten Kampfes auf Tod und
Leben zwischen dem Volk und dem Staate Russlands.
Wer wird diesmal triumphieren? Unzweifelhaft das Volk. Stenka Razin war zwar ein Held, aber er
war allein unter allen und stand allen zu hoch. Seine persönliche, wirklich riesenhafte Stärke war
gleichwohl nicht hinreichend, um der grösstenteils organisierten Staatsmacht Widerstand zu
leisten. Als er unterging, ging alles mit ihm unter. Das ist heute anders. Zwar gibt es keinen so
starken und volkstümlichen Helden wie Stenka Razin *), welcher die ganze Macht der
aufständischen Massen in seiner Person vereinigte. Aber er ist ersetzt durch diese Legion
ruhmloser junger Leute des niederen Standes, welche jetzt schon am Volksleben teilnehmen und
durch dieselbe leidenschaftliche Begeisterung für ein und dieselbe Idee und für ein
gemeinsames Ziel vereint dastehen.
Die Vereinigung dieser Jugend mit dem Volke, das ist das Unterpfand des Volkssieges.
Diese Jugend ist unerschütterlich tapfer, weil sie ihren Gedanken und unversöhnlichen Willen
aus der Leidenschaft des Volkes schöpft. Sie sucht nicht ihren Sondersieg, sondern den Sieg des
Volkes. Stenka Razins Geist schwebt darüber, und zwar nicht der persönliche Held, sondern der
Begriff des Heldentums, der, indem er die Gesamtheit durchdringt, sie unbesiegbar macht. Das
ist diese herrliche Jugend, über der sein Geist schwebt.
Das ist der wahre Sinn der gegenwärtigen Bewegung, die in ihrem Auftreten zwar noch
unschädlich, aber trotz dieser scheinbaren Unschädlichkeit doch schon unsere ganze offizielle,
offiziöse und patriotisch-literarische Welt stutzig macht.
Freunde, verlasset also in Bälde diese der Vernichtung anheimfallende Welt! Verlasset diese
Universitäten, diese Akademien, diese Schulen, von denen man Euch jetzt wegjagt und in denen
man Euch nur vom Volke zu trennen gesucht hat. Geht unter das Volk! Da muss Eure Laufbahn,
Euer Leben und Eure Wissenschaft sein! Lernt inmitten dieser Massen, deren Hände rauh durch
Arbeit, wie Ihr der Volkssache dienen müsst. Und denket daran, Brüder, dass die studierende
Jugend weder Herr noch Beschützer, noch Wohltäter, noch Diktator des Volkes sein darf, sondern
einzig der Beistand seiner freiwilligen Emanzipation, der einigende und ordnende Mittelpunkt
der Volkskräfte.
Kümmert Euch in diesem Augenblick nicht um die Wissenschaft, in deren Namen man Euch
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fesseln und züchtigen wollte. Diese offizielle Wissenschaft muss mit der Welt, welche sie
ausdrückt und welcher sie dient, untergehen und an ihrer Stelle wird sich nach dem Volkssiege
aus den Tiefen des entfesselten Volkslebens selbst eine neue, vernünftige und lebensfähige
erheben.
Das ist der Glaube der besseren Menschen des Abendlandes, wo, ebenso wie in Russland, die
alte Welt der auf Religion, Metaphysik und Jurisprudenz gegründeten Staaten, mit einem Wort:
der auf der "bürgerlichen" Zivilisation und ihrer notwendigen Ergänzung - dem Erbrecht und der
juristischen Familie - beruhenden Staaten zu wanken beginnt, um einer internationalen und frei
auf Arbeit organisierten Welt Platz zu machen.
Man lügt, wenn man Euch sagt, dass Europa in tiefem Schlaf versunken liegt. Im Gegenteil: es
erwacht und man müsste taub und blind sein, wenn man das Herannahen eines letzten Kampfes
nicht merkte.
Die Arbeiterwelt Europas und Amerikas ruft Euch, indem sie sich für diesen Kampf vorbereitet
und sich durch aller Staaten [und] Gebiete die Hand reicht - sie ruft Euch zum Bruderbündnis!
Genf, Mai 1869 Michael Bakunin
* Michail Nikolajewitsch Murawjow (1796 - 1866), Generalgouverneur des nord-östlichen Teil Polens
(Generalgouvernement Wilna), schlug den polnischen Aufstand von 1863 blutig nieder.
* Stenka Razin war Führer des Bauern- und Kosakenaufstandes (1666-1671) gegen die Leibeigenschaft.
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Katechismus des Revolutionärs
Pflichten des Revolutionärs gegen sich selbst
1. Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch. Er hat keine persönlichen Interessen,
Angelegenheiten, Gefühle oder Neigungen, kein Eigentum, nicht einmal einen Namen. Alles in
ihm wird verschlungen von einem einzigen ausschliesslichen Interesse, einem einzigen
Gedanken, einer einzigen Leidenschaft – der Revolution.
2. In der Tiefe seines Wesens, nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat, hat er vollständig
gebrochen mit der bürgerlichen Ordnung und mit der gesamten zivilisierten Welt, mit den in
dieser Welt landläufig anerkannten Gesetzen, Herkommen, Moral und Gebräuchen. Er ist ihr
unversöhnlicher Gegner, und wenn er in dieser Welt fortlebt, so geschieht es nur, um sie desto
sicherer zu vernichten.
3. Ein Revolutionär verachtet jeden Doktrinarismus und verzichtet auf die Wissenschaft der
heutigen Welt, die er den zukünftigen Generationen überlässt. Er kennt nur eine Wissenschaft:
die Zerstörung. Hierzu und nur hierzu studiert er Mechanik, Physik, Chemie und vielleicht auch
Medizin. Zu demselben Zweck studiert er Tag und Nacht die lebendige Wissenschaft – die
Menschen, Charaktere, Verhältnisse, sowie alle Bedingungen der gegenwärtigen sozialen
Ordnung auf allen möglichen Gebieten. Der Zweck ist derselbe, die schnellste und sicherste
Zerstörung dieser unflätigen (poganyi) Weltordnung.
4. Er verachtet die öffentliche Meinung. Er verachtet und hasst die gegenwärtige
gesellschaftliche Moral in allen ihren Antrieben und allen ihren Kundgebungen. Für ihn ist alles
sittlich, was den Triumph der Revolution begünstigt, alles unsittlich und verbrecherisch, was ihn
hemmt.
5. Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch (der sich nicht mehr selbst angehört), er hat keine
Schonung für den Staat überhaupt und für die ganze zivilisierte Klasse der Gesellschaft und er
darf eben sowenig Schonung für sich erwarten. Zwischen ihm und der Gesellschaft herrscht
Krieg auf Tod und Leben, offener oder geheimer Kampf, aber stets ununterbrochen und
unversöhnlich. Er muss sich daran gewöhnen, jede Marter zu ertragen.
6. Streng gegen sich selbst, muss er es auch gegen andere sein. Alle Gefühle der Neigung, die
verweichlichenden Empfindungen der Verwandtschaft, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit,
müssen in ihm erstickt werden durch die einzige, kalte Leidenschaft [428] des revolutionären
Werks. Für ihn existiert nur ein Genuss, ein Trost, ein Lohn, eine Befriedigung: der Erfolg der
Revolution. Tag und Nacht darf er nur einen Gedanken, nur einen Zweck haben – die
unerbittliche Zerstörung. Während er diesen Zweck kaltblütig und unaufhörlich verfolgt, muss er
selbst zu sterben bereit sein und ebenso bereit, mit eigenen Händen jeden zu töten, der ihn an
der Erreichung dieses Ziels hindert.
70
7. Die Natur des wahren Revolutionärs schliesst jede Romantik, jede Empfindsamkeit, jeden
Enthusiasmus und jede Hinreissung aus; sie schliesst sogar persönlichen Hass oder Rache aus.
Die revolutionäre Leidenschaft, bei ihm zu einer alltäglichen und beständigen Gewohnheit
geworden, muss mit kalter Berechnung gepaart sein. Immer und überall muss er nicht seinen
persönlichen Trieben, sondern nur dem gehorchen, was ihm das allgemeine Interesse der
Revolution vorschreibt.
Pflichten des Revolutionärs gegen seine Revolutionsgenossen
8. Der Revolutionär kann Freundschaft und Zuneigung nur zu dem hegen, der durch Taten
bewiesen hat, dass er gleichfalls Agent der Revolution ist. Der Grad der Freundschaft,
Ergebenheit und sonstiger Verbindlichkeiten gegen einen solchen Gefährten bemessen sich nur
nach dessen Nützlichkeit in dem praktischen Werke der allzerstörenden (vserasruschitelnoi)
Revolution.
9. Es ist überflüssig, von der Solidarität unter den Revolutionären zu reden, auf ihr beruht die
ganze Macht des revolutionären Werks. Die Revolutionsgenossen, welche auf gleicher Höhe
revolutionären Verständnisses und revolutionärer Leidenschaft sich befinden, müssen soviel wie
möglich über alle wichtigen Angelegenheiten gemeinschaftlich beraten und ihre Beschlüsse
einstimmig fassen. Bei Ausführung einer so beschlossenen Sache muss jeder möglichst nur auf
sich selbst rechnen. Wo es sich um Ausführung einer Reihe zerstörender Handlungen handelt,
muss jeder auf eigene Hand tätig sein und Hülfe und Rat von seinen Gefährten nur
beanspruchen, wo es für den Erfolg unumgänglich ist.
10. Jeder Revolutionsgenosse muss mehrere Revolutionäre zweiter oder dritter Ordnung, d.h.
solche, die noch nicht vollständig eingeweiht sind, in seiner Hand haben. Er muss dieselben als
einen, seiner Verfügung anvertrauten Teil des allgemeinen revolutionären Kapitals betrachten. Er
muss ökonomisch mit seinem Kapitalanteil wirtschaften und möglichst grossen Nutzen aus
demselben herausschlagen. Er hat sich selbst auch nur als ein Kapital zu betrachten, das für den
Triumph des Revolutionswerks verwendet wird, als ein Kapital jedoch, über das er nicht allein
und ohne Zustimmung sämtlicher vollständig eingeweihter Genossen verfügen kann.
11. Wenn sich ein Kamerad in Gefahr befindet, so darf der Revolutionär bei der Frage, ob er ihn
retten soll oder nicht, kein persönliches Gefühl zu Rate ziehen, sondern einzig und allein das
Interesse der Sache der Revolution. Demnach muss er auf der einen Seite den Nutzen, welchen
sein Kamerad gewährt, auf der anderen den Aufwand an Revolutionskräften, den seine
Befreiung erfordert, gegeneinander abwägen und handeln, je nachdem sich die Waage zur einen
oder andern Seite neigt.
71
Pflichten des Revolutionärs gegen die Gesellschaft
12. Ein neues Mitglied kann, nachdem es seine Proben nicht in Worten, sondern in Taten
abgelegt hat, nur mit Einstimmigkeit in die Assoziation aufgenommen werden.
13. Ein Revolutionär tritt in die Welt des Staates, in die Welt der Klassen, in die sich zivilisiert
nennende Welt und lebt in derselben einzig aus dem Grunde, weil er an ihre nahe und
vollständige Vernichtung glaubt. Er ist kein Revolutionär, wenn er noch an irgend etwas in dieser
Welt hängt. Er darf nicht zurückbeben, wo es sich darum handelt, irgendein jener alten Welt
angehöriges Band zu zerreissen, irgendeine Einrichtung oder irgendeinen Menschen zu
vernichten. Er muss alles und alle gleichmässig hassen. Um so schlimmer für ihn, wenn er in
jener Welt Bande der Verwandtschaft, Freundschaft oder Liebe hat; er ist kein Revolutionär,
wenn diese Bande seinen Arm aufhalten können.
14. Um der unerbittlichen Zerstörung willen kann der Revolutionär, und muss er sogar oft,
mitten in der Gesellschaft leben und dabei den Schein bewahren, er sei ein ganz anderer als er
wirklich ist. Ein Revolutionär muss sich überall Eingang verschaffen, in der höheren Gesellschaft
wie beim Mittelstand, im Kaufmannsladen, in der Kirche, im aristokratischen Palast, in der
bürokratischen, militärischen und literarischen Welt, in der dritten Sektion (geheime Polizei) und
selbst im kaiserlichen Palast.
15. Jene ganze unflätige Gesellschaft teilt sich in mehrere Kategorien. Die erste besteht aus
denen, die unverzüglich dem Tode geweiht sind. Die Genossen mögen Listen dieser Verurteilten
aufstellen, nach dem Grade ihrer verhältnismässigen Bösartigkeit und mit Rücksicht auf den
Erfolg des Revolutionswerkes geordnet, und zwar so, dass die ersten Nummern vor den übrigen
abgefertigt werden.
16. Bei der Aufstellung dieser Listen, bei der Feststellung der Kategorien darf nicht die
individuelle Verderbtheit eines Menschen entscheiden oder gar der Hass, den er den Mitgliedern
der Organisation oder dem Volke einflösst. Können doch selbst diese Verderbtheit und dieser
Hass gewissermassen nützlich sein, indem sie zum Volksaufstand reizen. Man darf nur den
Masstab des Nutzens berücksichtigen, der aus dem Tode einer bestimmten Person für das
Revolutionswerk hervorgehen kann. An erster Stelle müssen die vernichtet werden, die für die
revolutionäre Organisation am verderblichsten sind und deren gewaltsamer und plötzlicher Tod
am geeignetsten ist, die Regierung zu erschrecken und ihre Macht zu erschüttern, indem er sie
der energischsten und intelligentesten Agenten beraubt.
17. Die zweite Kategorie besteht aus denen, welchen man provisorisch (!) das Leben lässt, damit
sie durch eine Reihe empörender Taten das Volk zum unvermeidlichen Aufstand treiben.
18. Zur dritten Kategorie gehört eine grosse Anzahl hochstehender Bestien die weder durch
72
Geist noch durch Energie sich auszeichnen, die aber vermittelst ihrer [430] Stellung Reichtum,
hohe Verbindungen, Einfluss und Macht besitzen. Man muss sie auf alle mögliche Art ausbeuten,
man muss sie umgarnen und verwirren, und, indem man sich zum Herrn ihrer schmutzigen
Geheimnisse macht, sie zu unsern Sklaven machen. Auf diese Weise werden ihre Macht, ihre
Verbindungen, ihr Einfluss und ihr Reichtum zu einem unerschöpflichen Schatze und zu einer
kostbaren Hülfe bei mannigfaltigen Unternehmungen.
19. Die vierte Kategorie besteht aus allerlei ehrgeizigen Beamten und aus den Liberalen der
verschiedenen Schattierungen. Mit diesen kann man nach ihrem eigenen Programm
konspirieren, indem man tut, als ob man ihnen blindlings folge. Man muss sie in unsere Hand
bringen, sich ihrer Geheimnisse bemächtigen, sie vollständig kompromittieren, so dass ihnen
der Rückzug unmöglich wird, und sich ihrer zur Herbeiführung von Unruhen im Staate bedienen.
20. Die fünfte Kategorie bilden die Doktrinäre, Verschwörer, Revolutionäre, alle diejenigen,
welche in Versammlungen oder auf dem Papier Geschwätz machen. Man muss sie unaufhörlich
zu praktischen und gefahrvollen Kundgebungen treiben und fortreissen, deren Erfolg sein wird,
dass der grösste Teil von ihnen verschwindet, während einige darunter sich zu echten
Revolutionären entwickeln.
21. Die sechste Kategorie ist von grosser Bedeutung; es sind die Frauen, die in drei Klassen
einzuteilen sind. Zur ersten gehören die oberflächlichen Frauen, ohne Geist und Herz, deren
man sich in derselben Weise bedienen muss, wie der Männer der dritten und vierten Kategorie.
Zur zweiten Klasse gehören die leidenschaftlichen, hingebenden und befähigten Frauen, die
jedoch nicht zu uns gehören, weil sie noch nicht zum praktischen und phrasenlosen
revolutionären Verständnis emporgedrungen sind; man muss sie benutzen wie die Männer der
fünften Kategorie. Endlich kommen die Frauen, die ganz und gar zu uns gehören, das heisst, die
vollständig eingeweiht sind und unser gesamtes Programm angenommen haben. Sie müssen wir
als den kostbarsten unserer Schätze betrachten, ohne dessen Beistand wir nichts auszurichten
vermögen.
Pflichten der Assoziation gegen das Volk
22. Die Assoziation hat keinen anderen Zweck als die vollständige Emanzipation und das Glück
des Volkes, d.h. der hart arbeitenden Menschheit (tschernorabotschii ljud). Aber von der
Überzeugung ausgehend, dass diese Emanzipation und dieses Glück nur vermittelst einer alles
zerstörenden Volksrevolution erreicht werden können, wird die Assoziation alle ihre Mittel und
Kräfte anwenden, um die Übel und Leiden zu erhöhen und zu vermehren, die endlich die Geduld
des Volkes zerreissen und seinen Massenaufstand anfachen werden.
23. Unter Volksrevolution versteht unsere Gesellschaft nicht eine nach dem klassischen Muster
des Westens geregelte Bewegung, die stets vor dem Eigentum und der überlieferten
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gesellschaftlichen Ordnung der sogenannten Zivilisation und Moralität haltmacht und sich bisher
darauf beschränkt hat, den Wegfall einer politischen Form auszusprechen, um sie durch eine
andere zu ersetzen, und einen sogenannten revolutionären Staat zu schaffen. Die einzige
Revolution, die dem Volke zum Heile gereichen [431] kann, ist die, die jeden Staatsbegriff durch
und durch vernichtet und alle Überlieferungen, Ordnungen und Klassen des Staats in Russland
umstürzt.
24. Bei diesem Ziel hat die Gesellschaft nicht die Absicht, dem Volke irgendeine von oben
kommende Organisation aufzudrängen. Die zukünftige Organisation wird ohne Zweifel aus der
Bewegung und dem Leben des Volks hervorgehen, aber das ist die Sache künftiger
Generationen. Unsere Arbeit ist die schreckliche, totale, unerbittliche und allgemeine
Zerstörung.
25. Deshalb müssen wir, indem wir uns dem Volke nähern, uns vor allem mit den Elementen des
Volkslebens verbinden, welche seit Gründung des moskowitischen Staats unaufhörlich, nicht nur
in Worten, sondern auch in Taten gegen alles protestiert haben, was direkt oder indirekt mit dem
Staat verbunden ist, gegen den Adel, die Bürokratie, die Priester, die grosse Handelswelt und die
Kleinhändler, gegen alle Ausbeuter des Volks. Wir müssen uns mit der abenteuernden Welt der
Räuber verbinden, die die einzig wahren Revolutionäre Russlands sind.
26. Diese Welt zu einer einzigen allzerstörenden und unbesiegbaren Macht zusammenzufassen,
darin besteht unsere ganze Organisation, unsere ganze Verschwörung und unser ganzes
Unternehmen.«
74
Mittwoch, den 14. August, wurde in Neumünster ein junger Mann von der Zürcher Polizei
verhaftet. Dieser Mann soll ein unter dem Namen Stephan Grachdanoff bekannter Serbe sein.
Die Polizei scheint ihn dagegen für den bekannten, der Theilnahme an einer politischen
Verschwörung und des Mordes angeklagten und seit drei Jahren von der Russischen Regierung
verfolgten Flüchtling Netschajeff zu halten, dessen Auslieferung von der oben genannten
Regierung verlangt wird.
Herr Netschajeff ist uns durchaus fremd und wir wollen mit den ihm mit Recht oder Unrecht
zugeschriebenen Principien nichts Gemeinschaftliches haben; aber, insofern er von der uns
verhassten Russischen Regierung verfolgt ist, ist er uns heilig; wir fühlen uns Alle verpflichtet,
für sein Recht als politischer Flüchtling einzustehen. Uns sind die Kniffe der russischen
Regierung nur zu wohl bekannt. Sie wird sich bemühen, Netschajeff in den Augen der
Schweizerischen Behörden als gemeinen Mörder hinzustellen; zu diesem Zwecke wird ihr kein
Mittel zu schlecht sein; Lügen, falsche Zeugnisse, Alles wird versucht werden, um dieses neuen
Opfers habhaft zu werden. Wir aber erbieten uns auf Grund der officiellen, von der Regierung
selbst veröffentlichten Akten des Netschajeff'schen Prozesses, auf Grund der in den Russischen
Zeitungen stenographirten Anklagerede des kaiserl. Staatsprocurators - zu beweisen, dass
Netschajeff von der Russischen Regierung selbst in Russland nur als politischer Verbrecher
verfolgt worden ist.
Es gibt keinen Russen und, wir fügen hinzu, keinen einzigen in die Russischen Verhältnisse nur
etwas eingeweihten Ausländer, der daran zweifeln könnte. Wenn das Unerhörte heute
geschehen sollte, wenn die Schweizerischen Behörden Netschajeff den Russischen Behörden
ausliefern sollten, so wäre das Seitens der Schweiz. Republik nichts Minderes als ein der
unersättlichen Rache der Russischen Knutenherrschaft gebrachtes Opfer eines politischen
Volkskämpfers.
Wir appelliren daher sowohl an die Zürcher Regierung selbst, als auch an die öffentliche
Meinung der Schweiz und ganz Europa's. Es ist uns unmöglich zu denken, dass die Regierung
eines freien, republikanischen, auf seine grossmüthige Gastfreundschaft mit Recht stolzen
Volkes, dem Russischen Despotismus die Hand bieten könnte.
Woldemar Holstein
Walerian Smirnoff
Zemphiry Rally
Alexander Oelsnitz russische politische
Michael Bakunin Flüchtlinge
Woldemar Oseroff
Zürich, den 16. August 1872
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An das schweizerische Volk
Der russische Agitator Netschajeff, Organisator der revolutionären Partei in Russland, deren Ziel
der Umsturz der höchst barbarischen russischen Regierung war, ist durch einen russischen
Spion der hiesigen Polizei angezeigt, von derselben verhaftet und in den Kerker geworfen
worden wo er seit 1 1/2 Monaten schmachtet.
Durch ein solches Vorgehen der Zürcher Kantonsregierung waren wir polnische Flüchtlinge in
Staunen versetzt worden. Dessenungeachtet aber fingen wir vorsichtig an, die Beweggründe
dieses regierungsräthlichen Verfahrens zu untersuchen, welche dieselbe geleitet haben mochte,
dem russischen Agitator, der unlängst vor den fürchterlichen Qualen und vor dem Galgen des
russischen Czars sich flüchten musste, das freie Asylrecht in der Schweiz zu versagen. Als wir
aber in Erfahrung gebracht, dass die Ursache der Verhaftung der Mord eines russischen Spions
war, an welchem auch Netschajeff betheiligt gewesen, da fing auch uns - bisher von der Knutte
und dem Galgen des Czars sicher - an, für die Zukunft bange zu sein; denn auch wir müssten
demgemäss auf Wunsch der russischen Regierung ausgeliefert werden wegen der allgemein
bekannten von uns ausgeübten Ermordungen der russischen Spione im Jahre 1863.
So viel uns bekannt, beschäftigt sich jetzt der Regierungsrath mit der Untersuchung der Akten
des sogenannten Netchajeff'schen Prozesses. Es kursieren sogar schon Gerüchte, dass diese
hohe Beörde zur Auslieferung Netschajeffs sich bequemen wolle, weil sie denselben als einen
gemeinen Verbrecher betrachte. Dass Netschajeff ein politischer Verbrecher sei, wollen wir uns
nicht bemühen, zu beweisen; dass er ein solcher ist, ersehen selbst diejenigen, welche unter
verschiedenen Vorwänden seine Auslieferung wünschen. Wenn aber der Regierungsrath trotz
der vielfachen Zeitungsnachrichten über dessen Flucht ins Ausland mit dem Netschajeff'schen
Prozess nicht bekannt und eben sowenigen mit den Zuständen der armen, von den Leiden
enträfteten russischen Bauern vertraut ist, so sollte derselbe sich bei Leuten erkundigen, die an
dem Umsturze des russischen Knutendespotismus gearbeitet haben, und diese Leute sind
russische und polnische Flüchtlinge. Aber von der russischen Regierung Erkundigungen
einzuziehen, einer Regierung, welche jedem ihrer Untertanen mit der Knute und dem Beile
droht, und welche Alle, vom gemeinen Schreiber an bis zum Minister, dem russischen Czaren
Spionen- und Henkerdienste zu leisten sich bemühen und eine solche That als höchste Tugend
betrachten, - welche Regierung die durch Netchajeff organisierte geheime Gesellschaft der
Folter und z.B. dem Abschneiden der Zunge und Ausstechen der Augen unterwarf - bei einer
solchen Regierung sich zu erkundigen, ist, dies glauben wir mit fester Überzeugung, eines jeden
ächten Republikaners un einer republikanischen Regierung unwürdig.
Gleich nach der Flucht Netchajeff's ins Ausland erschienen russische Spione bei allen
Regierungen Europas und forderten seine Auslieferung, indem sie ihn als einen gemeinen
Verbrecher bezeichneten. England wies eine solche Forderung mit Verachtung ab und ertheilte
Netchajeff das Recht des freien Aufenthaltes. Dort lebte er unter seinem wirklichen Namen und
gab sogar eine Zeitung heraus. So verfuhr mit Netschajeff obgleich keine republikanische, doch
immer die die Rechte der Menschen achtende englische Regierung, ohne einen Unterschied
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zwischen Landesbürgern oder Ausländern zu machen. Kann es nach diesem Gesagten möglich
erscheinen, dass die republikanische Schweiz, wo jeder Flüchtling, der sich der sich vor
ungerechten Verfolgungen seiner Regierung rettete, ein Asyl und Freiheit zu finden glaubt, die
Hand einer despotischen Regierung reichen und Netschajeff, wie es aus den "Basler
Nachrichten" hervorgeht, ausliefern werde? Wenn das Unmöglichscheinende geschehen sollte,
wenn der zürcherische Regierungsrath in dieser Frage der Auslieferung Netschajeff's mit dem
Bundesrathe, der sich für dieselbe ausgesprochen haben soll, einig wäre, so erklären wir ohne
Furcht vor den Folgen vor aller Welt, dass die zürcherische Regierung mit dem Volke nicht
solidarisch ist.
Deshalb wenden wir uns im Interesse der Gerechtigkeit an das schweizerische Volk selbst und
ersuchen es, die heiligen Rechte der Republik unantastbar zu behaupten und die Regierung von
einem Verbrechen gegen die republikanischen Institutionen abzuhalten.
Im Namen
aller sozial-demokratischen polnischen Vereine
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Ist NETSCHAJEFF ein politischer Verbrecher oder nicht?
Zürich 1872.
Druck der Genossenschafts-Buchdruckerei.
Den 16. August erschien von uns ein Protest gegen die Arrestation einer Person, die man, mit
Recht oder Unrecht, für den russischen Agitator Netschajeff hält. Wir wurden hierbei von dem
lebhaften Wunsche beseelt, dass jenes herrliche Vorrecht der Schweiz -das Asylrecht, dessen
auch wir uns erfreuen - in seiner ganzen Reinheit und Heiligkeit unantastbar erhalten bleibe.
Die russische Regierung verfolgt Netschajeff, wie überhaupt jede despotische Regierung einen
Menschen verfolgen wird, der es gewagt hat, einen wenn auch schwachen und misslungenen
Versuch zu achen, diese Regierung zu stürzen. Ein Jeder wird begreifen, wie sehr es der
russischen Regierung darum zu thun sein muss, eines solchen Mannes habhaft zu werden.
Dieser Mann befindet sich jedoch auf dem Boden der Schweiz; folglich konnte die russische
Regierung seine Auslieferung als die eines politischen Verbrechers nicht beanspruchen. Es blieb
daher nur ein Mittel - Netschajeff aus einem politischen zu einem gemeinden Kriminalverbrecher
zu stempeln. Despotische Regierungen machen bei solchen Sachen wenig Umstände: Lüge,
Verleumdung sowie die niedrigsten Intriguen, werden in Bewegung gesetzt, um nur das Ziel zu
erreichen. Je niedriger jedoch die Arglist der russischen Regierung, je hartnäckiger deren
Versuch den Flüchtling seines Asils zu berauben, nur desto mehr fühlen wir uns verpflichtet,
diese arglistigen Versuche zu enthüllen. Aus diesem Grund finden wir uns veranlasst, das Wesen
und den Charakter des sogenannten Netschajeffschen Prozesses in kurzen Worten
wiederzugeben. Dabei werden wir uns auf die stenographischen Berichte des Prozesses berufen,
welche, nach vorheriger Durchsicht, von der Regierung in den russischen Zeitungen
veröffentlicht wurden. Dieses wird nun genügen, um einem Jeden die Überzeugung zu geben,
dass das Verbrechen Netschajeff's unzweifelhaft politischer Natur gewesen.
Zur Vermeidung aber eines jeden Missverständnisses halten wir für unsere Pflicht, das, was in
unserem Proteste vom 16. August gesagt worden, noch bestimmter und klarer auszusprechen. -
Wir stehen den Theorien Netschajeff's, seiner Richtung und besonders deren praktischen
Anwendung fern. Wir könnten, wenn solches nöthig wäre, beweisen, dass derselbe uns schon
längst als seine politischen Gegner betrachtet. Solches verhindert uns jedoch nicht, sondern
macht es uns vielmehr zur Pflicht, auf Ehre und Gewissen Zeugniss dafür einzulegen, dass die
Handlungen Netschajeff's, welche mit der Organisation einer geheimen Gesellschaft begannen
und mit der Tödtung eines gewissen Iwanoff ihr Ende nahmen, zur Gattung politischer
Verbrechen und nicht zu der Kategorie der gewöhnichen Kriminalverbrechen gehören, - weshalb
Netschajeff der russischen Regierung nicht ausgeliefert werden darf.*)
Bevor wir auf die Sache Netschajeff's näher eingehen, wollen wir einige Wort über den Boden
Sagen, auf welchem die Handlung vor sich ging. Es ist wohl Allen bekannt, dass das russische
Volk unter allen Völkern Europa's das am meisten gedrückte ist. Ein ertödtendes despotisches
Joch erstickt jede lebendige gesellschaftliche Bewegung noch bevor dieselbe aufkeimen kann;
persönliche Freiheit ist in diesem Reiche der Knute etwas Unbekanntes. Ist es wohl nöthig über
die materielle Lage des russischen Volkes ein Wort zu sagen? - Ein Jeder, welcher Russland
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kennt, weiss, dass von 80 Millionen Einwohnern - auf 70 Millionen, trotz der sogenannten
Bauernemanzipation, die Last einer wahren Sklavenarbeit ruht, um die hohen Gehalte einer
Beamtenwelt zu schaffen, welche jeden nützlichen Gedanken im Volke erstickt. Jeden, der es
versucht, das Bewusstsein der Selbstständigkeit im Volke zu erwecken - in's Verderben stürzt.
Was das Volk selbst betrifft, so hält sich dasselbe für glücklich, so lange es ein Stück Brod hat,
das halb aus schlechtem Mehl, halb aus trockener Baumrinde besteht.
Es würde zu lange dauern, wenn wir die Geschichte aller dieser Bewegungen erzählen wollten;
das ist auch nicht unsere Absicht. Wir haben dieses nur deshalb angeführt, um ein Bild von der
Sphäre zu entwerfen, in welcher Netschajeff handelnd auftrat. Es ist wohl bekannt, dass die
Mitglieder des von ihm gegründeten geheimen Bundes grösstentheils zu der studierenden
Jugend gehörten. Dieser geheime Bund wurde im Jahre 1869 in Moskau unter dem Namen
"Volksgericht" gegründet. Das Ziel desselben war - eine Volkserhebung zu erwecken.
Netschajeff, der durch eine in der That merkwürdige Energie Alle übertraf, stand an der Spitze
dieser Gesellschaft. Er war ein Fanatiker, welcher unter dem Einflusse der harten Bedingungen
des russischen Lebens und der verzweiflungsvollen Lage des Volkes zu solchem herangebildet
war. Die Mitglieder der geheimen Gesellschaft waren ihrer Sache von ganzer Seele ergeben; sie
lebten nur für die Idee der Befreiung des Volkes und waren bereit für dieselbe ihr Leben
hinzugeben.
Selbst der Prokurator des Gerichts charakterisiert sie mit folgenden Worten:
"Und deshalb, meine Herren Richter, halte ich diese Verschwörung für gefährlich. Menschen von
so verschiedenen Meinungen, von so verschiedenen Ansichten und Begriffen, - verbinden sich
fest in Eis. Und wenn sie für ein bekanntes Ziel Alles opfern, so muss man gestehen, dass die
von ihnen gebildete Verschwörung dem Staate Gefahr drohen kann, wenn auch die Gesellschaft
nicht zahlreich und ihre Geldmittel nur gering sind. Deshalb, meine Herren, komme ich zu der
Überzeugung, dass die genannte Gesellschaft nicht nach der Zahl ihrer Mitglieder, nicht nach
der Grösse der gesammelten Gelder, sondern nach ihrer inneren Einrichtung, nach dem Geiste,
welcher sie beseelt, nach der Kraft welche sie beweisen hat, wirklich gefährlich war." (St.
Petersburger Anzeiger 1871, Nr. 188)
Wir kommen jedoch auf Netschajeff zurück, und wollen, indem wir uns eines jeden eigenen
Urtheils enthalten, nur das anführen, was in dem Prozess selbst über ihn gesagt worden.
Alle Angeklagten bezeugen einstimmig, dass derselbe sich durch eine ungewöhnliche Energie
ausgezeichnet, eine unermüdliche Energie ausgezeichnet, eine unermüdliche Thätigkeit
entwickelt habe und der Sache fanatisch ergeben war.
Der Prokurator in seiner Anklagerede sagt über ihn Folgendes:
"Ich will nicht auf eine umständliche Charakteristik der Persönlichkeit Netschajeff's eingehen, da
derselbe gegenwärtig dem Gerichte nicht unterliegt**), und solches mithin überflüssig wäre,
einige Worte will ich jedoch über denselben sagen, insoweit mir solches für die Aufklärung des
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gemeinschaftlichen Charakters der Sache selbst nothwendig erscheint. Netschajeff ist im Dorfe
Iwanowo, Kreis Schuisk, Gouvernement Wladimir als Sohn eines armen Handwerkers geboren;
nach der Mittheilung Prischoff's ***) lernte er erst in seinem 16. Jahre schreiben und lesen und
erwarb weiter in Iwanowo eine sehr unvollkommene Ausbildung. Nichts destoweniger aber
erwarb Netschajeff gerade deshalb, weil er in einem Dorfe geboren, weil sein Vater ein armer
Handwerker war und weil er endlich seine Kindheit und erste Jugend in diesem Dorfe zubrachte,
diejenigen Kenntnisse und Erfahrungen, diejenigen Eigenschaften, welche für den Erfolg seiner
Sache äusserst wichtig waren; er lebte sich in die volksthümlichen Begriffe ein, lernte die
Bedürfnisse des Vokes kennen - und war und blieb auf diese Weise, wie Herr Prischoff sagte ein
Sohn des Volks." "Aus Iwanowo begab sich Netschajeff nach Moskau, wo er die dortige
Universität besuchte, nachher nach Petersburg, wo er Lehrer an einer Gemeindeschule wurde. In
sehr kurzer Zeit verstand er es hier Bekanntschaften und Verbindungen anzuknüpfen, vollendete
seine Ausbildung, erwarb über einige Gegenstände bedeutende, umfassende Kenntnisse und
verstand es auch, wie es scheint, aus denselben Nutzen zu ziehen." "Alle Angeklagten sprechen
sich über Netschajeff als über einen Menschen voller Energie aus. Die Angaben vom heutigen
Tage sind dafür namentlich höchst überzeugende Belege. Die Einen sagten, dass er überhaupt
nur zwei Stunden am Tage geschlafen; Andere, dass er sich ganz der Sache geweiht, der er
diente. Auf diese Weise verbleibt dem Netschajeff, nach der Aussage aller Angeklagten, die
Ergebenheit der gemeinschaftlichen Sache und den Gedanken, die er durchzuführen sich
bestrebte." (St. Petersburger Anzeiger 1871, Nr. 188.)
Nicht wir, sondern der Prokurator des Gerichts schildert so Netschajeff und dessen Gefährten.
Von Anbeginn der Gründung der geheimen Gesellschaft trat ein Mensch in deren Kreis ein,
welcher, nach dem Zeugniss der Mitglieder des "Volksgerichts", von Anfange an das
gemeinschaftliche Interesse gefährdete und durch sein Benehmen den Verdacht der Mitglieder
erweckte. Der Angeklagte Uspenki, welchem in der geheimen Gesellschaft die Pflicht oblag
Kunde über die Thätigkeit sämmtlicher Mitglieder derselben einzuziehen, erklärt, dass ihm von
verschiedenen Seiten Nachricht zugegangen, dass dieser Mensch Iwanoff genannt, mit der
Absicht umgehe die ganze Sache der Regierung aufzudecken. (St. Per. Anzeig. 1871, Nr. 182,
183 und 209.)
Auf solche Weisung waren die Mitglieder der Organisation in die Nothwendigkeit versetzt über
die Frage zu entscheiden, - sich eines für dieselbe gefährlichen Menschen zu entledigen, - oder
aber ihre Sache, die ganze Organisation und alle Mitglieder der derselben einem sichern
Untergange auszusetzen. Da fassten fünf Mitglieder, unter ihnen Netschajeff, den Entschluss,
den Iwanoff zu tödten und brachten diesen, ihren Entschluss auch zur Ausführung. Bald jedoch
wurde die Tödtung Iwanoff's, sowie auch die geheime Gesellschaft, entdeckt; eine Reihe von
Haussuchungen und Arrestationen folgten unmittelbar. Netschajeff war es indessen mit Hülfe
seiner Freunde gelungen in's Ausland zu entkommen. Der Prozess nahm seinen Anfang; derselbe
trug in den offiziellen Akten der russischen Regierung folgende Benennung: "Gerichtsprozess
über die Verschwörung zum Umsturze der gegenwärtigen Regierungsform in Russland."
Schon allein dieser Titel spricht hinreichend dafür, von welcher Seite die russische Regierung die
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ganze Sache betrachtete - ob sie dieselbe für eine politische gehalten habe, oder nicht. Es
waren im Ganzen 84 Personen, als an der Sache betheiligt, herbeigezogen, 63 von diesen von
diesen sassen im Gefängniss. Sie wurden sämtlich in verschiedene Kategorien getheilt; eine
jede derselbe unterlag einer besonderen, Gerichtsverhandlung, und für eine jede Kategorie
wurde eine besondere Anklageacte verfasst. Zu der ersten, der Hauptkategorie gehörten 11
Personen. Sie alle wurden einer Verschwörung gegen die Regierung angeklagt, vier derselben
jedoch (Uspenki, Prischoff, Nikolajeff und Kusnetzoff) noch ausserdem der Tödtung Iwanoff's. Die
Zusammenstellung dieser vier Personen, welche der Tödtung Iwanoff's angeklagt wurden, mit
den sieben übrigen, die damit nichts Gemeinschaftliches hatten, sondern nur einer
Verschwörung gegen die Regierung angeklagt waren, ist ein klarer Beweis, dass die ganze Sache
eine rein politische gewesen, und die russische Regierung selbst dieselbe als eine solche
betrachtet.
Die russische Regierung bemühte sich natürlich, denen, welche Iwanoff getödtet, persönliche
Motive ihrer That zu unterlegen. Dieselbe behauptete, Iwanoff sei nur ein Opfer persönlicher
Rache gewesen. In den Aussagen vieler Angeklagten, sowie in den Reden der Vertheidiger, wird
aber das Gegentheil nachgewiesen.
So sagt der Angeklagte Uspenki: "Netschajeff, sowohl als auch ich selbst, haben gegen Iwanoff
keineswegs feindliche Gesinnungen gehabt. Netschajeff konnte bei seiner unermüdlichen
Thätigkeit und angestrengten Arbeit sich unmöglich mit persönlichen Beziehungen zu wem es
auch sein möchte, befassen. Seine Grundsätze als Revolutionär, von denen Netschajeff bis auf
den Grund seines Herzens erfüllt war, verboten ihm jede persönliche Rache, selbst wenn
dieselbe zum Nutzen der Gesellschaft wäre. Endlich bin ich überzeugt, dass Netschajeff zu sehr
Mensch war, um einer persönlichen Unzufriedenheit wegen ein Menschenleben zu opfern." (St.
Petersburger Anzeiger 1871, Nr. 194)
Der Vertheidiger des Angeklagten Uspenki, Fürst Urussoff, sagt Folgendes: "Die theoretisch
aufgestellte Frage, was zu thun sei, wenn eine einzelne Person dem Ganzen Schaden bringt,
konnte bei einer Dialektik wie sie in der Organisation herrschte, keine andere Entscheidung
ergeben, als die Beseitigung dieser Person (Iwanoff's) um jeden Preis. Für eine solche
Gesellschaft gab es nur ein Mittel, die Widerspänstigkeit zu bändigen - der Tod: andere Mittel
standen nicht zur Verfügung derselben (St. Petersburger Anzeiger 1871, Nr. 191.)
Wir haben bereits erwähnt, dass es Netschajeff gelungen war, in's Ausland zu entkommen. Das
heftige Verlangen der russischen Regierung, Netschajeff's um jeden Preis habhaft zu werden,
gab von Seiten russischer Spione Veranlassung zu Auftritten, welche höchst alber und lächerlich
erscheinen müssten, wenn hinter denselben nicht offenbar ein boshaftes Ziel verborgen
gewesen wäre. So wurde im Mai 1870 in Genf ein junger Mann, Namens Simeon Serebrennikoff,
arretirt. Ungeachtet des Zeugnisses Aller, welche ihn und Netschajeff kannten, dass er mit
Letzerem nicht die geringste Ähnlichkeit habe, ungeachtet seiner Berufung auf die Aussage
mehrerer genauer Bekannten, wurde derselbe 12 Tage lang im Gefängniss gehalten. So wurde
ein ganz unschuldiger Mensch 12 Tage lang seiner Freiheit beraubt und noch dazu kompromittirt,
indem die russischen Spione bei ihm eine Korrespondenz mit Freunden gefunden hatten. Diese
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Korrespondenz enthielt zwar nichts, was einen Menschen in einem freien Lande hätte
verantwortlich machen können; für die russische Regierung reicht jedoch ein einziges Wort, ein
tadelndes Urtheil über irgend eine Person der Regierung hin, um einen Menschen, der so etwas
verschuldet hat, zu verfolgen. Auf diese Weise ist dem Herrn Serebrennikoff ganz unerwartet,
ohne dass derselbe sich eines Verbrechens bewusst wäre, die Möglichkeit einer Rückkehr in sein
Vaterland benommen. Übrigens ist dieser Fall nicht der einzige seiner Art. Die russischen Spione
erfrechen sich auf Grund und Boden der Schweizer-Republik noch ganz anderer Sachen: - In
Genf lebt ein russischer Emigrant, Herr Utin. Es lag der russischen Regierung daran, den Inhalt
seiner Papiere kennen zu lernen; sie erklärte denselben daher ganz einfach als einen
Kriminalverbrecher, als Fabrikanten russischer Kreditscheine. Es fand bei ihm eine Haussuchung
statt, bei welcher sich freilich keine falschen Kreditscheine vorfanden, die russischen Spione
aber den Inhalt seiner Papiere genügend kennen lernten.
Wir haben Facta aus dem Prozess hinreichend angeführt, damit ein Jeder sich einen Begriff von
seinem wahren Charakter machen könne. Und nachdem wir das, nicht aufgrund eigener
Schlüsse, sondern auf Grund der offiziellen Akten des Prozesses ****) gethan haben, wer, fragen
wir, wird behaupten können, dass das Verbrechen von Netschajeff nicht ein durchaus politisches
gewesen sei?
Wir rufen hiermit die Gerechtigkeit, das Gewissen und das gesunde Urtheil der freien Schweizer-
Republik an. Das Land, welches einem Don Carlos, einer Isabella, welche Ströme von Volksblut
vergossen, ein Asyl gewährt, kann sich nicht zu der Auslieferung Netschajeff's verstehen,
welcher, wie auch seine Prinzipien und das Resultat der von ihm angelegten Verschwörung
gewesen sein mögen, doch ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen die schlechteste Regierung in
Europa gewesen.
Wir sind überzeugt, dass im Vaterlande Wilhelm Tell's ein politischer Flüchtling, ungeachtet der
Arglist despotischer Regierungen, stets ein Asyl finden wird.
Alexander Oelsnitz
Zemphiri Rally
Valerian Smirnoff russische
Woldemar Holstein politische Flüchtlinge
Lazar Goldenberg
Michael Bakounin
Woldemar Ozeroff
*)Wir bemerken noch hier, dass zwischen Russland und der Schweiz kein Auslieferungsvertrag existirt.
**) Wir halten es für nöthig hier zu bemerken, dass nach russischen Gesetzen der vor Gericht Abwesende in
contumacian nicht verurtheilt werden kann, und dass deshalb Netschajeff, dem es gelungen war in's Ausland zu
entkommen, im Prozess selbst nirgends als Angeklagter figurirt.
***) Einer der Angeklagten.
****) Diese Dokumente, namentlich die Anklageakte, werden von uns übersetzt, um der Regierung vorgelegt zu
werden: dieselbe möge dann die Uebersetzung und die Officialiät der Dokumente prüfen lassen.
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